Donnerstag, 8:00 Uhr morgens. Dienstbeginn. Wir nahmen Platz in dem Versammlungsraum. Der Tagesablauf wurde durchgenommen. Die Gebiete waren strickt aufgeteilt. Jeder von uns musste ein bestimmtes Viertel nach potentiellen Unruhestiftern absuchen. Es kamen oft Hinweise aus der Bevölkerung, was uns die Aufgabe sichtlich erleichterte. Die Pflicht eines Controlls bestand darin, jegliche Art von Andersdenken zu unterbinden. Kunst, Musik, Literatur. Alles bloße Gehirnspinste, die den Staat als falsch darstellten. Controlls waren die Beschützer des Staates. Bevor sich solche Illusionen ausbreiten konnten, wurden sie von Controlls bereits eingedämmt. Wir erhoben uns. Die Arbeit begann.
Die Welt war grau. Hochhäuser standen in Reih und Glied nebeneinander. Autos fuhren in gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die Straßen. Die Massen bewegten sich stromaufwärts. Richtung Stadtzentrum. Die Stadt war beschäftigt. Jeder folgte seiner üblichen Arbeitsroutine. Der Weg führte zu einer kleineren Siedlung im Westbezirk, am Stadtrand gelegen. Dort hatte eine Dame dem HQ mitgeteilt, dass ein Junge Anfang 20 auf dem Dach des Hauses instrumentalen Lärm veranstaltete. Die Lage wurde geschildert. Informationen und Fakten notiert. Es wurde auf eine Feuerleiter verwiesen, die zur Dachterrasse führte. Gerade Körperhaltung. Brust raus, Bauch rein, Hand auf dem Schlagstock. Die Schritte auf dem rostigen Metall, hart und eisern. Noch schätzungsweise zwanzig weitere Schritte bis zur Festnahme. Ein Geräusch stoppte den Lauf. Tonfolgen auf einer sogenannten E-Gitarre. Schwarzes Holz, geschwungene Form, die an die Proportionen einer Frau erinnerten, langer Griff, mit weißen Musterungen. Die Hände tasteten an den Saiten entlang, suchten nach der richtigen Tonhöhe. Gelenkige Finger bewegten sich an dem glatten Holz entlang. Gelenkige, lange Finger, kräftige Handmuskulatur, ordentliche Handwurzel. Es schien sich um das gesuchte Objekt zu handeln. Keinen Schritt weiter, die Pflicht des Controlls ignoriert. Unsichere Fehlgriffe schlugen langsam, sacht um. Die Zielperson erlangte Sicherheit, spielte eine längere Tonfolge, unter Staatsgegnern als Melodie bekannt. Der Blick folgte jeder Bewegung. Noch nie war solch Wohlklang an die Ohren gelangt. Atem wurde kurzweilig eingestellt, die Augen starr auf das Subjekt. Die Hand krampfte sich zusammen, hielt sich am rostigen Geländer, Adern traten hervor. Die Beine waren nicht imstande sich fortzubewegen. Der Schlagstock am Gürtel blieb ungenutzt, die Gedanken schweiften ab. Die Hände des jungen Mannes flogen über das schwarze Instrument, als der Blick eine Gravur streifte. „Lethal“, hieß es in geschwungen geritzten, weißlichen Buchstaben. Erinnerungen stiegen auf. Merkwürdig vertraut, doch nicht zuzuordnen. Die Haut gab ein Kribbeln preis. Die Luft blieb für einige Sekunden weg. Ins Gedächtnis rufen, woher der Name bekannt war, war allerdings nicht möglich. Notizblock zur Hand. Name der Zielperson: Vermutlich Lethal. Vergehen: Spielt als E-Gitarrist wunderschöne Melodien auf dem Dach eines Mehrfamilienheims. Beim erneuten Durchlesen wich das Attribut „wunderschön“. Der miniPDA an dem Handgelenk blinkte auf, Rückruf aller Controlls. Ein Notruf zwang uns zurückzukehren ins HQ.
