Krefeld, 13. Juni des Jahres 2009
Matte Sonnenstrahlen strichen über mein Gesicht. Warm wehte der Wind durch mein Haar und ließ Sonnenblumen tanzen. Fröhlich lief ich meiner Mutter durch den goldgelben Ozean hinterher, als sich meine kleine Welt in Dunkelheit auflöste und ich zu Boden sackte…
Schweißgebadet wachte ich auf. Weiße Decke, weiße Vorhänge und weiße Wände. Krankenhaus. Ein Beben ging durch meinen Körper, Schmerzen durchzuckten mich und gaben mir das Gefühl, dass Atombomben direkt unter meinem Herzen in meinem Brustkorb wüteten. Panisch versuchte ich den Notrufschalter zu betätigen, doch all meine versuchte Mühe war vergebens. Ich öffnete schlagartig den Mund, versuchte mit aller Kraft einen Schrei loszulassen, doch es misslang. Meine Stimme war erstickt, der Anfall aber ohne weitere Schäden überstanden. Eilige Schritte hallten durch den Flur und erreichten alsbald meinen Krankentrakt. Der Doktor und gefühlte ein Dutzend tussiger Schwestern versorgten mich, hantierten an mir rum während ich ausdruckslos und kraftlos die weiße Decke betrachtete und bitter an mein weiteres Leben dachte, dass ich für den kümmerlichen Rest meines Lebens in diesem schneeweißen Gefängnis verweilen musste. Langsam fielen mir die grauen Lider zu, und ich versank wieder in der hellen, Licht durchfluteten und grünen Traumwelt.
Wieder hallten Schritte durch den Flur, aber das waren nicht diese dumpfen, bedrohlichen Schritte der Ärzte, die mich schon jahrelang hier drin festhielten, nein, eine leichtere Person, schätzungsweise in meinem Alter lief umher. Keuchend setzte ich mich auf um meine Neugierde zu bändigen. Ich steckte meinen blassen Kopf durch einen Schlitz in der Tür und sah ihn: Ein dünner und doch breitschultriger Kerl schlenderte kaugummikauend durch den Flur und starrte teilnahmslos in die Luft. Fasziniert schaute ich an ihm herunter: Das graue Hemd, das leicht aufgeknöpft war und das seine Schlüsselbeine betonte, hatte einen seltsamen Schnitt. Seine Jeanshose wand sich zärtlich an seinen langen Beinen entlang und auch seine Schuhe sahen fremdartig aus. Ich war doch erst seit 1997, also mit vier Jahren, hier drin. Hatte sich die Welt nach 12 Jahren so gewaltig verändert?
Seine Augen zuckten. Sein Blick wanderte von der Decke, an den Wänden entlang und schließlich zu mir. Er hatte mich bemerkt. Das Blut floss von meinem Magen, der gerade versuchte sich die grauen Kohlrolladen der Krankenhauskost einzuverleiben, merklich in meinen Kopf und drohte als Nasenbluten in Erscheinung zu treten. Meine Wangen glühten. Auch wenn es längst zu spät war und ich schon lange rot angelaufen war, versuchte ich mich noch in meinem Zimmer zu verschanzen und verzweifelt zu hoffen, dass der hübsche Kerl bald verschwand. Doch bevor es zu dieser Barrikade kam, packte mich der Junge am Handgelenk und schaute mich mit dem fettesten Grinsen an. Er kam näher und panisch schüttelte ich meinen Kopf. Heißer Atem betätschelte meine blasse Wange und ließ mein Herz rasen. Kreischend trat ich ihm zwischen die Beine sodass er nach vorne kippte und sich zusätzlich sein Kinn an meiner Kniescheibe stieß. ,,Uhh!" Stolpernd wich er zurück, hielt sich das Kinn und sein bestes Stück. ,, Wollt dich nur ein bissl ärgern... Ich wollt nicht, dass du Bammel vor mir hast. Sorry... Und dein Tritt war... heftig." Er grinste mich an, zwinkerte mir zu, sodass ich erneut einen Nasenblutattentat befürchtete. ,,Ich hab noch viel mehr solcher Tritte auf Lager, also komm mir ja nicht so nahe!" Er lachte wie eine betrunkene Hyäne, aber es war ein fröhliches, ansteckendes Lachen, dass die Kraft hatte Sorgen fortzuwehen. Ich stimmte mit ein und streckte meine Hand zur Begrüßung aus: ,,Hi. Ich bin Alice. Was sind das für coole Schuhe?" Der schöne Fremdling schaute mich erstaunt an, stockte und befeuchtete seine trockenen Lippen: ,,Lol! Du weißt nicht was das für Schuhe sind? In was für `nem Zeitalter lebst du?"
