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„Hallo, ähm, ich hätte gerne eine Schachtel Zigaretten“
„Welche?“
„Wie welche?“
„Na wat für ne Sorte! Haben se keine Oogen im Kopp!? Sie sind hier in einem Tabakladen! Da jibbet doch wohl hoffentlich mehr als eine Marke!“
„Oh, entschuldigen Sie bitte. Eine Packung West Light.“
„Ham wa nich. Is aus.“
„Hmm“ nuschelte Anna und starrte geistesabwesend auf die mit Zigarettenschachteln gefüllten Regale hinter der Theke. Plötzlich klatschte es neben ihr.
„Hier. Dreifuffzig.“
„Waren die nicht eben noch aus?“
„Ach. Ick hätte jetzt jedacht sie ham‘ dat nich mitjekriegt, so abwesend wie se grad rüberkomm‘. Einsfuffzig zurück. Bitteschön.“
„Danke. Und einen schönen Tag noch“
Als Anna den Laden hinter sich ließ und auf frische Luft traf, atmete sie tief ein um den Mief aus dem Tabakladen mit einer Mischung aus Abgasen, feinsten Staubpartikeln und der stickigen Luft eines schwül-warmen Tages zu ersetzen, dessen wohlbekannter Duft nach faulen Eiern nun ihre Nase umwehte.
„Mmmh. Smells like teen spirit“ dachte sie, grinste und setzte ihren Weg fort.
„Ah. Da war ja noch was“. Nach wenigen Schritten fing sie an in ihrer Tasche herum zu nesteln, brachte die Zigarettenschachtel ans Tageslicht, zog eine der Stangen heraus und steckte sie zwischen ihre Lippen. Dann wühlte sie in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug, fand stattdessen ein Streichholzheftchen, blieb stehen und steckte die Zigarettenspitze in Flammen. Ein tiefer Zug und Rauch füllte das erste Mal seit Monaten wieder ihre Lungen.

Ihr Bedürfnis zu rauchen hatte sie erfolgreich mit Kaugummis unterdrückt. Und mit der Marotte an Stiftenden zu lutschen und zu knabbern, was mit der Zeit eigenartig beruhigend geworden war. So gar nicht beruhigend hatte es auf ihre Mitbewohner gewirkt, die ihr keine Stifte mehr überlassen wollten, geschweige denn diese irgendwo liegenlassen konnten ohne dass sie Bissspuren oder Kratzer aufwiesen. Mittlerweile merkte Anna gar nicht mehr wenn sie das Ende eines Stiftes vollständig zerbiss. Diese Form der oralen Ersatzbefriedigung endete schließlich in einer WG Konferenz.

„Anna. Du weißt, ich hab dich sehr lieb. Aber könntest du dir bitte eine andere Ersatzbefriedigung suchen? Ich weiß, dass es schwer ist mit dem Rauchen aufzuhören. Aber es wird langsam kompliziert die Bissspuren als gewollte Kunst oder die Kratzer als Muster darzustellen. Wir haben dir hier was besorgt, was dir helfen könnte …“
sagte Charlotte und holte einen Schuhkarton unter ihrem Stuhl hervor.
„Ein Schuhkarton? „ Anna sah ihre Freundin zweifelnd an.
„Ihr wisst aber schon dass ich kein Hund bin und auch nich‘ so gerne auf Schuhen rumkaue?“.
„Öhm ja, das wissen wir. Wir haben ja auch kein Problem damit dass du unsere Schuhe zerstörst sondern unsere Stifte“ schmunzelte David.
„Es geht eher darum was der Karton enthält, und das sind keine Schuhe“ warf Henri mit einem kurzen Seitenblick auf David ein.
„Ach wat! Nun das hätt ich jetzt nicht gedacht. Nun gebt das Ding schon her!“ sagte Anna mit erwartungsvoller Miene.
Charlotte schob den Karton über den Küchentisch, den Anna sogleich in Empfang nahm. Die drei Mitbewohner starrten Anna an. Im Raum herrschte völlige Stille bis auf den Klang des Atmens der Vier.
„Leute, ihr könnt ruhig was sagen. Diese Situation ist gerade total klischeehaft. „Oh Nein! Wenn sie dieses Paket öffnet, DANN!““
David unterlegte seinen Ausspruch mit einem tiefen Atemzug und weit aufgerissenen Augen.
„DANN!“ wiederholte er jetzt lauter, was ihm den Todesblick der drei Frauen einbrachte.
„DAANN!“ brüllte er mit dunkler Stimme als ihn ein Beißring für Kleinkinder am Kopf traf.
„David. Is gut jetzt.“ Sagte Henri trocken.
„Aua!“ David lachte und warf Anna den Beißring zu, die den Kopf schüttelte und „Ja höpö höpö“ murmelte.


Ihre Mitbewohner brachen in brüllendes Gelächter aus.
„Ja höpö höpö? Was soll das denn heißen? Passt du dich der normalen Zielgruppe deines Geschenks an?“ sagte Charlotte und verfiel sogleich wieder mit in das tiefe Gelächter der anderen.
„Das ist nicht lustig, das ist Finnisch.“ Antwortete Anna und zog mit ihrem Mund einen gespielten Flunsch.
„Das heißt „So ein Quatsch““
„Einigen wir uns darauf, dass es Lustig und Finnisch ist.“ grinste Henri in die Runde.
„Kommt, wir gehen raus“ schlug Charlotte vor, als sich die Gruppe langsam beruhigte.
„Ein Spaziergang zur Abkühlung“ fügte David hinzu.


