Twins
Ich trank nur einen Kaffee. Einen ganz einfachen. Die Kellnerin hatte Instantgemisch mit heißem Wasser vermischt. Sie hatte versucht es hinter der Kaffeemaschine im Geheimen zu machen, aber ich hatte sie gesehen. Ich war müde von der Nachtschicht, aber dennoch waren meine Augen noch wach genug, um die Entstehung von dem zu sehen, was sie mir gleich darauf als echten Bohnenkaffee andrehte. Sie konnte mich nicht täuschen, aber ich sagte dennoch nichts. Ich akzeptierte den Kaffee, als das was er niemals sein würde. Ich nahm einen Schluck und stellte mir den kräftigen Geschmack von Kaffeebohnen vor, aber stattdessen füllte sich mein Mund mit warmem Wasser, das eine Spur von undefinierbaren Geschmacksaromen mit sich zog.
Der Kaffee war wahrlich kein Grund, um dem Schnellrestaurant einen Besuch abzustatten. Ich war vor diesem Morgen auch noch nie dort gewesen und habe auch nicht vor, es je wieder zu betreten.
Warum ich ausgerechnet an diesem Morgen dort gelandet bin, weiß ich nicht.
Ich fuhr bei einigen Restaurants vorbei, obwohl ich mich nach einer Fahrpause und einem kräftigen Kaffee sehnte und ausgerechnet bei diesem Saftladen war mein Fuß schließlich wie von selbst aufs Gaspedal gehüpft und ich fuhr in den Parkplatz ein.
Nun saß ich an der Theke. Meine Finger krallten sich an einer Tasse fest, die ich am liebsten weit weggeschoben hätte.
Ich wollte nicht dort sein. Obwohl ich meine Ruhe hatte und mir die Bedienung noch keinen einzigen bösen Blick zugeworfen hatte, glaubte ich, das bald auftauchende Unheil bereits im gesamten Körper spüren zu können. Ich glaubte zu wissen, dass es besser für mich war, von dort so schnell wie möglich zu verschwinden, aber ich blieb sitzen. Tat so als hätte ich unendlich viel Zeit. Was letzten Endes ja nicht so war.
Der erste Schuss flog knapp an meinen Wangenknochen vorbei und wirbelte meine Haare ganz schön nach hinten, aber dennoch reagierte ich zunächst nicht.
Fragte mich kurz, ob da grad was war, aber da alles normal wirkte, nippte ich weiter an meiner Tasse und sah erst auf, als die Kellnerin ihre Augen nach hinten verdrehte und dann nach vorne zusammen sackte. Ungläubig starrte ich auf den Boden. Betrachtete den leblosen Körper und wandte mich erst ab, als ich jemanden schreien hörte. Ich drehte mich auf dem Hocker und sah, dass der einzige Gast neben mir, eine etwa 80 jährige Frau mit kreidebleichem Gesicht, zu mir nach vorne blickte, obwohl ich wusste, dass sie die bewusstlose Kellnerin nicht sehen konnte. Das war nicht möglich.
„Jemand hat sie umgebracht. Jemand hat sie umgebracht“, schrie sie aus bemerkenswert munterer Kehle und wenn mich ihr Schreien nicht schon völlig verunsicherte, gab mir ihr Blick noch den Rest. Sie hatte jenen starren Blick drauf, der mir schon in meinen Kindheitstagen oft Alpträume beschert hatte. Der Blick schien stets dazu fähig mich gänzlich zu durchleuchten. Meine ganzen schmutzigen Geheimnisse und Gedanken zu erfahren.
„Ich hab sie nicht umgebracht“, stotterte ich, zog mich vom Hocker und ging einige Schritte auf die Dame zu. „Ich weiß nicht, was passiert ist!“
Ich ging zwar auf die Frau zu, aber mein Blick schweifte unsicher und ängstlich durch das Restaurant. Auf der Suche nach einem Mörder, der sich versteckt hielt und jeden Moment erneut zuschlagen konnte. Was hatte er vor?
Wollte er uns alle umbringen und dann das Geld in der Kasse klauen? Unzählige Gedanken schossen durch meinen plötzlich sehr wachen Verstand. Als ich die alte Frau erreicht hatte, packte sie mich plötzlich an der Schulter und drückte sich an mich. Ich spürte ihren gebrechlichen Körper, der ein ganz anständiges Gewicht aufweisen konnte.
„Beschützen Sie mich. Ich will noch nicht sterben.“
Ich blickte in ihre hellblauen, wässrigen Augen, rang mir ein Nicken und ein schmales Lächeln ab.