Angelockt von meinen Schreien und unserem Gelächter staksten die Schwestern herbei und riefen: ,,Ed, was tust du? Bist du nicht für Sozialkompetenz hier? SoKo oder so?" Ed nickte.
„Ich sollte mich jemanden annehmen, der allein ist und kaum was von der Welt draußen sehen kann. Ich dachte da eigentlich an nen alten Knacker und ne olle Schabracke, aber ich hab eine andere Wahl getroffen. Ich nehm die trittsichere Kleine hier!" Wieder lachte er auf und steckte mich an. „Sie hat ja überhaupt noch nichts vom Leben da draußen gesehen! Los, komm! Leg dich erstmal wieder hin und ich erzähl dir ganz viele Dinge, die da draußen geschehen!" Mit einem kräftigen Ruck zog er mich in mein Zimmer und schloss die Türe hinter sich. „ Puh, ich kann diese Krankenschwestern nicht leiden... Ich warte noch einen Moment bis ich dann verschwinde." Er starrte aus dem Fenster. ,,Und wann kommst du wieder?" Ich setzte mich auf mein Bett und schaute ihn bewundernd an. Die Sonnenstrahlen strichen sanft über sein schönes Gesicht und der Wind wehte leicht durch sein Haar. Er sah einfach umwerfend gut aus. Wieder bemerkte er meine Blicke und grinste: ,,Du magst mich, oder? Ich komme nicht wieder... Wieso auch?
Die Krankenhausstimmung ist mir zu mies." Traurig senkte ich meinen Blick und murmelte: ,,Du sagtest doch das du dich um mich kümmern würdest..." Ed lachte laut auf: ,,Ach, das meinst du! Hm... Ich könnt wiederkommen... Aber eine Bedingung hätte ich..." Langsam kam er auf mich zu, drückte mich auf das Bett und kam mit seinem Gesicht immer näher an meinen Hals. Dracula?! Mir schoss das Blut erneut in den Kopf. „Du kommst raus, aus dem Krankenhaus mein ich. Draußen kann ich dir viel mehr von der Welt dort draußen erzählen." Ich schüttelte den Kopf und erklärte, dass ich beim Krankenhaus bleiben musste, da meine Gesundheit ansonsten stark darunter leiden würde. Verdutzt sah er mich an und meinte, dass frische Luft und Sonnenstrahlen mir garantiert helfen würden. Mit diesen Worten schlenderte er zur Türe, machte einen kurzen Winker mit der Hand, sah sich noch mal kurz im Gang um bis er aus der Tür schlüpfte und von dannen ging. Ein schneller Abgang. Müde legte ich mich auf das Bett und fragte mich was das für ein warmes Gefühl in meinem Bauch war.
Krefeld, 23.Juni des Jahres 2009
Ed war jeden Tag zu mir gekommen und hatte mich ein wenig aufgeklärt. Ich wusste bereits einige Dinge, war zum Beispiel bei ICQ und SVZ angemeldet und schaute mir die Sendungen im Fernsehen an. Aber bei Kleidung hatte ich keinen Überblick. Absolut nicht. Nope. Wir tauschten unsere Handynummern aus, spielten Scrabble auf meinem Laptop, hörten uns Songs auf meinem MP3-Player an und erzählten uns gegenseitig Anekdoten. Zu Beginn seines SoKo-Projektes war Ed noch ein wenig unmotiviert, doch das änderte sich bald. Er steigerte sich immer weiter und erzählte mir schmutzige Witze. Manchmal half er mir auch bei meinen Hausaufgaben, obwohl ich seine Hilfe zum größten Teil nicht gebrauchte. Ed brachte eigentlich so gut wie jeden Tag ein neues Kleidungsstück mit, damit ich möglichst viele Kombinationsmöglichkeiten für meine Outfits hatte, sollte ich mich doch irgendwann entschließen dem weißen Gefängnis zu entfliehen. Ich war noch immer etwas unentschlossen.
