Er wandelte durch die Welt, schattenlos. Der Wind trieb ihn voran, weiße, verträumte Wolken verhangen den blassblauen Himmel. Das Licht am Horizont glimmte schwach auf, die kniehohen Halme, die unterm Weiß des Himmels ihre Köpfe senkten, trieben kahl und kalt an seinem nassen Körper vorbei. Er hustete, die Hand an der Brust, Blick auf den glitzernden Weltenschleier verschwamm, wagte nicht zu Boden zu schauen. Sein Schatten war fort. Die Hälfte seiner Selbst war mit dem Schatten von ihr geraubt worden. Die Welt, die einen kalten Schlummer schlief, schien friedlich, doch in seinem Innern tobte ein Kampf, ein Krieg.
Er hatte Angst. Mut hatte Angst. Angst vor Angst.
Die Dämmerung brach leise, still und heimlich heran, spielte eine unheilvolle Melodie, die ihn zu verfolgen schien. Er musste fort, weit weg von hier. Er musste fliehen. Fliehen vor Angst. Ohne Schatten, ohne den Mut hatte Mut, König der Wünsche, Angst, dass er Angst, König der Albträume, nicht bezwingen, nicht besiegen konnte. Jetzt da dieser seine schützende Rüstung, den Schatte hatte, war Mut Angst, der in der Gestalt eines todkranken Mädchens mit Feuerhaar, schön wie eine Puppe, erschien, gnadenlos ausgeliefert.
Sterben. Tod. Worte, die ihm grausten. Worte, die Mut das Blut in den Adern gefrieren ließen. Das Rauschen des tanzenden Himmels führte ihn hinein in einen dunkel erhabenen, dichten Wald. Das Strahlen der Sterne, die über die Lichtung der hohen Halme wachten, wurde schwächer, je tiefer er in die Masse der Bäume eintauchte. Sein Blick wurde getrübt, ein grausiger Nebel legte sich wie ein Totenschleier um die zeitstille Welt um ihn herum. Ein kurzes, helles Auflachen ließ ihn zurückschrecken. Konnte er sich sicher sein, dass Angst ihn in dieser Welt der Nacht nicht finden konnte? Er hatte keine Wahl.
Das Mädchenlachen verstummte, schwang um, gab ein leises, zerbrechliches Schlaflied wieder. Der Boden unter seinen Füßen gab nach, er sank ein, doch die Kraft, die die Angst in seinen Körper trieb, leitete ihn durch das Unbekannte. Die schwarzen Bäume schienen unter der Last ihrer Kronen zu ächzen, bogen sich ihm entgegen, zeigten ihre grausig verzerrten Fratzen als wären es Tote, die erstarrt zu den Kreaturen des Waldes wurden. Sein Atem ging stoßweise, sein Herz pumpte stärker, schneller. Die Luft verdünnte sich, brachte den Geruch von Schwefel und Feuer. Seine Beine berührten kaum mehr den Boden, es war als würde er fliegen. Fliegen über die Gräber und Gebeine anderer. Die mädchenhafte Stimme wurde lauter, sang hart, gefühllos. Die Stimme schallte heran, wie eine todbringende Säge, eine Sense in seinem Kopf. Plötzlich wurde sein Lauf arg unterbrochen, panisch versuchte er seinen Körper erneut in Bewegung zu setzen, doch wie an Ketten verweilte Mut an Ort und Stelle. Seine Hände suchten nach Halt, die Beine suchten den festen Erdenboden unter sich und die Augen suchten die Umgebung nach feindlichen Gestalten ab. Doch er war allein. Schien allein. Das Wippen der toten, schwarzen Äste erzählte ihm jedoch etwas anderes. Dort oben, über ihm, hockte in kalter Manie, ein dunkles, massives Wessen, dessen grelle Augen ihn gierig anstarrten. In seiner grauenerregenden Angst hatte Mut nicht bemerkt, das er sich in lieblich leuchtenden Spinnweben verfangen hatte. Die Gestalt kletterte ihr Nest herab, besah sich sein Opfer. Es war eine gigantische, fette Spinne, deren Haare wie wilde Dornen in alle Himmelsrichtungen sprossen. Sie hatte feine, lange Beine, die klauenbesetzt waren und am Kopf knirschten riesige Scheren. Acht menschliche Gesichter starrten ihn anstatt von glänzenden Augen an, schrieen ihm zu, er solle verschwinden. Der Gesichtsstehler begann lauter und aufdringlicher mit den Scheren zu klappern, kletterte immer näher heran und verteilte eine stinkende, brennende Flüssigkeit auf dem Körper seines Opfers. Die Stimme in seiner Kehle erstarb, er war kaum imstande sich zu bewegen. Erstarrt. Blaue Lichter unter ihm vollführten einen seltsamen, hypnotisierenden und anmutigen Tanz. Ein flüsterndes Gesumme begleitete sie, trieb sie weiter in diesen irren, unendlichen Reigen. Die Spinne hielt inne, die schreienden, toten Gesichter schauten sich um. In ihren Fratzen Hektik, Nervosität, blanker Horror.