„Entschuldigen Sie, wir Controlls müssen ins HQ zurück. Es gibt einen Notfall. Das Subjekt wird allerdings weiterhin begutachtet, machen Sie sich keine Sorge, Ma’am.“ Die Dame gab zu verstehen, dass sie den Unruhestifter so schnell wie möglich fort haben wollte. Heute war dieser Wunsch allerdings nicht mehr zu erfüllen.
Kollegen und Chefs drangen gemeinsam in den Konferenzsaal. Eine Acustical Demonstration gegen den Staat, gegen Vater Staat. Panzerung erfolgte: Schutzwesten, Springerstiefel, Plastikschild, Schlagstock, Helm, Schutzhandschuhe und Tränengas. Wir waren bereit. Bereit zum Aufbruch, bereit zum Einsatz.
Gleicher Tag, 12:03. Am Einsatzort eingetroffen. Die Demonstranten hatten sich versammelt. Ca. 140 Leute, die sich gegen Vater Staat stellten. Wir traten vor. Schilde hoch, Sichtschutz runter, Schlagstöcke erhoben. Der Oberst, das Megaphon in der Hand, stellte sich vor die Menschen, die einer illusionistischen Weltvorstellung hinterherjagten, der sogenannten Kunst verfallen waren. Er räusperte sich, holte tief Luft. Die erhabene Gestalt hob sich von der Wildheit der Illusionisten ab. Megaphon an den Lippen, klare Stimme: „ Demonstranten, schenkt mir euer Gehör! Solltet ihr den Platz nicht innerhalb von 10 Minuten räumen, dann können wir Controlls nicht für den Nichtgebrauch der Schlagstöcke hier sowie des Tränengases garantieren!“ Die Reihen der Controlls bewegten sich im Gleichtakt, wie ein gigantischer Organismus. Wir waren eine Einheit. Die Demonstranten rührten sich nicht.
Gleicher Tag, 10 Minuten später. Der Oberst blickte von dem Zeitstopper auf, der Zeitrahmen war überschritten. Ein Klicken war das Startsignal voranzustürmen. Durch die Luft kamen undefinierbare Objekte herangeflogen. Doch das störte uns nicht, ließ uns unbeeindruckt die Menschentraube einkesseln. Farben unterschiedlichster Töne regneten auf die schwarze Flut Controlls herab. Unsere einheitlichen Rüstungen waren beschmutzt. Es war als würden ihre fehlgeleiteten Vorstellungen und unser Weltbild, die Wahrheit, in einem gewaltigen Inferno aufeinanderstoßen. Gedrängel seitens des Gegners. Hart, ohne Zögern machten wir Gebrauch von unseren Stöcken. Die Menschen stöhnten, gaben ihren Schmerz preis. Es war ihre eigene Schuld, ihr eigenes Vergehen. Die bunten Illusionisten flohen immer tiefer in ihre Schar menschlichen Irrglaubens. Der Oberst trieb uns weiter voran, wir folgten seinem Befehl. Sie gingen langsam in die Knie. Sahen allmählich ein, keine Chance gegen den Staat zu haben. 12:17 Auseinandersetzung beendet. Vater Staat hat alle Verräter bestraft.
Keiner konnte den großen Staat bezwingen. Glück und Zufriedenheit regierte in den Köpfen der Menschen. Jedem war sein eigener Platz zugewiesen. Einheit im Lebensstandard zeugte von der Gleichheit der Bürger. Materialismus, Gesundheit und unverkennbarer Alltag kennzeichneten Vater Staat. Die Ordnung bestimmte den Staat.
Kunst war Unordnung, Chaos, Lügen, Illusion. Literatur, Musik oder Kunst waren grausige Schmarotzer, die sich in die Gehirne Fehlgeleiteter setzten. Controlls agierten gegen diese Schmarotzer, diese Unordnung, diese Illusion. Schutz für den Staat, Schutz der Zivilisation. Es war eine Pflicht, eine Lebensaufgabe, ein Schicksal. Schicksal eines Individuums, das mit dem Staate zu einem großen Ganzen verschmolz. Einmal ein Controll, immer ein Controll. Lebenslanger Schutz dem Staate.