Am frühen Morgen wurde ich von einem Kratzen am Fenster geweckt. Verschlafen und schlapp öffnete ich die Augen und schleppte mich zum Fenster. Draußen auf der Fensterbank saß Ed und drückte sein Gesicht an die Scheibe. Ich öffnete ihm das Fenster und fragte ihn unter lautem Gähnen, was denn los sei. ,,Zieh dich an, wir genießen jetzt unser Leben!" Seine ausdrucksstarken Augen sagten mir: Er meinte es ernst. Über meinen Schatten springend, schlich ich froh über eine Abwechslung zum Bad und zog mich rasch um. Endlich konnte ich die Klamotten, die meine Mutter mir besorgt hatte, einweihen. Eine süße Pandamütze, eine schwarze Jacke, eine weiße Bluse und ein schwarz-weiß karierter Faltenrock. Außerdem hatte sie mir dieselben Schuhe wie Ed, die er Chucks nannte, besorgt. Die waren ebenfalls schwarz. Dazu hatte sie mir ein paar weiße Stulpen und schwarze Bänder beigelegt, damit ich auch noch ein paar nette Accessoires hatte. „Dafür, dass dein Allgemeinwissen über heutige Teenies etwas zurückgeblieben ist, ist das Outfit aber gut gewählt." Gemeinsam zogen wir aus und schlichen hinaus. Hinaus in die neu gewonnene Freiheit.
Die Sonne schien auf mein blasses Gesicht und geblendet schloss ich die Augen. Es war lange her, dass ich draußen in der Stadt Krefelds war, aber die Erinnerungen waren immer schön gewesen. Ich schaute mich um. Die Innenstadt hatte sich seit meinem letzten Besuch stetig verändert. Überall liefen die Leute rum, und sie alle hatten die verrücktesten Sachen an. Die Farben waren schrill und grell leuchtend und einige Mädchen liefen in blassen Rüschenkleidchen rum. ,, Heute sind ein paar Cosplayer hier. Sie dir an, wie manche aussehen!" Leise lachte er sich ins böse Fäustchen und erntete wieder einen meiner unwissenden Gesichtsausdrücke.
Genervt sagte er: ,,Cosplayer: Costume Player, die sich verkleiden und in die Rollen von Anime, Manga, Comic, etc. Figuren schlüpfen ." Ich lachte und genoss einfach meine Freiheit. Es war ein herrlicher Sommertag. Die satten Tauben flogen gewandt über unseren Köpfen hinweg, der kühlende Wind blies mir ins blasse Gesicht und ein schwitzender Ed führte mich zur nächsten Eisdiele. Während er das tat, sah ich mich immer wieder um und vergewisserte mich, dass man uns beide gut beobachten konnte. Ich freute mich insgeheim, dass wir beide, wie Ed sagen würde, miteinander abhingen, so hatte es den Anschein, als wären wir ein Paar. „Alice, was willst du für ein Eis haben? Ich spendiere es dir!“ ,,Erdbeere, bitte.“ Er nickte zufrieden und bestellte: ,,Geben sie meiner Freundin drei Kugeln Erdbeereis und mir selbst drei Kugeln Zitrone.“ Ich erschrak. Wie sollte ich denn drei Kugeln auf einmal verdrücken? „Denkst du nicht, dass ich Gehirnfrost bekommen könnte?“ Ed kratzte sich am Kopf, schüttelte sich Letztendes. „Ich helf dir, wenn du dein Eis nicht aufkriegst.“ Mit einem frechen Lächeln auf dem Gesicht streckte er seine Zunge aus und schleckte sein Eis. Das Eis in der Hand machten wir uns gemeinsam auf, eine Bank vor Galeria Kaufhof zu besetzen. Ein paar kleine Kinder saßen vergnügt auf einer der Bänke und quasselten vor sich hin. Cool und lässig schlenderte er auf sie zu und forderte sie im tiefsten Ton auf, zu gehen. Verschreckt zogen sie ab. Ich war empört über sein Verhalten und fragte ihn: ,,Das ist es was die Teenager heutzutage tun? Na dann bleib ich ja lieber ein Primitivling als ein solcher Rüpel zu werden!“ Verärgert schmiss ich ihm das Eis ins Gesicht und lief zur nächsten Bahnhaltestelle.
Krefeld, 24.Juni des Jahres 2009
Hustend war ich gestern zum Krankenhaus zurückgekehrt und hatte ordentlich Anschiss eingesackt. Einen Vorteil hatte mein gestriger Ausbruch alle mal: Endlich durfte ich aus dem Krankenhaus, leider nur in Begleitung einer Schwester.
