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Drachenstolz und Menschenblut




Alles war still. Der Häftling saß ruhig hinter der Glasscheibe, mit gesenktem Kopf. Seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt, die Wärter standen bereit. Bei ihm wusste man nie. Ich sah durch das Fenster der Eisentür und ließ sie mir langsam öffnen. Heute wollte ich ihn besuchen, ihn ein wenig aufbauen. Als er das Quietschen der Tür vernahm, sah er auf. Unter seinen Augen kringelten sich dunkle Ringe, doch war sein Äußeres gepflegt. Ich lächelte ihn an und seine Mimik hellte sich merklich auf. Der Holzhocker vor mir sah nicht sehr einladend und stabil aus, dennoch setzte ich mich. Wir saßen uns Auge um Auge gegenüber und sehnsüchtig rückte er an das Glas, das unter seinem heißen Atem beschlug. „Mein Freund, schön dich zu sehen.“ Wieder musste ich lächeln. Ich freute mich, dass er mich immer noch als Freund ansah. Glücklicherweise hatte er sich nicht vollkommen von der Welt losgesprochen.
„Ich bin hier um dir ein wenig Trost zu spenden.“ Seine trüben Augen leuchteten kurz auf und er beugte sich erwartungsvoll vor.

„Ich werde dir eine kleine Geschichte erzählen. Das Drachentattoo auf deinem Oberarm. Warum hast du dir so ein Motiv stechen lassen?“ Er legte seinen Kopf schräg und blickte dann auf den stolzen Drachen, der feuerspeiend auf seiner Haut prangte. „ Die Riesenechse vermittelt mir Stärke und Stolz. Der Drache ist frei und kann fliegen, wohin er will. Ist das nicht etwas, was sich jeder wünscht?“ Die Sehnsucht sprühte förmlich aus seinem ganzen Körper hervor, mir entwich abermals ein Lächeln. „ Ja, du liegst vollkommen richtig. Drachen sind stark und frei. Doch, das ist nicht alles. Die meisten Menschen glauben, dass Drachen Wesen sind, die nur Verwüstung und Tod übers Land bringen. Drachen sind ihrer Meinung nach gefährliche Räuber, die Menschen nur zum Spaß attackierten. In vielen Geschichten sind sie es, die Prinzessinnen und Jungfrauen gefangen hielten und schon viele Menschenopfer verlangt haben.“ Ich sah ihn an. Ich musste mir ganz sicher sein, dass er alles verstand, was ich ihm sagen wollte. „Du redest, als gäbe es tatsächlich Drachen.“ Er kratzte sich am Kopf, schien sich zu schämen, dass ein Verrückter wie ich ihn besuchen kam.

„Sie verschwanden vor langer Zeit. Vor so langer Zeit, dass es jetzt fast niemanden mehr gibt, der das wahre Wesen der Drachen kennt. Wir Menschen zerstören alles, was uns fremd erscheint und uns ängstigt. Alles, was uns im Weg steht und uns in unserer egoistischen Freiheit einschränkt wird ausgemerzt. Dabei vergaßen wir, dass alle Wesen das Recht haben zu leben. Die Drachen, die eins mit den Elementen und der Natur waren, wurden Opfer unseres Denken. Sie waren wunderbare Wesen. Es gab tausende ihrer Art, alle waren in ihren eigenen Formen individuell. Einige von ihnen gehörten der Gattung der Hitze an, glühten im Tiefsten feuerrot. Andere waren Individuen der Schwarzen Drachengattung. Wiederum andere kühlten ihre Sinne im Gewässer der Seen und Flüsse als Drachen des Wassers ab. In China soll es bis heute die weisen Nachfahren der Glücksdrachen geben. Du siehst also: Drachen sind uns nicht ganz unähnlich. Wir alle gehören einer Art an, sind jedoch ganz verschieden. Äußerlich sahen auch sie völlig unterschiedlich aus, sei es die Schuppenfarbe, die Augenfarbe oder ähnliches. Gemeinsamkeiten gab es dennoch. In ihrem Herzen brannte ein nie verlöschendes Feuer, das ihre unergründliche Drachenwut und somit ihren in ihrer tiefen Stärke verankerten Willen. Leider ist es so, dass die Menschen eines Tages auf die Idee kamen, die Energien dieser mächtigen Wesen für ihre eigenen Machenschaften zu missbrauchen.
Viele Jahrhunderte vor unserer Zeit gipfelte diese Idee in einem Höhepunkt. Damals hatte das menschliche Schaffen die Drachen dazu gebracht zwei Arten hervorzubringen: Die Spiegel- und Schattendrachen. Diese wurden durch die Kraft der zusammenspielenden menschlichen Seele und des Herzens in Zaum gehalten. Nur wer imstande war diese wilden Wesen mit seinem eigenen Willen unter Kontrolle zu bringen, dem wurde die Ehre zuteil einen geeigneten Drachen zu führen. Drachen des Spiegels waren Individuen der transzendenten Gattung. Sie trugen beispielsweise Merkmale der Freude, des Schmerzes oder des Wissens mit sich. Nur Menschen, die sich an ihren Verstand hielten und ihre Gefühle zu unterdrücken vermochten, konnten diese Drachen lenken. Die Schattendrachen gehörten der gegensätzlichen, der natürlichen Gattung an. Drachen der Nacht, des Schnees oder des Erdschlags waren Beispiele der Natur.