Der starke Nebeldunst trieb weiter, umklammerte das gesichterjagende Geschöpf und zerrte es hinab in die Tiefe. Die grausam schöne Stimme war still, der Wald war still, Mut verharrte in seinem Gefängnis. Ein Sog ließ die Luft gen Norden ziehen, Mut keuchte, versuchte seine Lunge zu füllen bis ein schriller, einsamer Schrei durch die Weiten hallte und ein Zittern, ein Beben die Luft zurück zu ihn trug. Plötzlich schneidender Wind trieb von unten her, aus dem losgelösten, schwimmenden Boden, sprengte das Netz der Spinne. Sobald seine Füße wieder Halt fanden, stürmte er weiter. Diese Stimme, Angst konnte nicht mehr weiter weg sein.
Das dichte Gehölz knarrte, knallte an seinem zermürbten Körper, schlug ihm die Perlen des Schweißes aus dem Gesicht. Die Augen weit aufgerissen, wandelte er weiter, ziellos, kopflos. Weiße Schatten tanzten um ihn herum, kreisten ihn ein. Unförmige, dunkle, kriechende, glutäugige Gestalten kamen auf ihn zu und wild den Kopf hin und herwerfend, scuhte er nach einer Ausflucht aus diesem finstren Ort. Dort erblickte er ein Rot, ein Glühen in der Ferne, das in seinen Augen das gnadenvolle Reich der aus dem Schlaf erwachenden Sonne bedeutete. Doch der Wald wollte ihn nicht gehen lassen. Schlamm und Wurzeln zogen an ihm, an seiner Kleidung. Er watete voran, schwamm, befreite sich von den blutroten Pflanzen, die ihn fest an sich binden versuchten, Es war ihm, als wurde die Luft um ihn herum kälter, sein Körper wurde schwer, alles zog in ihn herein. Mut spürte wie die Kraft ihn verließ, der Moor hatte ihn bereits bis zur Hüfte verschlungen, hatte keinesfalls die Intention ihn wieder auszuspeien. Ein Husten ging durch seinen Körper, er blieb stehen und bedeckte seine Augen. Vielleicht war das alles nur ein Traum, vielleicht hatte Mut keine Angst vor Angst. Vielleicht hatte Mut auch keine Angst vor Tod.