Freitag, 8:00. Dienstbeginn im Hauptquartier. Erneut wurde uns die heutige Arbeit zugewiesen. Papierarbeit am Schreibtisch, zügig erledigt. Akten über die Illusionisten durchgesehen. Alle abgestempelt, für die Staatskonditionierung. 12:00 Mittagspause. Kaffee und ein belegtes Brot. Spärliches Gespräch mit den Kollegen. 12:10 Fertigmachen zur Patrouille. Übliche Panzerung, übliches Inventar angelegt. Westbezirk. Gegend ruhig, Bürger folgten ordentlich dem Straßenverlauf. Keine auffälligen Plakate angebracht. Keine ungewöhnlichen Geräusche, Laute oder Töne. 13:00 Westbezirk: Keine Spur von Illusionisten. Der gestrige Fall musste nun wieder aufgenommen, aufgearbeitet werden. Ein unzufriedener Bürger war nicht erwünscht. Groll gegen die Werkzeuge des Staates war nicht gestattet. Aufgaben waren mit Selbstdisziplin und Sorgfalt nach der Routine abzufertigen. 13:10 Am Mehrfamilienheim eingetroffen. Die Dame, die den Unruhestifter gemeldet hatte, wartete bereits ungeduldig vor der Feuerleiter. Ohne ein Wort zeigte sie in Richtung Dachterrasse. Ungeduld war eine Emotion, die den Geist vernebelte. Eine kurze Verbeugung sollte dieses aufkochende Gefühl mildern, sie besänftigen. Gleichschritt auf die rostige Leiter zu. Das Eisen unter den Füßen knirschte auf, Konzentration ging durch den strammen Körper, der das Gleichgewicht suchte. Das Geräusch der marschierenden Füße sollte ablenken, ablenken von dem plötzlich aufkommenden Gefühl der Unsicherheit. Ein Schlucken bezeugte dies. Immer näher kam das Dach, das unter dem freien Himmel lag. Der junge Mann sollte auch heute wieder dort oben sein, seinem Hirngespinst hinterherjagen. Nach dem Bericht der Dame sollte er auch heute wieder auf seinem Instrument, seiner wunderschönen, nein, seiner schwarzen Gitarre spielen. Er sollte auch heute wieder seine Tonfolgen üben, sie perfektionieren. Perfektion um die Bürger gegen den Staat aufzuhetzen. Entschlossenheit kämpfte sich wieder an den Platz im Kopf. Noch ca. zwanzig Schritte bis zur heutigen Festnahme. „Revelation of the Truth… Revolution of Music…“ Ein Aufhorchen hinderte die Beine abermals weitervoranzugehen. Lethal, der Mann, der am Anfang seiner 20er stand und auf dem Dach eines Mehrfamilienheims auf seiner E-Gitarre spielte, besang eindeutig die Idee der Kunst. Notiz: Indirektes Geständnis. Zielobjekt stand eindeutig mit den Illusionisten in Verbindung. Die Hände zupften weiter, steigerten das Tempo, die Melodie wurde intensiver. Kraft strömte hindurch, die Augen bewegten sich im Rhythmus der spielenden Hände. Das Schwarz der Gitarre zog den Blick an. Wie ein schwarzes Loch aus Lügen. Jegliches Zeitgefühl entschwand dem Realitätsdenken…
Abtreten. Die Mission abbrechen. Zielobjekt muss morgen weiter beobachtet werden. Die Beweislage war noch nicht eindeutig genug. Die Notizen vernichten. Verbleibende Fakten: Männlich, 20 Jahre, vermutlich musikalisches Vergehen, Name Lethal (?). Verwirrung kam auf. Der Körper zitterte. Unbekanntes bedeutete Umbruch. Doch war es das wert, für eine solche Veränderung Vater Staat zu verraten? Zweifel mussten abgeschüttelt werden. Sicherheit musste wiedererlangt werden. 15: 44 Rückkehr ins HQ angetreten. Die Berichterstattung würde noch warten müssen. Wenigstens für einige Augenblicke. Das Zielobjekt Lethal musste mit größter Vorsicht, mit hingebungsvoller Sorgfalt weiterhin obduziert, weiter auf Auffälligkeiten studiert werden. Anhaltspunkte mussten gefunden werden. Irgendwelche. 16:08 Ankunft im HQ. Der Oberst trat in das Büro. In das graue, schlichte Büro. Versunken in Stapeln von Akten und Dokumenten. Der Oberst blickte sich um. Erkundigte sich nach dem neugemeldeten Fall des Musikillusionisten. Vorlegen der bisher gesammelten Daten erfolgte. Täuschungsversuch war geglückt. Dem Oberst schien es obskur, das noch keine Festnahme eingetreten war. Doch die Arbeit der Controlls, seiner Männer, seiner Gefolgsleute, seiner Anhänger, seiner Untergebenen hinterfragte er nicht. Hinterfragte niemand. Controlls waren das Abbild, das Vorbild ehrlicher, ehrenvoller Beamter, die das Recht des Staates auf ihrer Seite hatten und sahen. Controlls waren das Gewissen des Staates. Ehrenmänner, die Wort hielten. Ehrenmänner, denen blind zu vertrauen war, denen man blind vertrauen konnte. Der Oberst gab sich mit der kleinen Datenmenge zufrieden. Vorerst.
