Cover

Noch nicht überarbeitet!

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Apathie




Prolog




Legst du dich, so wirst du dich nicht fürchten,
und liegst du, so wirst du süß schlafen.


(Sprüche Salomos 3, 24)

„Gehst du nachts manchmal auf den Friedhof?“, lachte Mike. Sie sagte nichts. Ich fragte mich, warum sie noch immer jeden Tag an diesem Tisch saß, aber dann fiel mir ein, dass es keinen anderen freien Platz in der Cafeteria gab. „Ach komm, war doch nur Spaß“, prustete er und berührte ihren Arm. Da zuckte sie plötzlich zusammen und rückte mit ihrem Stuhl zur Seite. Der gesamte Raum schien die Luft anzuhalten- das war die erste Regung, die Isabella zeigte, seit sie an diese Schule gekommen war. Mike glaubte, eine neue Waffe gefunden zu haben, und teste sie direkt aus. Er packte ihr zierliches Handgelenk und lachte, als Isabella ängstlich die Augen aufriss und blitzschnell ihre Hand zurückzog. …will nicht!, blitze in ihren Gedanken auf. „Ohh“, machte Mike. „Entschuldige, ich wusste ja nicht, wie empfindlich du bist!“ Er brüllte ein gehässiges Lachen und fasste wieder ihren Arm an. Immer und immer wieder.
Ich fühlte mich wie eine tickende Zeitbombe, die nur darauf wartete, zu explodieren. Was fiel ihm ein, das Mädchen so zu quälen? Reichte es ihm nicht, dass Isabella- dank ihm- fast erfroren war? Ihre Augen schimmerten jetzt feucht, als ob sie weinen müsste. Sie drehte den Kopf zur Seite, um Mike nicht mehr sehen zu können, und begegnete meinem Blick.
Das gab mir den Rest.
Ich kniete mich auf den Boden und breitete meine Arme aus. Ungläubig starrte Isabella mich an. „Was machst du?“, fragte Rosalie entgeistert, als ich dem Mädchen aufmunternd zuwinkte. Zögernd stand sie auf und sah mich an; sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ich lächelte vorsichtig, breitete meine Arme ein wenig weiter aus. Da endlich lief sie auf mich zu und stolperte in meine Arme. Ich keuchte- die Hitze ihres Körpers fühlte sich an, als hätte ich einen Elektrozaun berührt. Aber gleichzeitig mochte ich es- nach einer Viertelsekunde gewöhnte ich mich daran und die Wärme wurde angenehm. Dann war die mich erwürgende Heizung auf einmal verschwunden. Isabella errötete und sah sich unsicher um.
Als ich mich setzte, ließ sie sich auf dem Stuhl neben mir nieder und rückte so nahe es ging an mich heran. Ihre Wärme war allgegenwärtig. Plötzlich konzentrierte sie sich auf meiner Schulter; verwirrt drehte ich mich, bis ich die Ursache sehen konnte. Isabella hatte den Kopf auf meine Schulter gelegt und klammerte sich an meinen Arm. Unwillkürlich musste ich lächeln.
„Emmett, Jasper, Alice, Rosalie… das ist Isabella“, stellte ich sie unnötigerweise vor. Meine Brüder nickten kurz, Rosalie schnaubte. „Hi, Bella!“, trällerte Alice und hielt ihr die Hand hin. Isabella sah sich um, als wollte sie sich vergewissern, ob wirklich sie gemeint war. Sie kam wohl zu dem Schluss, dass sie Bella sein musste, und versteckte sich so weit wie möglich hinter meinem Rücken. „Alice wird dir nicht weh tun… Bella“, sagte ich leise.
Bella… ich mochte diesen Namen. Er passte besser zu dem Mädchen, das jetzt vorsichtig unter meinem Arm hervor lugte. Ich lächelte sie beruhigend an- beruhigend, aufmunternd und auch ein bisschen amüsiert. Schüchtern hob sie die kleine Hand und winkte.
Ich hörte jemanden leise gähnen und merkte, dass es Isabella… Bella war. Sie schien meine harte, kalte Schulter außergewöhnlicher weise gemütlich zu finden, denn es dauerte nicht lange, da war sie plötzlich eingeschlafen. Irritiert und verunsichert lauschte ich ihren Atemzügen, Rose lachte mich aus. Als ich meinen Arm behutsam um ihre Taille legte, wurde ihr Lachen zu einem Fauchen. „Was tust du?“, zischte sie.
„Sie festhalten“, flüsterte ich tonlos. Ich stellte fest, dass ich es irgendwie mochte, dass ihr Kopf auf meiner Schulter lag, dass sie schlief und ich sie berühren durfte. Das einzige, was mich in diesem merkwürdig friedlichen, glücklichen Moment störte, waren Rosalies gemeine Gedanken.
Jetzt hängt die kleine Psychopathin wie eine Klette an dir- gut gemacht, Edward.




Kapitel 1

Stumm




{Das war die Tageszeit, zu der ich mir wünschte, ich wäre in der Lage zu schlafen.
High School.
Oder wäre Fegefeuer das richtige Wort? Wenn es irgendeinen Weg gäbe, für meine Sünden zu büßen, dann müsste mir diese Zeit angerechnet werden. Diese Eintönigkeit war etwas, an das ich mich nie gewöhnen würde; jeder Tag wirkte unglaublich monotoner als der letzte.
Ich denke, das war meine Art zu schlafen – wenn Schlaf als der Status zwischen aktiven Handlungen definiert wird.
Ich starrte auf die Risse, die durch das Mauerwerk in der hinteren Ecke der Cafeteria liefen, und versuchte ein Muster zu erkennen, das nicht da war. Es war eine Möglichkeit, die Stimmen auszublenden, die wie ein rauschender Fluss durch meinen Kopf strömten.
Einige hundert dieser Stimmen ignorierte ich aus Langeweile.
Wenn es um die menschlichen Gedanken geht, hatte ich alles schon gehört. Heute drehten sich alle Gedanken um das triviale Drama, dass eine Neue auf die Schule gekommen war. Es brauchte nur so wenig, um alle in Aufruhr zu versetzen. Nur ein ganz gewöhnliches menschliches Mädchen. Die Aufregung um ihre Ankunft war ermüdend berechenbar – wie das Aufblitzen eines glitzernden Gegenstandes vor einem Kind.
Edward Cullen.
Reflexartige Reaktion. Ich drehte meinen Kopf, als hätte jemand meinen Namen gerufen, nur dass ihn niemand gerufen hatte, sondern gedacht.
Meine Augen sahen für den Bruchteil einer Sekunde in ein Paar schokoladenbraune Menschenaugen in einem blassen herzförmigen Gesicht. Ich kannte das Gesicht, obwohl ich es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht selbst gesehen hatte. Es war heute führend in allen menschlichen Köpfen. Die neue Schülerin, Isabella Swan. }
Und ich begriff, dass ich mich geirrt hatte- Isabella Swan war keineswegs ein normales Menschenmädchen. Ihre Haut war so blass wie meine, die dunklen Ringe unter ihren großen, starren Augen und die schwarze Kleindung ließen sie beinahe selbst wie ein Vampir aussehen. Nur ihre braunen Augen sorgten für einen Hauch von Farbe an ihr. Sie starrte stur geradeaus, ihr Blick war leer, tot. Ihre Augen waren tief, doch sie gaben nichts von ihren Gefühlen preis. Als würde sie nichts empfinden. Als wäre sie eine lebende Tote. Doch sie war keine von uns- ich konnte ihr Blut riechen. Es roch um einiges schmackhafter als das der anderen Schüler, die sie mittlerweile schon mehr als auffällig anglotzten. *Tot und tot. Ein perfektes Paar*, zuckte es plötzlich durch meinen Kopf. Ich kannte die Stimme. Sie war mir- abgesehen von denen meiner Familie- besonders vertraut, da Jessica Stanleys sonst schmachtenden Gedanken leider nicht zu überhören waren; sie schrie sie mir förmlich zu. Nicht weniger vertraut und nervig waren Mike Newtons Gedanken. Sie beschäftigten sich hauptsächlich mit dem Plan sich an mir zu rächen, weil seine Freundin von mir schwärmte. Nicht wirklich unterhaltsam.
Ich betrachtete die neue, seltsame Schülerin genauer. Ihr Haar war eine Mischung aus schwarz und haselnussbraun- wahrscheinlich getönt oder gefärbt. Obwohl sie bleich war wie ein Laken und ihre Wimpern tiefschwarz waren konnte ich kein Makeup entdecken…
{„Jessica Stanley teilt dem Swan-Mädchen die ganze schmutzige Wäsche über den Cullen-Clan mit“, flüsterte ich Emmett als Ablenkung zu.
Er kicherte verhalten. Ich hoffe, sie gibt ihr Bestes, dachte er.
„Eigentlich sehr einfallslos. Nur der kleinste Hinweis eines Skandals. Kein Quäntchen Horror. Ich bin ein bisschen enttäuscht.“
Und das neue Mädchen? Ist sie von dem Klatsch und Tratsch auch enttäuscht?
Ich versuchte zu hören, was das neue Mädchen, Isabella, von Jessicas Story hielt. Was sah sie, wenn sie sich die seltsame, kreidebleiche Familie anschaute, die allgemein gemieden wurde?
Es war so etwas wie meine Pflicht ihre Reaktion zu kennen. Ich handelte als eine Art Aussichtsposten, falls jemand einen unerwünschten Eindruck von meiner Familie bekommen könnte. Um uns zu schützen. Wenn jemand misstrauisch würde, könnte ich meine Familie rechtzeitig warnen und wir konnten uns zurückziehen. Es passierte gelegentlich – manche Menschen mit ausgeprägter Fantasie sahen in uns Figuren aus einem Buch oder einem Film. Normalerweise lagen sie falsch, aber es war besser umzuziehen, als einen genaueren Blick zu riskieren. Ganz, ganz selten lag vielleicht mal jemand richtig. Wir gaben ihnen keine Chance ihre Theorie zu beweisen. Wir verschwanden einfach und waren nicht mehr als eine gruselige Erinnerung…
Ich hörte nichts, obwohl ich sehr nah neben Jessicas innerem Monolog lauschte. Es war, als würde niemand neben ihr sitzen. Wie eigenartig, hatte sich das Mädchen woanders hingesetzt? Das wäre merkwürdig, denn Jessica redete immer noch mit ihr. Irritiert schaute ich auf, um nachzusehen. Ich musste prüfen, was mein „besonderes Gehör“ mir mitteilte – das war etwas, was ich sonst nie tun musste.
Wieder blieb mein Blick an diesen großen braunen Augen hängen. Sie saß genau da, wo sie vorher auch gesessen hatte und sah zu uns herüber, ganz natürlich, dachte ich, da Jessica sie immer noch mit dem üblichen Klatsch über die Cullens versorgte.
Über uns nachzudenken wäre auch ganz natürlich.}
Wahrscheinlich hätte sie in uns sogar Artgenossen oder Ähnliches gesehen. Als ich sie eindringlich musterte und wieder zu ihren Augen gelang merkte ich auf einmal, dass sie mich gar nicht ansah. Ihre Augen waren zwar auf mich gerichtet, doch ihr Blick war so… leer. Sie schien sich auf etwas in der Luft zwischen uns zu konzentrieren. Irgendetwas Unsichtbares schien sie zu fesseln. Aber auch als ich noch länger, noch konzentrierter nach ihren Gedanken lauschte- ich konnte merkwürdigerweise fühlen, dass ich in ihrem Kopf war, doch ich fand keine Gedanken darin. Ich zog verwirrt meine Stirn kraus. Jessica hatte es mittlerweile aufgegeben, mit einer leeren Hülle zu kommunizieren und wandte sich verärgert ihrem Schwarzbrot zu. Ab und zu bewarf sie die Neue mit kleinen Bröckchen, die in ihrem Haar landeten, doch das Mädchen reagierte nicht. Es schien die Genervtheit ihrer Mitschüler nicht einmal wahrzunehmen. Wenigstens eine, die Ruhe vor ihnen haben konnte.
*Wie eine Leiche.* Jessica versprühte reichlich viel Gift in ihren Gedanken. Irgendwie störte es mich. Ich fühlte mich auf eine seltsame Art mit der neuen Schülerin verbunden… Wahrscheinlich deshalb, weil sie mir vom Aussehen her ähnelte. Automatischer Schutzinstinkt. Ja, das musste es sein. Aber ihre Gedanken konnte ich trotzdem nicht lesen.
{„Sollen wir?“, murmelte Rosalie und unterbrach meine Konzentration.
Mit einer Spur von Erleichterung wandte ich meinen Blick von dem Mädchen ab. Ich wollte nicht länger daran scheitern – es irritierte mich. Und ich wollte kein Interesse an den Gedanken dieses Mädchens entwickeln, nur weil sie vor mir verborgen waren. Kein Zweifel, wenn ich ihre Gedanken entschlüsseln konnte – und ich würde einen Weg finden – wären sie genauso belanglos und trivial wie alle anderen menschlichen Gedanken. Sie wären den Aufwand nicht wert, den ich aufbringen müsste.
„Also, hat die Neue jetzt Angst vor uns?“, fragte Emmett, der immer noch auf meine Antwort auf seine Frage wartete.
Ich zuckte mit den Schultern. Er war nicht interessiert genug um mehr Informationen zu fordern. Und ich sollte auch nicht interessiert sein.
Wir standen von unserem Tisch auf und verließen die Cafeteria.}

***

{Im Klassenraum ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen und verteilte meine Bücher – wieder Requisiten; sie beinhalteten nichts, dass ich nicht schon wusste – quer über dem Tisch. Ich war der einzige Schüler, der einen Tisch für sich allein hatte. Die Menschen waren nicht clever genug um zu wissen, dass sie Angst vor mir hatten, aber ihr Überlebensinstinkt reichte aus, um sie von mir fern zu halten.
Der Raum füllte sich langsam, als die Schüler vom Mittagessen zurückkamen. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und wartete darauf, dass die Zeit verstrich. Wieder einmal wünschte ich mir, ich
wäre in der Lage zu schlafen.}
Alles war so uninteressant und vorhersehbar wie jeden Tag.
Bis Isabella Swan den Raum betrat. Sie lief direkt auf das Lehrerpult zu, legte Mr. Banner eine Liste vor die Nase und starrte die Tafel an. „Ah, Miss Swan.“ Mr. Banner unterschrieb eilig den Zettel, dann lächelte er die Neue freundlich an. „Wollen Sie sich nicht vorstellen?“ Jetzt tat mir das Mädchen leid. Wozu dieses Vorstellungs-Tamtam? „Miss Swan“, wiederholte ihr neuer Lehrer irritiert. Sie starrte immer noch die Tafel an. „Sie wollen sich nicht vorstellen?“, fragte er weiter. Isabella drehte langsam ihren Kopf und sah ihn kalt an. Mr. Banner schauderte und wandte den Blick ab, so, wie er es auch bei mir meistens tat. „Da drüben neben Mr. Cullen ist der einzige Platz frei“, ergänzte er noch nervös. Ohje. Jetzt tat sie mir noch mehr leid; ich war nicht gerade ein unterhaltsamer Zeitgenosse. Das Mädchen schnappte sich den unterschriebenen Zettel und sah abwesend in meine Richtung, bewegte sich auf mich zu und setzte sich, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Isabella packte ihre Schulsachen aus, dann starrte sie wieder nach vorn.
„Hallo“, sagte ich freundlich. Ohne ihren Kopf zu bewegen linste sie aus dem Augenwinkel zu mir, bevor sie sich wieder der Leere widmete. Verwundert zuckte ich mit den Schultern und räumte meine Sachen ein wenig beiseite. Ich wollte schließlich trotz allem nicht unhöflich wirken und mich normal verhalten. Neugierig musterte ich das seltsame, stille Mädchen. Sie schrieb alles auf, was Mr. Banner an die Tafel kritzelte, und erledigte so still die gegebenen Aufgaben, dass nur das Kratzen ihres Füllers auf dem Papier zu hören war. Ab und zu verlagerte sie ihr Gewicht- das war alles. Sie meldete sich nicht, sah niemanden direkt an und saß einfach nur da.
So wie ich.
Auf gewisse Art und Weise faszinierte mich dieses Mädchen- es ängstigte sich nicht vor mir. Zumindest zeigte Isabella es nicht. Um genau zu sein zeigte sie überhaupt keine Gefühlsregung. Weder Angst noch Freude noch sonst irgendetwas. Und noch faszinierender war- faszinierend und frustrierend zugleich- die Tatsache, dass ich nichts hörte, obwohl ich in ihren Kopf und ihre Gedankenwelt eingetaucht war. Es schien, als würde sie… nicht denken. „Miss Swan!“, rief der Lehrer plötzlich. Ruckartig wandte ich meinen Kopf in Richtung Tafel; ich hatte nicht mitbekommen, dass Mr. Banner einer Frage gestellt hatte. Es dauerte nicht sehr lange, bis ich die Frage- mit dazu passender Antwort- in seinen Gedanken gefunden hatte.
„Können sie mir sagen, was man unter dem Begriff Prophase versteht?“ Er sah das Mädchen auffordernd an- wie beinahe jede andere Person in diesem Klassenraum. Jeder hoffte, Isabella Swans Stimme zu hören, besonders ich- doch sie gab keinen Laut von sich. Ihr Blick wirkte immer so abwesend- vielleicht hatte sie nicht zugehört? So wie ich? „Die Prophase ist die erste Phase der Mitose nach der Interphase“. zischte ich ihr leise zu. Ich wusste nicht, warum, aber ich fühlte mich in gewisser Weise für das Mädchen verantwortlich. Wie eigenartig. Isabella hob den Kopf ein wenig und sah in meine Augen, die sich sofort in ihre zu brennen schienen. Jetzt wirkte ihr Blick nicht mehr, als wäre sie in einer anderen Welt, sie war wach und aufmerksam… Aber immer noch leer. „Wissen Sie die Antwort nun?“ Mr. Banner wurde langsam ungeduldig. „Zu diesem Zeitpunkt beginnt die Kondensation der DNA zur dichteren Transportform“, wiederholte ich unauffällig. Sie drehte ihren Kopf, sodass sie unseren Bio- Lehrer ansah.
Und schwieg.


