Die Hoffnung stirbt zuletzt, ist es nicht so?
Die Hoffnung, dass doch noch etwas passiert.
Die Hoffnung, dass die Langeweile nicht über meinen Verstand siegt.
Die Hoffnung, dass dieser Abend nicht in einer totalen Katastrophe endet.
Die Hoffnung, dass ich hier nicht verende.
Ich blicke auf und sehe mich um. Mein Kopf ist immer noch auf meine Hände gestützt, ich hocke auf der Treppe in meinem billigen Kleid. Mom würde mich trotzdem auffordern, aufzustehen, um das schöne Kleid nicht zu ruinieren. Wenn sie noch leben würde.
Ich seufze.
Kann nicht mal was passieren?
Selbst die unzähligen Gäste sind in ein betretenes Schweigen verfallen. Bei so vielen Leuten ist es echt ungewöhnlich. Aber was haben sie schon zu reden? In der letzten Zeit ist nichts Erwähnenswertes passiert.
Niemand hat gegen Regeln verstoßen, es gibt kein neues Paar, und auch sonst ist niemand krepiert.
„Wi-willst du ta-tanzen?“, stottert ein Junge in meinem Alter vor mir. Ich kenne ihn nur flüchtig. Er geht in meine Klasse. Hab seinen Namen vergessen. Tja. Kann passieren.
Ich betrachte meine blonden Locken, die ich um den Finger wickel, als wären sie unheimlich interessiert. Ignorier ihn einfach
, sag ich mir. Vielleicht bin ich grausam, aber ich will weder tanzen, noch ihn allzu sehr verletzten. Vielleicht sieht er es ja ein und macht sich wieder aus dem Staub. Wenn ich Glück hab.
Aber er gibt nicht auf.
Er räuspert sich. Scheiße.
„Ruby? Möchtest du mit mir tanzen?!“, wiederholt er, diesmal lauter. Ich bin nicht schwerhörig, Junge!
Gnadenvoll lächel ich ihn an, zuckersüß und falsch.
„Ich kann nicht. Mein Fuß tut schrecklich weh. Ich glaub, ich bin umgeknickt.“, lüge ich ihm direkt ins Gesicht. Eine meiner Stärken, denn er kauft es mir direkt ab und lässt die Schultern sinken. Und schmollt.
Ach komm schon.
„Na gut, dann vielleicht ein andermal.“ Jaja, sicher.
Ich lächle solange, bis er mir den Rücken zugewandt hat, dann erstirbt es wieder.
Und dieser Teufelskerl wendet sich gleich an die Nächstbeste! Das ich nicht lache. Oh, und jetzt fängt sie an zu lachen. Das hätte sie nicht machen müssen. Der Arme. Jetzt tut er mir sogar Leid. Fast hätte ich doch mit ihm getanzt. Wie gesagt, fast.
Die Langeweile setzt wieder ein. Und da kommt schon die nächste gelangweilte Person. Sie ist die Meisterin im Verstecken der Gefühle.
„Oh mein Gott, ich sterbe gleich! Wie kannst du es hier aushalten?! Ich könnte kotzen, so langweilig ist mir! Und dauernd muss ich irgendwelche Loser abwimmeln! Ich halt´s nicht mehr aus, Rub!“, stöhnend lässt sie ihren Kopf auf meine Schulter sinken.
Ja, sie ist das Mädchen, das gerade den Jungen, den ich nicht kannte, ausgelacht hat. Naja, wenn man nichts anderes zu tun hat.
„Schon gut. Mir geht’s auch nicht anders.“, murmele ich zurück und sinke niedergeschlagen gegen das Geländer.
Leise Dixie-Musik dröhnt aus den Lautsprechern, die zu zerplatzen scheinen. Dabei hört man nur die hohen Töne. Bitter.
In regelmäßigen Abständen beginnt meine Freundin abwechselnd zu stöhnen und sich umzusetzen. An ihrem blauen Glitzerkleid setzt sich schnell ziemlich viel Staub ab. Aber das scheint sie auch nicht mehr zu kümmern.
Leise fängt sie an eine Melodie zu summen. Sie kommt mir bekannt vor, aber ich komme nicht auf den Namen.