21:00 Heimkehr nach sieben Stunden Papierarbeit und rund 27 Illusionisten-Gehirnwäschen. Austreibungen. Arbeit war Leben. Leben war Arbeit für den Staat.
Die Gedanken kehrten zu den Verzweiflungsschreien der Antistaatler zurück. Illusionisten, die sich zwanghaft an ihre Vorstellungen, ihre Künste, ihre sogenannte freiheitliche Individualität klammerten. Den Idealen des Staates keinen Eintritt in ihren kranken, verwirrten, nein, verirrten Geist gewähren. Das war ihr sogenannter Wille. Die Lügen der Kunst mussten von der Erdoberfläche getilgt werden, mussten von der Welt verschwinden. Verschwinden aus den Köpfen der Menschen. Endgültig, auf ewig.
Die beschauliche Wohnung lag offen und bescheiden dar, gewährte ein einfaches Willkommen. Ein Tisch, zwei Stühle aus Eiche, ein weißes Sofa, ein HD-Fernseher zum Nachrichtensehen, ein Kühlschrank, ein Herd, der selten Gebrauch fand, zwei Schränke zum Verstauen der Lebensmittel und des Geschirrs, ein Schrank für die Arbeitskleidung und ein Bett, außerdem noch ein Bad mit den nötigen Hygieneartikeln. Private Gegenstände waren überwertet. Der Mensch brauchte nur seine Hände zum Arbeiten, Brot zum Überleben und ein Ideal zu befolgen. Grau und grauer brach die Nacht in das Quartier herein, doch das interessierte nicht. Gemütlich war das genügsame, prunklose, anspruchslose Sofa. Der Kopf lehnte sich zurück, der Blick ging an die Decke. Die Augen schlossen sich. Genossen das Gefühl der kurzweiligen Entspannung, doch fürchteten das Gefühl der Leere. Familie, Partnerschaft, Liebe waren nur von sekundärer Bedeutung. Vater Staat verbot Beziehungen zwischenmenschlicher Art nicht, befürwortete sie allerdings auch nicht. Haltlose Ödnis breitete sich aus, stumme Stille nagte an dem Geist, der Seele, dem Herzen. Die Gedanken schweiften unwillkürlich zu Lethal. Spielten die Melodien seiner Gitarre, den Klang seiner Stimme wie im Automatismus ab. Noch nie waren solche Töne über die Schwellen des Gedankengangs eines Controlls gekommen, hatten sein Herz erreicht. Was wollte es sagen? Es versuchte die Vergangenheit, die verschwommen und dunkel hinter den Pflichten des Controlls lag, aufzufrischen. Doch das Puzzle setzte sich nicht zusammen. War ein Labyrinth aus verlorengegangenen Bruchstücken. Leichtsinnige Fragen prägten die Reflexionen: War Lethal Teil der Familie der Illusionisten? War das was er und die anderen Antistaatler predigten richtig? Konnte ein Controll sich in die Faszination Kunst einlassen?