Als er die Augen öffnete, langsam, zaghaft hatte der Zug an seinem triefenden Körper aufgehört. Wieder war der gesamte Wald totenstill, Bewegung war wie eingefroren. Hatte der König der Wünsche das Tabu gebrochen, sich selbst einen Wunsch zu erfüllen? Hatte er den Fluch der Angst, die ihm im irren Verfolgungswahne, wie berauscht, hinterherjagte zerschlagen? Keuchend packte Mut eine ledrige Wurzel, die ihm wie zufällig zuflog, und zog sich nach Luft ringend mit aller Kraft daran hoch, sodass er sich auf dem Bauch robbend gen festen Boden kämpfte. Voll Erschöpfung, Anstrengung, Schmerz schrie er auf, nicht gewillt aufzugeben. Viel zu groß war die Angst, dass Angst ihn einholen konnte. Und wenn das passierte, dann war es um Mut geschehen. Die zittrige Hand nach dem undurchdringlichen Ufer ausstreckend, als er plötzlich Kälte, Verdammnis vor sich spürte. Wie in Trance hob er seinen Kopf an, die geweiteten, starr geradeaus blickenden Augen folgten der Bewegung, versiegender Atemzug. Haut wie Schnee, eben wie Marmor, durchzogen von blau-grünlichen Linien, brüchige Nägel, die von dunklen, kranken Blut tropften und chaotisches, feuerrotes Haar, das wirr den mageren Körper umschlang. Sie schwebte, knapp 5cm über der Mooroberfläche, gehüllt in ein aschgraues, unheilverkündendes Gewand. Ihre schwarzen, alles verschlingenden Augen sahen ihn eindringlich an, voller Gier und Rachelust. Dann beugte sie sich langsam vor, drehte ihren Kopf um 360° und grinste ihn mit einer derart grauenerregenden Fratze an, dass er zurück in das Moor kroch. Doch ihre roten Haare bewegten sich wie Tentakel auf ihn zu und umschlangen ihn, zerrten, zogen an seinem feuchten Körper, der zermürbt war von dem Todeskampf mit der Natur. Angst fauchte ihn an, stieß sterbende, vertrocknete Geräusche aus, umklammerte mit ihren dürren, knochigen Armen seinen Kopf und schien ihn fast liebevoll zu umarmen. Irritiert versuchte Mut sich zu entwinden, versuchte diesem flauen, unsicheren Gefühl tief in Innern seiner Seele keine Chance mehr zu geben weiter zu sprießen, zu fürchterlicher Größe wachsen. Die warme Luft ausstoßend blickte er seinem Todfeind entgegen, wusste nicht wie er ihm jetzt noch entkommen sollte. Es war als täte sein Herz die letzten Schläge schlagen, die Zeit stand still, der Nebel verweilte wie in einer verzauberten Glaswelt, nur Angst Knurren schallte durch die Weiten des Waldes. Eine plötzlich um sich greifende Kälte nahm Besitz von Mut, hielt ihn in seiner Starre gefangen. Irres Grinsen machte sich auf Angst‘ Gesicht breit, vertrieb die Lähmung in Mut’s Körper. Seine Muskeln schwellten an, spannten sich an, schlugen nach dem feuerroten Mädchen, sodass die Haare sich allmählich von ihm lösten. Ein Schrei löste sich von ihm, ein Tritt in ihren Bauch und Mut wurde im hohen Bogen gegen einen Baum geschleudert. Ein Stöhnen ging durch seinen Körper und zitternd rappelte er sich auf. Das Mädchen in dem schmutzig wirkenden Gewand drehte sich wie in Zeitlupe um und schwebte schnell wie das Licht vor ihn. Er hob das Gesicht und starrte in die schwarzen Augen, die immer näher zu kommen schienen. In ihrem schier unendlich großen Mund blitzten dolchartige Zähne hervor und gierig strich sie sich mit der schlangenähnlichen Zunge über die bleichen Lippen. Wieder brachte sie erst ein Gurgeln, ein Würgen hervor, bis sie wieder ein leise aufkommendes Wiegenlied anstimmte. Der Schweiß rann an seiner Stirn herunter, trübte seinen Blick. Obwohl seine Kehle trocken war, brach seine Stimme allmählich hervor: „Angst, König der Albträume… Du hast mir meinen Schatten gestohlen… Was willst du noch von mir?“ Das Mädchen wurde stumm, sank langsam auf den Erdboden. Als die weißen Zehen den feuchten Boden berührten, knickte ihr Kopf zur Seite weg. „Mut… König der Wünsche… Angst gebiert den Mut… Mut gebiert die Angst... Und du wirst mir nun folgen!“ Die Krallen nach Mut ausgestreckt, riss Angst das Tor zum Fegefeuer auf und verschwand in der Dunkelheit. Immer weiter entfernten sie sich von den sich ihnen entgegen beugenden Bäumen, jeglicher Ton wurde von der Finsternis verschluckt und der Atem stockte. Als er zwischen Leben und Tod nicht mehr unterscheiden konnte, drang etwas helles, reines in ihn hinein, schenkte ihm das Gefühl vollendet zu sein. Vollkommen mit Angst.
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Tag der Veröffentlichung: 20.12.2012
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