Das Leben langweilte mich. Ich stand an den Glasfenstern des Apartments und blickte hinaus. Die Scheiben waren bedeckt mit fettigen Fingerabdrücken und wilden Farben, die pures Leben hinausschrien. Seufzend drückte ich mir meine kalte Stirn flach und beobachtete die junge, hitzige Menge, die noch immer feierwütig durch die überströmten Straßen zog. Ihre Kleidung glühte und leuchtete förmlich in der prallen Mittagssonne, die satt über den gegelten und aufwendig gestylten Köpfen hing. Auffällig wedelten und fuchtelten sie mit den kräftigen Armen, die mit blendendem Körperschmuck und Zeichnungen verziert waren, als wollten sie mit ihrem ungewöhnlichen Tanz weitere ihrer Seelengesinnter anlocken. Ihr Gesang, ihre Schreie und ihr Gegröle drangen bis zu mir hinauf und nervten mich einfach. Verärgert riss ich die Fenster auf, wühlte mich zwischen Fahnen, Konfettischlangen und Werbebänder hervor und spuckte einem buntbemalten Glatzkopf auf die glänzende Stirn.
Der Alltag hatte begonnen. Ich schnaubte und schlürfte zurück zum Bett, wo noch meine Klamotten lagen. Dort hockte er und strich ihr, während er mich keck anlächelte, die Haare aus dem entblößten Dekolleté. „Wir drei hatten gestern viel Spaß, wie? Sollten wir zu zweit nochmal wiederholen!“ Zwinkernd lachte er mich an und musterte meinen nackten Körper als ich mir das weiße, zerschlissene Hemd und die schwarze Skinny-Jeans überstreifte. „Was ist Spaß schon in unserer verrückten Welt.“ Mit diesen Worten verließ ich sein Luxusapartment und begab mich auf die überfüllten Straßen von Anarchpolitan. Ich schritt an umgeworfenen, farbenfroh bekritzelten Autos und lichterloh brennenden Mülltonnen vorbei, drängte mich zwischen ätzenden Menschen, die vom Geschäftsmann bis zum Visu alle Gesellschaftsschichten vertraten und bedeckte meine müden Augen vor greisigen Nudisten, die hüpfend und fröhlich lachend den sogenannten Straßenverkehr unsicher machten. Viel zu häufig beobachtete man einen Zusammenprall solcher plötzlich auftauchenden Leute mit rasenden Sportwagen, zu häufig sah man wie die tödlich verletzten Menschen dann einfach überfahren und liegengelassen wurden. Ich musste einfach weiter.
Verschiedenste Musikrichtungen erfüllten die Luft, Gerüche exotischer und heimischer Art lockten die Nasen und allerlei Kunstwerke an schmierigen Wänden und zerbröckelndem Boden beglückten das Augenlicht, wenn auch nur für kürzeste Zeit. Es gab hunderte Geschäfte, Läden und einfache Straßenstände, die mehr oder weniger besetzt und besucht wurden. Ab und an überfielen Jugendgangs diese belebten Einkaufsviertel, schlugen Glasscheiben ein, zertrümmerten Wände und Türrahmen um Nahrung und ein wenig Vergnügen zu haben. Ich atmete tief die dicke, schwärzlich angehauchte Luft ein: Sie war voll unterschiedlichster Dämpfe. Dämpfe sowohl positiver als auch negativer Natur jagten geradewegs meine Lunge entlang, doch das war mir gleichgültig. Die Lebenserwartung in dieser Stadt war ohnehin nicht sonderlich hoch, von daher brauchte man als Bewohner Anarchpolitans keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Stumm trat ich in einen Haufen Abfall und bemerkte die Exkremente und Nahrungsreste, die von einem herumstreunenden Waschbären gefressen wurden. Bevor ich ihm etwas Brauchbares hinwerfen konnte, wurde dieser jedoch schon von Kindern entdeckt und gejagt. Sie waren alle im Schulalter, doch ihre Uniformen waren beschmutzt und teilweise angerissen. Kinder, die anstatt zum Unterricht zu gehen durch die verrottenden Straßen zogen, sah man hier nur zu Hauf. Viele von ihnen waren Waisen oder unehelich gezeugte Kinder, weshalb sich ihre Eltern um ihre Erziehung und Bildung einen Dreck scherten. Aber auch den meisten von ihnen war die Schule völlig gleichgültig, lebten sie doch nur für ihr eigenes Vergnügen. Irgendwie würden sie in dieser verfluchten Metropole schon überleben. Es ging mich überhaupt nichts an, was hier andere mit ihrem Leben anstellten, dennoch warf ich den zwielichtigen Gestalten in einer der zahlreichen dunklen Gassen einen warnenden Blick zu. Handel jeglicher Art, sei es Drogen- oder gar Menschen- und Organhandel, war hier Teil des öffentlichen Lebens und daher kein allzu seltener Anblick. Obgleich der Himmel strahlend blau seine Arme über Anarchpolitan streckte, die Tatsache, dass die Menschen hier litten war unübersehbar. Und doch erkannten sie in ihrem unverfrorenen Egoismus ihren eigenen Schmerz nicht.