Schlagartiges Augenaufreißen unterbrach den Gedankenfluss. Sünde war verachtet. Sündige Gedanken verfolgt. Sündiges Handeln mit dem Tode bestraft. Morgen würde ein neuer Tag heranbrechen. Ein neuer Tag Lethal, den Gitarrenspieler weiter zu beobachten. Konfuse Perplexität musste weichen. In den dunklen Abhängen der Versenkung verschwinden. Es durfte nicht die Oberhand gewinnen. Niemals.
Samstag, 7:48. Der Oberst schickte die Nachricht sofort zum Zielobjekt zu gehen. Die Angst beschlich den Geist. Verrat war bereits im Geheimen begangen worden. Würden weitere negative Handlungen folgen? Gleichzeitig jedoch eilte der Körper so schnell es möglich war zum Zielort. Sehnte sich nach dem jungen Mann, der so fremd und doch so vertraut war. Irgendetwas war da, das eine ungeheure Anziehungskraft inne hatte. Irgendetwas, das gefangen nahm, die eingeschworenen Pflichten vergessen ließ, sogar verraten ließ. 8:13 Ankunft. Ignoranz begegnete der Dame, die dort stand, die Arme verschränkt, etwas Vorwurfsvolles im Blick. Die Schritte eilten geschwind die Treppe herauf, das Herz pumpte, trotzte vor Kraft, Energie, Enthusiasmus. Es trieb nicht der Wille zur Festnahme, sondern der Wille zum Enträtseln voran. Die üblichen zwanzig Schritte trennten uns voneinander. Irgendetwas hielt zurück, die Spannung in seiner Nähe konnte gefährlich werden. Die Atmosphäre um ihn herum war ein unheimliches, fernes Gefilde, noch nie von einem Controll betreten. Die Hände, die in eine unbekannte Faszination lenkten, waren wieder an die Gitarre angelegt. Verlangen nach einem Ton dieses höllischen, verfluchten Instruments strömte durch jede Ader. Es war merkwürdig. Verwirrend. Gegen alle bisherigen Prinzipien und Ideale verstoßend. Lethals Stimme kehrte zurück. Sie schleuderte in die Vergangenheit, Einzelteile des Lebens vor der staatlichen Ausbildung zum Controll kamen hervor. Hervor aus ihrer einsamen Rüstung des Vergessens. Ein schiefer Ton ließ die Gitarre verstummen. Die blassen, geschickten Hände stoppten mit ihrem leidenschaftlichen Spiel. Würde er seine vollkommene Spielweise verlieren, sie hintergehen und fehlerhafte Tonfolgen erforschen? Was war der Sinn dieser Makel, dieser Verunstaltungen, dieser Entstellungen der sogenannten Kunst? War es nicht das Ziel der Kunst sein Fachgebiet im größten Perfektionismus auszuarbeiten? Lethal zupfte wieder an den Saiten seines schwarzen Instruments, probierte eine Reihe von Tönen, Melodienreihen aus. Bis er wieder in seinen eigentlichen Rhythmus gelangte, verging eine gewisse Zeitspanne. Das Lied, das er am gestrigen Tag bereits angestimmt hatte, bekam einen weiteren Anlauf. Doch irgendetwas schien verändert. Die Dynamik harmonierte besser mit der Tonhöhe des Sängers. Seine Stimme hatte sich verändert, seine Art zu singen, war ebenfalls wie ausgewechselt. Es war als hatte sich ein gesamter Wandel in dem Song entwickelt.
Es durchzog den Körper wie ein gewaltiger Schock. Wie eine ozeanisch bemessene Erkenntnis öffnete es die Augen: Die Kunst war keineswegs dar sich dem Perfektionismus hinzugeben. Die Kunst war das Tor zur Offenbarung seiner Gefühle, seiner Gedanken. Seiner Individualität, die von dem Spaß und der Leidenschaft zum Kunstgebiet geprägt war.
Ich stockte. Und schluckte. Es war als hätte sich ein Schalter in mir umgelegt. Die Welt in meinen Augen hatte sich um mehr als um 180° gedreht. Die Welt war nicht grau. Nein, sie gab das gesamte Spektrum des Regenbogens wieder. Allerdings war dies vom Staate verschleiert.