Drachen existierten, um den Menschen bei ihren ewigen Kämpfen zu unterstützen und sie ihren eigenen Wünschen näher zu bringen. So glaubten die Menschen damals.
Die Welt, in der sich diese Geschichte abspielte, war in drei riesige Reiche unterteilt: In das Königreich Amateryu no Kuni, das Amaterasu, die Sonnengöttin, als höchste Göttin anerkannte, in das Kaiserreich Tsukiyoryu no Kuni, in dem Tsukiyomi, der Mondgott, die Gottesposition innehatte und in das Königreich Susanoryu no Kuni, in dem Susanoo, Sturmgott, herrschte.
Krieg beherrschte die vergangene Gesellschaft, Hunger und fortwährender Kampf fegte durch die bald schon verlassenen Städte. Die Herrscher der drei Reiche merkten nicht, dass sie sich selbst zugrunde richteten. Ihr Blick war getrübt, getrübt von dem Gedanken, die gesamte Welt zu unterjochen.

In dieser Zeit ließ der Vertreter des Sturmgottes, Susanoodai genannt, Versuche an männlichen Neugeborenen machen. Er wollte eine ultimative Armee aus Drachenmenschen erschaffen, die beide Drachenarten in sich vereinten. Die gewaltigen aufeinanderstoßenden Energien dieser stolzen Wesen jedoch entrissen die Neugeborenen häufig sofort aus dem Leben oder ließen ihnen nur wenige Jahre bis auch sie in das Reich der Toten hinabzusteigen hatten. Es schien als hätte der Susanoodai alle Maßnahmen völlig umsonst vorbereitet. Sein Reich verlor immer weiter an nachrückenden Soldaten. Die Geburtenrate sank drastisch, Eltern fürchteten um ihre Kinder. Der Krieg hielt nun schon 20 Jahre an, doch keiner der Reiche wollte aufgeben. So auch Susanoodai nicht. Er nahm sich zehn Nebenfrauen und zeugte mit jeder Einzelnen Kinder, die er ebenfalls für seine Züchtungsversuche missbrauchte. Keines der Kinder überlebte bis er nachdem schon weitere zehn Jahre ins Land gezogen waren, den jüngsten seiner Söhne zeugte.
Der Junge wurde Senshi, der Krieger, genannt. Für seinen Vater stellte er die letzte Hoffnung dar. Er war das letzte überlebende Kind, das die Kraft des Spiegel- und Schattendrachen, die der Zerstörung und der Dunkelheit, in sich trug. Man erzog ihn als Kampfmaschine. Kampfkünste jeglicher Art wurden Senshi angeeignet. Andere Drachenmenschen unterwiesen ihn in der Anwendung der transzendenten bzw. natürlichen Energien. Er lernte schnell…“ Gespannt hatte er meiner Erzählung gelauscht. Ich holte kurz Luft. Meine Geschichte hatte erst gerade begonnen.
„Die eigentliche Geschichte spielt viele Jahre später ab, Senshi hatte das 18.Lebensjahr erreicht. Er war ein Mann, der das Reich von Susanoodai um viele tausende Kilometer erweitert hatte. Doch der Krieg war nie Teil seines Charakters…
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Die Borke hinter seinem Rücken kratzte, er brauchte so viel Schwung wie möglich. Vorsichtig tastete er sich zurück, die Luft füllte seine Lunge, die Augen beobachteten im stetigen Wechsel den Boden unter und den rotglühenden Horizont vor ihm. Am Himmel jagten sich kräuselnde Wolken, umrahmten die hochstehende leuchtende Sonne. Die warme Luft umspülte Senshi, der aufkommende Wind streichelte ihm sanft den Nacken. Der Schatten des Baumes, in dessen Krone er stand, lud ihn freundlich ein, Platz zu nehmen und sich von der realen Welt zu entsagen. Doch für Träume hatte er jetzt keine Zeit. Die satten Blätter raschelten, wirbelten wie Regen um ihn herum. Sein Atem zeugte von dem Leben in ihm. Ein Windstoß war das Signal, er lief los, gebrauchte den Ast, auf dem er noch vor zwei Sekunden gestanden hatte, als Startrampe. Seine Beine trugen ihn immer weiter, er verlor das Gefühl Materie unter seinen Füßen zu fühlen und fand sich selbst in der von Blättern gefluteten Luft wieder. Erst regte sich der schwarze, federartige, dann streckte sich der rotbrennende, scheinbar zerfetzte Flügel. Der göttliche Wind fasste ihn und hob ihn hoch, der Sonne entgegen. Er wendete, drehte sich und ließ sich einfach treiben. Wie fühlte es sich wohl an durch die rosafarbenen Wolken zu rauschen? War es wie durch Wasser zu tauchen? Die Kraft in seinen Flügeln trug ihn weiter und für einen Moment spürte er drei Seelen in seinem Herzen pulsieren. „Senshi! Komm sofort runter!