Grausame Schreie durchdrangen die wundersamen Melodien, aber so gut wie jeder hier ging ohne zu Hilfe zu eilen oder sich auch nur umzudrehen vorbei. Im Strom der Zeit. So auch ich. Und wenn es gerechtigkeitsliebende Wesen in dieser schattenhaften Welt gab, so jagten sie als Kopfgeldjäger durch die verdreckten Wege und ließen der Selbstjustiz ihren Lauf, indem sie auf unmenschlichste Art und Weise jene richteten, die ihrer Meinung nach Falsches taten. Doch was war hier noch richtig, was falsch? Tabus existierten in Anarchpolitan nicht. Hier gab es keinerlei Gesetze bis auf eines:
Der Individualismus eines jeden Menschen regiert. Die absolute Freiheit des Menschen ist das oberste Recht, das befolgt werden muss.
Vorbei an offenen Feuern, an denen sich das Höllenfeuer labte und durch die es an immer weitere und größere Teile dieser Stadt für sein Reich der Zerstörung und Verwüstung gelangte, vorbei an hilflosen Frauen, die von geisteskranken Männern mitten am Tag und mitten auf der Straße angefallen werden und vorbei an verschiedensten Lebenseinstellungen ohne Moral und Ethik, die diese verdammte Stadt in Zwiespalt trieb.
Auf der anderen Straßenseite erblickte ich meine Mutter, die Suppe an gebrechliche Vagabunden verteilte. Vielleicht war es das letzte Mal, dass ich sie so sah, aber in meinem Arm war nicht genügend Kraft sich zu heben. Beziehungen zwischenmenschlicher Art waren eher Nebensache, die Welt war fast vollständig von Egoisten geprägt. Überall eilten die Menschen an mir vorbei, voller Gedanken, leer von Liebe. Ohne meinen verschwimmenden Blick von ihr zu lösen, trat ich in das größte Gebäude von Anarchpolitan ein. Die Bürgervermittlung, die es dem freien Bürger von Anarchpolitan ermöglichte dorthin zu gehen, wohin es ihn gerade trieb. „Wohin geht es denn?“ Der Vermittler, der hinter der gräulichen Glasscheibe saß, blickte mich aus trüben, fast schon greisigen Augen an, obgleich er erst mittleren Alters schien. „Equal Ville. “ Mit erstauntem Gesichtsausdruck schob er mir einen Antrag zu. „Dort war schon lange niemand von hier. Bist du dir sicher, Kleiner?“ Ich nickte unbeeindruckt. „Es wäre möglich, dass du nicht mehr hierher zurückkehren könntest.“ Abermals gab ich ein monotones Nicken von mir. „Und wenn schon. Hier ist es eh langweilig.“ Er überlegte kurz und gab mir dann einen Kugelschreiber, dessen Griff blank poliert war. Seltsame Hobbies gab es schon. „Mit deiner Unterschrift gibst du deine Bewilligung zur Reise frei. Dir ist gestattet so lange zu bleiben wie du willst. Wenn nicht für immer.“ Ich packte mir noch ein wenig Geld in die Hosentasche und trat dann in das Teleportgate. Da jede einzelne Stadt 1000km von der nächsten Stadt entfernt lag, war es die angenehmste und modernste Art zu reisen. Spüren tut man nichts, obgleich man dematerialisiert und wieder materialisiert wird. Natur oder den allmählichen Beginn der Zivilisation konnte man ebenfalls nicht erwarten zu sehen. So waren halt die Reisen in fremde Welten. Langweilig und unspektakulär.