Kapitel 2

Kalt




„Na gut… In diesem Raum weiß anscheinend niemand außer mir, was Prophase bedeutet.“ Er seufzte. „Dann untersuchen wir das mal.“ Er lief zurück zum Lehrerpult und bereitete allerhand für einen Schülerversuch vor.
Schülerversuch.
Partnerarbeit.
Na wunderbar.
Vielleicht würde Isabella wenigstens dann ein paar kleine Wörter von sich geben.
Ich hörte schon gar nicht mehr zu, was Mr. Banner erklärte, während er umherging, um die Präparate zu verteilen. Ich beobachtete das schwarz gekleidete Mädchen, das unserem Biolehrer Sorgen bereitete. Es stimmte, was er dachte- ihre mündliche Note würde nicht besonders gut ausfallen… um es nett auszudrücken. Isabella starrte mich wieder an, diesmal war ihr Blick prüfend, tastend. Was sie wohl dachte? Ich knirschte unauffällig mit den Zähnen, das ganze wurmte mich ziemlich. Nicht nur, dass ich sie nicht hören konnte. Warum hatte sie nicht einfach nachgeplappert, was ich ihr vorgesagt hatte? Es wäre so einfach gewesen… sie hätte bloß die zwei Sätze wiederholen müssen. Vielleicht hätte das ihren Stolz verletzt? Ich schüttelte den Kopf. Nein, sicher nicht, in ihren Augen war nichts zu finden, nicht mal Stolz. Was war dann der Grund?
Mr. Banner war schließlich an unserem Tisch angelangt, misstrauisch beäugte er die neue Schülerin. Ich wollte kichern, als ich hörte, dass sie unserem Lehrer Angst einflößte. Wie könnte solch ein kleines Menschlein ihm gefährlich werden? Mr. Banner entfernte sich schnell von unserem Tisch und ließ uns arbeiten. „Ladies first?“, fragte ich höflich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, keine Antwort zu erhalten. Also erstaunte es mich nicht, dass sie mich ansah, als hätte ich etwas sehr schlimmes getan- richtig, ich hatte sie ja angesprochen- und sich das erste Präparat schnappte. Ich runzelte die Stirn, als sie einen Zettel bekritzelte. Prophase stand darauf. Also wusste sie anscheinend, was Mitose war. Warum hatte sie dann nicht geantwortet?
„Lässt du mich auch einen Blick drauf werfen?“, fragte ich betont langsam. Vielleicht war sie schwerhörig? Taub? Das würde erklären, warum sie auf keine Frage reagierte. Isabellas Augen blitzten mich giftig an. Ich wusste nicht, warum, aber dieser Blick ließ mich ausschließen, dass sie irgendwas an den Ohren hatte. Ich seufzte und griff nach ihrer Hand, die das Präparat austauschen wollte. Augenblicklich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie schüttelte meine Finger ab, ihre Augen waren weit aufgerissen. „Entschuldigung“, murmelte ich verschämt und zog meine Hand zurück. Ich Idiot hatte vergessen, dass sie eiskalt war.
Das Swan- Mädchen hockte nun, die Muskeln gespannt, auf der äußersten Kante ihres Stuhls und sah mich so entsetzt an, als wüsste sie, was für ein Monster ich war. Ein gefährliches Zischen entwich ihrem schlanken Hals. Ich verfluchte mich für meinen Leichtsinn und warf einen viel zu schnellen Blick in das Mikroskop. „Prophase“, bestätigte ich, ohne sie anzusehen. Ich sah mir das nächste Präparat an und schrieb Anaphase unter Isabellas ungleichmäßige Buchstaben. Ich beeilte mich, das zweite Präparat auszutauschen, als ich plötzlich das Gefühl hatte, verbrannt zu werden. Erschrocken hob ich meinen Blick und sah, dass die Finger des Mädchens meine Hand festhielten. Sie hatte die Unterlippe trotzig vorgeschoben und die Stirn gerunzelt. Mit einem Ruck zog sie das Mikroskop auf ihre Tischhälfte und schaute hinein. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
Sie kritzelte ein Häkchen hinter Anaphase und schmollte. Eine Weile strich ich über die Stelle meines Armes, die das Mädchen mit seiner brennenden Hand berührt hatte, und musterte sie. Sie war entsetzt darüber, dass ich ebenso intelligent war sie, was mich zum Schmunzeln brachte. Sie war entsetzt über meine eisige Haut- und traute sich trotzdem, sie zu berühren? Mein Kopf schwamm. Das Mädchen ergab keinen Sinn.
Erst, als ich das Kratzen ihres Füllers auf Papier hörte, unterbrach ich meine Grübeleien.
Interphase, schrieb sie. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, nachzuschauen.

***
„Schnee ist nicht so dein Ding, was? Der ist so weiß!“ Mike Newton beugte sich über den Tisch und versuchte, mit seinem Blick Isabellas große Augen zu erreichen. „Hahaha“, machte er. „Hahaha.“ Er wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum und lachte sich tot. Leider nicht wörtlich. Seine Gedanken waren so langweilend und ätzend wie die von niemandem sonst. Ich wandte mein Gesicht von dem Schaupiel ab, es reichte mir, zu hören, wie Mike und Jessica das Swan- Mädchen malträtierten. Sie machten Witze über ihre Kleidung, ihre Haare und, natürlich, die Tatsache, dass sie nicht sprach. Der gehässige Tisch, an dem sie saß, diskutierte angeregt darüber, ob sie wohl deshalb nie den Mund aufmachte, weil ihre Zunge schwarz war. Oder ihre Zähne.
Schon wieder wusste ich nicht, wieso, doch es machte mich beinahe ein wenig wütend, dass sie das Mädchen nicht einfach in Frieden ließen. Was hatte es ihnen getan? Isabella hatte das Recht, jede Farbe zu tragen, die sie wollte. Dann runzelte ich die Stirn- was interessierte mich das überhaupt? Diese Sache mit dem automatischen Schutzinstinkt ging allmählich zu weit. Alice hob überrascht die Brauen. *Du gehst?* Ich überlegte eine halbe Sekunde. „Ja, ich gehe“, entschied ich und stand auf. Meine Geschwister warfen mir erstaunte, verwirrte Blicke hinterher. Egal. Sie konnten Alice fragen, sie wusste alles. Ich verließ die Cafeteria, ging so schnell wie möglich zu meinem Wagen, schaltete das Radio an und seufzte, als Debussys Noten die lästigen Gedanken aus meinem Kopf wischten. Ich drehte die Lautstärke auf. Ah…
Warum hatte sie meinen Arm berührt?
Ich stöhnte, die Gedanken sollten nicht zurückkehren, nicht jetzt schon. Aber sie wollten mich ärgern. Wieso hatte sie mich- wohlwissend, dass mein Arm so kalt war wie der Schnee, der momentan jeden Baum zierte- berührt? Meine Haut war kalt. Meine Haut war ekelerregend. Dennoch hatte Isabella sie festgehalten. Warum?
Kalt…
Immer und immer wieder erklang dieses Wort in meinem Kopf. Entnervt schaltete ich das Radio ab und öffnete die Augen.
Kalt…
Schonwieder dieses Wort!
Kalt…
Das war nicht meine Stimme! Es war eine weibliche Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte.
*Kalt…*
Vollkommen durcheinander stieg ich aus dem Auto und lehnte mich an den nächstbesten Baum. Ich konnte jedes Gesicht dieser Schule einer Stimme zuordnen, aber dieses ängstliche Flüstern in meinem Kopf war mir unbekannt.
*Kalt…*
Ich begann zu laufen und nach der neuen, wundervollen Stimme zu suchen, die dieses eine Wort wie einen Hilferuf unermüdlich in ihrem Kopf wiederholte.
*Kalt…*
Jetzt war die Stimme schon ganz nah. Ich wunderte mich unterbewusst ein wenig darüber, dass die Stimme soweit von irgendeinem der Schulgebäude entfernt war. Hier gab es nichts mehr außer Bäumen und Schneehaufen.
*Kalt…*
Aufregung durchfuhr mich, als die Stimme nur noch wenige Meter von mir entfernt sein konnte. Ich lief um ein paar Fichten herum.
*Kalt…*
*Kalt…*
Erschrocken starrte ich das kleine Mädchen an, das mit geschlossenen Augen, zusammengerollt, nur in T – Shirt und Hose, im Schnee lag. Ich hatte vergessen, dass ich eine Stimme nicht kannte- Isabella Swans Stimme.
Zitternd und frierend kauerte sie auf dem eisigen Boden; ihre Lippen waren blau, ebenso ihre nackten Arme, die versuchten, ihren Oberkörper vor der gefährlichen Kälte zu schützen. Es war ein grausames, herzzerreißendes Bild.
*Kalt…*
Ich ließ mich auf meine Knie sacken und beugte mich über ihren reglosen Körper. „Wo ist dein Pulli? Wo ist deine Jacke?“, fragte ich dümmlich. Meine Chance, eine Antwort zu erhalten, war mehr als gering. *Kalt…*, war das einzige, was ich zu hören bekam. In diesem Moment zerbrach ich mir nicht den Kopf darüber, warum ich plötzlich ihre Gedanken hören konnte- das hatte Zeit bis später. Das einzige, was ich jetzt hörte, war das schwache Klopfen ihres Herzens.
Es war langsam, viel zu langsam. Sie brauchte dringend Wärme, und ich bedauerte einige Sekunden lang, dass ich ihr nicht geben konnte, was sie brauchte.
Vorsichtig tippte ich mit dem Zeigefinger auf ihren Arm und zuckte leicht zusammen. Ihre Körpertemperatur konnte im Moment nicht höher sein als meine. Zögernd löste ich die zitternden Ärmchen von ihrem Brustkorb und umfasste ihre Taille, um sie in meine Arme zu heben.
*Kalt…*
„Ich bringe dich ins Warme, Isabella…“, flüsterte ich bestimmt. Noch im selben Moment lief ich los, achtete sehr darauf, dass das federleichte Gewicht in meinen Armen nicht allzu viel vom erbarmungslosen Wind und den Schneeflocken abbekam.
Mit dem Läuten der Schulglocke riss ich die Tür zur Cafeteria auf und betrat den Raum. Eine Weile stand ich im Eingang, spürte die verwunderten Blicke in meinem Rücken und die entsetzten Gedanken in meinem Kopf. Ich ging zu meinem Platz, meine aufgebrachten Geschwister ignorierend, schnappte mir meine Jacke und legte sie dem Mädchen um die Schulter. Auf der Suche nach einer Heizung ließ ich meinen Blick durch die Cafeteria schweifen. Schließlich fand ich, wonach ich gesucht hatte. Vorsichtig lehnte ich den zerbrechlichen Körper an die warme Heizung.
*Warm…*
Ich atmete aus und setzte mich neben das Mädchen. Es machte mich wütend, wie viel Mitleid die anderen auf einmal hatten, wie die Schüler uns alle anstarrten. Sie hätten es sich früher überlegen sollen. Jedem einzelnen von ihnen warf ich einen tödlichen Blick zu, ihre Reue machte mich so wütend, so unglaublich wütend. Ich verteilte weiter erbarmungslose Blicke und erstarrte; mein nächster Blick blieb an Mike Newtons hängen. Über der Lehne seines Stuhls hing eine schwarze Jacke. Und über der Jacke ein schwarzer Pullover.
In weniger als einer halben Sekunde war ich aufgestanden, nur mühsam konnte ich mich ermahnen, langsam zu ihm hinzugehen und schaffte es gerade, ihm nicht sofort seinen Kopf abzureißen. Ich zitterte am ganzen Körper. „Die Jacke“, zischte ich. Mike glotze mich verständnislos an. „Gib mir die Jacke“, wiederholte ich lauter. Jeder in diesem Raum registrierte, wie sich meine Hände zu Fäusten ballten. „Wozu?“, fragte der Bastard provozierend. Drohend beugte ich mich über ihn, zwang Mike, in meine weit aufgerissenen, wütenden Augen zu sehen. „Weil sie friert!“, knurrte ich. Verdammt, ich durfte meine Faust nicht benutzen- ich würde Newton den Kiefer zertrümmern.
Meine schwarzen Augen, meine Wut machten ihm Angst, was er natürlich niemals zugeben würde. Stattdessen lachte er. „Armes Ding…“ Es brodelte in meiner Kehle, als ich- vollkommen wahnsinnig vor Wut- seinen Hals packte und Mike an die Wand drückte. „Du!“, schrie ich ihm in das ängstliche Gesicht. „Du bist irre!“ Er zuckte zusammen, als ich ihn wieder gewaltsam an die Wand drückte und das Mauerwerk leise knackte…


Kapitel 3

Verunsichert



*Edward…*
Ich fuhr herum- sie hatte meinen Namen gedacht. Isabella sah mit nicht deutbarem Gesicht abwechselnd von mir zu Mike, ihre Hand hatte sich in meine Jacke gekrallt. Sie schluckte.
Ohne nachzudenken ließ ich von Mike ab, mit einem erleichterten Schnaufen sackte er zu Boden. Ich ging zurück zu ihr, riss im Vorbeigehen ihre Kleidung von Newtons Stuhl und hängte ihr auch ihre eigene Jacke um die hochgezogenen schmalen Schultern. „Geht es dir besser?“, fragte ich leise. Vermutlich erwartete ich nicht einmal eine Antwort. Ich redete trotzdem.
Sie krabbelte rückwärts und stieß gegen die Heizung, ihre Augen waren panisch aufgerissen. Die Haut über den Knöcheln ihrer Hand, die krampfhaft meine Jacke festhielt, wurde weiß. Sie hatte Angst vor mir. Natürlich hatte sie Angst vor mir! Ich hätte fast einen Menschen vor ihren Augen zerquetscht! Verzweifelt kniff ich die Augen zu, schüttelte den Kopf und öffnete sie wieder. Ihre großen Augen waren immer noch voller Angst. „Ich tue dir nicht weh.“ Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Meine Hand griff nach ihrer, um die bleichen, steifen Finger von dem Stoff zu lösen. Ihre Hand war sehr klein und sehr weich, staunend betrachtete ich sie von allen Seiten.
Isabella entzog sich mir und versuchte, sich in den Jacken zu verstecken. Sie wimmerte leise. „Scht…“, machte ich beinahe lautlos. Sie sollte doch keine Angst vor mir haben… ich wollte ihr doch nur helfen! Mit einer sehr langsamen Bewegung- um sie nicht noch zusätzlich zu verängstigen- griff ich nach ihrer schwarzen Jacke. Sie war kurz davor, ihr von der Schulter zu rutschen, und ich hinderte sie daran, indem ich sie eng um ihren zerbrechlichen Körper wickelte. Jetzt war sie wunderbar warm, nicht länger ein lebender Eiszapfen. „Scht...“, murmelte ich wieder, als sie zu zittern begann. Nicht vor Kälte- vor Angst. Ich kniete mich vor Isabella auf den Boden und senkte den Kopf, bis unsere Augen auf gleicher Höhe waren.
„Ich will dir nicht weh tun“, beschwor ich sie. Ihre Augen weiteten sich, dann wurden sie plötzlich ganz klein. Völlig unerwartet kippte sie vornüber und ihr Kopf fiel an meine Brust. Sie schob ihre Haare über die Schulter, als wollte sie ihr Gesicht hinter diesem Vorhang verstecken. Danach bewegte sie sich nicht mehr. Ich schluckte, zugegebenermaßen überfordert mit der Situation. Sollte ich sie loslassen? Oder festhalten? Ich entschied mich schließlich fürs Nichtstun und betrachtete einfach nur nachdenklich ihr zerzaustes Haar. Vermutlich war sie vollkommen erschöpft, die Kälte hatte sie entkräftet. Als ich daran zurückdachte, wie sie im Schnee gelegen hatte, flammte Hass in mir auf. Wie konnte Mike Newton nur so lebensmüde sein und ihr ihre Kleidung wegnehmen?
Ich drehte meinen Kopf, sodass ich ihn sehen konnte. Er saß mittlerweile wieder am Tisch und ließ sich von seinen sogenannten Freunden bemitleiden; ich hörte die unzähligen Flüche in seinen Gedanken. Er hasste mich. Zwar nicht so sehr wie ich ihn, aber immerhin. Er wollte der Stärkere sein, derjenige, der über die Anderen bestimmte. Dass ich mich so rührend um die Neue kümmerte, wie er es nannte, passte ihm überhaupt nicht. In Gedanken malte er sich bereits lächerliche Rachepläne aus. Angewidert wandte ich den Blick ab, ich sah wieder auf die dunkelbraunen Locken, die nicht zuließen, dass ich etwas in ihrem Gesicht lesen konnte. Auch ihre Gedanken waren wieder verstummt.
Diese Tatsache brachte mich vollkommen durcheinander; ich hatte es komplett vergessen, das Phänomen ihrer Gedanken. Ich hatte sie gehört! Es waren nur Wortfetzen gewesen, aber ich hatte eindeutig Isabella Swan Gedankenstimme gehört. Nachwievor war ich in ihrem Kopf, doch jetzt war sie ganz still. Als hätte sie… aufgehört zu denken… oder als könnte sie… kontrollieren, was sie dachte. Wie war das möglich?


Kapitel 4

Grübeln




„Isabella?“ Ich stupste sie vorsichtig an. Keine Reaktion. „…Isabella?“, fragte ich nervös und tippte auf ihre Schulter. „Wir haben jetzt Bio“, erinnerte ich sie zaghaft. Vielleicht wäre es besser, wenn sie sich einfach noch ein wenig ausruhte? Sie nahm mir diese Entscheidung ab und hob den Kopf; ihre Augen waren schläfrig, die Schatten darunter groß. Aber sie versuchte tapfer, von alleine aufzustehen und lehnte sich an die Wand. Suchend sah sie sich um. „Deine Tasche ist dort drüben“, teilte ich ihr mit. Das Mädchen sah erst zu mir, ohne Ausdruck in ihrem herzförmigen Gesicht, dann zu der schwarzen Stofftasche, die am anderen Ende des Raumes an ihrem Stuhl lehnte. Die gesamte Cafeteria war jetzt, abgesehen von uns, leer.
Sie stieß sich von der Backsteinwand ab und torkelte durch die Gegend. Schnell lief ich hinter ihr her, hielt sie fest. „Soll ich sie holen?“, fragte ich leise, obwohl niemand zuhörte. Ich dachte, selbst meine laute Stimmte könnte ihr weh tun und sie zerbrechen. Sie nickte steif. In zügigem Menschentempo eilte ich zu ihrer Tasche, hob sie auf und flitzte zurück. „Ich trage sie.“ Isabella blinzelte. Ihr Gesicht verriet absolut nichts. „Wenn das in Ordnung für dich ist“, fügte ich bedächtig hinzu. Nach einem weiteren Blinzeln nickte sie. Schweigend gingen wir zum Unterricht; ab und zu musste ich sie am Ärmel festhalten, damit sie nicht die Treppe hoch fiel. Isabella war wohl sehr tollpatschig.
Mir wurde auch bewusst, dass wir mittlerweile fiel zu spät sein mussten - Mr. Banner würde nicht sehr erfreut sein, zumal er das Swan – Mädchen sowieso nicht leiden konnte. Ich fragte mich, was sie alle gegen das Mädchen hatten.
*Danke…*, dachte sie plötzlich. Überrascht, wieder ein Wort in ihrem Kopf hören zu können, sah ich sie an. „Schon okay“, sagte ich sanft. Sie war schließlich so geschwächt, dass sie wohl kaum in der Lage war, die Tasche selber zu tragen, auch wenn sie nicht schwer war. Äußerst irritiert kräuselte Isabella ihre Nase. Gleichzeitig wirkte sie… geschockt.
Verdammt.
Ich hatte auf ihre Gedanken geantwortet.
Verärgert biss ich mir auf die Zunge und schimpfte mich innerlich einen Trottel. Es war vollkommen unakzeptabel, dass ich so leichtsinnig und durcheinander war. Als ich ein amüsiertes Glucksen hinter mir vernahm, wandte sich mein Kopf ruckartig wieder dem Mädchen zu. In meinem Ärger hatte ich nicht bemerkt, wie sie stehen geblieben war. Ihr blasses Gesicht war nachdenklich; sie streckte ihre Hand nach mir aus und ich wagte nicht zu atmen. Sie strich über die Falte zwischen meinen zusammengezogenen Brauen, was sich anfühlte, als wäre ich von einem Blitz getroffen worden. Und dann lachte sie.
Sie lachte!
Niemals hätte ich mit so etwas gerechnet- das schwarz gekleidete, stille, immer geistesabwesende Mädchen konnte lachen. Ungehalten runzelte ich die Stirn. Lachte sie über mich? Lachte sie mich aus? Daumen und Zeigefinger auf meinen Nasenrücken pressend, versuchte ich nachdenken. Sie fand es lustig, dass ich auf etwas geantwortet hatte, dass sie nicht ausgesprochen hatte. Sie war verrückt.
Etwas zupfte an meinem Ärmel. Ich hob den Kopf, sah diesmal wieder Isabellas leeren, toten Blick. Sie versuchte, mich vorwärtszuschieben. Ich bereitete ihren Bemühungen ein Ende und lief weiter auf den Klassenraum zu, wobei ich ihre Blicke auf mir beinahe spüren konnte. Sie versuchte, irgendetwas herauszufinden, aber ich hatte keine Ahnung, was.
Dieses Mädchen war undurchschaubar.
Unlesbar.
Als wir schließlich vor der Tür zum Bio-Raum standen, begann das Herz neben mir ängstlich zu flattern. „Keine Angst, ich regel das“, versprach ich. Sie schaute mich schüchtern an und spielte mit den Ärmeln ihres Pullis, nickte aber. „Okay“, sagte ich und gab ihr ihre Tasche zurück. Nach einem Klopfen öffnete ich die Tür und trat in den Raum, der augenblicklich verstummte.
„Ah, Mr. Cullen!“, rief unser Lehrer. „Wie nett, dass Sie sich doch noch entschlossen haben, meinem Unterricht beizuwohnen.“ Ich ignorierte seinen Zynismus. „Bitte verzeihen Sie, wir hatten… ein paar Dinge zu regeln.“
„Wir?“
„Isabella und ich.“ Ich drehte mich um und sah sie, nervös und verängstigt, im Türrahmen stehen. Mr. Banner sagte nichts weiter, woraus ich schloss, dass er es dabei belassen würde. Niemand würde sich für diesen kleinen Kratzer am Cullen - Image interessieren. Hastig schritt ich auf Isabella zu und zog sie am Ärmel durch das Zimmer zu unserem Tisch, die Blicke der Anderen ignorierte ich dabei ebenso konsequent wie Mr. Banners spöttische Gedanken. Ich hörte ihren kleinen Seufzer der Erleichterung, als wir endlich saßen.
*Danke…*, wiederholte sie. Die großen braunen Augen musterten mich erwartend. Ich zögerte. Doch als ihre Mundwinkel sich enttäuscht senkten, musste ich kapitulieren.
„Schon okay“, wiederholte auch ich. Isabella klatschte in die Hände, gluckste und freute sich, als hätte sie ein neues Spielzeug gefunden.