Der Tag war nicht sehr ereignisreich. Es gab Rührei zum Frühstück, Kartoffelbrei und Fischstäbchen zu Mittag und ein Käsebrot zum Abendessen.
Den ganzen Tag hoffte ich vergebens, dass Ed auftauchen würde um sich zu entschuldigen, denn mir war es nicht erlaubt das Krankenhaus ohne Ankündigung zu verlassen. Mein Handy lag neben mir auf dem Tisch und erwartete sehnsüchtig einen Anruf oder eine SMS von Ed.
Spät am Abend erreichte mich ein Anruf, aber leider nicht der ersehnte. Ich war enttäuscht. Unsere Freundschaft war gerade am Erblühen gewesen, als ich meine kinderliebende Masche hatte raushängen lassen müssen. Was war ich nur für ein Mongo gewesen! Verzweifelt schlug ich mir selbst auf den Kopf und ließ mich nach hinten auf mein Bett fallen. So eine kleine Sache konnte also eine Freundschaft zwischen Junge und Mädchen zerstören… Erste Tränen liefen über meine Wange und befleckten dich, mein Tagebuch. Trottel. Idiot. Dummkopf. Verknalltes Gör.
Mir war mit einem Mal klar, selbst wenn wir nur eine kurze Zeit miteinander verbrachten hatten, dass ich mich verliebt hatte. Mein Herz hatte sich bereits in den Fängen der aufstrebenden Liebe verfangen und drohte nun daran zu zerbrechen.
Krefeld, 25.Juni des Jahres 2009
Ed hatte sich noch immer nicht gemeldet. Wahrscheinlich hatte er genug von mir und Erdbeereis. Ich sollte ihn mir vielleicht ein für alle mal abschminken. Heute soll ich untersucht werden. Hm. Mal schauen was in meinem Körper abgeht...
Krefeld, 26.Juni des Jahres 2009
Als ich heute Morgen aufgewacht bin und zum Fenster schlenderte um das Wetter zu begutachten, entdeckte ich eine Rose auf der Fensterbank! Das war sicherlich Ed. Gut gelaunt eilte ich zum Bad um mich frisch zu machen. Danach schnappte ich mir mein Handy, ein Black Berry, das mir meine Mutter aus Amerika mitgebracht hatte, und schrieb Ed eine SMS. ,,Sorry, dass ich dir mein Erdbeereis ins Gesicht geklatscht hab. War wirklich dumm von mir. Will dich sehen. Treffen uns vor Kaufhof. HDL Alice" Ich kicherte. OMG! Ich hatte ihm tatsächlich geschrieben, dass ich ihn mochte. War es richtig den ersten Schritt zu tun?
Mit einer Schwester im Schlepptau kreuzte ich bei Kaufhof auf und entdeckte ihn in mitten einer Menschenmenge. ,,Ed!" Keuchend kam ich angelaufen und hielt meine Hand vor die Brust. Meine Lunge schmerzte schrecklich. Vielleicht war es eine schlechte Idee so zu hetzen... Die Schwester stütze mich und Ed schaute mich traurig an. ,,Bist du noch sauer auf mich?" Ich schüttelte den Kopf. „Hab ich doch geschrieben. Außerdem sollten wir aus so kleinen Sachen keine Szenen machen!" Erleichtert lächelte er und fragte mich: ,, Hat dir die Rose gefallen? Die hab ich extra für dich geklaut." Ich machte große Augen und fragte mich ob er es ernst meinte. Schnell sagte er: ,,War nur ein Scherz. Jetzt krieg doch nicht gleich einen Herzkoller. Du scheinst dich gut informiert zu haben. Ich mein, wir sind noch nicht so lange draußen rumgestreunt und schon schreibst du mir so was wie HDL oder so..." Verlegen schaute er zur Seite. Vielleicht hatte ich es ein wenig übertrieben. ,,Wollen wir irgendetwas machen?", versuchte ich ihn davon abzulenken. Er nickte. ,,Lass uns ins Kino." Zusammen mit der Schwester gingen wir ins Kino, zogen uns einen Film rein und futterten haufenweise Popcorn. Es war schön, dass wir uns wieder versöhnt hatten.
Krefeld, 01.September des Jahres 2009
Viele Tage ist es jetzt her, dass meine Freundschaft mit Ed begann. Durch ihn hatte ich viele Dinge erlebt, die mir durch den langen Krankenhausaufenthalt verwehrt blieben.