Als ich meine Augen wieder öffnete, erhob sich ein gewaltiges Tor vor mir. Stacheln und Spitzen aus Stahl versperrten unbefugten Eindringlingen den Weg hinüberzuklettern. Grau und Schwarz waren die Steine übereinander gestapelt, standen für unerschütterliche Disziplin und gewissenlos perfekte Arbeit. Ich schluckte kurz. Der Wind zog wie ein eisiger Schatten über mich hinweg, stahl mir den vergeblich winzigen Rest meiner inneren Wärme, die mir noch von meiner verwunschenen Heimat geblieben war. Die Sonne hier hatte scheinbar nicht genügend Kraft durch die dicke Wolkendecke, die das himmlische Reich vom irdischen Leben abgrenzte, zu dringen. Kein Baum, keine Pflanze noch nicht mal der schmächtigste Grashalm wagte aus der blassen Erde sich dem Leben entgegenzustrecken. Ich trat einige Schritte auf Equal Ville zu. Dort stand in riesigen, schwarzen, fettgedruckten Buchstaben der Name der Stadt, voller Stolz die eigene Regelordnung offenbarend. Im entseelten Wind wehte die gräuliche Flagge, die unpassender Weise ein schwarzes Herz im Zentrum stehen hatte. Zwei Männer in grauen Overalls, gezwängt in Schutzwesten, standen vor dem Tor, die eine Hand an einem Hebel, der höchstwahrscheinlich zur Öffnung des Tores benötigt wurde. „Lasst mich eintreten. Mein Name ist Blaze Law. Ich bin Einwohner von Anarchpolitan und möchte hier in Equal Ville Urlaub machen.“ Die Männer sahen mich gefühlskalt an und sagten synchron und im völlig identischen Stimmlaut: „Die Einreisebewilligung. Einwohner von Anarchpolitan werden hier auf gründlichste auf Waffen, Sprengstoff, Drogen oder ähnlich illegale Materialien hin überprüft. Sollten dennoch gefährliche Besitztümer übersehen werden und später bei Ihnen vorzufinden sein, so nehmen wir uns heraus, Sie auf der Stelle zu eliminieren.“ Ihre schwarzen Augen sahen mich eindringlich an und ihre Hände verkrampften sich auf den Hebel ruhend. „Ich habe verstanden.“, sagte ich während ich ihnen die Bewilligung überreichte. Einer von ihnen nahm es in die Hand und las alle Punkte und Fakten genauestens nach, der andere schob seine Hände derweil in riesenhafte weiße Handschuhe und tastete mich peinlich genau und tadellos perfekt ab.
Sie ließen mich gewähren. Vorsichtig tastete ich mich heran und wartete das sich wie in Zeitlupe öffnende Tor ab, um behutsam einzutreten. Es war als zerstörte ich eine unbändige Harmonie, als ich in die Menschenmenge tauchte: Überall liefen die Menschen in denselben grauen Overalls wie die Wächter am Tor in Reih und Glied umher, die schwarzen Haare in ordentlichen, einwandfrei liegenden Kurzhaarfrisuren, die schwarzen Augen immer auf den Vordermann gerichtet. Ich fühlte mich einfach anders in dieser Fülle von fehlerfreier Ordnung und mustergültigen Drill mit meinem braunroten Wuschelkopf, den cyanblauen Augen und der punkig unordentlichen wirkenden Kleidung.
Meine Beine führten mich durch die graue Stadt der Gleichheit. Die schlichten, bescheidenen Häuser stapelten sich wie ihre Herren gleichmäßig und völlig symmetrisch aufeinander folgend. Mir fiel auf, dass grundsätzlich alles hier spiegelgleich designt und aufgebaut wurde. Alles, Gebäude aller Art, Laternen, die Straßen und sogar die Bordsteine waren perfektionistisch wohlgeformt und vollkommen aufeinander abgestimmt. Selbst die Menschen hier waren körperlich völlig symmetrisch. Irgendwie ähnelten sie sich alle, wie eine gigantische Familie, die eine einzige Stadt bewohnten. Unsicher ging ich an den Schlangen der Menschen vorbei, blickte mich nach anderen Urlaubern um. In einer fremden Welt erstarkt das Gefühl der Ungewissheit, der Eindruck der Selbstzerstörung. Ich spürte ein Kratzen in der Kehle, irgendetwas störte mich an Equal Ville. Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch wusste ich noch nicht was es war. Auch innerhalb der Tore war nicht ein einziges Mal das Blattgrün des Lebens auszumachen und auch kein animalisches Wesen kreuzte meinen Weg zum einzigen Hotel der Stadt. Waren die Verhältnisse hier dermaßen schlecht, das noch nicht mal kleinste Lebewesen eine Chance hatten zu überleben?