„Keine Angst wir werden nicht sterben. Es wird alles wieder gut“, versuchte ich sie und auch mich zu beruhigen. Ich ging mit ihr zu ihrem Tisch und half ihr sich wieder zu setzen. „Bleiben Sie hier und versuchen Sie ruhig zu bleiben“, sagte ich und versuchte vorsichtig meine Hand von ihrer zu lösen.
Ihre Finger wirkten genau so schwach wie der Rest ihres Körpers, aber auch sie waren es nicht. Ich hatte einige Mühe, um mich von dem Griff zu lösen. Als ich es endlich geschafft hatte, stand nicht nur eine Schweißperle auf meiner Stirn.
Und was nun? Ich blickte mich weiter um, blieb aber am Tisch stehen. Langsam zog ich mein Handy aus meiner Jackentasche und wählte die Nummer der Polizei, aber zu meinem Übel hatte ich keinen Empfang.
„Verdammt“, raunte ich und klatschte das Handy auf den Tisch. Das konnte doch nicht wahr sein.
„Nehmen Sie das Telefon hinter der Theke“, hörte ich plötzlich eine junge Männerstimme sagen und als ich mich umwand, sah ich das passende Gesicht dazu. Der junge Mann schien vielleicht gerade mal achtzehn Jahre alt zu sein. Er trug eine Jeans und ein einfaches T-Shirt. Er hatte keine Jacke dabei, obwohl es draußen saukalt war.
„Sie können damit telefonieren“, sagte er weiter und sein enorm intensiver Blick, schien mich für einen Moment gefangen zu halten. Ich konnte mich weder rühren, noch einen normalen Gedanken fassen. Es wirkte so, als würde er mich hypnotisieren und sein Lächeln irritierte mich noch zunehmend. Wer war er? Wo war er plötzlich hergekommen. Ich blickte zur Tür. Darüber war ein kleines Glöckchen angebracht, welches eigentlich klingeln sollte, wenn jemand das Restaurant betrat. Aber ich hatte kein Klingeln gehört.
„Nein, nein. Das kann nicht sein. Du bist tot. Du bist mausetot. Wir haben dich doch begraben. Du existierst nicht.“
Eine weitere Stimme zog meine Aufmerksamkeit an sich. Ich suchte nach einem weiteren Gast und staunte nicht schlecht, als aus dem hinteren Teil des Restaurants ein Junge auf uns zukam, der dem anderen auf ein Haar zu gleichen schien. Er war nur wärmer angezogen und hielt in der rechten Hand eine Waffe, welche er mit festem Griff nach vorne hielt. Mein Blick huschte zwischen den vermeintlichen Zwillingen hin und her. Auch die alte Frau betrachtete die Jungen verwirrt. Sollte das alles nur ein blöder Scherz sein? Aber wo waren dann die Kameras und warum stand die Kellnerin nicht wieder auf? Hatte sie ihren Einsatz verschlafen?
„Lass die Waffe fallen, Ron. Es ist alles okay. Lass einfach die Waffe fallen und verschwinde.“
Ron schüttelte den Kopf und auch ich hätte das getan, wenn ich dazu imstande gewesen wäre, aber mein Körper verweigerte mir jegliche Dienste. Ich stand nur wie erstarrt da und gab keinen Mucks von mir.
„Du bist zu spät, Mike. Ich hab sie erschossen. Es war so leicht.“ Ein amüsiertes Lächeln huschte über Rons Lippen, während er rückwärts auf die Theke zuging. Seinen Blick stetig auf seinen Doppelgänger gerichtet.
„Mach keine Dummheiten, Mike. Ich hol mir die Kasse und dann verschwinde ich.“
Nach einem weiteren schier boshaft angehauchten Lächeln, ging er um die Theke rum und suchte nach der Kasse.
„Gehen Sie zum Telefon und rufen Sie die Polizei!“
Ich zwang mich meinen Blick von Ron, dem Zwilling mit der Waffe, abzuwenden und Michael anzusehen. Dessen Gesicht befand sich nahe an meinem und sein Blick schien mich vollends zu durchbohren. Meine Stirn war bereits vollkommen von Schweiß überschwemmt. „Ich ... ich kann nicht“, stotterte ich, wie immer wenn ich nervös war und Angst hatte. „Soll SIE doch gehen“, sagte ich und deutete auf die alte Frau, welche starr vor sich hinblickte. Es wirkte so, als hätte sie sich längst selbst ausgeklickt. Als wäre ihr Verstand an einen schöneren, besseren Ort geflüchtet.