Kapitel 5

Danke




Nach der Stunde räumten wir- natürlich schweigend- unsere Sachen zusammen. Selbstverständlich hatte Isabella alles mitgeschrieben und alle gegebenen Aufgaben eifrig erledigt. Ich musste zugeben, dass ich darauf gehofft hatte, sie vielleicht noch einmal hören zu können, doch das war nicht der Fall. Es war wie früher. Auch, dass sie mich keines weiteren Blickes würdigte und nur die Wand anstierte, war wie immer. Und wie üblich war es absolut frustrierend.
Die Ungeduld, die mich in dieser Stunde beherrschte, war mir unbekannt. Für kurze Zeit hatte ich geglaubt, vielleicht ihren Panzer geknackt zu haben- und jetzt war alle Hoffnung dahin. Sie hatte bloß ihre Maske fallen lassen, weil ich ihr das Leben gerettet hatte.
Ich schluckte. Erst in diesem Moment wurde mir richtig bewusst, dass sie ohne mich erfroren wäre. Mein Hass auf Mike Newton färbte für ein paar Sekunden alles rot, was mir in den Blick kam. Wie konnte er es wagen? Er hätte sie umgebracht! Ein warmer Punkt an meinem Arm lenkte mich ab. Isabella stand neben mir im Türrahmen, mit sehr vorsichtigem, wachsamem Blick sah sie mich an. Sie schien auf irgendetwas zu warten. Zerstreut beobachtete ich ihre Hand, die meinen Unterarm festhielt. „Was ist los?“, fragte ich perplex. Ihr Blick wurde flehend. „Was ist los?“, fragte ich schonwieder. Jetzt begann sie ungeduldig in ihrer Tasche rumzuwühlen. Einen Augenblick später hielt sie mir einen Zettel vor das Gesicht. Ihren Stundenplan.
Oh.
„Möchtest du, dass ich dich zu deiner nächsten Stunde begleite?“ Isabella nickte heftig. Erleichtert darüber, dass ich ihr Rätsel gelöst hatte- zumindest dieses eine- setzte ich mich in Bewegung. Ich warf einen Blick über meine Schulter, sah, dass das Swan – Mädchen hinter mir her trippelte. Ich nahm mir vor, Carlisle zu fragen, ob Vampire Kopfschmerzen bekommen konnten. Mein Schädel schien zu platzen, es waren zu viele Fragen auf einmal, mit denen ich mich beschäftigte. Mir fiel mit einem Mal ein, dass ich gar nicht wusste, wo Isabella jetzt Unterricht hatte. „Welches Fach hast du denn?“, fragte ich und blieb stehen. Sie hielt wieder das karierte Blatt hoch. „Sport“, stellte ich fest. Also mussten wir zur Turnhalle.
Dort angekommen stemmte sie plötzlich die Beine in den Boden und kam ruckartig zum Stehen. Ihre Nasenflügel bebten, sie zitterte am ganzen Leib. „Alles okay?“ Was für eine dämliche Frage. Natürlich war nichts okay. Sonst würde sie sich nicht weigern, weiter zu gehen. Sie riss ihre Augen auf und lief eilig auf mich zu. Und versteckte sich hinter meinem Rücken. „Ähm…“ Neugierig schaute ich in die Richtung, in die das Mädchen mit ihrem Finger zeigte. Meine Augen wurden zu schmalen Schlitzen- Mike Newton betrat gerade die Umkleidekabine der Jungs. Isabellas zitternde Hände auf meinem Rücken rissen mich aus meiner Wut.
„Meine Schwester Alice hat mit dir Sport- sie wird nicht zulassen, dass Mike dir etwas antut“, redete ich auf sie ein. Das würde Alice doch nicht, oder? Sie würde verhindern, dass Mike Isabella zu nahe kam. Anderenfalls würde ich eingreifen, egal, was mein Englischlehrer davon hielt. Ihr würde nichts passieren. Ich nahm mir so fest vor, auf das Mädchen Acht zu geben und alle Gedanken in ihrer Umgebung zu ihrer Sicherheit zu durchforsten, dass Alice es in einer Vision sehen musste. „Versprochen“, fügte ich hinzu. Auf der Unterlippe zu kauen schien sie zu beruhigen, denn sie tat es schonwieder. „Okay?“, flüsterte ich unsicher. Vielleicht sollte ich einfach mitkommen…
*Okay…* Ich presste die Lippen fest aufeinander in dem verzweifelten Versuch, nicht vor Freude zu grinsen. „Okay.“ An diesem Tag wiederholte ich mich sehr oft. Ich hob die Hand, zögerte ein paar Sekunden, bevor ich ihr leicht über das Haar strich. Ihre Augen wurden riesig. „Niemand wird dir weh tun…“, murmelte ich und ließ die Hand sinken. „Bis morgen.“ Ich drehte mich um, ohne die verwirrte Isabella noch einmal anzusehen.
Das dritte schüchterne *Danke…* in ihren und meinen Gedanken ließ mich lächeln.


Kapitel 6

Alice




Die Anwesenheit meiner Schwester hielt Mike Newton davon ab, Isabella zu nahe zu kommen, ganz wie ich gehofft hatte. Trotzdem verbrachte ich die gesamte Englischstunde damit, sie durch Augen anderer zu beobachten. Der Unterricht kam mir vor, als hätte er nur fünf Minuten gedauert; es war sehr interessant, das Mädchen zu beobachten, obwohl es nur in einer Ecke stand und nichts tat. Sie starrte entweder die Wand an oder denjenigen, der den Volleyball hielt. Oder, besonders in den ersten Minuten- Alice. Meine Schwester und Mike dagegen sahen finster drein. Erstaunlicherweise störte es mich überhaupt nicht. Das Einzige, was mich interessierte, war Isabella Swan. Sie stolperte sehr oft, hielt sich, wenn möglich, im Hintergrund. Sie schien Sport nicht zu mögen, wie ich grinsend feststellte.
Die Stunde war so schnell vorbei, dass ich beinahe enttäuscht war. Ich wollte das Mädchen weiter beobachten, es war so witzig. Ich ließ mir sehr viel Zeit, um zu meinem Auto zu gehen, denn ich hatte absolut keine Lust auf das Gespräch, in das mich Alice verwickeln würde. Es überraschte mich nicht, dass meine Schwester bereits auf dem Beifahrersitz saß, als ich mit düsterer Miene die Tür öffnete. „Hallo“, sagte ich knapp und wartete auf den Rest meiner Geschwister. „Hi.“ Mir war klar, dass sie nur auf eine günstigere Gelegenheit wartete. Eine, in der ich ihr nicht davon laufen konnte. Nach und nach versammelte sich meine Familie- jeder von ihnen mit misstrauischem Gesichtsausdruck- im Auto.
Nach einer Weile des Schweigens platzte es aus Alice heraus: „Was war das denn?“
„Was?“, fragte ich scheinheilig. „Trottel“, schnaubte Rosalie. „Habe ich das richtig verstanden? Ich sollte auf Isabella Swan aufpassen?“, plapperte Alice drauf los. Ich seufzte. „Ja, solltest du.“
„Warum?“
„Weil… es wichtig ist.“
„Es ist wichtig, dieses Mädchen zu beschützen?“ Alice hob ihre schmalen Augenbrauen. „Warum?“ Ich stöhnte. „Erinnerst du dich? Newton hätte sie erfrieren lassen!“ In meiner Kehle brodelte es leise. „Er war da, in ihrem Unterricht. Er hätte ihr etwas antun können!“ Alice überlegte. *Du hättest mich fragen können, was er vorhatte. Ich hätte es gesehen.* „Er hätte seine Meinung ändern können.“ Sie sah aus dem Fenster und schwieg.
*Und jetzt?* „Was?“, fragte ich genervt. *Was passiert jetzt?* „Was soll schon passieren? Müsstest du das nicht am besten wissen?“


Kapitel 7

Chaos



Den gesamten nächsten Morgen und auf dem Weg zur Schule war mein Kopf voller Fragen. Was tat Isabella gerade? Kam sie überhaupt zur Schule? Was dachte sie über mich? Was dachte sie darüber, dass ich wusste, was sie dachte? Dachte sie überhaupt irgendetwas? Ich stöhnte. Was interessierte mich das überhaupt? Ich könnte ihr einfach aus dem Weg gehen. Nein, nicht mal das. Isabella würde mir aus dem Weg gehen. Es war alles ganz einfach- ich sollte die Sache einfach vergessen. Es war nicht wichtig. Nicht so sehr, dass ich ständig daran denken musste.
Oder?
Ich war froh, dass ich mich dazu entschieden hatte, allein zur Schule zu kommen. Ich wollte weder Alice noch die anderen sehen. Ich musste nachdenken. Meine eigenen Gedanken waren mir ja schon zu viel, wie sollte ich da fünf verschiedene gleichzeitig ertragen können? Ich stöhnte wieder. Wenn ich eins nicht mochte, dann Sackgassen. Und mein Gehirn wollte mir einfach keine Lösung für mein Problem verraten. Es ließ mich lieber schmoren. Vor mich hin grummelnd stieg ich aus meinem Volvo und knallte die Tür zu. *Spinnt der?*, tobte Rosalie. Es war mir nicht wirklich wichtig. „Mein Auto“, zischte ich.
Normalerweise knallte ich keine Türen. Angesichts meiner Kraft war es nicht empfehlenswert, es sei denn, man wollte unbedingt direkt das ganze Auto zerstören. Normalerweise gab es keine Isabella Swans, die es einfach so hinnahmen, dass ihre Gedanken gelesen wurden. Es gab an vergangenen Tagen auch keine Mädchen, die nicht redeten. Es gab erstrecht keine Mädchen, die von Mike Newton angegriffen wurden. Und es gab in der Regel keine Situationen wie die, die ich gerade miterlebte: Ein kleines, schwarz gekleidetes Mädchen, das mit abwesendem Blick aus einer Schrottkarre hüpfte, auf dem Eis ausrutschte und auf den Boden plumpste.
Ich schüttelte verwirrte den Kopf- meine Hand zuckte, als wollte sie sich ausstrecken, um dem Mädchen aufzuhelfen. Ich zögerte lange. Länger als normal für einen Vampir. Aber was war gerade schon normal? Ich konnte nur hoffen, dass die Schule mich ein wenig ablenken würde. Ein kleines bisschen. War das zu viel verlangt? Isabella hatte sich mittlerweile aufgerappelt und lief auf Gebäude drei zu. Ich drehte mich in umgekehrte Richtung. Meine Stirn legte sich in Falten- zu viele Fragen, zu wenig Antworten. Dass Newton mit mir Unterricht haben würde, war nicht besonders hilfreich. Es beruhigte mich nur insofern ein wenig, dass ich wusste, dass dem Mädchen solange nichts geschehen würde. Zumindest hoffte ich das.
Logarithmus, Shakespeare und andere Themen halfen tatsächlich, mich kurzweilig von meinen Fragen abzulenken. Mein Gehirn wurde mit Informationen überschwemmt. Aber sobald es zu Mittagspause läutete, war ich verloren. Widerwillig und in Zeitlupentempo packte ich meine Sachen. Erst, als Mike aufgestanden war und den Raum verlassen hatte, beeilte ich mich. Wie am vorherigen Tag ignorierte ich meine Geschwister und setzte mich ohne ein Wort zu sagen. Ich war nicht in der Stimmung um zu diskutieren. Mein Blick suchte sofort nach Isabella; ich seufzte beruhigt, als ich sie unverletzt auf ihrem üblichen Platz sitzen sah. Ich redete mir ein, dass es nur zu ihrer Sicherheit war, dass ich ein wenig auf sie aufpasste.
Für eine halbe Sekunde trafen sich unsere Blicke, dann drehte sie schnell den Kopf zur Seite.


Kapitel 8

Hilfe

Mike machte wieder Witze über sie und ihre schwarze Kleidung, und wieder schien Isabella sie einfach ignorieren zu können.
„Gehst du nachts manchmal auf den Friedhof?“, lachte Mike. Sie sagte nichts. Ich fragte mich, warum sie noch immer jeden Tag an diesem Tisch saß, aber dann fiel mir ein, dass es keinen anderen freien Platz in der Cafeteria gab. „Ach komm, war doch nur Spaß“, prustete er und berührte ihren Arm. Da zuckte sie plötzlich zusammen und rückte mit ihrem Stuhl zur Seite. Der gesamte Raum schien die Luft anzuhalten- das war die erste Regung, die Isabella zeigte, seit sie an diese Schule gekommen war. Mike glaubte, eine neue Waffe gefunden zu haben, und teste sie direkt aus. Er packte ihr zierliches Handgelenk und lachte, als Isabella ängstlich die Augen aufriss und blitzschnell ihre Hand zurückzog. *…will nicht!*, blitze in ihren Gedanken auf. „Ohh“, machte Mike. „Entschuldige, ich wusste ja nicht, wie empfindlich du bist!“ Er brüllte ein gehässiges Lachen und fasste wieder ihren Arm an. Immer und immer wieder.
Ich fühlte mich wie eine tickende Zeitbombe, die nur darauf wartete, zu explodieren. Was fiel ihm ein, das Mädchen so zu quälen? Reichte es ihm nicht, dass Isabella- dank ihm- fast erfroren war? Ihre Augen schimmerten jetzt feucht, als ob sie weinen müsste. Sie drehte den Kopf zur Seite, um Mike nicht mehr sehen zu können, und begegnete meinem Blick.
Das gab mir den Rest.
Ich kniete mich auf den Boden und breitete meine Arme aus. Ungläubig starrte Isabella mich an. „Was machst du?“, fragte Rosalie entgeistert, als ich dem Mädchen aufmunternd zuwinkte. Zögernd stand sie auf und sah mich an; sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ich lächelte vorsichtig, breitete meine Arme ein wenig weiter aus. Da endlich lief sie auf mich zu und stolperte in meine Arme. Ich keuchte- die Hitze ihres Körpers fühlte sich an, als hätte ich einen Elektrozaun berührt. Aber gleichzeitig mochte ich es- nach einer Viertelsekunde gewöhnte ich mich daran und die Wärme wurde angenehm. Dann war die mich erwürgende Heizung auf einmal verschwunden. Isabella errötete und sah sich unsicher um.
Als ich mich setzte, ließ sie sich auf dem Stuhl neben mir nieder und rückte so nahe es ging an mich heran. Ihre Wärme war allgegenwärtig. Plötzlich konzentrierte sie sich auf meiner Schulter; verwirrt drehte ich mich, bis ich die Ursache sehen konnte. Isabella hatte den Kopf auf meine Schulter gelegt und klammerte sich an meinen Arm. Unwillkürlich musste ich lächeln.
„Emmett, Jasper, Alice, Rosalie… das ist Isabella“, stellte ich sie unnötigerweise vor. Meine Brüder nickten kurz, Rosalie schnaubte. „Hi, Bella!“, trällerte Alice und hielt ihr die Hand hin. Isabella sah sich um, als wollte sie sich vergewissern, ob wirklich sie gemeint war. Sie kam wohl zu dem Schluss, dass sie Bella sein musste, und versteckte sich so weit wie möglich hinter meinem Rücken. „Alice wird dir nicht weh tun… Bella“, sagte ich leise.
Bella… ich mochte diesen Namen. Er passte besser zu dem Mädchen, das jetzt vorsichtig unter meinem Arm hervor lugte. Ich lächelte sie beruhigend an- beruhigend, aufmunternd und auch ein bisschen amüsiert. Schüchtern hob sie die kleine Hand und winkte.
Ich hörte jemanden leise gähnen und merkte, dass es Isabella… Bella war. Sie schien meine harte, kalte Schulter außergewöhnlicher weise gemütlich zu finden, denn es dauerte nicht lange, da war sie plötzlich eingeschlafen. Irritiert und verunsichert lauschte ich ihren Atemzügen, Rose lachte mich aus. Als ich meinen Arm behutsam um ihre Taille legte, wurde ihr Lachen zu einem Fauchen. „Was tust du?“, zischte sie.
„Sie festhalten“, flüsterte ich tonlos. Ich stellte fest, dass ich es irgendwie mochte, dass ihr Kopf auf meiner Schulter lag, dass sie schlief und ich sie berühren durfte. Das einzige, was mich in diesem merkwürdig friedlichen, glücklichen Moment störte, waren Rosalies gemeine Gedanken.
*Jetzt hängt die kleine Psychopathin wie eine Klette an dir- gut gemacht, Edward.*

