Die Toten
Die Toten können wir nicht verlieren
sie sind in uns
gleich wie ein Same liegt ein jeder, eine jede
auf dem Grund unseres Herzens
wenn wir sie pflegen
wird vielleicht einer von ihnen
für uns zum Baum des Lebens.
Tod und Leben
Tod und Leben streiten sich in mir, in dir,
sie zanken, disputieren, fahren ihre Krallen aus,
sie streiten sich um dich, um deine Seele,
deine Hoffnungen und Befürchtungen,
jeder will dich
ganz und nur für sich.
Wenn du Glück hast, findest du einen Spalt
durch den Licht fällt
und vielleicht gelingt es deinen Fingern ein Tor zu öffnen,
um zu verschwinden, zu entfleuchen, zu fliehen
in ein Land, das du zuhause nennen kannst.
Jahrmarkt
Das Karussell dreht sich
immer schneller, immer höher,
alles verschwimmt,
dir wird schwindelig,
die Erde verstummt,
nur zu hören ist der Wind,
unbarmherzig dreht sich die Schaukel nach oben
du schließt die Augen
und überlegst auszusteigen,
zu fliegen, zu gleiten
und abzustürzen,
um auf dem Boden der Tatsachen anzukommen.
Winter
Schnee fällt
auf Häuser, Dächer, Mützen,
Menschenmengen und Weihnachtsmarkt.
Wir warten auf den Nikolaus
und hoffen auf das Christkind.
In den langen Nächten
steigt der Duft von Lebkuchen und Glühwein in den Himmel.
Unser Opfer wird angenommen,
Heiligabend kommt – wie in jedem Jahr.
Silvester
Alkohol und Feuerwerk
Raketen und Fondue
Wo sind unsere vergangenen Träume
Wo die verstorbenen Freunde
Hoffnung im Bleigiessen
Trauer um leere Sektflaschen
Über all dem der Schnee
Der, jungfräulich wie er ist, uns einlädt
Spuren zu hinterlassen,
Spuren, die er beim ersten Tauwetter mit sich nehmen wird.
Liebe
Ein leeres Wort, ein hohles
Ein verdächtiges, ein misstrauenweckendes,
eines das nach Abschied und Tränen schmeckt,
ein Wort, ohne dass ich nicht leben könnte.
Seiltänzer
Sei ein Seiltänzer auf dem Seil der unhintergehbaren Grenze
Nimm sie mit in deinen Tanz
all die, die ohne dich fortgegangen sind,
all die, um die du geweint hast.
Fordere sie auf, die Lebenden und die Toten,
nimm sie mit in dein Spiel.
Tanzt gemeinsam das Spiel mit dem Tod
Tanzt – um deines Lebens willen.
Und mach dir keine Sorgen um das zu dünne Seil,
denn der, der es gespannt hat, wird dich auch auffangen.
Aussteigen
Einen Augenblick nur
Innehalten
Warten
Verharren
Und Gott das Ticket für die Karussellfahrt zurückgeben.
Lachen
Lach über die Welt
Lach über dich
Lach weg die Sorgen
Lach weg die Tränen
Lach über die Städte, über die Wälder, über den Himmel,
Halte dir den Bauch vor Lachen,
lass die Tränen laufen,
lach einfach nur,
lach solange bis es wehtut.
Gegangen bin ich
Fortgegangen von meiner Heimatstadt,
fortgegangen in ferne Länder,
gegangen bin ich
gesucht habe ich
auf dem Weg durch Dürre und Einsamkeit
auf dem Weg durch Geröll und Schlamm
gesucht habe ich auch in Oasen
in grünenden Wäldern
im Spiel der Sonnenstrahlen
gesucht habe ich
fündig geworden bin ich nicht.
Den Weg suchend
staune, stolpere, spaziere ich
zu einem Ziel, das ich nicht kenne,
und das ich, sobald ich es erreicht habe,
hinter mir lassen werde.