„Was summst du da?“
„Bring me to life
.“
Das bringt mich sogar zum Lachen. Sie findet immer die perfekten Lieder, um die Stimmung widerzuspiegeln. Eine der vielen Angewohnheiten, die ich an ihr mag.
Kurz bevor die Alarmsirenen ertönen, scheint die Zeit stillzustehen. Ein kleines Mädchen – höchstens acht Jahre alt – klammert sich an die Tür zur Veranda. In ihrem Gesicht spiegelt sich Verzweiflung dar. Als würde sie etwas vermissen. Jemanden. Vielleicht ihre Mutter?
Automatisch spannen sich meine Muskeln an und hieven meinen Körper hoch. Meine Freundin stöhnt auf und rutscht auf die Treppe. Sie liegt da wie ein Säckchen flüssiger Kartoffeln.
Kartoffelbrei.
Als ich wieder zum Eingang schaue, ist das Mädchen verschwunden. Seltsam.
Dann schrillen die Alarmglocken der Stadt los. Aber richtig. Sämtliche Gäste zucken zusammen und blinzeln verwirrt, als wären sie gerade unsanft von ihrem Wecker aus ihren Träumen geholt worden. Oder blind gegen die Tischkante gerannt. Wie man´s nimmt.
Aber der Ernst der Lage ist ihnen auch schnell klar, und jeder weiß, was dieses Geräusch zu bedeuten hat.
Jemand wurde ermordet.
Während ich äußerlich vor Wut über den Mord koche, schäume ich innerlich vor Begeisterung fast über. Endlich passiert mal was!
Sofort finden sich Grüppchen zusammen, von höchstens drei Leuten, die nacheinander hinausmarschieren. Die Frauen haben sich längst angewöhnt, keine hochhakigen Schuhe anzuziehen, da dieser Fall immer eintreten könnte.
Ich reiße die Unterseite meines Kleides bis zu den Knien mit einem Ruck ab und schmeiße den Stoff auf den Boden. Hätte ich mir bloß die Beine rasiert! Mist. Aber nicht zu ändern.
„Komm schon, Cam!“, ich packe meine Freundin am Arm und ziehe sie hoch. Irgendwie kommt sie mir heute besonders besoffen vor.
Zu zweit treten wir in die Nacht hinaus, die lediglich von dem winzigen Neumond und einigen noch winzigeren Sternen erleuchtet ist. Die helfen der Sicht aber auch nicht wirklich. Und es gibt nur wenige Straßenlaternen. Aber damit müssen wir auskommen.
Ich greife nach einer Fackel, die an der Wand des Gebäudes befestigt ist und halte sie vor mich, damit ich etwas sehen kann. Cam tut es mir nach und nimmt mich an der Hand.
Wir sind noch jung. Klar, dass wir Angst haben. Aber das ist auch unser Job.
„Fertig?“, fragt sie mich.
Ich nicke. „Ja.“
„Gut. Wo gehen wir lang?“
Gute Frage. Angestrengt versuche ich mit zusammengekniffenen Augen zu erkennen, wo die anderen Gruppen lang marschiert sind. Die meisten sind nach rechts abgebogen. Kaum jemand ist durch das Tor hindurch, obwohl das die logischste Schlussfolgerung ist, um zu flüchten.
So würde ich es jedenfalls machen, wenn ich ein Mörder wäre.
„Da lang.“, sage ich.
Sie folgt mir ohne Wiederworte.
Der Abend ist kalt und nass, einfach grässlich. Die Laternen werfen unheimliche, schmutzig schimmernde Kegel auf die Gassen, trüben die Sicht aber nur noch mehr. Es ist Neumond, am Himmel ist keine einzige Wolke. Perfekte Nacht für einen Mord.
Jeder unserer Schritte hallt an den Wänden wider, an denen wir entlang gehen. Hört sich fast so an, als wollten sie uns etwas sagen.
„Was, wenn wir ihn finden?“, fragt Cam auf einmal. Ich zucke zusammen, so konzentriert war ich.
„Dann nehmen wir ihn fest, ist doch klar.“
„Es gab schon so lange keinen Mord mehr. Was, wenn er gefährlich ist? Ich will nicht sterben.“
Ich werfe ihr einen aufmunternden Blick zu.