Kapitel 9

Klette

Ich ignorierte Rosalie schlicht. Meine Gedanken waren schon zu beschäftigt. Loslassen? Festhalten? Was sollte ich tun? Ich bekam Panik. Was wäre das Beste? Bella gähnte wieder leise. Vermutlich döste sie nur. Ich wollte gerne wissen, warum sie so müde war, so erschöpft. Möglicherweise lag es an Mike Newton, dem ich gerade meine messerscharfen Zähne zeigte. Vielleicht lag es auch an etwas anderem. An etwas, von dem ich nichts wusste. Aber was wusste ich überhaupt über sie? Über Bella? Gar nichts. Nur, dass Angst hatte- große Angst. Aber nicht vor mir, das konnte nicht sein. Sonst würde sie doch nicht an meiner Schulter schlafen.
*Hm…* Das Mädchen reckte sich, bevor es den Kopf wieder auf meine Schulter legte. *Hm…*, brummten ihre Gedanken wieder. „Du hast jetzt Unterricht, Bella“, summte ich zögerlich in ihr Ohr. Ihre Lider flatterten; ich kämpfte mit mir. Ich wollte sie nicht wecken, sie sah so müde aus… Ihr Kopf schoss in die Höhe. Vollkommen verkrampft, peinlich berührt kauerte sie auf ihrem Stuhl und sah zu Boden. „Tut mir leid.“ Voller Scham und Bedauern strich ich über ihren Arm. Sie zuckte nicht zusammen, blinzelte nur. Dann kniff sie fest die Augen zu und klammerte sich wieder an meinen Arm. „Tut mir leid“, beteuerte ich noch einmal, bevor ich aufstand, sanft ihren Arm abschüttelte und zügig, beinahe fluchtartig die Cafeteria verließ.
Es war alles zu viel.
Ich brauchte Ruhe.
Eine stille Minute, in der ich nachdenken konnte.
Ein heiseres Lachen verließ meine Kehle. Nachdenken- das tat ich doch schon den ganzen Tag! Und bis jetzt hatte es mir nichts genützt. Es machte mich nur noch wahnsinniger. Dann erfüllte mich Selbsthass. Ich hatte sie einfach von mir gestoßen; was musste sie jetzt von mir denken? Das war gemein gewesen. Sie brauchte mich und ich ließ sie allein… Das alles brachte mich so sehr aus der Fassung, dass ich mich verfolgt fühlte- ich glaubte, Schritte hinter mir zu hören. Verwirrt machte ich mich auf den Weg zu meiner nächsten Unterrichtsstunde. Die Schritte ließen nicht locker, liefen hinter mir her.
Vollkommen panisch begann ich zu rennen. Nicht allzu schnell; gerade so, dass ein Mensch mich nicht einholen könnte. Die dumpfen Geräusche verhallten hinter mir. Beruhigt ging ich wieder langsamer und lachte. Ich war wirklich verrückt. Wer sollte mich schon verfolgen? Außerdem hörte ich nichts, keine Gedanken. Ich seufzte. Weshalb musste ich nur so durcheinander sein? Schonwieder hörte ich jemanden hinter mir. Entschlossen blieb ich stehen, machte mich steif und räusperte mich. Das Geräusch von Schuhen auf dem Kies verstummte. Ganz langsam drehte ich mich um, die Augen nicht ganz geöffnet, als wollte ich mich vor irgendetwas oder irgendwem verstecken.
Und mir wurde klar, warum ich nichts gehört hatte außer dem leisen Rascheln von Kies. Bella sah mit großen Augen zu mir auf; sie waren leicht gerötet, ihre Hände hatten sich zu kleinen Fäusten geballt. Ihre Haut war blass, blasser als sonst. Dieses Bild verursachte Schmerz in mir. Ich hatte sie allein gelassen, so wie alle anderen sie allein ließen. Ich hatte sie verraten. Jetzt standen wir hier und schwiegen uns an. Endlos. Bis ich irgendwann einen Schritt zur Seite machte. Bella folgte mir, bewegte sich ebenso. Stirnrunzelnd bewegte ich mich wieder nach rechts… wieder machte sie mir nach. Sie verhielt sich wie ein Schatten. Ich knurrte leise in Roses Richtung, als sie „Was sage ich- wie eine Klette“, zischte; wohlwissend, dass ich sie hörte.
Ich musste nicht lange darüber nachdenken, was ich auf Bellas flehenden Blick antworten sollte. „Ich begleite dich.“ Bella nickte heftig und wirbelte ihre Locken hin und her, während sie nach meinem Hemd griff. *Danke.*Ich lächelte. „Das ist dein Lieblingswort, oder?“ Eine schwache Andeutung eines Lächelns machte sich auf ihren Lippen breit, sie nickte wieder. „Hast du noch andere Lieblingswörter?“, fragte ich neugierig. Vielleicht konnte ich sie dazu bringen, noch etwas anderes zu denken! *Englisch…*, dachte sie. „Englisch?“, wunderte ich mich. „Das ist dein Lieblingswort?“ Ein Seufzen neben mir. Das Mädchen schüttelte den Kopf und zeigte auf ein anderes Backsteingebäude als das, auf welches wir zustrebten. „Oh…“, begriff ich.
Also machten wir kehrt. Wahrscheinlich würde ich zu spät zu meinem eigenen Unterricht kommen, aber das kümmerte mich nicht; mein Wissensdurst war größer. „Und?“, bohrte ich, Bellas Blick huschte zu mir. „Was ist nun dein zweites Lieblingswort?“ Sie schürzte die Lippen und spannte mich auf die Folter, bis wir vor ihrem Klassenzimmer angekommen waren. *Engel*, flüsterte ihre Stimme in meinem Kopf. Sie klang ehrfürchtig. Auch ich war vor Ehrfurcht erstarrt. Engel... ihr Lieblingswort war Engel… Die fehlende Wärme an meinem Handgelenk riss mich aus meinen Grübeleien; sie hatte meinen Ärmel losgelassen. Bella sah sich nicht noch einmal um, bevor sie die Klasse betrat, so wie ich es immer tat, und lange Zeit starrte ich die Tür an. Irgendwann ging ich den Flur entlang zurück.
Kurz, bevor ich aus der Tür trat, hörte ich ein weiteres Mal *Engel* in meinen Gedanken.


Kapitel 10

Masochistischer Löwe, masochistisches Lamm

Es war bereits Mitternacht. Seit Stunden schon saß ich auf dem Sofa in meinem Zimmer, den Kopf in den Händen vergraben, verzweifelt und verfolgt. Verfolgt von Bildern. Meine Erinnerungen spielten sich in der Endlosschleife in meinen Gedanken ab. Bilder von einer bleichen Isabella Swan, die verzweifelt Schutz und meine Nähe suchte. Es gab viele Wörter, mit denen dieses Mädchen sich beschreiben ließ: Schutzlos, wehrlos, ängstlich… ja, auch anhänglich. Aber sie war keine Klette. Sie brauchte lediglich jemanden, der auf sie Acht gab und verhinderte, dass man ihr weh tat wie Mike Newton.
Schon wieder entrang sich ein Knurren meiner Kehle. Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft ich in den letzten Stunden schon leise vor mich hin geknurrt hatte. Es war einfach nicht fassbar für mich, wie jemand dieser - nicht nur körperlich - zerbrechlichen Kreatur etwas zuleide tun konnte. Es war einfach unbegreiflich. Sie besaß nichts, womit sie sich wehren könnte; nicht einmal ihre Stimme. Und genau darüber zerbrach ich mir seit Ewigkeiten den Kopf. Warum sprach sie nicht? Was hatte man ihr angetan? Was tat sie gerade?
Zum dritten Mal stand ich auf, um wie ein Zirkustier in seinem Käfig in meinem Zimmer auf und ab zu gehen. Ich musste wissen, ob sie in Sicherheit war, warum wusste ich jedoch nicht. Aber es war offensichtlich, dass ich nicht eher Ruhe haben würde, bevor ich mit Sicherheit sagen konnte… dass es ihr gut ging. Nach minutenlangem Zögern verließ ich mein Zimmer und klopfte an Alices Tür. Das war nur reine Höflichkeit. Ich wusste stets von allem, was sich hinter dieser Tür abspielte- Anklopfen war unsinnig. „Komm rein, Edward.“ Unsicher setzte ich mich zu meiner Schwester auf den Boden.
„Es gefällt mir überhaupt nicht, was du mich in dreizehn Sekunden fragen wirst.“ Misstrauisch sah sie mich an; ich seufzte. „Ich weiß. Könntest du trotzdem…“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Nein.“
Ich bettelte. „Bitte, Alice?“ Voller Zwiespalt musterte sie mich. „Warum?“ *Warum ist sie dir so wichtig?* Ich presste Daumen und Zeigefinger auf meinen Nasenrücken. „Bitte. Bitte, Alice. Ich muss wissen, ob sie in Sicherheit ist.“ Es würde mir keine Ruhe lassen. Was würde mein Gewissen am wenigsten belasten, wenn ich eines hätte? In ihre Privatsphäre einzudringen oder sie nicht zu beschützen? „Ich werde nicht in ihre Privatsphäre eindringen und sie missachten, indem ich in ihre Zukunft sehe. Nein, Edward. Ich werde nicht in ihre Zukunft sehen“, sagte sie streng und funkelte mich an. Alice runzelte verunsichert die Stirn, als mein Blick flehend wurde.
„Vielleicht geht es ihr nicht gut, vielleicht braucht sie Hilfe!“ Alice erschrak für einen kurzen Moment. Sie hatte mich noch nie so erlebt, noch nie hatte ich sie wegen etwas angefleht. Ich war zu stolz dafür. Aber ich musste wissen, wie es Bella ging. Das schien meine Schwester plötzlich zu verstehen. „Nur, weil du mein Bruder bist. Und eine Nervensäge. Und ein Idiot.“ Widerwillig schloss sie die Augen und konzentrierte sich. Ich dagegen war absolut aufgekratzt, konnte es kaum erwarten, das erste Bild zu sehen. Gleichzeitig hatte ich Angst.
Schwärze tauchte in Alices Gedanken auf, Leere. Weit und breit war nichts zu erkennen. Enttäuscht sahen wir uns an. „Du kannst sie ja auch nicht immer hören“, verteidigte sie sich. Jetzt fühlte ich mich schlecht. Alice sollte sich keine Vorwürfe machen. Außerdem… „Nicht immer“, schränkte ich ein. Sie hob ihre schmalen Augenbrauen. „Aber manchmal. Versuch es noch einmal, Alice“, bat ich. Seufzend schüttelte sie ihre tintenschwarzen Haare, schloss aber wieder die Augen. Ein weiteres Mal erschien die unheimliche Schwärze, aber Alice ließ nicht locker. Tatsächlich passierte nach langer Zeit etwas:
Ein Flimmern mischte sich unter das Schwarz, der Hintergrund wurde heller und verformte sich. Nach langem Warten sah ich Bella in der Dunkelheit stehen, auf etwas, das aussah wie… Schienen? Plötzlich verschwamm diese Momentaufnahme und wurde durch eine andere ersetzt. Eine zerbrechliche, blasse Hand- Bellas Hand- durchsuchte die Jacken, die in einem Flur hingen. Sie fand schließlich das, was sie vermutlich gesucht hatte. Die Pistole ihres Vaters, Chief Swan. Dann wieder ein neues Bild. Ein Messer in Isabellas zierlicher Hand, Blut überall…
Als Alice aufschrie, stand ich schon gar nicht mehr in ihrem Zimmer- ich befand mich längst auf der Straße, die mich Richtung Forks führen würde. Neben Fassungslosigkeit und Wut machte sich hauptsächlich Angst in mir breit. Ich musste schnell sein, sie so schnell wie möglich finden, bevor sie sich etwas antun konnte- was auch immer es war. Jeder Einwohner von Forks kannte den Polizeichef, seine Tochter und sein Haus; es war nicht schwer es zu finden. In dem Gebäude war es dunkel, nur aus einem Zimmer schien Licht. Es war im ersten Stock. Behände- doch mit riesiger Angst- kletterte ich die Hauswand hoch.
Was ich sah, ließ meinen Atem stocken.
„NEIN!“, schrie ich und stürzte mich auf sie, riss ihr das Messer aus der Hand. Benommen starrte Bella mich an, während meine Finger behutsam, untersuchend die roten Striemen auf ihrem Arm nachfuhren, die verblassen wollten. Verzweifelt und wütend zertrat ich das Messer, bis nur noch kleine Splitter auf dem Boden lagen. Ich zitterte. Bella zitterte auch. In ihrem Blick lag etwas, das ich nicht mit Worten beschreiben konnte. Etwas irres, krankes- etwas, das mir- mir, einem Unsterblichen- Angst einflößte.
Mühsam schluckte ich und hob den Blick, ohne zu atmen. Bellas weit aufgerissene Augen starrten mich an, das zerzauste Haar hing ihr wirr ins Gesicht, ihr Atem ging zittrig. Erst nach mehreren Minuten merkte ich, dass sie versuchte, ihren Arm aus meinem Griff zu ziehen. Sie zog und zerrte, bis ich das erste Mal wieder nach Luft schnappte.
Ich roch Blut.
Süßes, köstliches Blut.
Noch in derselben Sekunde, in der ich eingeatmet hatte, hefteten sich meine Augen auf ihren Arm, aus dem die warme Flüssigkeit aus mehreren Schnitten quoll. Gift schoss mir in den Mund, Durst überkam mich. Blut. Blut an meinen Fingerspitzen, die noch immer ihren dünnen Arm umschlossen. Instinktiv beugte ich mich über ihre Wunde und knurrte leise.
Bella bemerkte meinen gierigen Blick. Ich keuchte, als sie ihren Arm näher an mein Gesicht führte. Daraufhin erlaubte ich mir einen kurzen Blick in ihre Augen, die entschlossenen wirkten, bevor ich mich wieder dem leckeren Bild widmete, das sich mir darbot. Ich schloss die Augen und sog tief die Luft ein, die von dem unglaublichen Duft getränkt war. Die Hand des Mädchens legte sich plötzlich an meine Wange. Automatisch schnupperte ich und stöhnte gequält. Wie lange sollte ich das noch aushalten können? So wohlriechend, so verlockend…
„Was tust du?“, stöhnte ich. Ihre Finger wanderten weiter und legten sich auf meine Lippen. Ich winselte. Das war nicht fair - Blut zu riechen war eine Sache; Blut zu schmecken dagegen… Meine Kehle brannte. Hilflos drehte ich den Kopf zur Seite. Ich war so kurz davor... einfach zuzubeißen… „Bella… nimm deinen Arm da weg“, beschwor ich sie mit zusammengebissenen Zähnen. Ich durfte nicht atmen. Nicht solange ihr Blut in meinem Gesicht verteil war. Aber sie reagierte nicht.
„Bitte… Bitte“, flehte ich und öffnete die Augen. Ihr Blick war so leer, tot. „Ich will dir nicht weh tun“, flüsterte ich eindringlich. „Ich will dir nicht weh tun… ich will das nicht!“, rief ich jetzt und schubste sie von mir. Erschrocken starrten wir uns an. Bella rollte sich auf dem Boden zu einer Kugel zusammen, hob die Arme vor ihr Gesicht, gab einen weinerlichen Laut von sich. Hastig und entsetzt wischte ich ihr Blut von meinen Lippen und meiner Wange. Mein Durst war noch nicht verschwunden, er quälte mich ununterbrochen und manipulierte mein Denken. Unglücklich versuchte ich, dagegen anzukämpfen.
„Du weißt, was ich bin“, stellte ich fest. Mein Lachen war bitter. Sie hatte eine neue Art von Selbstmord entdeckt – einem Vampir ihren blutenden Arm unter die Nase zu halten. Bella presste sich gegen die Wand, so weit entfernt von mir wie möglich. Sie beobachtete mich dabei, wie ich die Splitter, die ich verursacht hatte, aufsammelte und in den Mülleimer fallen ließ und nickte schließlich. Ihr Herz schlug sehr langsam. Zaghaft streckte eine Hand nach ihr aus, zog sie aber sofort wieder zurück, da sie sich noch enger an die Wand drückte. Ihre Nasenflügel bebten.
Ihre Augen, die im Mondlicht beinahe schwarz aussahen, zeigten nun Panik, Angst davor, dass ich sie tatsächlich umbrachte. „Nicht… hab keine Angst...“ Meine Bitte war nur ein Flüstern in Bellas dunklem Zimmer. Mir wurde bewusste, dass ihre Sinne längst nicht so ausgeprägt waren wie meine, dass sie mich kaum sehen konnte. Vermutlich sah sie nur einen bedrohlichen Schatten, dem es nach ihrem Blut dürstete. Mein Blick huschte zu den Verletzungen an ihrem Arm, sie verlor noch immer… Blut. Dickflüssiges… rotes… Blut…
„Warte hier“, presste ich hervor und verschwand hinter ihrer Zimmertür ohne eine Antwort abzuwarten, die ich ohnehin nicht bekommen würde. Ich suchte nach dem Bad und fand es nach zwei Sekunden. Hektisch durchwühlte ich sämtliche Schränke, bis ich gefunden hatte, was ich brauchte. Ich konnte kaum eine Minute weg gewesen sein, als ich zurück zu Bella lief. Ich schluckte. Wie sollte ich es schaffen, das Mädchen berühren zu dürfen? Ich ließ mich gegenüber dem ängstlichen, wimmernden Wesen auf die Knie sinken und bewegte mich nicht mehr, nachdem ich so weit wie möglich ans Fenster gerutscht war, damit sie mich sehen konnte.
„Ich werde dir nicht ein einziges Haar krümmen, Bella“, flüsterte ich und hob meine Hände. „Ich möchte dir nur helfen, deine Wunden zu versorgen.“ Gespannt kaute ich auf meiner Unterlippe herum, während meine Hände sich fast in Zeitlupe nach ihrem zitternden Arm ausstreckten. Bella ließ zischend den angehaltenden Atem aus ihren Lungen entweichen. Meine Finger schwebten nur wenige Millimeter über ihrer blutverschmierten und teilweise verkrusteten Haut. Sie machte keine Anstalten mich aufzuhalten, folgte mir nur aufmerksam mit den Augen.
Ich lächelte leicht in mich hinein und griff mit einer Hand nach den Mullbinden. Sehr vorsichtig wickelte ich sie um ihren vollkommen zerschnittenen Arm. Bella beobachtete mich mit vor Schmerzen zusammengebissenen Zähnen, doch gab keinen Laut von sich. „Weißt du, mein Vater ist Arzt.“ Der Kopf des Mädchens schoss in die Höhe. „Er arbeitet im Krankenhaus von Forks.“ Ich griff nach einem zweiten Verband. „Er arbeitet gerne dort. Er sagt, es tut ihm gut, für Menschen da zu sein und zu wissen, dass er nicht dieses Monster sein muss.“ Meine geschickten Finger brauchten nicht lange, bis ihr Arm einigermaßen verarztet war. „Manchmal helfe ich ihm. Meistens bei Patienten, die nicht bluten, sollte ich eigentlich hinzufügen.“ Ich zog einen Mundwinkel hoch.
Bella lauschte stumm, mit gesenktem Blick, der nach meinem kurzen Monolog immer noch auf ihre Hand gerichtet war, die ich zwischen meine genommen hatte. Meine Miene wurde ernst. „Tu das nie wieder, Bella.“ Meine Finger streichelten so leicht über ihren Verband, dass sie den Druck nicht spürte und keine zusätzlichen Schmerzen hatte. „Du darfst deinem kostbaren Leben nicht weh tun.“ Ihre Lider fielen und sie seufzte. Meine Finger streiften ihre Wange, strichen über ihr Haar und zogen schließlich ihr Gesicht an meine Brust. Ihre verletzte Hand lag noch immer in meiner.
Noch nie hatte ich mir mehr gewünscht sie hören zu können, wie in diesem Moment. Reglos und schweigend hockten wir auf dem Boden, bis sie sich mit unleserlichem Gesichtsausdruck zurücklehnte. Ich hielt sie nicht zurück.
„Vermutlich… sollte ich jetzt gehen“, wisperte ich nach einem langen Moment traurig und sah zur Seite. „Ich habe bereits genug angerichtet“, sah ich noch trauriger ein. Als ich sie zögernd ansah, verwandelte sich Bellas Gesicht in eine vor Pein verzerrte Maske.
*Nein… nein… nicht gehen… bitte?*