Heute war ein großer Tag. Ed wurde heute 17 Jahre alt. Ein schönes Alter. Ich hatte leider überhaupt keinen Plan was ich ihm schenken könnte, weshalb ich meine Mutter darum bat ein bestimmtes RPG zu kaufen und es hübsch zu verpacken. Ich hatte ihm nur einen Bilderrahmen mit einem Gemeinschaftsfoto drin verpackt, aber er hatte andauernd von einem bestimmten Game geredet, das meine Mutter nun besorgen sollte. Sie kam sehr früh am Morgen beim Krankenhaus an und gab mir mein Geschenk. Lächelnd erhielt sie einen dankbaren Schmatzer dafür. Schnell huschte sie aus dem Zimmer, denn ich erwartete jeden Moment Besuch.
Doch bevor es soweit war, schleppte ich mich in meinem Zimmer hin und her, verzierte alles so gut es ging mit Luftschlangen, Konfetti und Ballons und legte ein paar Kleinigkeiten auf den Tisch neben meinem Bett. Es verging einige Zeit. Die Krankenschwester, die mich bei jedem Treffen mit Ed begleitete und mir inzwischen ans Herz gewachsen war, kam herein und brachte schon das Mittagessen. Murrend nahm ich es zu mir und schaute jede zweite Minute auf die Uhr. Nichts.
Hatte er mich vergessen? War ihm etwas zugestoßen? Diese Fragen quälten mich und trieben mir Tränen in die Augen, als jemand plötzlich die Tür aufriss und hineingestolpert kam. ,,Hi, Alice. Sorry, dass du warten musstest. Aber mein Opa ist heute zu Besuch gekommen und hat mich ganze Zeit zugetextet bis ich ihm gesagt hab, dass ein Mädchen auf mich wartet, da hat er mich gehen lassen." Ganz aus der Puste setzte er sich neben mich aufs Bett und schaute sich um. ,,Woha. Coole Deko." Ich lächelte und sang ihm meine um komponierte Version von Happy Birthday. Begeistert klatschte er auf und stopfte sich eine Hand voll Chips in den Mund. ,,Hier ist ein Geschenk...", zögernd drückte ich es ihm in die Hand und betete zu Gott, dass er es mögen würde. Ungeduldig riss er das Papier auf und glotzte mich fassungslos an. „Du schenkst mir Flying Wulfs-Last Revenge? Ja, bist du denn des Wahnsinns?!" Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund und wisperte zitternd: ,,Du magst es nicht?" Plötzlich sprang Ed auf und vollführte einen Freudentanz. „Doch, es ist hamma! Genial! Das ist einfach perfekt! Ich wollts mir selbst kaufen, bin aber im Moment vollkommen pleite. Danke, dass ist toll!" Ich reichte ihm das zweite Geschenk in der Hoffnung er würde es ebenfalls annehmen. Gierig riss er das Geschenkpapier auf und starrte es mit schwitzenden Händen an. Er hielt das zweite Geschenk hoch und betrachtete es lange. Dann bestätigte er mir mit einem freundlichen Grinsen, dass es ihm gefiel.
„Das Photo, in dem grauen Rahmen, haben wir in Düsseldorf geschossen. Ich wollt dir damit meine Dankbarkeit für all die schöne Zeit zeigen. So viel Spaß hatte ich schon lange nicht mehr..." Plötzlich kamen mir die Tränen und die Angst vor dem Tod quoll in mir auf. Kreidebleich beobachtete Ed das Geschehen, schluckte, unfähig etwas zu tun bis er mich endlich in den Arm schloss. Sanft legte er sein Kinn auf meinen Kopf und weinend schmiegte ich mich an ihn. Leise fing er an tröstende Worte zu murmeln und mein Gesicht zu streicheln. Noch lange verweilten wir einige Zeit so aneinandergeschmiegt. Irgendwann hob ich meinen Kopf und wischte mir peinlich berührt die Tränen aus den Augen und dem Gesicht. ,,Entschuldige, dass ich ausgerechnet an deinem Geburtstag mein Herz ausschütte und heule wie ein abkackender Wolf..." Er schüttelte den Kopf und lächelte erschöpft. „Mach dich mal locker, es gibt niemanden der nicht vor dem Tod Angst hat. Es ist völlig in Ordnung. Stell dich dem Tod entgegen indem du dein Leben lebst. Jeder Mensch muss sterben, ob früh oder spät tut doch nichts zur Sache. Der Tod ist ein Teil des Lebens, würden wir ewig leben, könnte man es doch gar nicht genießen. Und außerdem wirst du in den Erinnerungen deiner Lieben weiterleben. Auch in meinen..." Ed errötete. Seine Worte hatten mich aufgemuntert. Er hatte vollkommen recht. So war das Leben halt. Da war nichts zu machen... „Es ist spät, ich sollte langsam gehen... Kommst du noch mit runter?" Ich begleitete ihn noch bis zum Eingang des Krankenhauses und drückte ihn. Er strich mir über das Gesicht, schloss die Augen und küsste mich. Seine Lippen waren weich und warm. Ein Kribbeln ging durch meinen Körper und ich schloss rotwerdend die schwarzen Augen. Langsam wanderte meine Hand zu seiner Brust und ich fühlte unter den zarten Fingern seinen aufgeregten Herzschlag. Neben uns waren Bewegungen auszumachen. Menschen, die an uns vorbeiliefen und unseren Kuss vielleicht verfolgten. Er ließ mich los und seine Lippen lösten sich von meinen. Er schaute mich traurig an und winkte kurz. Dann ging er. Verliebt blieb ich zurück und wartete auf seine baldige Rückkehr.
