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Ich komme nach Hause




Liebe Mama,

Das Leben hier ist nicht einfach.
Tagtäglich werde ich angebrüllt, ich müsse härter arbeiten, aber meine Hände sind blutleer und meine Kraft hat mich verlassen genauso wie mein Mut. Mein Körper versagt, und das nach nur 9 Jahren.
Sie sagen, ich bin schwach. Und inzwischen merke ich, dass sie recht haben.
Aber sie zeigen kein Mitleid mit mir. Sie zwingen mich, Dinge zu tun, auf die ich nicht stolz bin, und das nur, damit ich Geld habe, um mir Essen kaufen zu können. Mit den wenigen Pennys, die ich diesen Monat habe mitgehen lassen, bin ich in die nächste Stadt gelaufen, um mir Tinte und eine Feder zu kaufen.
Der Wächter hat mich erwischt und mich halbtot geprügelt. Ich weiß nicht, wie viele Knochen er mir gebrochen hat. Es ist ein Wunder, dass ich noch fähig bin, dir zu schreiben.
Wie auch immer.
Ich bin doch nur hierher gekommen, damit du stolz auf mich bist! Und nun arbeite ich hier auf mein qualvolles Ende zu. Ich kann nicht mehr, aber ich will auch nicht mehr geschlagen werden. Ich muss weiter arbeiten.
Ich vermisse das langweilige Landleben auf dem Hof zu Hause. In den weiten Feldern von Irland. Die frische Brise, die mir jeden Tag um die Nase geweht hat. Ja, ich vermisse sogar Vater. Und das, obwohl sein Verhalten auch ein Grund war, dass ich gegangen bin.
Am meisten aber vermisse ich dich.
Jede Sekunde muss ich um mein Leben bangen, Mama. Ich habe Angst, sie könnten herkommen und mich wieder dorthin bringen.
Das nächste Mal werde ich nicht überleben. Es raubt mir schon die Luft, wenn wir dabei zusehen müssen, wenn jemand zur Demonstration gefoltert wird. Du weißt nicht, was in dir aufkommt, wenn du siehst, wie deinem Freund vor deinen Augen die Glieder ausgerissen werden.
Einfach so. Ohne Grund. Um zu zeigen, dass wir anständig sein sollen.
Er hat doch nichts getan! Verdammt, wieso musste er so enden? Er war so ein anständiger Kerl, Mama! Das hat er nicht verdient! Er war mein einziger Freund hier…
Weißt du, was sie mit dir tun, wenn du weinst? Wenn du auch nur eine Träne vergießt?
Sie lassen dich es tun.
Ich habe meinen besten Freund umgebracht, Mama.
Die Schuld frisst mich innerlich auf, ich kann nicht mehr schlafen, ich tue kein Auge zu! Ich sehe nur seine leere Matratze und hasse mich. Hass erscheint mir nicht mal genug.
Ich verachte mich, für das, was ich getan habe. Nur wegen mir musste er sterben! Weil ich nicht gewollt hatte, dass sie das tun.
Würde er noch leben, wenn ich stark geblieben wäre?
Oh Gott, wenn es dich da draußen gibt, bitte habe Mitleid mit meiner Seele! Oh Gott, oh Gott, was habe ich denn getan, dass ich das verdient habe?
Ich hatte gehofft, ich würde dieses Jahr noch hinter mich bringen können.
Mama, es tut mir Leid. Aber ich gebe auf.
Ich komme zu dir. Ich komme nach Hause.

In Liebe,

dein Sohn




Am vierundzwanzigsten Tag des zwölften Monats verschaffte sich ein Arbeiter Zutritt zum Zimmer eines jungen Mannes. Seit einigen Tagen war er nicht zur Arbeit erschienen. Kein Sklave hatte etwas von ihm gehört, geschweige denn ihn gesehen.
Auf der verstaubten Matratze in dem kargen Raum fand man einen Brief. Er war nicht versiegelt.
„An Mama“ stand in undeutlicher Schreibschrift auf dem Umschlag. Die krakeligen Linien deuteten darauf hin, dass der Mann in keinem guten Zustand gewesen war.
„Rick.“, der Arbeiter winkte seinem Kollegen zu sich, gab ihm den Brief.
Nachdem dieser ihn gelesen hatte, wischte er sich eine Träne aus dem verrußten Gesicht.
„Der ist wohl abgehauen.“, sagte der Arbeiter ärgerlich. „Anscheinend hat er den Brief hier liegen gelassen. Diesen dummen jungen Leute.“
Aber Rick schüttelte müde den Kopf.
„Nein, Victor.“
„Aber da steht es doch, schwarz auf weiß!“, der Arbeiter zeigte auf den vorletzten Satz. „Er ist zurück zu seiner Mutter gegangen!“
„Victor, du verstehst es nicht. Lass es gut sein.“, sagte er, seine Stimme war sichtlich schwächer geworden.
„Sag mir, was ist!“
„Seine Mutter ist tot, Victor. Sie ist tot.“
Der Junge war heim gegangen.




„Frohe Weihnachten.“




Impressum

Texte: Copyright des Textes liegt bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Mama.

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