„Die Frau ist noch nicht tot, aber sie braucht Hilfe. Schnell!“
Ich sah, wie die Hand Michaels meine Schulter umgreifen wollte, aber anstatt sie zu berühren, einfach hindurch ging. Sofort war ich noch wacher und machte einen ungelenken Schritt zurück.
„Was ... was bist du!“
„Er ist tot. Tot!“, raunte Ron von der Theke aus und füllte seine Taschen eifrig mit Geldscheinen.
„Er dürfte gar nicht hier sein. Er ist tot.
Mause tot.“
Ich weiß nicht, was mich mehr beunruhigte. Sein Gejammer oder das hyänenartige Gelächter, das er hin und wieder von sich gab.
Als die Kasse leer, oder seine Taschen einfach bereits zu voll waren, kam er, mit der Waffe wild fuchtelnd, auf mich zu.
Ich fühlte mich augenblicklich so lebendig wie noch nie zuvor, obwohl allen Anschein nach ein Geist neben mir stand und der Zwillingsbruder keine Skrupel davor zu haben schien, mich kaltblütig zu erschießen.
„Sag ihm, dass er verschwinden soll. Ich hab alles unter Kontrolle.“
Der Lauf der Waffe streifte über meine rechte Wange und verharrte dort für einen Moment. Der Lauf war zwar kalt, aber das allein beunruhigte mich nicht.
„Du willst doch dein Leben nicht so wegwerfen wie ich, Ron. Du kannst es besser. Glaub mir, du kommst noch mal davon, wenn du jetzt abhaust und so etwas nicht mehr machst.“
Michaels Worte klangen vernünftig. Michael war zwar tot, aber seine Worte waren lebendig. Ich glaubte sie richtig sehen und fühlen zu können. Sie schwirrten für einen Moment ruhelos im Raum herum. Auf der Suche nach jemanden, der wirklich bereit war zuzuhören.
„Nein, verschwinde. Lass mich in Ruhe. Du bist nicht hier. Du existierst nicht. Das bilde ich mir alles nur ein.“ Ron griff sich mit beiden Händen an die Stirn und machte anfänglich harmlose Grimassen, die aber immer ausgefallener wurden. „Verschwinde! Verschwinde endlich!“
Ich beobachtete Ron mitleidig, als dieser unkontrolliert und noch immer die Hände an den Kopf gepresst, durchs Restaurant taumelte. Die Waffe hielt er nach wie vor in der rechten Hand und sie drückte gegen seine Schläfe. Das würde einen schönen Abdruck oder gar eine Beule geben, dachte ich, während ich meine Augen nicht von ihm abwenden konnte. Den Geist ließ ich natürlich auch nicht aus den Augen. Das schien mir zu gefährlich zu sein. Gut, bis jetzt wirkte er sehr freundlich, aber bis zu diesem Tag hatte ich auch noch nicht viel mit Geistern zu tun gehabt. Ich wusste nicht, ob er so zahm war wie Caspar oder doch so unkontrollierbar und nervig wie seine bösen Onkeln.
Ich riskierte auch einen kurzen Blick auf die alte Frau. Sie machte noch immer einen ziemlich weggetretenen Eindruck.
Vielleicht hätte ich kurz ihre Atmung und ihren Puls kontrollieren sollen, denk ich nun, aber damals wäre mir beides nicht eingefallen, egal wie lange ich nach gegrübelt hätte.
„Sie ist, okay!“, sagte Michael plötzlich und erntete prompt einen verdutzten Blick von mir. Der Geist sprach mit mir.
Und nicht nur das. Er schien zu fühlen oder gar zu wissen, was ich dachte.
„Was soll dass alles hier?“ fragte ich zurück, da es auch nicht abnormaler sein konnte, mit einem Geist zu sprechen.
„Wer bist du?“ Ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich eine Antwort erwartete. Wahrscheinlich nicht und es überraschte mich so auch nicht, dass keine kam. Michael war nicht wegen mir hier und so widmete er mir auch nur eine geringe Aufmerksamkeit. Genau so viel, wie ich aushalten konnte und auch brauchte, um nicht ganz auszuticken, vermute ich mal. Die alte Frau brauchte keins von seinen tröstenden Worten. Sie wäre wohl an einem Herzinfarkt gestorben, wenn sie wirklich mitbekommen hätte, was vor sich ging.