“ Sein Blick wandte sich Richtung Erdboden. Wie wunderschön die Erde aus der Sicht eines Drachen war. Susanoo ließ die Gräser wie ein grüner Ozean Wellen schlagen und die Freien mit sich ziehen. „Senshi!!“ Er atmete tief durch, schlüpfte durch die weichen, kühlen Wolken hindurch, landete neben Susanoodai-san. Sein Vater und Schöpfer packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. „Komm mit, Susanoodai-san hat dir etwas zu zeigen.“ Traurigkeit spiegelte sich in seinen schwarzen Augen wieder als er sich nochmals umdrehte und den sonnenerhellten königlichen Garten erblickte. Der Himmel schien ebenfalls betrübt über den frühzeitigen Abschied des Jungen, immer mehr Wolken schoben sich rasch über den weltenerleuchtenden Stern.

„Schau. Das sind die drei Reiche. Susanoryu no Kuni war unter diesen immer das kleinste, doch mit deiner Hilfe, meine Kampfmaschine, werden wir das Kaiserreich Tsukiyoryu no Kuni bald schon vom Platz des größten und mächtigsten Reiches verdrängt haben.“ Er legte seine schwitzige Hand auf die Schulter seiner geliebten Kampfmaschine und klopfte aufgeregt auf den Schlachtplan, der zu ihren Füßen in Stein gemeißelt war. Der Junge mit den schwarzen Haaren und der blassen Haut nickte nur, drehte sich schließlich um. Draußen lösten sich die ersten Regentropfen von den Wolken und der Wind frischte auf. „Gleich morgen früh wirst du zum nördlichen Lager reiten und dich der dort ansässigen Armee anschließen. Die werden deine Zerstörungskraft brauchen!“ Der Mann mittleren Alters hob beschwichtigend die Hände und versuchte sich ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Sein gräulicher Bart verdeckte teilweise den gierigen Mund, dämmte die krächzige Stimme. Wieder bewegte sich nur Senshis Kopf. Der schmächtige, fast unscheinbare Körper des jungen Mannes entfernte sich langsam, im Takt der im Frühlingssturm verwehten Blätter. Seine klaren, schwarzen Augen verfolgten jede Bewegung, die außerhalb seiner Welt abspielte, bedauerten zu tiefst die frisch aufgeblühten Blumen, die unter den schweren Tropfen zusammenbrachen. Der erzogene Krieger strich sich die Strähnen aus dem Gesicht, atmete die feuchte, aufsteigende Luft ein. Der König war dem Jungen gefolgt, wollte mehr Kampfeslust in ihm erwecken. Schließlich lebten in dem Goldkind zwei mächtige Drachen. Er musste ihm das Leben so angenehm wie möglich machen, nur so hatte er den Jungen und somit seine Kraft unter Kontrolle. „Senshi, geh und ruh dich doch noch aus. Ich habe dir ein Zimmer bereiten lassen.“ Schwarze Augen schlossen sich, ohne ein weiteres Wort schob der Drachenjunge die Schiebetür beiseite und schlüpfte heraus. Er würde den Befehl seines Vaters, seines Schöpfers ausführen. Die Schritte führten ihn auf die Veranda, ließen seinen Blick auf den Steingarten fallen. Er setzte sich auf den hölzernen Boden und winkelte die Beine an, die Augen immer noch auf das gräuliche Muster gerichtet. Das himmlische Wasser suchte sich seinen Weg durch die geschlungenen Pfade bis es in einem Teich endete. Am dunklen, weinenden Himmel kreisten nur einsame Drachenmenschen, die auf Susanoodais Befehl hin auf Patrouille waren.