Kapitel 11

Nacht

Ich warf einen verzweifelten Blick zu dem immer noch geöffneten Fenster. Ich sollte nicht hier sein, ich hatte nur sehen wollen, ob sie in Sicherheit war. Nun war sie vorerst in Sicherheit. Konnte ich sie allein lassen? Was, wenn sie noch ein zweites Messer irgendwo versteckt hatte? Was, wenn.. ich sie gar nicht allein lassen wollte? Wenn ich nicht stark genug war? *Bitte… Edward?* Verwundert richtete ich meinen Blick wieder auf sie. Bella kaute unsicher auf ihrer Unterlippe herum. Aus ihren Augenwinkeln rollten kleine Tränen. Tränen? Oh Gott, sie weinte!
„Bella, nein, nicht, was-“ Es tat mir weh, sie weinen zu sehen, zu sehen, dass sie litt. Ganz langsam, um sie nicht zu erschrecken, hob ich meine Hand und wischte ihr die kleinen Kristalle von der Wange. Einen nach dem anderem. Aber die Tränen flossen leise weiter. „Natürlich bleibe ich, natürlich, Bella“, versuchte ich sie zu trösten. Sie vergrub ihr Gesicht in meinem Hemd und versteckte so ihre Augen vor mir. Bitterlich schluchzte sie an meiner Brust, wimmerte und durchnässte mein Hemd mit ihren Tränen. Sie waren warm und unbekannt auf meiner Haut.
Überfordert mit der Situation hob ich meinen Arm und strich über ihr Haar. „Shht… Alles wird…“ Ich schluckte. Ich wollte nicht lügen. „Besser“, wisperte ich. Ihre verletzte Hand zitterte in meiner. Behutsam ließ ich meinen Daumen auf ihrem Handrücken kreisen, während ich vorsichtig einen Arm unter ihre Kniekehlen legte und sie hochhob. Mit dem verletzten Mädchen, dessen Kopf noch immer an meiner Brust ruhte, setzte ich mich in den Schaukelstuhl, der in einer Ecke unter ihrem Fenster stand. Er knarrte leise, als ich uns vor und zurück schaukelte, tröstende Worte in ihr Ohr murmelte.
Das dünne Nachthemd, das sie trug, vermochte sie nicht zu wärmen; Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. In der Hoffnung, dass es wirkte, rieb ich über ihre Haut um sie zu wärmen. Sehr lange saßen wir so da – Bella zitternd und bebend, schluchzend und verzweifelt. Ich – vollkommen durcheinander. Ich begriff nicht, was ich gerade tat. Ich streichelte den Rücken eines Mädchens, das sich selbst verletzte… das wusste, was ich war und das wusste, dass ich –rein theoretisch - ihre Gedanken lesen konnte… und das sich nun hilfesuchend an mein Hemd klammerte. Irgendwann entspannte sie sich und hing bewegungslos in meinen Armen, ihr Atem ging sehr ruhig.
Ich neigte meinen Kopf, um in ihr Gesicht sehen zu können, das an meiner Schulter lag. Ihre Augen waren geschlossen, sie sah friedlich aus. Schlafend. Ich lächelte und strich das verschwitzte Haar aus ihrem Gesicht. Es war gut, dass sie jetzt schlief. Immer war sie so müde und nun verstand ich auch, warum. Ihr Arm hatte mir gezeigt, dass es nicht das erste Mal war, dass sie sich das antat. Es waren… so viele… so viele Wunden… so viele Narben…
Traurig streichelte ich über ihren Kopf. Warum litt sie so? Warum wollte sie noch mehr leiden? Nachdenklich legte ich meinen Kopf auf ihren. „Sprich mit mir... Behalte es nicht für dich… Lass mich dir helfen…“ Meine Worte waren beinahe lautlos und wurden von der Dunkelheit verschluckt. Ja, ich wollte ihr helfen. Es war so unerträglich zu sehen, dass es etwas gab, das ihr weh tat. Ich wollte ihr dabei helfen, dieses Etwas loszuwerden. Ich lachte trocken. Wie sollte das funktionieren? Sie redete doch nicht mal mit mir!
Aber immerhin wusste ich mehr als die Menschen um sie herum. Auf gewisse Weise sprach sie tatsächlich mit mir. Sie teilte ein paar Fetzen ihrer Gedanken mit mir. Zu gern würde ich wissen, ob sie wenigstens mit ihren Eltern sprach. Oder mit ihrer Oma. Oder mit einem Freund. Mit irgendjemanden. Oder schwieg sie immer? Warum schwieg sie immer? Während ich mir den Kopf zerbrach, drehte sie sich in meinen Armen, bis ich ihr direkt ins Gesicht sehen konnte. Sie hatte einen Arm jetzt um ihren Bauch geschlungen, eine Hand, die verletzte, lehnte noch mit meiner verschränkt an meiner Brust. Sie seufzte.
Vorsichtig stand ich auf und legte sie ebenso vorsichtig auf ihr Bett, nachdem ich die Decke zurückgezogen hatte. Sofort rollte sie sich wieder zu einer Kugel zusammen. Erst, als ich den Kontrast zu der schwarzen Matratze sah, fiel mir ein wichtiges Detail auf:
Bis jetzt hatte ich sie nur in schwarz gesehen...
Ihr Nachthemd war weiß.
Schneeweiß.


Kapitel 12

Vergangenheit

Während ich darüber nachdachte, was es wohl zu bedeuten hatte, dass sie nur nachts weiß trug, zog ich die Bettdecke über Bellas Körper und legte ihren verletzten Arm darauf. Im Schneidersitz setzte ich mich auf den Boden, legte den Kopf neben ihre Hand auf die Matratze und sah sie an. Luft strömte in gleichmäßigen Abständen aus ihrem Mund und erinnerte mich an den Geruch ihres Blutes. Ich schnupperte an ihrer verletzten Hand, die direkt neben meiner Nase lag, und inhalierte tief. Sofort fühlte ich mich schlecht. Ich nutzte es aus, dass sie blutete - das war unverzeihlich.
Beschämte verharrte ich, ohne mich zu bewegen und musterte Bella stattdessen. Sie sah leblos aus, nur ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig und unterschied sie von einer… Leiche. Sie war nicht weniger blass oder verletzt. Nach und nach bemerkte ich die vielen blauen Flecken, die sich von ihren Armen über ihre Schulter und ihren Hals ausbreiteten. Sie waren zwar sehr fein – nur jemand, der meine Sinne besaß, konnte sie sehen – und doch beängstigten sie mich. Warum war ihr Körper mit blauen Flecken übersät?
Bella gab einen unzufriedenen, keuchenden Laut von sich und rollte sich auf die andere Seite. Sie zitterte stark. Ich richtete mich auf, um mich in den Schaukelstuhl zu setzen und sie weiter zu beobachten. Seltsam verdreht lag sie in ihrem Bett, sie hatte die Arme über ihre Augen gelegt, als wollte sie sich vor etwas verstecken. Dann bewegte sie sich eine Weile gar nicht mehr. Ich nutzte diese Zeit, um mich ein wenig in ihrem Zimmer umzusehen.
Es war sehr klein. Neben ihrem schmalen Bett stand ein Nachttisch, auf dem ein Buch lag. Beim näheren Hinsehen erkannte ich Shakespears Romeo und Julia. Sie las Klassik? Beim weiteren Erforschen ihres Zimmers entdeckte ich eine CD von Debussy zwischen ihren Büchen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Noch mehr Klassik. Diese eine CD war jedoch die einzige in ihrem Zimmer. In ihrem Bücherregal an der Wand standen mehr Ordner als Bücher.
Es juckte mich in den Fingern, aufzustehen und nachzusehen, was sich in diesen Ordern befand. Ich wollte etwas über sie herausfinden. Darüber, wie und was sie dachte. Aber ich riss mich zusammen. Ich wollte schließlich kein Stalker sein, ich wollte sie nur beschützen. Mein Blick wanderte weiter durch den Raum und entdeckte noch einen Kleiderschrank und ein paar Kisten. Aber das wichtigste waren die Bilder an den Wänden: Auf den meisten waren Teddybären, Engel und Rosen zu sehen. Neugierig, fasziniert sah ich mir diese Bleistiftzeichnungen an; die gesamte Wand, vor der ihr Bett stand, war mit Bildern zugepflastert. Die Tapete, die nur an wenigen Stellen zu sehen war, war schwarz.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ihr Zimmer sah so… düster aus. So trostlos. Warum? Das fragte ich mich ununterbrochen. Warum ging es ihr so schlecht? Warum wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her? Hatte sie Alpträume? Wovon? Sie klammerte sich an ihr Kissen und vergrub das Gesicht darin. Dann war sie wieder ruhig. Ich beschloss, einfach zu warten, bis es Morgen wurde und sie aufwachte. Dann würde ich sie fragen, was sie bedrückte. Vielleicht könnte ich ihr sogar helfen?
Daddy, Angeln ist langweilig.
Perplex starrte ich Bella an. Hatte sie das gerade gesagt? Ich horchte, aber es blieb ruhig. Daddy, Angeln ist langweilig? Was sollte das? Ich schüttelte den Kopf. Wenn dieser Satz nicht so absurd wäre, hätte ich behauptet, ich hätte ihn mir eingebildet. Plötzlich fing es an, in meinem Kopf zu Rauschen; entsetzt drückte ich mich in den Schaukelstuhl. Was sollte das? Nach einer Weile wurde das Rauschen zu Wassergeplätscher und mir wurde bewusst, dass ein Teil von Bellas Traum sein musste. Wo sonst sollte Wasser rauschen?
Daddy… ich glaube, die Fische mögen mich nicht!
Ein sehr verschwommenes Bild tauchte in meinem Kopf auf. Ein See?
Dann geh mit Jake im Wald spielen.
Wie durch matschiges Pfützen-Wasser sah ich ein kleines Kind mit braunen Locken mit einer - für sie viel zu großen - Angelrute in der Hand am See sitzen. Das Mädchen strahlte und zupfte am Shirt des dunkelhäutigen Jungen, der neben ihr saß. „Jake, wir gehen im Wald spielen!“, rief sie und hüpfte aufgeregt durch die Gegend. „Pass auf Bells auf!“, rief ihnen die Stimme von Chief Swan zu.
Bells? Isabella? Bella?
„Mach ich!“ Als ich die beiden auf den Waldrand zulaufen sah, wurde mir bewusst, dass das kleine Mädchen mit den braunen Locken, dem bunten Kleid und dem Lächeln im Gesicht die Bella war, die nun in ihrem Bett lag und schlief.
Es war faszinierend, sie glücklich zu sehen und ihre Stimme zu hören. Ich sah sie im Wald mit ihrem Freund verstecken spielen und beobachtete erfreut, wie sie lachte. Die beiden Kinder tollten herum und ich konnte mich nicht daran satt sehen.
Aber ein leises Knacken ließ Bella innehalten und stehen bleiben.


Kapitel 13

Trauma

Jacob versteckte die kleine, neugierige Bella hinter seinem Rücken und lauschte genauer.
Es war still.
„Was ist da, Jake?“
Isabella verlagerte das Gewicht von ihrem rechten auf den linken Fuß. Jedoch sah sie nicht ängstlich, vielmehr erwartungsvoll aus. Ein großer Mann mit blasser Haut und einem Lächeln auf dem Gesicht trat - leise und plötzlich - zwischen den Bäumen hervor. Sein blondes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden, seine Hände hatte er gehoben, als würde er sich ergeben. Jacob wich zurück, Bella machte große Augen.
„Keine Panik!“
Er ließ seine weißen Hände sinken und grinste, zeigte eine Reihe von blendend weißen, messerscharfen Zähnen. Seine Augen, die Freundlichkeit ausstrahlten – vortäuschten - waren rot.
Ich knurrte.
„Ich bin James“, sagte er und lächelte Isabella an. Sie klammerte sich fester an den Arm ihres Freundes und blickte zu ihm auf. Fragend. Jacobs Gesicht war misstrauisch.
Isabellas Hand, die auf der Matratze lag, ballte sich zu einer Faust.
„Hallo, James“, piepste die jüngere Version von Bella und trat hinter ihrem Beschützer hervor. Sie winkte dem Mann zu. James‘ Grinsen wurde breiter und er ließ sich in die Hocke sinken.
„Ich bin Bella!“, ließ sie ihn wissen und hüpfte auf und ab. „Ich bin schon 7!“ Ihre Wangen wurden rot vor Stolz; sie strahlte. „Mein Daddy angelt gerne! Er sitzt am See und wartet auf die Fische! Aber die wollen ja nicht gegessen werden! Die wollen schwimmen! Das ist so langweilig!“, beschwerte sie sich.
James hob seine Augenbrauen.
„Jakes Daddy-“, sie zeigte auf den Jungen, „angelt auch so gern. Sie sitzen zusammen am See und warten, warten, warten, weißt du? Das ist langweilig!“, stöhnte sie wieder. Sie kräuselte die Nase, als hätte sie jemand beleidigt. Dann strahlte sie. „Aber Jake ist ja da!“ Sie zupfte am Shirt des braun gebrannten Jungen und zog ihn näher zu James.
„Wir spielen immer verstecken! Das ist viel besser als auf Fische warten! Besser als warten und sie dann totschlagen!“ Sie rümpfte die Nase. „Die armen Fische! Das ist so brutal! Fische töten! Das findest du doch auch brutal, oder nicht?“, fragte sie den Mann, der nun direkt vor ihr stand. Dieser schob die Unterlippe vor. „Sehr gemein. Ganz gemein. Ganz böse“, pflichtete er ihr bei und schüttelte den Kopf, tat so, als sei er schockiert -aber er grinste.
Bella sah es nicht.
„Siehst du, Jake? James findet das auch gemein!“ Der Junge verdrehte die Augen und legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beruhigen. „Willst du einen zappelnden Fisch auf dem Teller, Bells?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Grübelte eine Weile, schmollte dann. „Nein“, nuschelte sie.
Der blasse Mann namens James –Bella wartete auf seinen Kommentar - gab vor, lange zu überlegen, bevor er sich äußerte. „Nun, ich finde, ein zappelnder Fisch ist viel aufregender als ein toter…“ Er legte den Kopf schief und betrachtete Bella abschätzend, die ihm den Rücken zeigte und beleidigt war, sich von ihm verraten fühlte. James formte eine unschuldige Miene.
„Verstecken spielen, hast du gesagt?“ Er ging auf und ab. „Lasst ihr mich mitspielen?“ Sofort wirbelte das Mädchen herum und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Sicher!“, rief sie und klatschte in die Hände. „Jake, er darf doch mitspielen, oder? Jake, ist dir kalt?“ Sie deutete auf die Gänsehaut, die den Arm des Jungen überzog. Jacob schüttelte den Kopf. „Quatsch“, murmelte er, ohne den Blick von den ungewöhnlichen Augen des Fremden abzuwenden. Bella ignorierte das, rannte hinter den nächstbesten Baum und kicherte.
„Ich zähle!“ Ein weiteres Kichern. „Eins! Zwei! Fünf! Sieben!“ James kniff vor Belustigung die Lippen zusammen. Zum ersten Mal, seit der unheimliche Mann den Wald betreten hatte, lehnte sich Jacob in seine Richtung. „Sie lernt noch…“, flüsterte er laut genug, dass Bella es hören konnte.
„Jake!“, motzte sie. „Acht! Neun!“
„…aber meistens macht sie es mit Absicht.“
Jacob zuckte mit den Schultern. Er machte einen großen Bogen um den, auf ihn offensichtlich bedrohlich wirkenden, Mann und entfernte sich. James huschte grinsend hinter ihm her, seine nackten Füße verursachten nicht das geringste Geräusch auf dem Waldboden. Bald schon hatte er das Kind eingeholt und sie verschwanden.
Gemeinsam.
Lautlos…

Nach einer Weile hatte sich Bella dazu entschlossen, lange genug gezählt zu haben. Sie lugte erst vorsichtshalber hinter dem Baumstamm hervor, bevor sie lachend hinter jedem noch so dünnen Bäumchen nachsah, ob James oder Jacob sich dort versteckt hielten. Es dauerte gar nicht lange, bis sie sich enttäuscht auf das Laub hockte.
Und wartete.
„Jake!“ Entweder, sie war nicht besonders ausdauernd, oder sie fand ihren besten Freund in der Regel schneller. Die große, im Bett liegende Bella krallte die Hand in das Laken. Die junge, abwartende Bella wiederholte: „Jake!“ Es war erstaunlich, wie laut dieses Mädchen rufen konnte. Sie rutschte auf dem Boden hin und her, setzte sich in den Schneidersitz, wartete immer noch. „Jake!“ Sie verkleinerte die braunen Augen zu schmalen Schlitzen und trommelte mit den Fingern vor Ungeduld auf dem Knie herum.
„Ach, Jacob!“ Sie war definitiv und unübersehbar wütend. Sie scharrte mit dem Fuß ein paar Blätter beiseite, sah auf ihre Armbanduhr – kunterbunt, mit zig verschiedenen Mustern – und schubste genervt die Luft aus ihren Lungen. „Das ist langweilig, Jake! Total überflüssig!“ Sie sah sich um und kaute auf ihrer Lippe. Das Mädchen schluckte, räusperte sich, schluckte wieder. „…Jake?“, fragte sie jetzt vorsichtig. Nur das Echo antwortete ihr. „Bitte. Jake. Ich habe Angst.“ Sie zog die Beine an die Brust und schlang ihre Ärmchen darum.
„…James?“ Ihre schwache Stimme trug seinen Namen nicht weit. Sie zitterte. Jedes Rascheln der Bäume ließ sie zusammenfahren. Bella stand auf und lehnte sich an eine Tanne, wartete darauf, dass irgendetwas passierte.
Bis tatsächlich etwas passierte.
Sie seufzte tief, erleichtert, als sie James zwischen den Bäumen entdeckte. Freundlich lächelnd kam er auf sie zu. Er winkte. Isabella kam auf ihn zugelaufen, so schnell ihre kleinen Füße sie tragen konnten. Sie seufzte noch einmal vor Erleichterung. Dann hielt sie inne. Bella verdrehte leicht ihren Kopf und betrachtete genauestens sein Gesicht. Sie suchte und fand die Veränderungen: Ein kräftigeres Rot in seinen Augen, ein wenig Rot an seinen Mundwinkeln… „Ich glaube, ich habe deinen Jacob gefunden“, säuselte er und verschwand wieder zwischen den Tannen.
Unsicher trippelte Bella hinter ihm her, auch auf ihren Armen breitete sich nun die Gänsehaut aus. Sie blieb stehen. Ruckartig. Und schrie so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt, obwohl ihre Stimme in meinem Kopf war. Sie brüllte so laut sie konnte, während sie mit ihren kleinen Fäusten auf James‘ Rücken trommelte, der sich über den blassen - viel zu blassen – Jacob beugte und dessen Arm festhielt, in den er seine Zähne geschlagen hatte.
Bella brüllte, weinte und schrie ihn an. Kraftlos, mit lächerlichen Schlägen, wollte sie James dazu bringen, aufzuhören. Es tat weh, sie so zu sehen. Wie sie mit ansehen musste, wie ein sadistischer Vampir ihren besten Freund zu Tode folterte. Das war nicht gerecht. Das war einfach nicht gerecht. Sie hatte ihm doch nichts getan! Sie wollte doch nur verstecken spielen…