Ich laufe vor eine Wand, und ich merke es nicht.
Ich laufe vor eine Wand,
es tut mir weh,
aber merke es nicht
Ich laufe vor eine Wand,
pralle hart ab,
aber spüre den Schmerz nicht.
Ich laufe vor eine Wand,
will mit dem Kopf durch sie hindurch,
aber sehe nicht meine Vergeblichkeit.
Ich laufe vor eine Wand,
ich erhoffe mir Freiheit hinter ihr,
aber erkenne meine Illusionen nicht.
Ich laufe vor eine Wand
immer und immer wieder
und schaue nicht zurück.
Geborgenheit
Nimm mich einfach in den Arm
frag nicht weiter
nimm mich einfach in den Arm
laß mich etwas von deiner Nähe und Wärme spüren
es klingt abgedroschen, doch die Welt ist kalt
obwohl die Vögel den Frühling ankündigen
wenn ich mich nicht irre, hörte ich schon Zugvögel
dabei ist es für sie noch viel zu früh
Komm, leg deinen Arm um mich
damit ich etwas die Augen schließen kann
etwas Geborgenheit spüre
der Zigarettenrauch tröstet mich auch nicht mehr
ich will nur Nähe
ich will getrost sein
mich aufgehoben und sicher wissen
dem alltäglichen Gerenne den Rücken kehren
die Leute, mit denen ich Tag für Tag scherze und disputiere kenne ich nicht
die Welt ist eisig und tagsüber viel zu hell
Laß mich die Augen schließen und nur die warme Finsternis wahrnehmen
atme nicht zu laut, das macht mir Angst
sondern laß mich nur deine Wärme spüren
Komm, leg deinen Arm um mich, hüll mich ein
und ich werde aus der Tiefe Kraft schöpfen, wie du sie noch nie gesehen hast.
Die Mauer
Auf der Suche nach Nähe stoße ich auf Mauern,
kalte Mauern, Mauern aus toten Steinen,
auf Mauern, die noch keiner überwunden hat
- oder wenn ja, ist es viel zu lange her, als dass sich die Überlieferung darüber erhalten hätte.
Auf der Suche nach Nähe bleibe ich an einer dieser Mauern stehen,
ich sehe die Steine unten, sie scheinen seit Jahrhunderten dort zu liegen,
und ich sehe andere, neuere Steine, manche faustgroß, andere kieselsteinklein,
achtlos wurden sie in den letzten Jahren zur Befestigung hinzugefügt,
ich betaste die Steine,
das abgestorbene Moos in den Fugen,
das junge Grün, das sich durch die Ritzen streckt,
ich spüre die Rauheit der Oberfläche
scharf und spitz luken die steinernen Unebenheiten hervor.
Sie ritzen sich in meine Handinnenfläche und hinterlassen ihre Abdrücke.
Ich atme, rieche den Duft der jahrhunderte-alten Steine,
schmecke die Geschichte dieser Mauer mit ihren zig Bewohnern.
Über die Mauer hinausschauen kann ich nicht,
daher bleibe ich stehen,
als wollte ich die Mauern umarmen, strecke ich meine Arme aus.
Sie wird warm.
Es ist meine Mauer.
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte alles hinter mir lassen
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte dem Leid nicht weiter zu sehen
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte die rostigen, schweren Ketten sprengen
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte raus aus dem stickigen Gefängnis
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte den alten Sorgen entschweben
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte die freie Luft des Himmels atmen
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte nur die Sonne im Blick haben
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte nur die erfreuen, die ich mir aussuchen würde
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte den Zugvögeln hinterhereilen
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte mit den Baumwipfeln mein Spiel treiben
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte die alten Gesichter unter mir sehen
Ich bin zu hoch geflogen
Ich wollte mich nur von den Winden treiben lassen
Ich bin zu hoch geflogen
So breitete ich meine Flügel aus und hob ab.
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2011
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