Bis auf das Hotel gab es nur Wohnhäuser hier in Equal Ville. Man wollte sich durch Besitz eigener Läden ja nicht von der Masse abheben. Mein Blick schweifte über die schwarzen Köpfe hinweg, die matte Sonne dämmte das Grau ihrer Kleider und es schien mir als stände ich als ein winziges Feuer in mitten eines titanhaften gräulichen Ozeans, der abertausende schwarze sich auf die Schuppe gleichende Fische beherbergte. Eine Regierung gab es auch hier nicht, denn alle Menschen waren gleich und gleich bedeutsam. Die erste Gemeinsamkeit, die diese Stadt mit meiner Heimat verband. Ich atmete erleichtert auf. Vielleicht war Anarchpolitan doch nicht ganz so grundverschieden zu anderen Städten. Je näher ich dem Hotel kam, desto mehr Touristen kamen mir entgegen. Endlich war ich nicht mehr der einzige, der ein anderes Aussehen als die Einwohner von Equal Ville an den Tag legte. Sie schienen von überall her zu kommen, Menschen, die sich eine Stadt aufgrund ihrer Lebensweise wie ein riesiges Denkmal anschauten und begutachteten. Allmählich fragte ich mich, ob es in Anarchpolitan ebenfalls Touristen gab. Allerdings würden sie in der Flut der Farben niemals auffallen. Ich blickte mich auf dem Platz vor dem Hotel um, doch erblickte niemanden, der auch nur im Entferntesten meiner Heimatstadt angehörig sein könnte. Es schien nichts zu geben, was die Menschen in Anarchpolitan irgendwie miteinander verband und sie zu einer Gemeinschaft zusammenschloss wie hier in Equal Ville. Selbst wenn ich meinen Nachbarn hier Auge um Auge gegenüber gestanden hätte, ich hätte wetten können, ich hätte sie niemals wiedererkannt. Die Individualisten schienen wohl doch nicht so besonders zu sein, wie sie immer von sich dachten. Nicht einmal eine Flagge hatten wir, kein einziges Symbol oder gar eine Hymne.
Schnell schüttelte ich den Gedanken ab und machte mich mit energischen Schritten weiter in Richtung Hotel. Es trug mit goldener Aufschrift den Namen „Home“. Prächtig wie kein anderes Gebäude schien es diese graue Wüste wie ein fliegendes Schloss zu überragen. Obgleich sich die Sonne hier nur schwach durch das Blass der Wolken kämpfte, ließen jene wenigen Sonnenstrahlen Home nur noch mächtiger erscheinen. Es erschien mir in jenem Augenblick wie das Licht am Ende eines dunklen, bedrohlichen Pfades, wie eine verlorene Stimme in der unendlichen Einsamkeit. Erschöpfte lehnte ich mich gegen die Glasstür, drückte sie mit letzter Kraft auf. Süßlicher Duft hieß mich sofort willkommen, angenehme Kühle hüllte mich ein und natürliches, sympathisches Personal führte mich sanft zur Rezeption, an der ich mich ohne Komplikationen anmelden konnte. „Verehrter Herr Blaze Law, bitten lassen Sie mich auf ein spezialles Programm aufmerksam machen.“, lächelte mir die Frau an der Rezeption an und sprach weiter ohne ihre Lippen zu bewegen. „Wir bieten jedem Touristen an, einmal in den Alltag der Einwohner von Equal Ville zu schnuppern. Zu diesem Zwecke würden wir ihnen eine Art Identität vermitteln, sodass sie wie jeder andere hier auch, alles über die Graue Stadt der Liebe in Erfahrung bringen können.“ Ich blinzelte die freundliche Dame an. „Alles?“ Sie nickte aufrichtig. „Alles. Equal Ville hat keine Geheimnisse.“ Meine Augen wanderten das Stück Papier entlang, das sie mir vor das Gesicht hielt. Es war ein alter Flyer, der für die lehrreiche Tour „Live Equal Ville“ warb. Tour? Wie konnte man einen Rundgang in dieser grauen Stadt als Tour bezeichnen, obwohl es noch nicht mal Denkmale für den Stadtgründer gab? Die Neugier beflügelte meinen ausgelaugten Geist und ich setzte meine Unterschrift darunter. Hier musste man scheinbar für alles sein Einverständnis geben. Ätzend. Ein klein wenig vermisste ich die ungestüme Art einfach das so zu machen, worauf man gerade Lust hatte. Gleichzeitig aber freute ich mich darauf eine völlig neue Sichtweise kennenzulernen.
