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Verborgenes Tor

Im Frühjahr hatte Ina ihren geliebten Mann beerdigt. In Inas Leben hatte die Einsamkeit einen Platz eingenommen, Schmerz und Trauer waren in ihr Herz eingezogen und ließen sie nicht mehr los.
Ina hatte sich abgekapselt und fand keine Verbindung mehr zu anderen Menschen. Wenn das Telefon klingelte, nahm sie den Hörer nicht ab. Sie war in eine seelische Sackgasse geraten.
In ihrer Wohnung hielt sie es seither nicht gut aus, zu sehr schmerzten die Erinnerungen. Ina hatte sich angewöhnt, stundenlang ziellos durch die Gegend zu streifen.
Früher war sie gerne zu Hause, sie fühlte sich geborgen in ihren vier Wänden. Doch seit dem Tod von Heinz, an den sie in ihrer Wohnung alles erinnerte, war sie ruhelos geworden. In ihr war ein Gefühl von Rastlosigkeit, die sie immer wieder aus dem Haus trieb.
Täglich ging Ina zum Friedhof und konnte immer noch nicht begreifen, dass Heinz sie verlassen hatte.
Mittlerweile kannte sie jedes Grab und die Namen der anderen Verstorbenen.
Neben der Grabstätte ihres Mannes war eine Frau beerdigt. Gleicher Jahrgang, gleiches Sterbejahr. Irgendwann war es Ina aufgefallen, dass jede Woche eine frische Rose auf ihrem Beet lag.
Dieses Grab wurde sehr gepflegt; seltsam daran war allerdings, dass sie bisher noch nie jemanden von den Hinterbliebenen dort angetroffen hatte.
Inzwischen war es schon November und die feuchte Kälte machte Ina zu schaffen.
Zum letzten Mal in diesem Jahr dachte sie, als sie durch das kleine verborgene Gartentor ging, das aus der Friedhofsanlage hinausführte.
Es war kein regulärer Ausgang, dieses versteckte Türchen war wohl kaum einem bekannt, denn noch nie hatte sie hier eine Menschenseele gesehen.
Durch einen Zufall hatte sie das Tor vor einiger Zeit entdeckt. Das war der Tag, als ihr eine heftige Windböe ihren Seidenschal geraubt hatte.
Ina hatte ihren Schal verfolgt, doch der blieb wie vom Erdboden verschwunden.
Bei dieser Verfolgungsjagd, war sie auf diesen Ausgang gestoßen. Eine bemooste Steintreppe führte hinab auf einen kleinen Waldweg. Ihr kam es vor, als sei sie in einer anderen Welt gelandet.
Hier hörte sie auch, erstmals seit Monaten, wieder die Vögel singen und das Rauschen und Wispern der Bäume.
Seit jenem Tag kam Ina häufiger her, setzte ich auf die Stufen der Treppe und lauschte den Stimmen des Waldes. Ihr gefiel dieser Ort und sie mochte diese Stille, hier konnte sie ihre Gedanken treiben lassen.
„Ein letztes Mal“, dachte Ina wehmütig, als sie sich auf der kalten Steintreppe niederließ. Sie würde sich einen anderen Ort suchen müssen, denn der Winter stand unmittelbar vor der Tür. In den Nachrichten war für die nächsten Tage Schnee gemeldet. Sie würde wohl erst im Frühjahr wieder herkommen, es war zu kalt und ungemütlich geworden, und sie hasste Kälte.
Gedankenverloren hielt sie einen schwarzen Handschuh aus Leder in der Hand.
Auf dieser Treppe hatte Ina, damals als ihr Tuch wegflog, diesen Handschuh gefunden. Es war kein gerechter Tausch, ein einzelner Herrenhandschuh gegen einen zarten Seidenschal. Doch sie hatte ihn aufgehoben und lange betrachtet und seither trug sie ihn bei sich. Er wirkte verlassen, genau so, wie sie sich fühlte. Ihm fehlte, genau wie ihr, das Gegenstück.
„Hallo, entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach
anzusprechen wage.“ Ina schreckte auf. Vor ihr stand ein kleiner untersetzter Mann mit einem schüchternen Blick. Hastig stand sie auf, wobei der Handschuh auf die Treppe fiel.
Der Herr bückte sich und hob ihn auf. Verdutzt meinte er: „Ja, das ist ja meiner, den habe ich vor langer Zeit verloren.“ In Inas Kehle hatte sich ein Knoten gebildet und sie brachte kein Wort heraus.
„Ich kann mich noch genau erinnern, wann das war. An dem Tag war ein heftiger Wind, ich saß hier auf der Treppe - so wie Sie jetzt, und da flog mir ein Seidenschal um die Ohren. Den habe ich da oben aus den Zweigen befreit.“ Der Fremde zeigte mit dem Handschuh in Richtung der Äste. „ Wissen Sie, ich weiß zwar nicht warum, aber seitdem trage ich diesen Schal immer bei mir.“ Und schon zog er einen türkisfarbenen Schal aus der Jackentasche.
Ina traute ihren Augen kaum und stotterte:„Das gibt es nicht, dass ist ja meiner, an dem Tag als ich ihn verlor, fand ich diesen Handschuh.“
Das Gesicht des Herrn begann zu strahlen: „Kommen Sie, dass müssen wir feiern. Meinen zweiten Handschuh habe ich nämlich aufbewahrt, aber erst möchte ich noch zum Grab meiner Frau.“ Er knöpfte seine Jacke auf und zauberte eine rote Rose hervor. Einen winzigen Moment zögerte er, dann reichte er Ina die Blume und sagte: „Bitte, nehmen Sie die als Dankeschön, meine Frau würde es freuen, denn die Handschuhe waren ihr letztes Geschenk an mich und es macht mich so froh, dass ich ihn wieder habe.“
Ein flüchtiges Rot überzog Inas Wangen, als sie die Rose annahm.
„Übrigens, darf ich mich vorstellen. Mein Name ist Hoffmann, Egon Hoffmann.“ Bei diesen Worten reichte er ihr die Hand.
„Ina Braun,“ sagte sie zaghaft und es war ihr, als würden sie sich schon lange kennen.
„Die Gräber unserer ...“
Leise murmelnd erwiderte er: „Ja, ich weiß! Kommen Sie, lassen Sie uns gehen. Wissen Sie, die Rose würde in dieser Nacht auf dem Grab erfrieren und die warmen Handschuhe kann ich bei der Witterung wirklich gut gebrauchen.Ich denke, es wird Zeit, dass wir einen gemütlicheren Ort finden.“
Bei diesen Worten begann es, in Inas Seele ein wenig wärmer zu werden.

Impressum

Texte: Text & Foto von Jutta Federkeil
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2009

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