Die Zeit verstrich, Senshi hockte noch immer unbeweglich da, starrte gen Himmel, erwartete das Ende des plötzlich hereingebrochenen Regens. Leise Schritte, die sich auf ihn zu bewegten, ließen ihn aus seiner Starre erwachen und er wandte den Kopf in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war. Es war seine Mutter, die Königin. Ihre grünen Augen sprachen von Klugheit, aber auch von tiefen Schmerz und großer Trauer. Er sah ihr nicht gerne in die Augen. „Senshi, mein Junge. Du sollst dich fertig machen. Morgen wird ein weiterer Kampf ausgefochten.“ Sie bewegte sich hinter ihn und strich ihm liebevoll durch das wuschelige Haar. Der rote Kimono mit der langen Schleppe ließ die Mutter noch blasser wirken, noch zerbrechlicher. Sie sollte nie wieder Leid erfahren. Der junge Mann stemmte sich auf und nickte der schönen Frau zu. Die nackten Füße hinterließen nur tapsende Geräusche, die sich immer weiter von ihr entfernten. Doch sie konnte nichts dagegen tun.

Senshi wanderte hinaus, wollte sein Schwert und seine Rüstung vorbereiten. Ihm war es vollkommen gleichgültig, ob der Regen ihn mit einem nassen Mantel bedeckte. Krank werden konnte er nicht. Drachen wurden nicht krank. Viele Soldaten, die am Palaste gelebt hatten, bereiteten sich ebenfalls auf den morgigen Kampf vor. Die Männer waren trotz des schlechten Wetters heiter gestimmt, lachten und bewarfen sich gegenseitig mit den Tüchern, mit denen sie zuvor ihre Schwerter und Rüstungen poliert hatten. Der Feind würde schon von Weitem sehen können, das Susanoryu no Kuni niemals aufgeben würde und der Glanz dieses Reiches sie alle überstrahlte. Überall strömten die Kampfeslust und das Verlangen nach Ruhm und Ehre durch die Mengen. Senshi blickte sich nicht um, er wollte nicht all die Lügen in ihren Augen sehen. Er spürte ihre Angst. Die Angst vor dem Tod, die Angst vor der Niederlage. Keiner begrüßte ihn, ganz gleich ob er der Prinz dieses untergehenden Reiches war. Seine Macht war gewaltig, herrschte er doch über die Drachen der Zerstörung und der Dunkelheit. Grausame Drachen, die vor nichts zurückschreckten. In ihnen lebte der Hass, labte sich an ihrer Wut.