Kapitel 14

Jäger

Nach einer halben Ewigkeit, als Jacob leblos am Boden lag und James sich gesättigt, grinsend zu ihr drehte, wurde ihre Stimme heiser und verebbte mit unzähligen Schluchzern. Bella kauerte sich neben Jake zusammen und legte den Kopf auf seine reglose Brust. Wahrscheinlich verschaffte es dem Jäger Genugtuung, Bellas Trauer zu sehen. Ihre vom Weinen geröteten Augen und ihre Lippen, die sich stumm bewegten. Die vielen Tränen und Versuche, auf den Mörder einzuprügeln, hatten sie müde gemacht; ihr fielen die Augen zu. Doch ihre Lippen bewegten sich weiter. Sie formten ein „Jake“ und ein „es tut mir so leid“.
James sah sich dieses Schauspiel eine Zeit lang an, bevor er sich bemerkbar machte. Er tätschelte Bellas Schulter, als wollte er sie trösten. Sie rührte sich nicht. „So ein Jammer“, klagte James und verdrehte die Augen. Bella schlug seine Hand weg. Das machte ihn scheinbar wütend, denn er verzog das Gesicht und zeigte seine spitzen Zähne. „Du solltest lieber aufpassen, was du tust“, zischte er und packte ihren Kragen. James hob sie hoch und achtete nicht auf ihr Gebrüll. Eine Weile sah er amüsiert zu, wie sie um sich trat, ohne ihn zu treffen.
„Mörder!“, kreischte sie. James lachte.
„Winzling!“
Bella spuckte ihm ins Gesicht.
Die leuchtend roten Augen weiteten sich vor Zorn. Er schüttelte das Kind und ließ es dann fallen. „Das machst du nicht nochmal!“, bellte er. Bella schlang die Arme um ihren Körper, machte sich ganz klein. Er ging in die Hocke und lächelte plötzlich. „Wir wollen doch nicht, dass dir auch etwas passiert, nicht wahr?“ Bella reagierte, indem sie den Kopf einzog und zwischen ihren Ärmchen versteckte. James klopfte ihr wieder auf die Schulter. Sie schüttelte sich und schrie. „Dich gibt es doch gar nicht! Du müsstest im Fernseher sein! Du bist nicht echt!“
Sie atmete hektisch durch den Mund ein und aus, wobei ihr Körper zitterte. James hob einen Mundwinkel. „Schlaues Mädchen!“ Er packte ihr Gesicht mit beiden Händen und drehte es, bis sie in die Richtung starrte, in welcher Jacob lag. „Wie du siehst, hast du leider Unrecht, kleiner Besserwisser.“ Bella kniff die Augen zusammen. „Fass mich nicht an! Grins nicht so dreckig! Mörder!“ Mit voller Wucht, mit all ihrer lächerlichen Kraft, trat sie ihm in den Bauch. Ein Schrei. Stöhnend beugte sie sich vor und hielt ihren Fuß. „Aua“, wimmerte sie. Der Sadist zuckte nicht mal mit der Wimper.
Ich zog die Bettdecke, die Isabella freigestrampelt hatte, über ihren bebenden Körper.
James schlich um das Kind herum, ohne jedes Geräusch. „Buh!“, machte er plötzlich. Sofort zuckte sie zusammen und fing an zu weinen. „Kein Wort zu niemandem!“, befahl er. Bella schluchzte. „Zu niemandem!“, schärfte er ihr ein. Sie nickte mechanisch. „Gut“, lächelte er. „ Sehr gut. Sonst könnte es nämlich passieren, dass noch mehr Menschen verletzt werden. Das wollen wir doch nicht, oder?“ Er reckte das Kinn in die Luft und starrte sie an. Besessen, wahnsinnig. Wie ein Jäger. „Oder?“, fragte er lauter. Bella schüttelte den Kopf.
„Schön…“ Er rieb sich die Hände. Sein Gesichtsausdruck wechselte ständig von freundlich nach tödlich. „Ich überprüfe das“, drohte er. „Ich komme dich besuchen.“ Bella weinte lauter. „Ein falsches Wort…“ James griff sich theatralisch mit den Händen an die Kehle. Dann klopfte er ihr auf die Schulter. „Auf Wiedersehen“, verabschiedete er sich höflich, drehte sich um und ließ sie allein…
Ich erschrak, als Isabella meine Hand von der Decke schlug, sich auf den Bauch warf, das Gesicht auf das Kopfkissen presste und hinein schrie. Obwohl ihr Schrei von dem Stoff gedämpft wurde, war er lauter, verzweifelter und schmerzerfüllter als alles, was ich jemals gehört hatte - abgesehen von meinen eigenen Lauten während der Verwandlung. Bella krümmte sich und krallte die Hände so fest in das Kissen, dass ihre Knöchel sich weiß färben. Ich wich einige Schritte zurück, versuchte, das alles zu verarbeiten. Bellas Stimme verebbte langsam und verschwand im Kissen.
Sobald ihr Schrei ausgeklungen war, begann sie so heftig zu schluchzen, dass sie keine Zeit mehr hatte, um nach Luft zu schnappen. Sie riss den Kopf hoch und versuchte keuchend Sauerstoff zu bekommen. Ihr Körper wurde schrecklich geschüttelt. Sie sackte in sich zusammen und fiel vornüber auf das Kissen. Es fiel auf den Boden, aber sie schien es nicht zu bemerken. Stattdessen streckte sie Arme und Beine von sich und weinte. Eine Träne nach der anderen sickerte in das Laken.
Möglichst unauffällig bewegte ich mich und hob das Kissen vom Boden auf. Doch als ich es neben sie auf das Bett legen wollte, robbte sie hektisch an den Rand, sprang auf, rannte weg, ließ sich wieder fallen und rollte sich in einer Zimmerecke wie ein Igel zusammen. Sie drehte mir den Rücken zu, machte sich ganz klein. Ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust riss mich aus meiner Starre. Sie wollte allein sein, allein trauern. Sie wollte niemanden bei sich haben, während sie hemmungslos weinte. Schon gar nicht mich. Einen Jäger…
Ich verstand, dass ich gehen musste. Widerwillig bewegten sich meine Füße auf die Tür zu. Lautlos öffnete ich sie. Ich zögerte. Drehte mich noch einmal um. Bella hatte die Schultern hochgezogen und ihren verletzten Arm an ihre Brust gedrückt. Ihre Locken verdeckten ihr Gesicht. Meine Lippen öffneten sich, um ihr etwas mitzuteilen, das mir plötzlich wichtig war. Sehr wichtig.
„So bin ich nicht. Ich will dir niemals weh tun. Ich bin nicht wie er…“


Kapitel 15

Kakao

Lautlos schloss ich die Tür hinter mir. Ich ging einfach geradeaus, die Treppe hinunter, bis ich in einer kleinen Küche mir zitronengelben Schränken stand. Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und mein Gesicht in meine Hände sinken. Ich hätte das nicht hören sollen. Es war Bellas Leben, es ging mich nichts an. Ich hätte weder herkommen noch ihren Arm verbinden noch bleiben dürfen. Ich hatte nicht das Recht dazu. Und jetzt? Ich konnte doch nicht einfach gehen und sie allein lassen! Ich konnte sie nicht einfach ignorieren und so tun, als wüsste ich nicht, wie schlecht es ihr ging. Ein riesiger Kloß setzte sich in meinen Hals. Es ging ihr schlecht und ich konnte nichts tun, außer Alles zu verschlimmern. Ich war nun mal ein Monster…
Ich hatte die Wahl. Die erste Möglichkeit war: Ich ließ sie allein und ging ihr aus dem Weg, um sie nicht ständig an das zu erinnern, was ich war und was ich ihr antun könnte. Die zweite Möglichkeit… ich blieb bei ihr und versuchte, sie zu trösten. Irgendwie. Wenn ich etwas besaß, das man mit einem Gewissen vergleichen konnte, dann entschied es sich für die zweite Möglichkeit. Ich würde das Risiko eingehen, dass ich ihr noch mehr weh tat – ich wollte es versucht haben. Entschlossen dachte ich nach. Was tröstete einen Menschen? Erst viel mir nichts ein. Dann, nach fast einer Viertelstunde, hatte ich in meinem Kopf eine Liste zusammengestellt:
Kakao. Eine warme Decke. Eine Wärmflasche. Eine Umarmung.
Ich stand auf und suchte die Küche nach Kakaopulver ab. Nach einigen Versuchen hatte ich es gefunden. Ich erhitzte die Milch und machte mich auf den Weg ins Badezimmer, um nach einer Wärmflasche zu suchen. Praktischerweise lag sie in einem Eckschrank im Bad auf einer Wolldecke, die ich mir direkt unter den Arm klemmte. Schließlich saß ich wieder auf einem der Holzstühle; vor mir ein Becher stinkender Kakao und eine Wärmflasche, die ich nicht anfassen konnte, ohne mich zu verbrennen. Ich wickelte sie in die Decke und griff nach der Kakaotasse.
Als ich schließlich wieder vor Bellas Zimmertür stand, gestand ich mir ein, dass mein Plan eine Schnapsidee war. Aber welche Wahl hatte ich? Ich wollte es nur versuchen.
Mit einem Räuspern drückte ich die Türklinke nach unten.
Bella lag noch immer zusammengekauert in derselben Ecke wie vor fast einer halben Stunde. Ab und zu, wenn sie atmete, was nicht allzu regelmäßig passierte, bewegten sich ihre Schultern. Sie saß mit dem Rücken zu mir und schien mich nicht zu bemerken. Eine Weile stand ich im Raum und zögerte, bevor ich mich im Schneidersitz so neben sie setzte, dass sie mich sehen musste. Erschrocken legte ich alles, was ich in der Hand hatte, beiseite und packte ihr Handgelenk. Sie hatte den Verband halb von ihrem Arm abgewickelt und fuhr - so gleichmäßig wie ein Roboter - mit den Fingernägeln über ihre Wunden, riss sie auf.
Entsetzt zog ich ihre gesunde Hand von ihrem Arm. Vielleicht bemerkte sie mich erst jetzt - zum ersten Mal, seit ich zurückgekommen war, sah sie mich an. Sie schien wütend zu sein. Ihre Hand zuckte und wollte sich befreien, aber ich war stärker. Bellas Blick wurde glasig. Anstatt sie zu befreien und wieder kratzen zu lassen, drückte ich ihr die Kakaotasse in die kalte Hand. Von der Hitze erschrocken ließ sie beinahe die Tasse fallen, doch ich hielt sie fest. Benommen sah sie den Kakao an. Als hätte ich Gift hineingeschüttet.
„Trink“, ermunterte ich sie. Ihr Kopf bewegte sich in meine Richtung; aus den Augenwinkeln beobachtete sie mich. Sie rückte ein Stück von mir ab, nahm mir den Kakao aus der Hand und roch misstrauisch daran. Ich achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen und den Abstand, den sie zwischen uns gebracht hatte, einzuhalten. Sie sollte sich nicht bedrängt fühlen. Langsam begann sie zu trinken, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich lächelte ihr zu. Zwar war das, was ihr Gesicht jetzt zeigte, kein Lächeln, aber sie wirkte nicht mehr misstrauisch. Das freute mich so sehr, dass ich noch breiter lächelte.
Betont langsam, um sie nicht zu erschrecken, schob ich ihr die Wärmflasche zu. Erstaunt blickte sie mich an. Dann die Wärmflasche, die die Form eines Kaninchens hatte. Plötzlich begann der Kakaobecher in ihrer Hand zu zittern. Nein, ihr ganzer Körper begann zu zittern. Tränen schossen ihr in die Augen. Ohoh, nein, bitte nicht! Was hatte ich falsch gemacht? „Bella?“ Sie ließ den Kopf hängen und bebte. „Habe ich was falsch gemacht?“ Noch verwunderter als vorhin schaute sie mich an und schüttelte den Kopf. Erleichterung machte sich in mir breit. „Sicher?“, hakte ich nach. Sie nickte stockend.
Ich gab mir keine Zeit, nachzudenken oder eine Pause zu machen. Ich faltete die Wolldecke auseinander und zögerte. Ausdrucklos verfolgte Bella mein Handeln. „Darf ich?“, fragte ich, während ich die Decke hochhielt. Angespannt wartete ich. Vielleicht war das alles zu viel für sie. Vielleicht sollte ich einfach aufgeben. Ich schluckte. Im selben Moment bewegte sich Bella Kopf zaghaft. Ich interpretierte diese Bewegung als ein Nicken. Noch immer sehr zögerlich setzte ich mich hinter ihren Rücken und hängte ihr die Decke um die Schulter. Anschließend drückte die Wärmflasche an ihrem Bauch und schlang meine Arme darum, wobei ich versuchte zu ignorieren, wie verflucht heiß das Wasser war.
Nun waren meine Beine, Arme und mein Körper nahezu wie ein Käfig um sie. Ich wartete darauf, dass sie in Panik versuchte, sich loszumachen oder um sich zu schlagen, aber das passierte nicht. Stattdessen stellte sie die leere Kakaotasse ab und legte die Hände in ihren Schoß. Ich befreite meine Hand von der Wärmflasche, wickelte den Verband wieder fest um ihren Arm und legte meine Hand mit der Innenseite nach oben neben ihre. Bella betrachtete sie lange.
„Es ist nur ein Angebot“, flüsterte ich. Ich traute mich nicht, mich zu bewegen. „Du musst es nicht annehmen“, erklärte ich sanft. Ich legte meinen Kopf auf ihre Schulter und summte irgendein Lied. Da streckten sich ihre kleinen Finger aus und legten sich in meine Hand, die sich, als hätte sie einen bestimmten Knopf gedrückt, sofort um ihre Finger schloss. Ich lächelte. Sie nahm das Angebot an.
„Okay“, murmelte ich. Sie atmete zittrig ein und aus und wollte sich mit ihrer freien Hand beschämt über das nasse Gesicht wischen. Ich hielt sie auf, drückte sie auf die Wärmflasche und strich ihr erst eine warme Träne von der Wange. Als sie sich nicht wehrte, strich ich auch jede weitere Träne aus ihrem Augenwinkel, bis sie versiegten. Bella legte den Kopf an meine Brust und wirkte beinahe entspannt. So verharrten wir lange. Bis Bellas Atem regelmäßig aus ihrem Mund strömte und ihr Körper sich schwer gegen meinen lehnte.
Sie war eingeschlafen.