Was danach passierte, lief wie ein Film ab und ich zweifle noch heute oft daran, dass ich wirklich hautnah dabei war. Wirkte doch alles so unwirklich, aber dass ist glaub ich normal, wenn man etwas erlebt, das die Grenzen der wirklichen Welt übersteigt.
Es überraschte mich nicht, als plötzlich die Polizei vor der Tür stand, aber Ron wirkte sehr überrascht.
„Das hast du echt wunderbar hinbekommen. Willst du, dass sie mich erschießen? Willst du, dass ich auch so ein Zombie werde wie du?“ brüllte Ron seinen Bruder an und legte blitzschnell von hinten seinen Arm um meinen Hals. Ich stöhnte und versuchte mich zu wehren, aber ich begriff schnell, dass es aussichtslos war. Rons Griff war stark und die Waffe hatte auch wieder den Weg zu meiner Wange gefunden. Langsam gewöhnte ich mich zwar an den kühlen Lauf, aber ich hätte auch genau so gut, ohne dieses Metall in meinem Gesicht leben können.
„Damit hast du wohl nicht gerechnet, oder Bruderherz?“
Ron drängte mich Richtung Tür und langsam begann ich zu realisieren, was er vorhatte. Ja, ich brauchte vielleicht etwas, aber dann war es mir sonnenklar. Ich blickte durch die Glastür und sah dutzende Polizeiwagen und dahinter Polizisten, die sicherlich bereit waren jeden Moment das Feuer zu eröffnen.
Es wäre wohl an der Zeit gewesen, um Panik zu schieben, aber obwohl ich sonst immer eher sehr schnell ausflippte, war ich plötzlich ganz ruhig. Michael stand neben mir und mein Blick wurde magisch von seinem angezogen. Ich sah nur noch ihn. Seinen festen, Mut machenden, Blick.
Er lächelte sogar leicht. Ich wusste nicht, was es zu lächeln gab. Mein Gesicht fühlte sich vollkommen taub an. Ich wusste, dass ich meinen Mund nie dazu bewegen könnte, auch nur eine leichte Mimik von sich zu geben. Nicht in dem Moment.
Nicht jetzt, wo ich glaubte, dem Tod bereits näher als dem Leben zu sein.
Vielleicht sah ich Michael auch deshalb. Vielleicht war er hier, um mich mitzunehmen.
„Bist du wegen mir hier? Soll ich mit dir gehen?“, fragte ich Michael und mein Blick hing bildlich gesprochen an seinen Lippen. Er brauchte nur ja zu sagen und ich wäre frei von jeglicher Angst. Ich wünschte mir dies so sehr. Ich hatte keine Angst. Nein, ich verabscheute nur die Ungewissheit. „Nein!“
Ich starrte Michael an, welcher seine Hand ausstreckte und sie langsam zu meinem Gesicht führte. Ich wusste nicht, was er damit bezweckte. Würde er mich doch nicht berühren können. Aber seine Hand legte sich nicht auf mein Gesicht, sondern auf die Hand seines Bruders. Wie war das möglich? Das Gleiche schien sich Ron auch zu fragen, aber dann war es auch schon zu spät. Gleichzeitig und absolut unerwartet verschwanden beide. Sie lösten sich auf, sie verpufften.
Ich weiß nicht, was sie genau taten.
Sie waren einfach nicht mehr da. Ich brauchte eine Weile, um mich zu fangen. Ich stand wie versteinert an der Tür und die Zurufe der Polizisten brachten mir auch nichts. Ich ließ mich nicht hetzen. Ich musste wieder zu mir selbst finden. Ganz in Ruhe.
Erst mal tastete ich mein Gesicht vorsichtig ab. Suchte eine Waffe, die genau so spurlos verschwunden war, wie die Zwillinge und dann setzte ich mich einfach auf den Boden. Irgendwann wurde mir eine Decke um den Körper gelegt und noch etwas später wurde ich auf eine Trage gehievt, aber das alles nahm ich nur bedingt war. Meine Gedanken kreisten nach wie vor nur um ein Thema, das mich auch noch Jahre später täglich verfolgt: Wo waren sie hin verschwunden? War Michael gekommen, um seinen Bruder davor zu bewahren, weitere Dummheiten zu machen? Hatte Michael Ron zu sich geholt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich noch heutzutage diese Begegnung anzweifle, obwohl ich natürlich weiß, dass sie wirklich passiert ist. Ich hatte die Welt des Übernatürlichen betreten, indem ich nur einen Kaffee getrunken hatte und es war nicht mal ein richtiger Bohnenkaffee gewesen.
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2011
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