Sie traten hinaus und nahmen Kurs auf den Viktoria-Luise-Platz, der ganz in der Nähe lag. Fuggerstraße, dann Welserstraße, deren Trottoir, wie so oft, mit verschmierter Hundescheiße übersät war.
Die Vier machten ein Spiel daraus auf Zehenspitzen über den stinkenden ehemaligen Darminhalt von Terriern und Doggen, Retrievern und Schäferhunden zu springen. Alle kamen ohne Hinterlassenschaften an den Schuhen auf dem Platz an, machten es sich am Rand des Brunnens gemütlich und beobachteten die Familien die auf dem Platz herumschlenderten. Ab und zu wurden sie von ein paar willkommenden Spritzern Wasser getroffen.
„Ich denke ich starte den Versuch Aufzuhören nochmal neu. So mit Ausschleichen, ganz langsam.“ sagte Anna und starrte auf die Fontäne die in der Mitte des Brunnen hochspritzte.
„Wieso, du bist doch schon weit gekommen.“ antwortete David.
„Ja, aber ich merke wie mir was fehlt. Ich sehne mich mit jeder Faser meines Körpers…“
„Jetzt übertreibst du aber. Außerdem glaube ich, dass du über das Stadium des körperlichen Entzugs bereits hinaus bist“ unterbrach David Anna.
„ Okay, mit jedem Neuron meines Gehirns sehne ich mich nach einer Zigarette.
Ich denke das ganze nochmal neu zu starten und nicht so abrupt aufzuhören wäre vielleicht sinnvoller.“
„Du hast schon aufgehört. Ich denke Ausschleichen, es langsam angehen zu lassen wäre einfacher gewesen und wahrscheinlich hätten nicht so viele Stifte dran glauben müssen, aber nun hast du schon so viel geschafft. Es ist deine Entscheidung. Du weißt selber dass du gerade nach Ausreden suchst. Du hast ja jetzt deinen Beißring. Der ist nicht ungesund für die Lunge und du kannst nach Lust und Laune darauf herumbeißen.“
„Der ist aber nicht gut für die Zähne.“
„Ach was. Du hast alle Zähne, dir können sie nicht mehr schief wachsen. Die Ausrede gilt nur für Säuglinge und Kleinkinder. Okay, den Zahnschmelz kannst du dir ein bisschen abreiben. Oh Oh."- David machte große Augen und wackelte mit den Händen- "Aber wie gesagt, es ist deine Entscheidung. Errare humanum est.“
„Ich geb dir gleich Errare humanum est“ lachte Anna und versetzte David einen Schlag gegen den Arm.
„Ich weiß, ich weiß, jeder ist für seine Entscheidungen selbst verantwortlich. Aber manchmal muss man einen Schritt zurückgehen um nach vorne gehen zu können.“
„Ich denke wir sollten das Thema jetzt erstmal beenden.“ sagte David.
„Ich auch. Außerdem ruinieren wir sowieso unsere Lungen in dem wir in der Stadt leben“ antwortete Anna.
„Aber ganz bestimmt nicht in dem Maße wie mit dem Rauchen.“
„Jaja.“


„Findet ihr es nicht auch klasse hier zu leben?“ fragte Henri ins Blaue hinein.
„Ja, ich liebe diese Stadt, wahrhaftig“ antwortete David.
„Ich auch.“ sagte Anna.
„Oh Berlin, Oh Berlin, Oh du wunderschöne Stadt…“

setzte Charlotte mit hoher Stimme an, eine Opernsängerin imitierend, stand auf und stellte sich auf den Brunnenrand.
„Isch lübe düsch…“

grölte Henri und stellte sich neben Charlotte.
„Bauten Erdfern Riesig Leicht Insel Niemandsland“

rief David mit tiefer Stimme und gesellte sich zu den Frauen.
„Brunnen Erde Reise Licht Inerreichbar Nielangweilig“

sang Anna und stellte neben David.
„Es heißt unerreichbar du Socke. Inerreichbar gibt es nicht.“ sagte David zu Anna.
„In Berlin gibt es alles.“ Erwiderte diese trotzig grinsend.

Um diese Worte zu bestärken stürzte sich Anna rückwärts in den Brunnen und zog David mit sich, der wiederum Henri mit sich zog die gerade noch Charlottes Hemd zu fassen bekam. Mit einem großen „Platsch“ landeten die vier im Wasser und die auffliegenden Wassertropfen glänzten im roten Licht der untergehenden Sonne. Die restlichen Leute auf dem Platz hatten das ihnen so geräuschvoll dargebotene Schauspiel beobachtet und applaudierten laut. Eine kleine Gruppe Jugendlicher brüllte: „Berlin wir lieben dich auch.“ Die vier hatten sich im Brunnen aufgerichtet und lachten, während sie einen Knicks vor dem Publikum machten.
Am Rand des Platzes eilte ein Mädchen Richtung Münchener Str. in der Hoffnung den Bus noch zu kriegen. Aber sie wusste dass es ein Glücksspiel war; denn in dieser Stadt konnte man nie wissen was einen erwartet.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Berlin, Blaue Erbse Riesen Liebe Im Niemandsland

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