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Welt der Schatten - Leseprobe


Es schien ein Fenster, wie jedes andere zu sein. Na ja, vielleicht nicht wie jedes andere, aber im Beisein seiner Artgenossen, die ebenso schon sicherlich über zehn Jahre nicht geputzt worden waren, wäre es sicherlich niemandem besonders aufgefallen. Es hatte nichts Spezielles an sich. Keinen speziellen Rahmen, keine eingeritzten Initialen oder Muster, die es dafür bestimmt hätte, den Betrachtern zu zeigen, dass es ganz spezielle Geschichten behütete.


Geschichten über Menschen aus lang vergangenen Zeiten, die ebenfalls durch jenes Fenster geblickt hatten.
Waren ihre Blicke fröhlich oder voller Verzweiflung gewesen? Sahen sie, beim Blick aus dem Fenster, einen geliebten Menschen kommen oder gar für immer gehen?

Ein Fenster dieser Art hätte vielleicht für die zwei fünfzehnjährigen Freundinnen etwas Spannung, für den bereits sehr öde begonnenen Freitagnachmittag, bedeuten können, aber als sie ihrem Projekt erst mal gegenüberstanden, konnte keins der beiden Mädchen genug Fantasie aufbringen, um sich ernsthaft vorzustellen, dass sie dabei waren ein lang behütetes Geheimnis zu entdecken.
„Weißt du, dass ich deine Mutter dafür verklagen könnte? Sie hat gesagt, dass es ein wenig schmutzig ist und wir im Nu damit fertig sein würden!“
Mit vorwurfsvollem Unterton ergriff Lisa Mayer als erste das Wort, nachdem die Begegnung mit dem völlig geschwärzten Fenster zunächst für Stille in beiden Kehlen gesorgt hatte.
„Wenn du mich fragst, ist das Kinderarbeit. Sie hat die Tatsachen total verdreht. Wir können froh sein, wenn überhaupt etwas von dem Dreck abgeht.“
Ihren Worten noch etwas Nachdruck verleihend, gab sie dem Fenster mit dem Stil, des zufällig in der Hand haltenden Besens, einen Stoß. Das Glas und der Rahmen gaben einen gefährlich schrillen Ton von sich und bogen sich sichtlich im Wind, wen dieser auch unmöglich in einem geschlossenen Raum wie diesem vorhanden sein konnte.
„Sie zwingt dich nicht dazu, Lisa. Sie hat uns drum gebeten“, meldete sich nun auch Rose Larson zu Wort, nachdem sie nach der ersten Begegnung mit dem Fenster versucht hatte, ihren Blick so gut wie möglich von diesem fernzuhalten und sich viel lieber um die gerechte Verteilung der Putzutensilien kümmerte.
Ihren Oberkörper Richtung Zehenspitzen gebogen, schwangen ihre Arme zügig über den Fußboden und verteilten gerecht Putzeimer, Schwamm und Lappen.
„Wusstest du ...?“
„Nein.“
„Warum?“
„Ich weiß nicht, wie ich es bis heute vermeiden konnte, auch nur einen Schritt in den Keller zu tun und so noch nie das Vergnügen hatte den Ausdruck "pechschwarz" nicht nur wörtlich, sondern auch mal anschaulich vor Augen zu haben“, lallte Rose eher zu sich selbst, und ihren Blick über die kalten Bodenfliesen sausen lassend.
„Du warst noch nie hier unten?“ Ihren völlig überraschten Tonfall noch mit überdimensional aufgerissenen Augen garniert, wandte sich Lisa vom Fenster ab und ihrer Freundin zu, die ihren Rücken zu Lisa gewandt, vor einem großstämmigen Mahagoni Schreibtisch in die Hocke ging und in einer der Schubladen begann nach Etwas zu wühlen.
„Du ...“
„Ja ich war noch nie hier unten!“, bestätigte Rose, zwar mit selbstbewusster Stimme, aber die deutlich sichtbare Krümmung ihres Rückens verriet, dass sie vielleicht doch nicht so selbstsicher durchs Leben ging, wie sie einem immer weismachte.
Rose Larson, die Beste in Sport und das Mädchen, dem der Ruf der Furchtlosigkeit vorauseilte, hatte Angst alleine in den Keller zu gehen?
Lisas Augen und Mund konnten sich zu Recht nicht beherrschen. So als hätte sie ihren Körper nicht unter Kontrolle, starrte sie auf das Mädchen, das sie geglaubt hatte zu kennen.
„Du hast wirklich Angst vorm Keller?“
Den Kopf zunächst zaghaft in beide Richtungen geschüttelt, gab Lisa plötzlich Vollgas. Ihr Kopf flog regelrecht von einer Seite zur anderen. So als wäre sie ein Heavy-Metall Fan, der zu den Klängen von Marilyn Manson auszuckte.
Rose konnte sich einen sehr überraschten Blick auf ihre Freundin nicht verkneifen, da deren wilde Seite ihr bis jetzt vorbehalten war und sie das Mädchen, mit den nun sehr durcheinandergewirbelten braunen, schulterlangen Haaren, eher als stilles Mäuschen, deren Nase stets hinter Computermonitoren zu finden war, kannte.
„Ich habe dich noch nie so austicken sehen.“
„Und ich dachte nie, dass es etwas gibt, wovor die tollkühne Rose Larson Angst haben könnte“, konterte Lisa ebenso geschickt und hielt dem verwirrten Blick Roses stand.
So standen sie einige Sekunden schweigend da. Beäugten ihr Gegenüber, so als sahen sie einander zum ersten Mal.
Mehr oder weniger auf den baldigen Kampf mit dem Fenster vorbereitet. Aber irgendwie schien dass in dem Moment gar nicht mehr so wichtig zu sein.