Das Hotelzimmer war nicht sonderlich luxuriös oder geräumig, war nun mal im bescheidenen, farblosen Stil der Stadt gehalten. Doch das war mir im Grunde so ziemlich unwichtig. Nachdem ich fertig geduscht und enttäuscht festgestellt hatte, dass der einzige TV-Sender ein tagtägliches Programm aus Gottesdienst und Predigten war, ging ich etwas nervös in dem eingeengten Raum auf und ab und dachte über den morgigen Tag nach. Ob es wirklich eine gute Idee war einen gesamten Tag der Denkweise eines fremden Volkes zu widmen? Unter dem blauen Mond, bedeckt von den durch den Wind zerpflückten Wolken, bereitete ich mich mit schlechtem Gewissen auf den morgigen Tag vor.
Verspielt blies mir der Sturmgott ins Gesicht, während die Sonne gestärkt zurückgekehrt war und ihr Antlitz aufglühen ließ. Ich glaubte, es sei ein schöner Tag für ein vollkommen neues Erlebnis. Mir wurde rasch ein bescheidener grauer Overall übergestülpt, die Haare mit einer schwarzen Perücke überdeckt und die Augen mit Augentropfen für einen Tag dunkel gefärbt. Ich fühlte mich wie neugeborener und sah die Welt plötzlich aus einem völlig anderen Blickwinkel. Zunächst wurde die Schar von Touristen, die nun ein Teil der großen grauen Familie war, in die Stadtsmensa geführt, wo sie ihr erstes Mahl als Einwohner von Equal Ville aufnehmen konnten. Unterdessen verschmolz ich mit der Masse und fühlte jeden Herzschlag und jeden Atemzug, der durch meine Mitmenschen ging. Hier zählte nicht der Einzelne. Nein, hier waren wir eine großes Ganzes. Es war unglaublich positiv mitzuerleben, welch Wärme und Liebe durch diese Menschen floss. Keiner war sich hier fremd. Sie wussten wem sie da gegenüberstanden und verstanden einander ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Die Nahrung war elektrische Energie in Form von weißen Kapseln, die jeder in gleicher Menge zu sich nahm. Die Reihen war geordnet und zivilisiert hintereinander gestapelt, es gab niemanden, der drängelte oder pöpelte, dass die Vorderen sich beeilen sollten. Obwohl der Geschmack der Kapsel zu wünschen übrig ließ, war ich fasziniert, wie ruhig und gesittet hier alles zu ging. Allerdings fehlte mir das muntere Geblubbere der Menschen, die versammelt ihre Nahrung zu sich nahmen.
Nachdem jeder seine Kapsel in seinen Kreislauf eingefügt hatte, wurde sich in völliger Synchronität erhoben. Nur die verwirrten Touristen blieben noch sitzen, wollten noch einige Tropfen Wasser aufnehmen. „Verehrte Tourgemeinschaft, bitte folgen Sie mir, dem Tourleiter in Reih und Glied. Wir werden uns den Bewohnern von Equal Ville anschließen." Der hagere Mann in dem grauen Overall vor uns, hob eine Schild auf dem das Wappen des Hotels "Home" abgebildet war. Wie hirnamputierte Enten folgten wir den grauen Schwarzköpfen vor uns, ohne ein Wort zu sagen. Mein Enthusiasmus, den ich zuvor gespürt hatte, verschwand. Der Ausdruck in meinem Gesicht glich sich denen der Leute um mich herum an. Es wurden keinerlei Gefühle zum Ausdruck gebracht. Ich war Gefangener des grauen Flusses, der das Leben von Mal zu Mal aufnahm.