Kapitel 16

Müde

Ihr Schlaf war nicht friedlich. Unruhig bewegte sie sich, drehte sich mehrmals in meinen Armen und krümmte sich leicht. Bilder tauchten in ihrem Kopf auf. Jacob… James… Blut… Nein, das sollte sie nicht noch einmal sehen! Ich packte ihre Schultern mit meinen Händen, schüttelte Bella wie ein Wahnsinniger. Sie sollte aufwachen, sie sollte das nicht noch einmal sehen müssen, nicht noch einmal…
Mit einem lauten Keuchen schreckte Bella aus ihrem Albtraum und presste sich die Hände auf den Mund. Ihre weit aufgerissenen Augen waren feucht. Ihre Schultern fielen in sich zusammen, machten sie noch verletzlicher, als sie eh schon war. Vorsichtig berührte ich ihre Hand. „Es tut mir leid“, flüsterte ich beschämt, obwohl ich nicht wusste, was genau ich meinte. Es tat mir leid, was ich war… dass unsere Art überhaupt existierte… dass sie traurig war... Bella schüttelte den Kopf.
*Danke…*
Erschrocken darüber, ein Wort in ihrem Kopf gehört zu haben, ließ ich sie los. Sie zog den Kopf ein und drehte sich unsicher zu mir um, betrachtete mein Gesicht und meine Hand, die durch meine Haare fuhr, während ich verzweifelt seufzte. Ihre Lippen zitterten. *Edward… sauer?* Überrascht sah ich sie an. „Sauer?“, wiederholte ich. Bella starrte auf den Boden und verwehrte mir den Blick in ihre Augen, bis ich meine Hand unter ihr Kinn legte und ihren Kopf anhob. „Wieso sollte ich sauer sein?“ Ihr Blick huschte von links nach rechts, wollte mir ausweichen. Sie zuckte mit den Schultern.
„Bella“, klagte ich. Gerade hatte ich sie hören können - und nun war alles vorbei? Ihr Blick blieb vorsichtig an meinem hängen. Ich konnte an meiner Hand spüren, wie sie schluckte. *James…*, stießen ihre Gedanken hervor. Ich nahm ihren hämmernden Puls wahr. *Vielleicht… kennst du ihn?* Angst machte sich in ihrem und meinem Kopf breit. Ich entließ ihr Gesicht aus dem unnachgiebigen Griff meiner Hand. Ich war… traurig. Sie dachte, ich wäre ein Monster. Natürlich, ich war ein Monster. Aber nicht solch ein Monster.
„Ich kenne ihn nicht“, presste ich zwischen meinen Zähnen hervor. Sie nickte geistesabwesend und senkte den Kopf. Ich seufzte. „Bella, ich kenne ihn nicht, ich habe nichts mit ihm zu tun, nur weil ich…“ …weil ich auch ein Monster war? Weil ich ihr weh tun könnte? *Weil…?*, fragte sie und sah mich mit ihren ausdruckslosen Augen an. „Weil… wir von derselben Art sind“, sagte ich leise und sah sie schlucken. „Nun, nicht ganz“, schränkte ich schnell ein. Sie riss ihre Augen noch weiter auf. Konnte sie es verkraften, die Wahrheit zu hören?
*Weil…?*, fragte sie wieder. Ich massierte meinen Nasenrücken. Wenigstens ich musste mich unter Kontrolle haben. Einatmen. Ausatmen. „Ich jage keine Menschen.“ Da war er, der gefährliche Satz. Voller Angst, Bella vollends vernichtet zu haben, wartete ich. Sie blinzelte. *Weil…?* Sie regte sich nicht, weder ihr Herzschlag noch ihre Atmung veränderte sich. Sie schien unbeeindruckt zu sein. Hoffnung. Ich überlegte genau – warum jagte ich keine Menschen? Ich wusste es, aber wie sollte ich ihr das erklären? Bellas Blick gab mir die Antwort: Einfach aussprechen und hoffen. Ich räusperte mich.
„Ich möchte… kein Monster sein.“ Dieser Satz schien sie mehr durcheinander zu bringen als alles, was ich zuvor gesagt hatte. Sie machte riesige Augen und schüttelte den Kopf. *Edward… kein Monster!*, protestierte sie und sprang auf. „Danke“, erwiderte ich perplex, aber erleichtert. Sie sah mich nicht als Monster an. Als was dann?, fragte ich mich. Bella schaute stumm aus dem Fenster, schaute der Sonne beim Aufgehen zu. War schon so viel Zeit vergangen? Ich richtete mich auf und stellte mich hinter sie. Sie tat so, als würde sie mich nicht bemerken, doch die feinen Härchen in ihrem Nacken, die sich aufstellen, verrieten sie.
„Hast du Angst?“, fragte ich vorsichtig. Natürlich hatte sie Angst – ihre Instinkte warnten sie. Doch sie ignorierte ihre Instinkte und schüttelte den Kopf. Konnte ich mir sicher sein? Ich legte meine Arme um sie und schämte mich gleichzeitig dafür, dass ich ihre Grenzen austestete. Aber das war doch wichtig, wenn ich sie beschützen und trösten wollte, oder nicht? Ich entschied, das Denken einfach einzustellen und nur auf ihre Reaktionen zu achten. Ein leicht erhöhter Puls, zittriger Atem, Gänsehaut.
Ich vertraute darauf, dass sie es mir gestehen würde, wenn es zu viel war. Wenn meine Nähe ihr Unwohlsein bereitete. Doch sie rührte sich nicht, schwieg nur und schloss die Augen. So verharrten wir, bis die ersten Sonnenstrahlen Bella in ihr herzförmiges Gesicht schienen. Sie seufzte aus einem Grund, den ich nicht finden konnte. „Es ist schon hell…“, murmelte ich, traute mich kaum, die angenehme Stille mit meiner Stimme zu zerstören. Bella legte den Kopf an meine Schulter, öffnete die Augen; scheinbar orientierungslos wanderte ihr Blick umher und blieb an meinem Unterarm hängen. Bunte Lichter tanzten darauf.
Ihre Lippen formten ein überraschtes Oh. Neugierig fuhren ihre Fingerkuppen über die kleinen glitzernden Regenbögen. Die Sonne schien – ich verwandelte mich in eine Diskokugel. *Diamant…*, hauchte Bella, gefangen in Gedanken. Sie drehte sich zu mir um, ihre Augen leuchteten beinahe. Sie waren heller, und ihre Lippen versuchten zu lächeln. Etwas krampfte sich in meinem Magen zusammen, als Bellas Blicke staunend über meinen Körper huschten und schließlich an meinem Gesicht stoppten. Hoch konzentriert berührte ihr Zeigefinger meine schimmernde Wange.
„Du bleibst. Du läufst nicht weg“, stellte ich fest. Bella ließ ihre Hand sinken. „Du müsstest weglaufen. Deine Instinkte warnen dich…“ Sie bemühte sich nicht, aus dem Gefängnis meiner starken Arme auszubrechen. Im Gegenteil – sie lehnte den Kopf an meine Brust, als würde sie das bereits seit Jahren tun. Als wäre es richtig. Dabei war es falsch, unvernünftig und gefährlich. Doch auf der anderen Seite… gab es ihr vielleicht Halt. Wie konnte es dann falsch sein? Was sprach dagegen, dass ich ein wenig auf sie aufpasste und ihren Beschützer spielte?
Ein Platschen riss uns aus unseren Gedanken. Regentropfen prasselten gegen das Fenster und verscheuchten die Sonnenstrahlen. Enttäuscht strich Bellas Hand über meinen nun wieder weißen Arm. Sie schien nichts mehr für unmöglich zu halten; nicht mal ein Wesen, das in der Sonne glitzerte. Der zufällige Blick auf die Uhr, die neben dem Fenster hing, erschreckte mich. „Schon so spät! Bella, wir müssen in die Schule!“ Sie grummelte etwas Unverständliches in mein Hemd. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und löste es von meiner Brust.
„Schule, Bella“, wiederholte ich. „Mr. Banner wird nicht begeistert sein, wenn wir noch einmal zu spät in seinem Unterricht auftauchen.“ Ich wollte lachen. Wen interessierte schon dieser gehässige Biologie-Lehrer… Bella zuckte bloß mit den Schultern, schlang sich die Wolldecke um die Schultern und tapste barfuß auf den Flur. Dort drehte sie sich in meine Richtung und wartete darauf, dass ich ihr folgte. Sie führte mich in die Küche, die mir mittlerweile vertraut war, und bereitete ihr Frühstück vor. Lächelnd holte ich die Dose mit dem Kakaopulver aus dem Eckschrank und reichte sie Bella;
ihre Wangen verfärbten sich rötlich, als sie die Dose entgegennahm. Hastig schüttete sie das Pulver in ihre Tasse, rührte so, dass die Hälfte des Getränks auf den Küchentisch schwappte. Ihre Lippen bebten. Sie ließ sich ohne Widerstand den Löffel aus der zitternden Hand nehmen. Dann war es vorüber. Keine Tränen. Sie aß ganz sehr konzentriert ihr Müsli und verbrannte sich die Zunge am Kakao. Seufzte. Was auch immer das gerade gewesen war – ich konnte es nicht erraten – beschäftigte mich. Ich wollte gerne wissen, was in ihr vorging und es verstehen. Trotzdem-
„Ich warte draußen auf dich, in Ordnung?“, fragte ich möglichst sanft. Ich war durcheinander, musste nachdenken. Es war einfach alles zu viel auf einmal. Bella nickte und schaute mich an, ohne Unterbrechung, bis ich ging und die Haustür zufallen ließ.

Kapitel 17

Ungerecht

Die Zeit, die Bella brauchte, um sich fertig zu machen, war zu kurz um nachzudenken - viel zu kurz. Sie lief und stolperte an mir vorbei zu ihrem rostroten Auto. Ein Chevy. Reif für die Schrottpresse. Bella sank auf den Fahrersitz und klopfte mit der Hand auf den Sitz neben ihr.
„Vergiss es“, grinste ich, und ehe sie protestieren konnte, saß sie schon auf dem Beifahrersitz. Verdutzt sah mich an, mich, der auf ihrem Platz saß. „Meine Bewegungen sind zu schnell für deine Augen“, klärte ich sie auf. Dann, als sie die Unterlippe vorschob und schmollte: „Denkst du, ich lasse dich in deinem Zustand fahren?“ Sie schnappte nach Luft und wandte ihr Gesicht zum Fenster. Ich fischte den Autoschlüssel aus ihrer – schwarzen – Jackentasche und startete den Motor, der gefährlich dröhnte. Bella schien das zu überhören.
„Hey…“, flüsterte ich und berührte ihre Schulter. Bella zuckte zusammen. *Mein… Zustand?“, fragte sie und drehte ihren Kopf leicht in meine Richtung. Weit genug, dass ich ihr gekränktes Gesicht sehen konnte. Ich verfluchte mich. Ich konnte nichts tun, außer sie zu verletzen, immer wieder. „Dein Zustand… nun… du bist… durcheinander.“ Bella schlang sich die Arme um den zitternden Körper und beobachtete die vorbeirauschenden Bäume. Kleine erstickte Laute ertönten aus ihrem Mund. Mit einem Ruck kam der Transporter zum stehen, als ich auf das Bremspedal drückte.
„Wen interessiert schon Mr. Banner? Seine Wut auszuhalten ist nichts gegen…“ Schnell biss ich mir auf die Zunge. Ich war ein Idiot. Ich war ein Monster. Wegen mir fing Bella zum x-ten Mal an, bitterlich zu weinen. Umso mehr erstaunte es mich, dass sie ihr tränennasses Gesicht an meinen Arm drückte und sich daran festhielt. Ich schluckte und wartete. „Es tut mir leid“, versprach ich voller Reue. „Es tut mir so leid…. so leid…“ Bei diesen Worten begann sie heftig zu schluchzen und nach Luft zu ringen. Ich ballte eine Hand zur Faust, die andere legte ich auf ihr Haar.
War ich überhaupt in der Lage, etwas anderes zu tun, als dieses Mädchen zum Weinen zu bringen? Warum konnte ich nicht meinen Mund halten. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Arm aus, von der Stelle, an der Bellas Tränen durch mein Hemd gesickert waren und auf meine Haut trafen. Sie fühlten sich an wie heiße Nadelstiche. Nein, nicht wie Nadelstiche. Die Wärme war angenehm. Ich schämte mich augenblicklich für meine Gedanken; dafür, dass ich Bellas Tränen für einen winzigen Moment als wohltuend empfunden hatte. Ich war nicht weniger sadistisch als dieser Mörder…
Bella beruhigte sich allmählich, ließ aber meinen Arm nicht los. Als sie mich ansah, waren ihre Augen rot und geschwollen und voller Scham. *Edward… so lieb…* Sie versteckte ihr Gesicht wieder an meinem Arm. *Entschuldigung…* Ich stöhnte. „Nein, da gibt es nichts zu entschuldigen!“, sagte ich hart; ein Zucken durchfuhr ihren Körper und sie machte sich klein. Ich seufzte. „Ich habe dir weh getan. Dafür gibt es keine Rechtfertigung.“ Die Hand auf ihrem Haar bewegte sich, strich tröstend darüber. „Wofür entschuldigst du dich? Du bist nur menschlich, Bella. Ich habe dich verletzt, deshalb musstest du weinen. Ich bin derjenige, der um Verzeihung bitten muss…“
Ich dachte, sie würde mich von sich stoßen. Stattdessen klammerte sie sich fest an meinen Arm und rieb ihre Wange daran. Hieß das, sie hatte mir verziehen? Bella murmelte in ihrem Kopf etwas von *Edward…* und *Müssen zur Schule…* Also fuhr ich weiter, nur mit der linken Hand am Steuer, damit sie mich nicht loslassen musste.

***
„Ah, sehr schön“, bemerkte Mr. Banner sarkastisch. „Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen. Ich nehme an, Miss Swan ist mit Ihnen hier?“ Bella lugte unsicher hinter meinem Rücken hervor, ehe sie einen zögerlichen Schritt machte und neben mir stand. „Sehr schön“, wiederholte er. Diesmal noch angesäuerter. *Warum stecken sie das Mädchen nicht in die Psychiatrie? Da wäre es eindeutig besser aufgehoben. Dieses Mädchen ist doch verrückt. Ich frage mich, was sie in der Klapse mit ihr machen würden. Wegsperren? Haha…*
Rasend vor Wut fegte ich mit einer unmenschlichen Bewegung alle Blätter vom Pult. Mr. Banner fluchte laut vor sich hin, während ich Bella zu unserem Tisch zog und schockiert versuchte, diese Gedanken zu vergessen. Bella sollte nicht weggesperrt werden. Niemals. Sie hatte doch niemandem etwas getan, sie konnte doch bloß nicht sprechen, weil… sie Angst hatte. Es war nicht ihre Schuld. Von der Seite sah ich sie an, ihr Gesicht verriet nichts, absolut gar nichts. Es war dieselbe Maske wie am Vortag. Die Maske, die sie für eine Nacht hatte fallen lassen.
Ich schluckte. Ich hatte etwas gesehen, von dem außer uns niemand etwas wusste und von dem niemand etwas erfahren durfte. Mir wurde – etwas verspätet – bewusst, dass ich sie in den Arm genommen hatte, obwohl es mir nicht zustand. Genau genommen kannte ich Bella nicht. Jedoch… zumindest kannte ich sie mehr als alle anderen. Ich wusste, was ihr Schmerzen bereitete. Aber das gab mir noch lange nicht das Recht, sie anzufassen, sie so zu berühren wie eine ihr vertraute Person es tun würde…
Ich schluckte ein zweites Mal. Vielleicht gab niemanden, dem sie vertraute, niemanden der sie so berührte, wie Menschen es sich wünschten, um glücklich zu sein. Ein Jahrhundert lang hatte ich die Gedanken der Menschen gehört, und es gab nicht einen, der sich nicht danach sehnte, berührt zu werden. Umarmt zu werden. Gemocht zu werden. Vielleicht war ich der Einzige, der ihr ein wenig Vertrauen und Verständnis bieten konnte. Ich wollte es versuchen, wollte auf sie aufpassen. Was konnte schlimmstenfalls passieren? Sie könnte mich von sich stoßen, Angst vor mir haben und mich nicht sehen wollen. Ich würde das akzeptieren.
Ein leises Rascheln in meiner direkten Umgebung irritierte mich. Bellas Kopf fiel auf den Tisch, ihre Haare knisterten auf dem Papier, sie kämpfte damit, ihre Augen offen zu halten. Es gelang ihr nicht gut – immer öfter flatterten ihre Lider. Ihre Hand auf dem Tisch drehte einen Kugelschreiber hin und her, um ihre Augen zu beschäftigen. Nach einer Weile legte sie ihn beiseite. Schüchtern tasteten ihre Finger sich vor und berührten kurz meine Hand. Sie errötete; Wärme kitzelte auf meiner Haut. Betont langsam kehrte ich meine Handfläche nach oben und lächelte sie an. Sie sah es nicht, konzentrierte sich nur auf unsere Hände. Ihr Zeigefinger malte Kreise auf meinen Handteller.
Meine Finger schlossen sich um ihre. Da endlich blickte sie mich an und konnte mein Lächeln sehen. Wenig später schon senkten sich ihre Lider. Es fiel mir schwer, ihre Müdigkeit nachzuvollziehen, schließlich hatte ich seit mehr als hundert Jahren nicht mehr geschlafen. Trotzdem konnte ich es mir schwach ausmalen. Sie hatte kaum eine Stunde geschlafen, was für einen Menschen mehr als zu wenig war. Dabei war es nicht ihre Schuld, und schon wieder wurde ich traurig. Ich wollte nicht, dass sie litt. Niemand hatte das verdient...
„Sie schreiben neuerdings mit Links, Mr. Cullen?“ Ich funkelte den Lehrer an, er starrte zurück. Was fiel ihm ein? Das allgemeine Gekicher um mich herum machte mich noch wütender. Sie alle sollten sich um ihre eigenen Probleme kümmern! Sie wussten nichts, sie hatten nicht das Recht, sich darüber lustig zu machen, dass Bella schlief und etwas brauchte, an dem sie sich festhalten konnte, etwas, das ihr ein wenig Sicherheit gab. Das war nicht gerecht…
„Ja“, antwortete ich knapp. Mr. Banner würde es nicht schaffen, mich zu provozieren.
„Wie schön. Da Sie schon so rührend mit ihrer Nachbarin Händchen halten, können Sie ihr auch direkt mitteilen, dass sie morgen nachsitzen wird.“
Ich knurrte. „Warum?“
Der ungerechte, hämische Mensch sah mich an, als wäre ich verrückt geworden. „Zweimal zu spät kommen innerhalb von vierundzwanzig Stunden, außerdem null Beteiligung und Schlafen im Unterricht. Noch was?“
Ich musste mich beherrschen, meinen Zorn herunterzuschlucken. Ich wollte ihn anschreien, ihn und alle anderen, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu glotzen, zu kichern und schadenfroh zu sein.