„Die Chance, dass ausgerechnet wir ihn finden, ist unheimlich klein. Das weißt du.“, sage ich, aber irgendwie glaube ich mir selbst nicht.
Cam nickt und murmelt etwas Unverständliches. Wahrscheinlich versucht sie, sich einzureden, dass alles okay ist.
Sollte ich auch mal machen. Spitze. Wegen ihr hab ich jetzt auch Schiss.
Ich lache hysterisch, sodass sie mir einen beunruhigten Blick schenkt.
Ein kräftiger Windstoß schlägt uns ins Gesicht und wirft uns fast um.
„Was war das denn?!“
Auf meinem ganzen Körper bildet sich Gänsehaut, meine Nackenhaare stellen sich auf und ich friere unkontrolliert.
„Keine Ahnung.“ In dem Moment sehe ich eine schwache Silhouette aufblitzen. Dort, hinter der nächsten Ecke!
Ohne zu überlegen nehme ich die Verfolgung auf.
„Ruby!“, höre ich meine Freundin rufen, aber sie hält mich nicht auf. Und sie wird mir nicht folgen. Ich kenne sie. Vielleicht holt sie Hilfe.
Die Gestalt, der ich hinterherjage, ist ziemlich klein. Sie dreht sich kein einziges Mal um, nicht einmal, als sie in eine Sackgasse läuft.
„Hab ich dich.“
Ich schmiege mich an eine Backsteinmauer und luge hinter der Ecke hervor. Im Dunkel der Gasse kann ich nichts erkennen.
Ich höre nur ein leises Geräusch. Ein leises Wimmern.
Langsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, während mir die Gedanken im Kopf umher rasen.
Wer ist da? Ist er gefährlich? Was ist das für ein Geräusch? Ein Schluchzen? Wieso hört sich das so weiblich an?!
Ich muss die Augen zusammenkneifen, um überhaupt zu erkennen, wo er ist. Der Mörder. Ist er es überhaupt? Vielleicht habe ich mich auch geirrt.
Und dann sehe ich sie. Die kleine Gestalt, die mit angezogenen Knien und hängendem Kopf in der hintersten Ecke hockt und … weint. Als ich sie erkenne, bin ich wie erstarrt.
Es ist das kleine Mädchen von vorhin.
„Hey…“, ich räuspere mich. Was soll ich sagen?
Ich komme näher und beuge mich zu ihr runter.
„Hey, Kleine. Hör auf zu weinen. Ich bin ja da.“, murmel ich.
Sie wischt sich ihre Nase mit der Hand ab und hebt den Kopf zu mir. Ihre großen, dunklen Kinderaugen glotzen mich an.
Oh Gott. Was soll ich nur machen? Ich konnte noch nie wirklich mit Kindern umgehen.
„Sch, sch.“ Ich tätschele ihr den Kopf.
Tatsächlich schleicht sich ein leises Lächeln auf ihre bebenden Lippen. Ach die Arme. Sie hat ganz fürchterliche Angst.
Sie runzelt die Stirn, in ihren Augenwinkeln bilden sich wieder kleine Tränentröpfchen.
„Ich hab keine Angst.“, sagt sie so leise, dass ich sie kaum verstehe.
Sie schüttelt tapfer den Kopf und reibt sich die Augen.
Dann blickt sie wieder zu mir.
Mir bleibt die Luft weg.
„Ich habe Hunger
.“, sagt eine viel zu tiefe, raue Stimme.
Ich habe häufig davon gehört, dass man sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen sieht, wenn man stirbt. Nun, dafür hat es mir gar keine Zeit gelassen.
Das letzte, was ich gesehen habe, waren die tiefroten Augen – ohne Pupille oder Iris – und das gefräßige Grinsen auf ihrem verzerrten Gesicht. Und Cam.
Bevor ich weglaufen kann, reißt es schon sein mit tausenden von rasiermesserscharfen Zähnen bestücktes Maul auf.
Und so starb die Hoffnung … zuletzt.
Texte: Copyright des Textes liegt bei mir.
Copyright des Covers liegt nicht bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Widmung? Nö.