Krefeld, 12.September des Jahres 2009
Wir waren seit dem 1. Septembertag zusammen und jeden Tag hatte ich mich auf seine Besuche gefreut. Ab und zu durfte ich raus und ging mit ihm händchenhaltend durch die Stadt. Ich war so glücklich, wie ich noch nie gewesen war. Ich hatte schon lange keine schlechte Laune mehr und keine Schmerzen. Die Ärzte meinten sogar, dass ich auf dem Weg der Besserung wäre. Vielleicht war er der Weg in ein neues Leben... Wir verstanden uns wunderbar und ich freute mich jedesmal den Leuten in der Stadt zeigen zu können mit was für einem tollen Kerl ich zusammen war.
Heute war es wieder so weit. Ed und ich waren verabredet zusammen Schlittschuhfahren zu gehen. Die Krankenschwester warnte mich, dass ich mich vor Stürzen hüten sollte. Ich saß fröhlich auf einer Bank, hatte ein süßes Outfit an und wartete geduldig auf meinen Liebsten. Da kam mein Schatz auch schon auf das Eis bis ich eines merkte: Neben ihn schlitterte munter ein anderes Mädchen. Mit ihren Reizen spielend umkreiste sie ihn immer wieder und kam ihm dabei gefährlich nahe. Empört stand ich auf und betrat mit wackeligen Beinen die Eisfläche. Würde er mich ausgerechnet an unserem Treffpunkt betrügen? Er sah mich und wollte auf mich zu schlittern, als die Tussi sich zu mir umdrehte und mich feindselig anblickte. Die beiden hatten eine kurze Konversation als sich die kleine Hexe wie eine Raubkatze auf Ed stürzte und ihn abknutschte. Entsetzt drückte er sie weg und schlitterte auf mich zu. Das war genug. Erst küsste er dieses Mädchen und dann wollte er auch noch einen Schmatzer von mir haben! ,,Alice... Ich hab nichts getan! Ehrlich!" ,,So? Und warum hat sie dich dann geküsst?", fragte ich mit Tränen in den Augen. „Das ist meine Ex. Sie wollte dich bestimmt eifersüchtig machen, damit du Schluss machst..." „Dann hat es geklappt...", sagte ich mit zittriger Stimme, drehte mich um und ging. Ed hielt mich nicht auf.
Krefeld, 13. September des Jahres 2009
Ich wachte auf und dachte an gar nichts.
So fühlte sich also Liebeskummer an. Leere hatte sich über Nacht tief in meine Seele und mein Herz gefressen. Einsamkeit überkam mich und drohte mich zu zerquetschen. Ich krümmte mich in meinem Bett. Das war also seelischer Schmerz. Es war so heiß! Schwerer Atem, und glutheiße Tränen. Hatte mein Leben überhaupt noch einen Sinn? Ich wollte nichts mehr machen, aß nicht, trank nichts. Selbst den dringenden Toilettengang lehnte ich ab. Ich saß einfach nur da, starrte auf meine Bettdecke und dachte an die schönen Tage mit Ed zurück.
Am selben Tag wurde ich noch untersucht...
Krefeld, 14.September des Jahres 2009
Es ist etwas Schlimmes passiert.
Alice ist tot.