Noch einige Sekunden war ich nicht imstande meinen Blick von seinen spielenden Händen abzuwenden. Da der Rest seines Körpers, insbesondere sein Gesicht, durch das Gelände verdeckt blieb, hielt ich an dem Bildausschnitt seiner Hände fest. Es brannte sich in meine Augen, meinen Geist, mein Gedächtnis, meine Seele, mein Herz. Insgeheim versuchte ich diese Erinnerung mit in Vergessenheit geratenen zu vergleichen, doch blieb erfolglos.
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich war hin und hergerissen. Ein Zwiespalt trennte meine aufkeimende Leidenschaft für die illusionistischen Ideen und mein Pflichtbewusstsein des Controlls in mir. Es war hart eine richtige Entscheidung zu treffen. Ruhe war jetzt mein einzig gesuchter Gefährte. Ich ging zurück nach Hause, dort wo nichts und niemand auf mich warteten und obwohl ich dort nur das Gefühl der inneren Leere verspürte, glaubte ich, dass mir dieser Ort zur Erkenntnis verhelfen würde.
Sonntag, 8:00. Der ganzwöchige Dienst war anstrengend, Urlaub war eigentlich nicht erlaubt. Doch zu verwirrt war ich, als dass ich meine Gedanken hätte ordnen und unterstellen können. Ich wollte Lethal nochmal sehen und heute würde ich sein Gesicht sehen. Ich musste mir klar werden, was ich wollte. Wem ich folgen wollte.
Wieder erhob sich die rostige Treppe vor mir, erhob sich wie eine Leiter in den leuchtenden, Erlösung verheißenden Himmel. Der Atem zog durch meinen gesamten Körper. Die Aufregung stieg in mir. Ich brauchte Gewissheit. Meine Erinnerungen waren wieder gekehrt. Im Traum hatten sie mich besucht. Ich wollte es wissen. Jeder Schritt, den ich weiter auf ihn zu machte, kostete mich ungeheure Kraft, Mut. Doch mit jedem Schritt wuchs die Hoffnung, dass ich endlich ein lebenswertes Leben, das einen Sinn verliehen bekam, führen konnte. Als ich die zwanzig Schritte Distanz erreicht hatte, widerstand ich der Versuchung nach den Händen Ausschau zu halten. Die Verwirrung hatte sich immer noch nicht gelegt. Ich konnte es immer noch nicht recht benennen, was mich zu ihm zog, doch ich würde es herausfinden. Endlich stand ich auf der Dachterrasse, wagte es nicht hochzuschauen. Der Blick an den Betonboden geheftet, schritt ich in seine Richtung. Ich hatte mir in den letzten drei Tagen genau eingeprägt, wo er immer stand, wie er spielte, was er sang. In dieser kurzen Zeit hatte ich sein Selbst in mich aufgenommen. Dann hob ich den Kopf.
Sein Gesicht. Angstverzerrt. Voller Schmerz. Wut. Perplexität. Trauer. Sein Gesicht. Erstarrt, als er mein Gesicht wahrnahm. „Grim… Du bist es doch, Grim?“ Meinen Namen hatte ich lange nicht mehr vernommen. Schwindel erreichte meine Glieder, ich taumelte. Sein Gesicht. Von Leidenschaft und Hass beherrscht, gepeitscht. „Lethal…“ Der Oberst hatte ihn fest im Würgegriff. Sein direkter Blick traf mich hart. „Controll, du hast mich tief enttäuscht. Hiermit wirst du degradiert. Das Zielobjekt wurde festgenommen. Eindeutig der Ketzerei und des Staatsverrat beschuldigt.“ Ein Ruck beförderte Lethal in Richtung der Treppe, die ich kurze Zeit zuvor mit einem sicheren Gefühl betreten hatte. Er war es. Der Junge, den ich vor vier Jahren aufgrund meiner Ausbildung zum Controll aus den Augen verloren hatte. Der Junge, der mich schon damals mit seiner eigensinnigen, antistreambehafteten Denkweise fasziniert und verzaubert hatte. Der Junge, den ich vor vier Jahren gefühlt, geliebt und gelebt hatte. Dieser Junge wurde nun abgeführt, abgeführt unter den Augen Vater Staates, auf den Schwingen der Kunst...
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Tag der Veröffentlichung: 14.02.2013
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