Weiter, einfach an ihnen vorbei. Plötzlich brach die dunkle Wolkendecke auf und der Mond ließ sein Angesicht auf Senshi scheinen. Er blickte sehnsüchtig zum Himmel hinauf, doch der Gedanke an den bevorstehenden Kampf drängte ihn in die Waffenkammern. Dort an der Wand hing sein Schwert. Die Rüstung, verziert mit den königlichen Insignien und den Wappen des Sturmdrachen, versprühte die vollkommene Energie des Krieges. Die Hand griff nach der dunklen Klinge, als Senshi in seinem Innern ein Zögern vernahm. Er erstarrte, der Blick wandte sich wie von selbst in eine dunkle Ecke der Kammer. Im Dreck verborgen lag eine bläuliche Drachenschuppe. Vorsichtig tastete er sich näher heran. Kein Drachenmensch verlor jemals eine Schuppe. War ein Drache hier gewesen? Der junge Prinz sah sich um, doch hier hätte ein Drache niemals ohne irgendwelche Schäden zu hinterlassen hineingepasst. Er beugte sich vor, der Kopf drehte sich plötzlich, Schwindel beherrschte seine Gedanken. Keuchend lehnte er sich gegen die kalte Wand, als sie nachgab. Hustend landete er auf den harten Boden und blickte sich verwirrt um. Seine Arme zitterten leicht, sein Körper fühlte sich schwach an und sein Herz war auf einmal von einer seltsamen Trauer erfasst. Langsam stieg er den dunklen, geheimen Gang hinunter. Die Luft wurde dicker und hustend stolperte er weiter.

Schwache Laute erfüllten die riesige verborgene Halle, angestrengt sah sich der Junge um. Eine kurze, brennende Fackel war die einzige Lichtquelle dort unten. Er packte sie und wandte sich um, als hinter ihm der Staub aufgewirbelt wurde. Das Herz setzte aus, als er die leuchtenden, silbernen Augen aus der Dunkelheit erblickte. Im jahrhundertalten Staub lag ein Wasserdrache, vollkommen erschöpft, die Flügel zerfetzt, die Krallen abgestumpft, überall am Körper Verletzungen. Erstaunt über die Tatsache, dass ein Drache hier unten lag, gefesselt und hinter Gittern, trat er näher heran und begutachtete das blaue Wesen. Der Drache hob den Kopf, funkelnd musterte er den Jungen, der sich ihm mutig entgegen stellte. Beide Drachen im Innern des jungen Mannes nahm er wahr. „Wer bist du, Drachenmensch?“ Die dunkle, raue Stimme des mächtigen Tieres ließ Senshi zurückschrecken. Noch nie hatte er einen Drachen sprechen hören. Fasziniert machte er wieder einen Schritt vor. „Ich bin Senshi, der Krieger. Sohn des Susanoodai.“ Augenblicklich riss der Wasserdrache die Augen weit auf und streckte die geschändeten Flügel weit von sich. Den Schweif riss er hin und her, erhob den Kopf und stemmte sich mit aller Kraft auf, voller Inbrunst und Stolz vor dem schwächlich wirkenden Prinzen zu stehen. In der tiefsten Dunkelheit erstrahlte sein Schuppenblau und abertausende Fetzen wehten in einem Nebelkleid davon, umhüllten den Menschenjungen. „Du bist ein Abkömmling des Sturmgottvertreters?“ Zu tiefst beeindruckt von der Erhabenheit des Drachen, wagte Senshi keinen Laut von sich zu geben. Er ließ nur ein monotones Nicken von sich. „Weißt du denn, wo du dich hier befindest, Sohn von Susanoodai?“ Eine eisige Kälte kroch an dem blassen Körper hinauf, er konnte den frostigen Atem des Tieres auf seiner Haut spüren. Zögernd blickte er sich um, in der Dunkelheit war nicht viel zu erkennen. Er befand sich sicherlich in einem Verließ, in dem man versuchte, sich die Drachenenergie anzueignen. „Deine Gedanken sprechen von Weisheit. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, Junge! Gehe zwei Schritte zurück, und das Wahre wird sich dir offenbaren.“ Gehorsam befolgte der Schwarzhaarige die Anweisung. Er trat gegen einen Behälter. Seine Hände tasteten das rostige Metall ab, der Atem zitterte, am ganzen Körper verspürte er plötzlich ungeheure Kälte. Er hatte das Gefühl zu ertrinken, atmete ein, doch fühlte keine Luft in den Lungen. Das Herz krampfte sich zusammen und sein Innerstes wurde durch die beiden kämpfenden Drachen aufgewühlt. Ihm war, als kehrten verschollene Erinnerungen zurück. Aber er wollte sich nicht erinnern.