Mein Name ist Ed und ich werde den letzten Tagebucheintrag vervollständigen.
Vor zwei Tagen hatte Alice aus Eifersucht und Wut Schluss gemacht und ich hätte an ihrer Stelle dasselbe getan. Es war schwer in die Schule zu gehen, ich fühlte mich unvollständig. Bevor ich losging, eine Stunde nach Unterrichtsbeginn, betrachtete ich das Photo, dass Alice mir zu meinem 17. Geburtstag schenkte. Ich schloss die Augen und vernahm ein Kratzen. Als ich meine Augen wieder öffnete, wusste ich was das für ein Geräusch gewesen war: Das Glas im Rahmen hatte einen Sprung bekommen und verlief quer durch Alice. Fassungslos starrte ich das Photo an. Meine imaginären Sirenen warfen sich von selbst an und texteten mir, dass mit Alice irgendetwas nicht stimmte. Das Bild fiel von alleine zu Boden und damit war ich mir ganz sicher. Irgendwas war mit Alice passiert. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Obwohl wir kein Paar mehr waren und Streit hatten, beschloss ich sie im Krankenhaus zu besuchen.
Panisch und schon völlig außer Atem lief ich die Krankenhaustreppen hinauf und übersprang fünf Stufen gleichzeitig. Stolpernd rannte ich die Gänge entlang und versuchte mich im weißen Wirrwarr zu orientieren. Da! Das war ihr Zimmer! Gerade als ich die Türe aufreißen wollte, sprang sie von selbst auf und es kamen lauter in weiß gekleideter Leute hinausgestürmten. Mitten unter ihnen war Alice, die völlig fertig auf ihrem Bett eiligst in die Notaufnahme geschoben wurde. Ich rannte dem Tumult hinterher und schrie: ,,Alice! Alice!" Mit einem gewaltigen Satz erreichte ich sie und hielt sie während des Laufs an der Hand. Ihre Augen öffneten sich und sie lächelte schwach. Eine einzige Träne lief ihr über das Gesicht. Ihre blasse Haut wurde immer bleicher und vor Angst sie zu verlieren, rief ich verzweifelt: ,,Alice! Ich bins Ed! Du darfst noch nicht sterben! Kämpf gegen den Tod an! Du musst leben! Alice! Alice! Ich liebe dich! Hörst du? Verlass mich nicht!" Sie riss plötzlich die Augen auf und ein Lebensfunke glühte kurz auf. Das Bett hielt abrupt. Wir mussten auf einen Aufzug warten. ,,Alice! Kämpf weiter! Du schaffst es! Alice! Alice!" Meine Tränen rannen mir über das Gesicht und versetzten mir tausende Stiche ins Herz. Ich wollte sie nicht verlieren. Niemals. Ich beugte mich zu ihr vor und küsste sie. Schwach erwiderte sie meinen Kuss bis die Ärzte mich wegdrängten.
Völlig verstört saß ich vor der Notaufnahme und betete zu Gott, dass er sie noch ein wenig hier unten verweilen lassen sollte. Irgendwann spät in der Nacht kam ein völlig entkräfteter Doktor aus dem Saal und überbrachte erst Alices Familie die Nachricht. Die Mutter brach zusammen und ich sackte zusammen. Sie war tot. Die Ärzte hatten ihre Körperfunktionen wiederhergestellt, doch dann nach acht Stunden OP hatte Alice unsere Welt verlassen. Ich fühlte überhaupt nichts mehr. Kraftlos wandte ich mich vom Krankenhaus ab und ging nach Hause.
Dort angekommen, schloss ich mich in meinem Zimmer ein und zog die Vorhänge zu. Keiner sollte mich stören. Gefühlslos packte ich den Glassplitter vom Rahmen unseres gemeinsamen Photos um mir die Hauptschlagadern aufzuschneiden. Ich wollte nicht mehr leben. Das Leben war schön, doch jetzt hatte es keinen Sinn mehr. „Alice, ich komm zu dir. Warte nur auf mich." Langsam wie in Zeitlupe hob ich den Glassplitter und streckte meinen Arm aus. Ich wollte die Augen schließen um mein eigenes Blut nicht sehen zu müssen, als ich im Augenwinkel etwas Weißes unter dem Photo hervor lugen sah. Ich legte den Splitter beiseite und fischte einen Brief heraus. Ein Abschiedsbrief von Alice. Ich hatte plötzlich Angst. Was war wenn sie in diesem Brief ihre Wut ausgelassen hatte? Dennoch öffnete ich ihn.