Plötzlich stand der Leiter abrupt still, drehte seinen Kopf wie eine Marionette schlagartig in die Richtung der Folgenden. „Ihnen wurde noch keine Identität nahegelegt, weshalb ich Ihnen nun ihre Nummer zuweisen werde." Nummer? Wurden diese Menschen denn hier überhaupt als solche angesehen? Waren ihre Existenzen hier mit Maschinen, die stur einer Richtung folgten, gleichzusetzen? Der Leiter streckte jedem ein Nummern Schild entgegen und sprach erklärend dazu: „Jeder hier trägt den Namen >>Mensch<<. Der einzige Unterschied, der hier geduldet wird, ist das angeborene Geschlecht, dass durch E, von Eva abstammend, und A, von Adam abstammend, gekennzeichnet wird. Ferner werden sieben Ziffern hinter dieses >>Mensch E/A<< gestellt. Diese setzen sich aus der Reihe, in welcher man mitmarschiert, aus dem Alter und aus dem Monat, in welchem man in Equal Ville zum Bürger wurde, zusammen. Folglich wäre Mensch E-03-037-12, eine 37-jährige Frau, die in der dritten Reihe marschiert und im Dezember in Equal Ville eingebürgert wurde. Allerdings ist die Nummer zur blossen Erkennung, nicht zur Individualisierung, also denken Sie sich bitte nichts dabei." Beim Hinzufügen des letzten Fakts, warf der Leiter Mensch A-11-044-03 mir einen argwöhnischen Blick zu. Ich steckte mir meine Nummer an den Overall, ignorierte meine Nummer. Schließlich war ich Blaze Law.
Die Tätigkeit für die nächsten Stunden, war nicht sonderlich interessant. Brav und wie in Zeitlupe schritt ich den anderen hinterher, lauschte ihrem Gleichschritt und wunderte mich über die Tatsache, dass überhaupt niemand hinfiel oder stolperte. Hier schienen alle Menschen perfekt. Kräftig, perfekt geformt und auf ungefähr gleicher Höher. Sie glichen Sardinen, die man in identische Teile geschnitten und in die engen Dosen gedrückt hatte. Allerdings fühlte ich mich wie in den Armen einer liebenden Mutter, als ich allmählich mit den Leuten um mich herum eins wurde. Jeder Schritt, jedes Atmen, jede Augenbewegung war völlig auf die Personen vor, neben und hinter mir abgestimmt. Für einen Moment vergaß ich meinen Namen, meine Welt und meine Vergangenheit. Mein Leben. Ich war ein Mensch, der mit allen die Bedeutsamkeit der Liebe gleichsam teilte. Meine Augen schlossen sich und ich verlor mich in den grauen Wellen, die nach meinem Herzen griffen. Auch der Wind schien mich in ihre Fänge schieben zu wollen, ließ er meine Schritte leicht und ebenmäßig erscheinen. Ich fühlte mich schwerelos, wie noch nie, so als befände ich mich in einem nie endenen Traum. Die Zeit war keineswegs dein Feind. Hier gab es nichts das einem Angst zu bereiten hatte.
Wie ein Blitz in der schwärzesten Nacht schoss ein gigantischer Vogel über die Köpfe der Menschen vorbei und sofort wurde ihre innere Harmonie gestört. Zum ersten Mal seit ich hier war, sah ich einen Ausdruck in den schwarzen, vergessenen Augen ein Gefühl der Angst. Der Panik. Sie toben auseinander, jeder gewillt, dem tödlichen Angreifer zu entfliehen. Doch als der Vogel wie ein Geist wieder verschwunden war, blickten sie sich nur nochmal kurz um, bewegten sich jedoch wieder im gleichsamen Schritt. Nur ich stand in mitten von ihnen, blickte auf die schwarze Perücke herab, die der Vogel mit seinen mächtigen Schwingen von meinem Kopf gerissen hatte.