Mit einem Mal ließ er den Behälter, der irgendeine seltsame Flüssigkeit zu beinhalten schien, fallen. „Erinnerst du dich jetzt, Senshi?“ Verweigernd schüttelte er den Kopf. „Hier, an diesem Ort wurden die Versuche an den Kindern, die zu ultimativen Drachenmenschen werden sollten, gemacht. Das hier, ist der Ort des Leidens. Das hier, ist der Ort deiner Geburt. “ Tränen suchten sich ihren Weg, perlten an seinen Wangen ab. Seine Kraft verließ ihn und sich krümmend hockte er vor dem Käfig. Das bläuliche Licht des Wasserdrachen wurde alsbald von einer dunklen, Materie zerfressenen Aura verdrängt. Die Drachenwut und der Hass gegenüber denen, die den Drachen und den Neugeborenen so viel Leid zugefügt hatten, wuchs, brach fast aus Senshi aus. Der Käfig zerfiel brodelnd zu Asche und mit riesigem Gebrüll befreite sich der Wasserdrache von den Fesseln. Aus dem Körper der Kampfmaschine von Susanoryu no Kuni drang immer mehr der dragonischen Energie heraus. Seine Schmerzensschreie gingen im Gebrüll der frei werdenden Drachen unter. So viele seiner Geschwister hatten hier unten ihr Leben, das noch nicht mal begonnen hatte, verloren. So viele Drachen hatten ihre Freiheit verloren. Der Kampf war das zu erreichende Ziel. Der Sieg über alle Reiche. Übermannt von den Gewalten, die aus seinem Körper stürmten, verlor Senshi das Bewusstsein und somit die Kontrolle über seinen Körper.

Wie von Geisterhand gesteuert, stieß der Krieger zu den sich noch immer vorbereitenden Soldaten vor, wütete durch die Mengen. Zerstörung und Dunkelheit waren dabei seine stetigen Begleiter. Mit den bloßen Händen wirbelte er die königlichen Wachen beiseite, brach ihnen das Genick und durchbohrte ihre Innereien. Mit jedem Schritt den er machte, folgte ihm sein Spiegelbild, sein Schatten und warfen alles in tiefste Dunkelheit, hinterließen jeden Teil des Palastes in Schutt. Die Schritte waren bestimmt. Ins Visier hatte er seinen eigenen Vater genommen. Dieser lag friedlich in seinem Schlafgemach, freute sich in seinen größten Träumen wie ein Kind darauf, bald endlich der Herrscher über die drei Reiche zu sein, ohne auch nur einen Finger gekrümmt zu haben. Wie ein gefallener Engel trat er in das Zimmer seines Vaters. Der König war vom Lärm der sterbenden Menschen erwacht und blickte nun verängstigt umher. Als er seinen Sohn sah, war er sichtlich erleichtert. „Komm her, Senshi, mein Krieger! Beschütz mich vor dem Bösen, das durch meinen Palast jagt!“ Der Junge tat einige Schritte vor, der hölzerne Boden unter ihm zerbröselte, zerfiel zu schwärzesten Staub und tanzte mit dem Luftzug, der durch die ausgebreiteten Flügel hervorgerufen wurde. Die Augen des Gottesvertreters öffneten sich weit, die untere Lippe zitterte. Es brachen nur einzelne Wortfetzen heraus: „Senshi… Was…? Ich… bin… doch… dein Schöpfer…“

Mit der Kraft der in ihm lebenden Drachen bildeten sich in gewaltigen Luftströmen ein blutrotes und pechschwarzes Schwert um die Arme des jungen Prinzen. Ohne auch nur einen Moment des Zögerns verstreichen zu lassen, riss Senshi Susanoodai entzwei. Kurzes Zucken, auf den blutigen Lippen ersterbender Schrei und verblassende Augen. Das waren die letzten Momente seines Vaters. Die Kraft verließ ihn vollkommen und er sackte in sich zusammen.