Allerliebster Ed,
wenn du diesen Brief entdeckst werde ich höchstwahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden wandern. Diesen Abschiedsbrief schrieb ich dir um dir noch einmal zu sagen wie schön unsere gemeinsame, aber doch zu kurze Zeit war. Noch nie in meinem kurzen Leben war ich so außerordentlich glücklich gewesen und dafür danke ich dir. Deine Energie gab mir immer unendlich viel Kraft, auch wenn du es vielleicht nie bemerkt hast. In deiner Nähe habe ich mich stets geborgen gefühlt, meine Angst vor dem Tod wich jedes Mal. Ich wollte nie wieder ohne dich sein, denn von unserem ersten Treffen an warst du einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Nie war ich imstande dir meine Liebe zu gestehen, doch seit ich dich zum ersten Mal auf dem Flur im Krankenhaus erblickte, hatte sich dein Bild schon tief in mein Herz gebrannt. Unsere Freundschaft war eine kraftspendende Bindung, ich konnte durch dich wieder richtig am Leben teilhaben. Wir mögen einige Streitereien hinter uns haben und viele Unstimmigkeiten. Doch meine Angst, dass du mich verletzen könntest, war einfach zu groß. Meine Seele hatte in meinem ganzen Leben schon vieles erleiden müssen. Mein Vater ist früh verstorben und ich bekam bald darauf die Diagnose ebenfalls früh zu sterben. Manchmal wollte ich ihm einfach hinterher. Ich hatte mich immer danach gesehnt frei von all den Sorgen zu sein, doch dabei vergessen mein Ziel im Auge zu behalten: Seit Anbeginn meiner unheilbaren Krankheit war mein größter Wunsch Medizin zu studieren, um Menschen auf der ganzen Welt zu helfen. Ich wollte nicht, dass sie das gleiche Schicksal erleiden müssen wie ich selbst. Doch es war ein unerreichbares Ziel. Es gibt Menschen auf der Welt, vielleicht Kinder, die noch nicht einmal die Chance kriegen zu lernen was Leben bedeutet. Ich hatte Glück. Ich durfte noch eine kleine Weile leben, lernen zu genießen und vor allem dich treffen. Keine meiner Erinnerungen war schöner. Mein größter Wunsch war einfach gesund zu werden und den anderen kranken Menschen dieser Welt zu helfen ebenfalls gesund zu werden. Sie sollten leben. Leben heißt zu sterben, ja. Aber jeder Mensch musste Leben um seine Bestimmung zu finden. Ich kann meiner nicht mehr nachgehen, deshalb bitte ich dich auch für mich weiterzuleben und deinen eigenen Traum zu leben.
Ich liebe dich, Ed und ich hoffe, wir werden uns eines Tages wiedersehen.
Deine dich auf ewig liebende,
Alice
Der Brief war herzzerreißend und ich war äußerst verwundert, dass wir beide das gleiche Berufsziel hatten. Seit ich sie kennengelernt hatte, wollte ich nach dem Schulabschluss Medizin studieren, um sie und andere Menschen von tödlichen Krankheiten zu heilen. Ich war so egoistisch gewesen. Entschlossen stand ich auf, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, schmiss die Scherbe weg und besorgte mir einen neuen Rahmen. Ich hatte für zwei Menschen zu leben und Träume zu verwirklichen.
Die Jahre sind seit dem nun vergangen. Ich bin ein erfolgreicher Mediziner, reise durch die Welt und helfe denen, die Hilfe benötigen, aber nicht genügend Zahlungsmittel haben um sie zu bekommen. Meine Erinnerungen an Alice und die schöne Zeit mit ihr treiben mich jedes Mal weiter voran, wenn ich wieder einmal erschöpft kurz vor dem Aufgeben stehe. Es ist als wache sie über mich, denn wenn ich an ihr hübsches, blasses Gesicht zurückdenke, erfüllt mich eine Wärme und jede Menge Kraft, die es mir ermöglicht immer weiter zu machen. Ich habe nie geheiratet und bin keine Beziehung seit meiner letzten Beziehung mit Alice mehr eingegangen, denn Alice ist und bleibt auf ewig meine erste, große und einzig, wahre Liebe.
Texte: http://evolutionaerespiritualitaet.blogspot.com/2011/03/gefallene-engel-buddhismus.html
Tag der Veröffentlichung: 12.12.2011
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