„Du weißt, dass dein Ruf in der Schule ruiniert ist, wenn ich überall rum erzähle ...“, begann Lisa, die etwas angespannte Luft, angriffsfreudig zu bekämpfen.
Es lag zwar bereits eine gut dreijährige Freundschaft hinter ihnen und man sollte meinen, in dieser Zeit einander gut genug zu kennen, aber die gerade gefundenen neuen Seiten aneinander ließen verheißen, dass es vielleicht noch viel mehr zu entdecken gab.
„Was deine Computer-Buddys wohl denken werden, wenn ich ihnen dein echtes Ich offenbare? Lisa, die Unscheinbare. Lisa, der Computerfreak, ist in Wahrheit ne ganz Wilde!“
Grinsend sah Rose, wie Lisa sich, sichtlich geschlagen gebend, die zerzausten Haare mit den Händen glättete.
„Die meiste Zeit kann ich mich erfolgreich beherrschen, aber wenn ich mal austicke, dann aber ordentlich“, grinste sie, zwar etwas schief und sehr unecht wirkend, aber sie versuchte so zu tun, als wäre es keine große Sache.
„Okay, ich gebe es ja zu, ich bin ein Feigling, und wenn du’s genau wissen willst, glaub ich sogar, dass meine Mutter das hier als Therapiemaßnahme für mich eingeführt hat.“
„Therapie? Sie meint, putzen vertreibt die Angst?“, fragte Lisa, die sich durchs Wort „putzen“ schon allein leicht unwohl fühlte.
Zügig zog sie gelbe Putzhandschuhe über ihre Hände und hoffte, so etwas Ekel loszuwerden, aber die Hoffnung war von vornherein zum Sterben verurteilt, wenn sich direkt neben einem, ein Fenster von seltener „Schönheit“ befand.
„Nein, nicht das Putzen. Naja, das ist wohl ne nützliche Nebentätigkeit, aber sie glaubt wohl, dass ich meine Angst verliere, wenn ich länger hier unten bleibe.“
„Und deine Mutter wusste, dass du nicht alleine in den Keller gehen würdest?“
Rose nickte stürmisch, während sie bereits begann, das Fenster mit Reiniger einzusprühen.
„Ja, dafür wurdest du auserwählt. Du sollst mich bei einer Flucht mit allen vorhandenen Mitteln stoppen. Mich festhalten, fesseln ..., wenn nötig, darfst du mir auch einen Hieb mit dem Besen verpassen.“
Zunächst über ihre eigenen Worte lachend, verzog sich die Fröhlichkeit aber schnell, als Rose bemerkte, wie Lisa mit überaus gierigem Blick an ihren Lippen hing.
Das Gesagte schien genau ihren Geschmack getroffen zu haben. Höchste Zeit für Rose, zu ihren zuvor gesagten Worten ein paar gut gemeinte Ratschläge hinzuzufügen.
„Unbedingt mit dem Besen brauchst mich aber nicht verprügeln. Ich glaube, du weißt schon, auf was ich eigentlich hinaus will.“
„Ja, ich darf dich mit allen Mitteln stoppen“, sagte Lisa und schielte auf den Besen.
Rose vernahm dies etwas angespannt, aber sprach sich sogleich innerlich eifrig Mut zu. Es konnte schon sein, dass auch eine gute Freundin wie Lisa, ein paar verborgene Seiten hatte, aber ein Schlägertyp war sie wahrlich nicht.
Sie würde eher die Polizei rufen. Die Rettung oder gar die Feuerwehr, schoss es durch Roses Kopf. Sie würde sich in einen der Satelliten hacken und dem Satelliten befehlen, mich aufzuhalten. Ja genau, dass würde sie tun.
Roses Gedanken waren wirr. Zunächst sogar farblos. Noch nicht einmal einem Schwarz-Weiß-Film gleichend, bekamen einzelne Abschnitte langsam Farbe und versuchten, sich in eine gewisse Ordnung zu bringen, aber war das überhaupt möglich?
Der Dunst des Putzmittels zog über Roses Kopf hinweg und verteilte sich langsam im gesamten Raum.
„Ich hoffe dir ist bewusst, dass deine Mutter uns hier wie Sklaven hält.“
Rose war völlig fasziniert von Lisas plötzlich heranwachsendem Arbeitseifer und hielt deshalb von einem Kommentar zunächst abstand. Mit sicherlich viel zu überhöhtem Tempo fuhr Lisas Schwamm über das alte Glas des Fensters, während die Führerin munter weiter nörgelte.
Multitasking vom Feinsten, lächelte Rose mehr oder minder gequält. Sie kannte und liebte Lisas Humor, aber der Schwamm hatte sicherlich am wenigsten Schuld. Sich gut zuredend, jetzt ja nichts Falsches zu sagen, schnappte sich Rose ebenfalls einen Schwamm und tat es ihrer Freundin, auf der anderen Seite des Fensters, gleich. Wenn Lisa schon die Zähne zusammenbeißen konnte, würde sie dies auch mit Leichtigkeit hinbekommen.
Ihr Verstand wurde zwar zunehmend eingelullt, aber wer wollte, bei einer Tätigkeit wie dieser, schon vollkommen bei Verstand sein? Einfach nichts denken und vor allem nichts sagen, denn Rose wusste, dass sich Lisa bei unbequemen Arbeiten nur zu gern ablenken ließ. Sie würde sich sogar die Zeit nehmen, mir komplexe Programmierschritte zu erklären, wenn sie dadurch einer noch unbequemeren Tätigkeit aus dem Weg gehen kann, dachte Rose, während sie, Zähne zusammen beißend, versuchte, mit Lisa mitzuhalten.

Mehr über das Buch findet ihr unter: www.austrian-writer.at

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.10.2011

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