„Senshi, der Krieger. Sohn des Susanoodai-Verstorben. Prinz des Reiches Susanoryu no Kuni. Euer Handeln, dem Willen der Drachen unter geordnet zu sein, hat Euch euren eigenen Vater, Herrn und Schöpfer grauenhaft ermorden lassen. Zudem werden Euch weitere Morde an rund hundert Soldaten des königlichen Gefolges und großflächige Zerstörung des Palastes vorgeworfen. Ihr habt den Sturmgott Susanoo verraten. Euch soll das Privileg ein Drachenmensch zu sein entzogen werden. Außerdem werdet Ihr zum Tode verurteilt.“ Der königliche Richter hatte die Höchststrafe verhängt. Er nickte. „Habt Ihr einen Wunsch?“ Sein trockener Mund öffnete sich leicht. „Ich möchte sterben, wenn die blutrote Sonne über Susanoryu no Kuni untergeht.“ „Euer Wunsch sei gewährt.“ Damit war die sogenannte Gerichtsverhandlung beendet. Die Mutter Senshis warf sich ihrem Sohn an den Hals, weinte bitterlich. Doch er wagte nicht in ihre Augen zu blicken. Was war jetzt noch von ihr übrig, wenn nicht der unerträgliche Schmerz über den Verlust all ihrer geliebter Menschen? Die Soldaten zerrten ihn weg und ließen ihm keine Zeit seine Mutter zu verabschieden.

Man packte ihn, bestellte einen Drachenbeschwörer herbei und ließ die Drachen aus seinem geschundenen Körper heraus treiben. Alleine waren sie nicht mehr imstande zu überleben, zu lange waren sie an ein menschliches Herz und eine menschliche Seele gebunden gewesen. Sie waren nun vollkommen ungefährlich und wertlos. Der Schmerz in seiner Brust war nicht groß genug um die Leere, die die Drachen hinterließen zu überdecken. Er streckte seine blutigen Hände nach dem schwarzen und roten Glühen aus, aber sie verschwanden bevor er sie erreichte. Was war er eigentlich? Er war kein Drache, kein Drachenmensch, aber auch kein Mensch. Und was hatte er bloß getan? Vor seiner Exekution sperrten sie ihn ein wie einst den Wasserdrachen, den er aus seinem Käfig befreit hatte. Keuchend fasste er sich an die schmerzende Brust. Er schloss die Augen, vor ihm lag nichts außer einem dunklen Pfad aus Trauer und Schmerz. Ein Rauschen ließ ihn aufschrecken. Vor ihm hatte sich der blaue Drache materialisiert. „Ich bin hier, um mich zu bedanken, Senshi, Krieger. Meine Kraft ist groß, daher gewähre ich dir einen Wunsch.“ Seine weißen Augen musterten den völlig entkräfteten Jungen fast liebevoll. Dieser setzte sich auf und öffnete den Mund. Doch bevor er antworteten konnte, erblickte er ein schwaches Leuchten zu beiden Seiten des Wasserdrachen. Es waren ein schwarzes und ein rotes Licht. „Sind das meine Kameraden? Die Drachen der Zerstörung und der Dunkelheit?“ Es schien als würde der blaue Drache gütig lächeln als er sprach: „Ja, als du mich befreitest, gaben sie mir einen Teil ihrer Kraft, damit ich fliehen konnte. Sie schenkten mir ein Stück meiner Freiheit wieder.“ Erschöpft strich der junge Mann sich die am Gesicht klebenden Haare aus den Augen. „Nun? Dein Wunsch?“ Zauberhaft wirbelten die Lichter um Senshi herum und drängten ihn aus dem kleinen Fenster zu schauen. Die Sonne verbreitete ein sattes Rot und lockte die rosafarbenen Wolken sich wie eine Schleife um sie zu legen. Der Tag ging allmählich seinem Ende entgegen. Am Himmel kreisten noch einige junge Drachen, flogen mit den Vögeln um die Wette. Er schüttelte den Kopf und lächelte den Drachen freundlich an. „Ich brauche keinen Wunsch. Ich werde mein Schicksal so akzeptieren, wie es mir entgegengeht.“ Der bläulich leuchtende Drachen nickte ihm zu. „Sehr weise von dir, junger Krieger.“

Die Soldaten führten ihn aus dem Verließ, stießen ihn die dunklen Stufen hinauf. Vor ihm lag ein kurzer Marsch zum Schafott. Um sie herum hatten sich die Menschen des Reiches versammelt. Alle in großer Erwartung vor dem Tod ihres Prinzen. Senshi atmete tief durch, hob seinen Kopf und ging mit starken und stolzen Schritten auf die Männer mit den Schwertern zu. Die Menschen sollten ihn trotz allem als ehrenhaften Mann in Erinnerung behalten. Harakiri durfte er nicht begehen, dafür hatte er sich zu große Schande auferlegt.