Die letzte Station, die der Leiter mit uns anstrebte, war der Platz des Friedens. Dies war ein leere Fläche, die zur Glaubensbekennung diente. „Unser Glauben ist der Wille Gottes. Er macht uns alle gleich. Wir alle sind gleich bedeutsam für ihn." Voller Würde hob der Priester, der wie hier aussah, seine Arme gen Himmel und sprach Lob größter Liebe aus. Trotz der tristen Gestaltung Equal Villes erstrahlte der Platz des Friedens getaucht in ein grelles Abendlicht. Der Himmelsstern, der stolz die tausenden Arme nach der Welt streckte, brannte im tiefsten Rot, vom Silber des aufsteigenden Mondes unterbrochen. „Er lehrte uns: Die Liebe keinem Menschen je vorzuenthalten und den Hass in die Dunkelheit der Nacht zu sperren. Herrscht die Liebe in der Welt, so verschwindet das Leid. Krankheiten werden sterben, der Tod ist dem Menschen gleichgesinnt. Das Streben nach Ruhm, Geld und Macht ist für uns Menschen nunmehr bedeutungslos, gibt es doch keinen Unterschied, der Arm oder Reich festlegt. Jeder, der hier in Equal Ville, weiß von dem inneren Glück, dass uns alle durchfließt, wenn wir alle zu einem großen Ganzen verschließen. Lasst uns dem Herrn unseres Leben dafür danken, dass wir unsere Liebe mit jedem teilen dürfen und bitten dafür, dass noch weitere unserer Art, diesen neuen, wahren Weg einschlagen werden." Der Priester hatte sich in Ekstase geredet und wirbelte mit entgleisenden Gesichtsausdrücken herum, während die Menschen ihre Arme erhoben und um weitere Bekehrungen baten. Verwirrt sah ich umher. Waren das wirklich ihr eigener Wille, der noch ihre Aktionen lenkte? Equal Ville schien perfekt und dennoch schien es mir alles andere als perfekt. Wo war denn die Liebe von denen alle sprachen, wenn hier kein einziges Kind umher lief? Warum zeigte niemand seine unendliche Liebe dem Fremden neben ihm? Es war auch sehr fraglich, ob es Glück überhaupt geben könnte, wenn Leid nicht existent war.
Schlagartig brannte der Freiheitsliebende Sinn in mir auf und ich schrie in die betende Menge hinein: „Könnt ihr euch eurer ewigen Liebe, die jedem zugänglich ist, hingeben, wenn ihr euch nicht einmal selbst genug leben könnt, um einzusehen, dass eure Herzen sich nach etwas völlig anderes sehnen? Ihr dürft keiner Tätigkeit nachgehen, die einen anders macht. Nichts, was von eurem persönlichen Geschmack abhängig ist. Nichts, dass euch persönlich wichtig ist. Seid ihr euch überhaupt nicht bewusst, dass ihr wie Marionetten eurer Leben mit Herumwandern verschwendet? Was ist der Sinn des Lebens denn für euch, wenn ihr die Liebe als selbstverständlich haltet und jeden Menschen für gleich. Wenn keiner von euch etwas besonderes ist, was macht es dann für einen Sinn, dass ihr so zahlreich das Gesicht dieser Welt verschandelt?" Ich spürte einen Zug an meinem Gesicht und ließ meinen Blick schweifen. Alle Menschen hatten sich mir zugewandt, lauschten scheinbar meinen Worten. Die Luft wurde sonderbar frisch und der rot verwaschene Himmel löste sich in einem dunklerem Horizont. Meine rechte Hand wanderte wie gelenkt in eine Innentasche des Overalls, während die linke mir die Perücke vom Kopf zog und somit meine braunroten Haare zum Vorschein kamen. Ich holte ein Leintuch hervor und warf eine blaue Flagge hoch in die Luft. Die Wärme kletterte an mir hinauf, als die Menge langsam auf mich zu schritt. „Ich weiß, ich habe kein Recht über eure Stadt zu urteilen, denn auch meine Heimat Anarchpolitan hat haufenweise Makel. Diese Welt ist gespickt von Fehlern. Keiner ist perfekt, aber wir Menschen sollten zusammen daran arbeiten, unsere Erde zu einem besseren Ort zu machen, wenn auch nur für ein kleines Stückchen. Wir haben das Recht unsere Entscheidungen aus eigenen Willen zu fällen, als freie Wesen!" Meine Hand rauschte in die Höhe, in Richtung der fliegenden Flagge über mir. Ich hatte sie in der Nacht zuvor für Anarchpolitan kreiert. Sie war in der Farbe des Himmels und als Symbol der Freiheit und des Individualismus prankte ein großer, majestätischer weißer Vogel in der Mitte. Der aufkommende Wind packte sie, wirbelte sie im Tanz der aufstrebenden Nacht davon, der Himmel weinte bittere Tränen in das graue Tal hinab. Um mich herum war es völlig still und die Menschen blickten mich nur stumm an, als die Arme mich fest umschlossen. Doch als das Blau der Flagge vollkommen frei am Firmament verschwunden war, war es bereits zu spät für mich im Rot der Sonne zu entfliehen...
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Tag der Veröffentlichung: 15.08.2012
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