Dort stand er nun und blickte gen Horizont, wo die goldene Scheibe in der Harmonie von Rot und Blau ihrem Untergang entgegen sah. Der göttliche Wind brauste durch die Massen, trug die fröhlichen Botschafter des Frühlings mit sich. Das Gras tanzte wie zum Abschied in der zirkulierenden Luft, während die Blüten sich allmählich zur Nachtruhe begaben. „Habt Ihr noch etwas zu sagen, bevor Ihr sterbt, Prinz?“ Die Henker blickten ihn an. Er nickte.

„Der Pfad der Wahrheit war mir lange verschlossen geblieben. Ich suchte in der Finsternis der Zweifel nach meiner eigenen Identität, doch verlor ich mich selbst in dem Labyrinth, aus dem es schier kein Entkommen zu geben schien. Nach all dem, was ich meinem Vater und meinem Volk angetan habe, sei es ihr Mord oder die Angst, die ich ihnen in ihre Augen trieb, ist mir eines bewusst geworden: Reue finde ich in meinem leeren Herzen nicht. Er tat, was er für richtig empfand, lud die ganzen Laster, den ganzen Schmerz auf mich ab. Ich tat, was ich für richtig hielt, befreite mich von den Ketten, in die er mich mit meiner Geburt und meinem Bündnis mit den Drachen der Zerstörung und der Dunkelheit gelegt hatte. Mit dem Rot der untergehenden Sonne, die vom silbern tanzenden Mond erlöst und vom göttlichen Wind begleitet wird, wächst mein eigenes Ich. Es kümmert mich nicht, was der Mensch in der Vergangenheit und in der Zukunft von Drachen denken mag, denn gewann ich die Erkenntnis, dass sie uns Menschen in vielerlei Hinsicht ähneln. Auch Drachen sind stolz auf ihre Stärke. Auch Drachen verdienen den Respekt, mit denen sie begegnet werden möchten. Auch Drachen wollen frei sein. Doch im Gegensatz zu Menschen, sind Drachen keineswegs Wesen, die aus bloßer Eitelkeit, eigen angetriebenen Egoismus oder schierer Gier nach mehr, alles um sich herum vergessen. Ich, Senshi, der Krieger, gehöre zu den Drachen, die meine Seele und mein Herz bewohnten, und die Drachen gehören zu mir.“

Rot und röter tauchte der Himmel in ein Meer aus Blut ein, die Wolken kräuselten sich immer mehr bis sie schließlich vollkommen verschwanden. Als die blitzenden Klingen zuschlugen, hielt Susanoo die Luft an, als wollte er die Zeit für einen winzigen Moment anhalten. Ohne einen Schmerzensschrei von sich zu geben oder eine einzige Träne zu vergießen, verließ Senshi diese Welt.


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Er sah mich schluckend an, hatte wohl keine blutige Geschichte von mir erwartet. Fraglich war nur, ob er überhaupt verstand, was meine Absicht war.
„Was ich eigentlich damit sagen wollte, ist: Selbst wer auf dunkle Pfade gelangt, der sollte dennoch zu sich selbst stehen, denn jeder hat eine zweite Chance verdient. Also, mein Freund…“ Ich stand auf, rückte den Stuhl zurück. „… Gib nicht auf, ok?“ Ich lächelte ihn aufmunternd an, er blickte hoch und versuchte sich ebenfalls an einem optimistischen Lächeln. Und damit verließ ich ihn, den neu erweckten Kämpfer, der die Stärke und den Stolz eines Drachen nun in seiner Seele trug.

Impressum

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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2012

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Widmung:
Für meine Zwillingsschwester

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