Kapitel 18

Trost

Ich versuchte, die Wut in meinem Bauch zu unterdrücken und ließ Bella schlafen. Solange sie keine Albträume bekam, so sollte sie wenigstens ein paar Minuten Schlaf nachholen. Währenddessen warf ich tödliche Blicke in den Raum. Mike Newton bekam den grimmigsten Blick für seinen Gedanken, dass Bella gestört war. Sie war hilflos, nicht gestört. Ich hasste ihn.
Pünktlich mit dem Gong begannen Bellas Wimpern zu zucken. Sie musste wach sein, denn ihr Herzschlag veränderte sich leicht. Doch sie machte keine Anstalten, die Augen aufzuschlagen.
„Guten Morgen“, flüsterte ich. Hitze und Röte schossen in ihre Wangen. Erstaunlich schnell war sie aufgestanden, hatte ihre Tasche gepackt und stand – noch immer hochrot im Gesicht – vor unserem Tisch.
„Ertappt“, lächelte ich, stand ebenfalls auf und schob sie so schnell und unauffällig wie möglich an Mr. Banner vorbei. Er würde sie nicht noch einmal demütigen. „Swan! 16 Uhr 30!“, rief er uns noch hinterher und fluchte. „Du musst morgen nachsitzen“, verriet ich ihr, sobald wir auf dem Flur standen. Sie nickte, lief geradeaus, als würde ihr das nichts ausmachen. Als hätte sie das erwartet. Ihre Teilnahmslosigkeit ließ mich verstummen. Es war so schrecklich, dass ihr alles egal war. Dass Bella an ihrem eigenen Leben nicht mehr teilnahm.
„Macht dir das gar nichts aus?“, fragte ich. Sie zuckte nur mit den Schultern. Ich beließ es dabei und schwieg. Wir betraten die Cafeteria; aus Gewohnheit ging ich auf den Tisch zu, an dem meine Geschwister saßen. Ich drehte mich um und lächelte. Bella lief hinter mir her wie ein treuer Hund. Ich nahm ihre warme Hand und führte sie durch die Cafeteria. Mit giftigen Blicken begrüßte Rosalie uns. Ich beachtete sie nicht und bot Bella meinen Stuhl an, denn es gab nur fünf an unserem Tisch. Bella zögerte. Erst, als ich sanft ihre Schulter nach unten drückte, setzte sie sich auf die Kante des letzten freien Stuhls und kaute auf ihrer Unterlippe.
„Hey“, lächelte ich. „Ich sitze den ganzen Tag im Unterricht. Stehen tut gut!“ Vorsichtig sah sie mich an, ich lächelte immer noch. Jasper betrachtete mich misstrauisch. „Alice, ist alles in Ordnung mit ihm?“, flüsterte er. Alice zuckte mit den Schultern. „Nein. Ich denke nicht.“ „Das kannst du laut sagen!“, fauchte Rosalie so laut, dass Bella es hören konnte. „Er ist ein Esel!“ Verwirrt schwankte Bellas Blick zwischen Rose und mir hin und her. „Emmett, sag doch auch mal was!“, beschwerte sich Rose und sah ihren Mann eindringlich an. „Er ist verrückt, oder nicht?“
„Er ist witzig“, widersprach Emmett und lachte dröhnend. Bella zuckte erschrocken zusammen. Wütend wandte ich mich von meinen Geschwistern ab und hielt Bella meine Hand hin. „Komm, wir gehen.“ Sie wirkte überrascht, sah meine Hand erst lange an, bevor sie sie ergriff und aufstand. Ich ließ ihr keine Zeit, sich noch mehr zu wundern, und führte sie durch die lärmende Menge wieder nach draußen. Warum konnte ich mich nicht um sie kümmern? Was war daran so falsch, so außergewöhnlich? Gut, es war nicht mein übliches Verhalten, dass ich mich um Menschenmädchen kümmerte, die Hilfe brauchten, aber ich konnte sie doch nicht ignorieren!
Langsam ging ich neben Bella über den eisigen, verschneiten Boden und hing meinen Gedanken nach, sodass ich erst nicht bemerkte, dass Bella mich musterte. Sie zog an meinem Ärmel und kam zum Stehen. Ihre tiefen Augen waren voller Fragen. Das dunkle Braun, in das ich schaute, verwirrte mich noch mehr und brachte mich dazu, ihr auf die unausgesprochenen Fragen zu antworten, die ich in ihrem Gesicht lesen konnte.
„Meine Geschwister halten mich für verrückt. Es ist nicht normal, dass ich irgendetwas mit einem Menschen zu tun habe. Es ist… nicht richtig.“ Ich war überwältigt von meiner Entdeckung, dass ich in ihren Augen lesen konnte. Trauer stand in ihnen geschrieben. Sie ließ meine Hand los und senkte den Kopf. Sofort griff ich wieder nach ihrer Hand. „So war das nicht gemeint… Es ist mir egal, ob es richtig ist“, erklärte ich und schluckte. Es musste richtig sein, dass ich auf sie aufpasste. Jemand könnte ihr wieder weh tun wollen, und wenn das passierte, musste ich da sein.
Ich drückte tröstend ihre warme, kleine Hand und hob sie vor mein Gesicht, um sie genauer zu betrachten. Bella streckte ihre Finger und legte sie an meine. Meine Hand schien, verglichen mit ihrer, riesig zu sein. „Ich Tarzan, du Jane“, gluckste ich. Bellas Mundwinkel zuckten und ich staunte. „Lächelst du?“, fragte ich leise. Sie schüttelte den Kopf. Nickte dann zögerlich. Lehnte den Kopf an meine Brust.
„Das ist schön“, flüsterte ich, obwohl es keinen Grund dazu gab, leise zu sein. Ich hatte einfach das Gefühl, jedes laute Wort könnte Bella zerstören. Ich legte mein Kinn auf ihren Kopf, spürte das angenehme Brennen ihrer Wärme fast direkt an meiner Haut, und ließ meinen Blick durch die Gegend schweifen. Ich ignorierte das Glotzen der wenigen Schüler, die sich bei diesem Wetter im Freien aufhielten. Sollten sie uns doch angaffen. Es war egal. Sie konnten sich einfach nicht daran gewöhnen, dass Edward Cullen, der Einzelgänger, ein Mädchen umarmte. Dass er ausgerechnet das seltsame Mädchen, das nicht sprach, umarmte.
Plötzlich kam es mir richtig und gut vor. Wir waren beide einsam. Was war falsch daran, dass wir uns Trost spendeten? Nichts. Ich stutzte. Sie spendete mir Trost. Sie mir. Ja. Sie tröstete mich. Egal wie sie es machte. Es war eine Tatsache. Ich lächelte in mich hinein, meine Augen wurden kleiner. Eine Reihe von Bäumen schlich sich in mein Blickfeld. Dieses Bild weckte Erinnerungen in mir, grausame Erinnerungen. Bella, frierend, im Schnee. Halb erfroren, vollkommen regungslos. Vollkommen hilflos. Ich schnappte nach Luft.
„Da vorne hast du gelegen“, entwich es mir. Bella drehte den Kopf, ohne mich loszulassen. „Dort unter den Fichten. Im Schnee…“ Ich schloss die Augen, wollte mich nicht daran erinnern. „Warum bist du nicht aufgestanden?“, wollte ich wissen, auch wenn es schmerzte. Ich konnte nicht glauben, dass sie einfach liegen geblieben war. „Bella… warum bist du nicht aufgestanden?“ Meine Stimme wurde lauter und zitterte. „Du hättest erfrieren können! Erfrieren! Warum bist du nicht aufgestanden?“ Bellas Herz hatte unregelmäßige Aussetzer.
*Wollte nicht…*, hauchte sie. Ihre Stimme klang müde. *Wollte liegen bleiben…* Sie wimmerte und schlang ihre Arme um meinen Bauch. Ganz fest hielt sie mich. Ich vergrub meine Hände in ihrem Haar, brauchte ebenfalls etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Der Schulgong ertönte. „Warum?“, fragte ich verzweifelt. Was, wenn ich sie nicht gefunden hätte? Wenn sie erfroren wäre? *Wollte einschlafen…* Sie krallte ihre Finger in mein Hemd.
„Du darfst nicht einschlafen. Nicht für immer. Niemals“, erwiderte ich entsetzt. Sie hob den Kopf und lächelte müde. Ihre Augen waren jetzt so nahe, dass ich alles in ihnen sehen konnte: Einsamkeit, Trauer, Angst. Ich lehnte meine Stirn an ihre. „Ich wünschte, ich könnte das auch. Einschlafen. Aber es geht nicht. Ich bin verdammt.“ Es war unmöglich, ihrem Blick auszuweichen, der so etwas wie Verständnis und Mitgefühl zeigte. Für einen kurzen Augenblick wurde er lebhaft und weich.
„Versprich mir, dass du nicht noch einmal versuchst, einzuschlafen. Bitte versprich es mir.“ Beschwörend sah ich ihr in die Augen und löste meine Hände aus ihrem Haar, um mit ihnen ihr Gesicht umrahmen zu können. *Warum?*, fragte sie atemlos. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. Vor Kälte? Vor Angst? „Bitte. Für mich. Bitte.“ Es war lächerlich. Wieso sollte sie das für mich tun? Wieso sollte sie sich quälen, für mich? Warum wollte ich das unbedingt?
*Edward…* Ihre Stimme wurde weinerlich. Vielleicht hatte sie wirklich Angst, vielleicht tat ich ihr gerade weh! Ich ließ meine Hände von ihrem Gesicht fallen, hielt aber ihr Handgelenk fest. „Was ist mit dir? Was tut dir weh?“, fragte ich sanft. Sie schüttelte nur den Kopf. *Edward… mag mich?* Einen Moment lang, einen winzigen Augenblick, einen Wimpernschlag, blieb ihr Herz stehen. Dann begann es zu rasen. Das dumpfe „Bumm“ hatte etwas Beruhigendes, Friedliches. Es stand im Gegensatz zu dem schrillen Gong, der nun zum zweiten Mal ertönte.
„Bitte, bitte, Kleines, versprich es mir.“ Ihre Pupillen weiteten sich. Oh. Ich hatte sie Kleines genannt. Bella schloss die Augen und seufzte leise. *Okay…* Ich war überwältigt. Sie hatte es mir versprochen. Mir. Demjenigen, den sie hassen müsste, für das, was er war.
„Du solltest jetzt vielleicht besser zu deiner nächsten Stunde gehen…“, erinnerte ich sie. „Zu viele Fehlstunden sind nicht gut.“ Ich lachte leise. Wieder huschte ein leichtes Lächeln über ihren Mund und faszinierte mich. Sie drehte sich um und ging ein paar Schritte, wandte sich aber wieder in meine Richtung. Ihr Blick, der sich schlagartig verändert hatte, verunsicherte mich.
*Edward…* Sie hatte etwas auf dem Herzen, doch ich konnte nicht erraten, was. Sie kam zu mir zurück und beugte sich vor, bis ihre Stirn noch einmal meine berührte.
*Kommst du? Kommst du wieder? Heute Nacht?*
Ich wollte ihre Gefühle in ihren Augen ablesen, doch sie waren geschlossen.
„Möchtest du das?“, murmelte ich. Sie nickte.
„In Ordnung…“ Ich lächelte.
„…Kleines.“


Kapitel 19

Gespräche


Noch lange nach Schulschluss wartete ich auf dem Hof, doch ich konnte Bella nirgendwo entdecken. Beinahe enttäuscht ging ich zu meinen wartenden Geschwistern, die bereits im Auto warteten, und bewegte den Volvo vom Parkplatz. Ich konnte es kaum abwarten, in Carlisles Bibliothek nach Büchern zu suchen, von denen ich mir erhoffte, sie würden mir weiterhelfen.
„Du bist leichtsinnig.“ Tintenschwarze Haare tauchten neben meinem Kopf auf, als Alice sich über meinen Sitz beugte. Ich ignorierte sie. Alice sagt nichts weiter und sah auf die Straße. „Seit wann interessieren dich Menschen?“, fragte Emmett irgendwann. Er boxte mir gegen die Schulter und lachte. „Seit ich mehr über sie weiß, als gut für uns ist“, erwiderte ich schroff und drückte das Gaspedal durch. Ich drehte mich zu Alice und Rosalie um und blickte ihnen fest in die Augen.
„Sie weiß, was wir sind, aber sie würde es niemals jemandem verraten. Das kann sie nicht.“ Rose schnaubte und sah aus dem Fenster. Alice schob grübelnd ihre schmalen Augenbrauen zusammen. Jasper, der bis dahin nicht ein Wort gesagt hatte, überraschte mich. „Es wird schon stimmen“, wandte er sich zuversichtlich an seine Frau. Allesamt beäugten wir ihn mit Verwunderung. „Woher willst du das wissen?“, fragte ich ihn und richtete meinen Blick wieder auf die Straße. Jasper klang ernst und diplomatisch, als er zu seiner Erklärung ansetzte.
„Nun, ihre Gefühle sind wirklich sehr aufschlussreich. Zum einem ist da diese Angst vor allem, das ihren Weg kreuzt. Sie fühlt sich mehr als unwohl in ihrer Haut. Sogar vor ihrer eigenen Stimme fürchtet sie sich! Zum anderen ist da Edward. Ihn würde sie ganz sicher nicht verraten. Sie würde nichts tun, was zur Folge hätte, dass er sich von ihr fernhält. Er ist, sozusagen, ihr Ein und Alles.“ Er kicherte leise über meine wechselnden Stimmungen und sagte nichts weiter.
„Ihr Ein und Alles?“, spottete Rosalie. „Wie romantisch.“ Ich warf ihr einen düsteren Blick über den Spiegel zu und bog um die Ecke zu der Auffahrt unseres Zuhauses. Ich war ihr Ein und Alles. Ihr Ein und Alles… Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich ihn dadurch frei bekommen. Natürlich war ich ihr Ein und Alles, schließlich war ich der einzige, der sich um sie kümmern konnte, da er wusste, warum sie nicht sprach, wovor sie Angst hatte, was mit ihr geschehen war.
Seufzend rauschte ich durch die Haustür und direkt in Carlisles Büro, in die Bibliothek, ohne Esme und Carlisle zu begrüßen. Mit Ehrfurcht suchte ich die Regale nach Büchern ab, die mir hilfreich erschienen. Dieser Ort war, nach meiner Lichtung, der, an dem ich mich am liebsten aufhielt. Es gab nichts Interessanteres als Bücher und Musik. Konzentriert suchte ich, bis ein Buchtitel mich innehalten ließ: Der Schmerz sitzt tiefer. Vorsichtig zog ich das Buch aus dem Regal und betrachtete es lange, bevor ich es unruhig aufschlug.
„Kann ich dir helfen?“
Carlisles Stimme erschreckte mich so sehr, dass ich kurz davor war, das Buch fallen zu lassen. „Entschuldige“, sagte er und lächelte freundlich. Er kam zu mir und beugte sich über das Buch, um den Titel lesen zu können. Überrascht runzelte er die Stirn. „Alles in Ordnung, mein Sohn?“ Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wartete, bis ich ihm gegenüber Platz genommen hatte. Ich faltete die Hände in meinem Schoß und versuchte, die richtige Antwort zu finden.
„Was weißt du… darüber?“, fragte ich schließlich. Ich traute mich nicht, es beim Namen zu nennen. Ich war Carlisle dankbar dafür, dass er auf meine Gegenfrage einging. „Es ist kompliziert. Ich hatte einmal einen Fall in der Klinik, ein Mädchen.“ Er lehnte sich vor und sah mir eindringlich in die Augen. „Du solltest heute Nacht jagen gehen. Du siehst aus, als würdest du verdursten.“ Verwirrt von dem Themenwechsel starrte ich ihn an. Was wollte er mir damit sagen?
„Ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte er jetzt und beugte sich weit über den Schreibtisch. Konnte ich es ihm sagen? Konnte ich Bella verraten? Nein, das konnte ich nicht. „Bitte, erzähl mir, was du darüber weißt“, bat ich ihn ausweichend. Mit einem prüfenden Blick antwortete er: „Was willst du denn wissen?“ Das war eine gute Frage. Was wollte ich darüber wissen? Was musste ich wissen, um Bella zu helfen? „Wie kann ich es verhindern?“ Das war wohl die wichtigste Frage von allen. Ich wollte alles tun, alles geben, damit Bella aufhörte.
Alles.
„Nichts.“
Zögernd und auch ein wenig entschuldigend sah Carlisle mich an. Ich konnte nicht glauben, was er gerade gesagt hatte. Nichts? Was sollte das heißen?
„Nichts?“, brüllte ich ihn an. Erschrocken über mich selbst fügte ich augenblicklich ein „Verzeih mir“ hinzu. Ich war Carlisle gegenüber noch nie laut geworden. Er lächelte mild, nachsichtig.
„Nichts, außer da sein. Du bist keine Klinik, kein Therapeut, Edward“, erklärte er betrübt. Mit glasigem Blick sah ich aus dem Fenster. Ich konnte nichts tun. Nichts, außer da zu sein.
„Du solltest wirklich jagen gehen, mein Sohn. Deine Augen gleichen einem Stück Kohle.“ Mein Schöpfer sprach mit dringlicher Stimme. Er hatte wohl Recht, ich war durstig. Ich musste trinken. Aber das war nicht möglich, ich hatte Bella mein Wort gegeben, ich hatte es ihr versprochen, da zu sein. Mein Durst war zweitrangig. Ich hatte es versprochen und ich würde mein Versprechen halten. Das einzige, was ich ihr geben konnte, würde sie von mir bekommen.
Ich würde da sein.


Kapitel 20

-Bella-

Kaputt


Ich habe es ihm versprochen.
Nicht schneiden, nicht kratzen, nichts. Ich kämpfe mit mir. Ich habe es ihm versprochen. Es war so schwer. Meine Finger machen sich selbstständig und zupfen am Verband, sacht, verführerisch. Schnell ziehe ich die Hand weg. Ich habe es ihm versprochen. Ich will ihn nicht enttäuschen. Er mag mich. Ich darf ihn nicht vergraulen. Nicht ihn auch noch…
Er mag mich. Mein kaputtes Herz rumort. Er mag mich, er ist nicht angeekelt. Das habe ich nicht verdient. Ich rolle mich auf die Seite und klemme den Arm ein. Es tut weh. Gut so. Es soll weh tun. Irgendwann drehe ich mich wieder auf den Bauch und wimmere. Der Verband wird rot. Ich hasse mich. Ich habe es ihm doch versprochen! Ich hasse das, was von mir übrig ist, und er wird mich auch hassen.
Ich strecke den Arm nach dem Handspiegel aus, den ich unter dem Bett versteckt habe. Jetzt hocke ich, leicht gekrümmt, auf dem Boden und starre in das Glas. Wie oft habe ich es schon gesehen? Das hässliche Entlein. Das hässliche Menschlein. Ein Niemand. Ein Nichts. Ich lege den Spiegel auf den Teppich und berühre das Glas. Glas ist schön. Glas ist verlockend. Meine Fäuste wollen es einschlagen, wollen bluten. Ich darf nicht. Ich habe es ihm versprochen.
Aber es ist so schwer. Ich will noch einmal wissen, wie es sich anfühlt, kein Nichts zu sein. Wie es sich anfühlt, zu fühlen. Zu bluten. Ich bin schwach, reiße den Arm in die Luft, will zuzuschlagen. Kühle Finger stoppen mich. Ich erstarre. Nein. Nein! Ich will nicht mehr. Will, dass er geht. Will ihn nie wieder sehen. Mit Armen und Beinen fange ich an zu strampeln. So schnell ist er noch nie wiedergekommen. Er war doch erst vor ein paar Wochen da! Ich kann ihn nicht sehen, er ist hinter mir. Warum wehre ich mich? Ich bin schwach, ich bin müde. Immer ist er stärker.
Blasse Hände schleudern den Spiegel in eine Ecke, bevor sie sich um meine Arme legen und sie herunterdrücken. Sanft. Sie tasten sich zu meinen Fingern vor und drücken sie. Vorsichtig. Ich bewege mich nicht. Das ist nicht er. Ich brauche keine Angst zu haben. Meine Lider sind müde und fallen. Edward ist da. Ich werde ruhig. Edward ist da. Ich muss keine Angst mehr haben.
„Hey“, haucht er. Die samtene Stimme ist mein Wiegenlied. Mein Kopf wird schwer, fällt nach hinten und trifft seine Schulter. Ich höre, dass er flüstert, aber verstehe seine Worte nicht. Seine Worte, die so sanft und lieb sind, dass ich nicht glauben kann, dass sie an mich gerichtet sind. Ich denke daran, wie er mich heute genannt hat. Kleines. Mein Bauch wird warm. Ich kann nicht glauben, dass dieses Kosewort für mich bestimmt sein soll.
„Du magst den Namen“, flüstert er. Ich zittere. Seine Lippen schweben neben meinem Ohr. Er ist nah und könnte mir weh tun, aber ich vertraue ihm. Musik erklingt. Es ist sein leises Lachen. Mein Bauch wird noch wärmer, als er dieses liebliche Wort noch einmal in mein Ohr murmelt.
„Kleines…“
Ich lege den Kopf in den Nacken und atme durch den Mund. Er riecht nach allen guten Dingen dieser Welt. Sonne, Liebe, Wärme. Ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren, was ich tue. Ich reibe meine Wange an seinem Hals und verstecke mich in seiner Halsbeuge. Er ist hier. Ich habe keine Angst. Verdreht liege ich in seinen Armen, die meinen Körper, meine Hülle an seine Brust ziehen. Er sagt nichts mehr.
Nach einer Weile zieht es in meinem Rücken. Ich drehe mich, bis ich meine Arme um seinen Bauch legen kann, wie in der Schule. Jetzt habe ich keine Chance mehr, ich bin gefangen, ich bin ihm ausgeliefert. Er ist überall. Er ist zu stark. Aber er wird mir nichts tun. Es ist so leicht, ihm zu vertrauen. Seine lieben Worte, seine lieben Hände, seine lieben Augen, alles an ihm ist so vorsichtig und sanft und anders. Noch nie hat mich jemand so berührt wie er es tut.
So fest ich kann, drücke ich mich an ihn, während eine seiner Hände an meinem Rücken auf und ab streicht. Kälte müsste sich über meine Haut ziehen, aber da ist Wärme. Es ist eine andere, neue Wärme als die einer Wärmflasche oder einer Heizung. Sie ist nicht äußerlich. Sie ist in meinem Magen, in meinem Hals, überall. Ich fahre mir mit der Hand über den Bauch und gebe einen erstaunten Laut von mir. Was ist das?
Edward löst sich ein wenig von mir, ohne mich ganz loszulassen. Erst jetzt kann ich sein Gesicht sehen. Seine freundlichen, obwohl schwarzen Augen, die mich anlächeln. Scheu und ehrlich. Wieder fahre ich mir mit der Hand über den Bauch. Edward macht es mir nach, ohne den Kontakt unserer Augen zu unterbrechen.
„Ich weiß nicht, wie es heißt, aber es fühlt sich wunderbar an“, sagt er leise. Edward spürt es auch? Er hat auch einen warmen Bauch? Er kichert leise. Es ist ein lustiges, melodisches Glucksen. „Ja, Edward hat auch einen warmen Bauch“, lacht er und strahlt mich an. Dann hebt er plötzlich die Hand und stoppt vor meinem Gesicht. Ich habe Angst, obwohl ich weiß, dass ich keine Angst haben muss. Aber als ich seine weiße Hand sehe, muss ich an ihn denken. An James.
Ich weiche zurück. Er ist ein Vampir. Ich hasse das Wort. Er trinkt Blut. Er tötet. Aber keine Menschen. Er will kein Monster sein. Er ist anders. Er ist mehr. Er ist lieb. Er möchte nichts Böses. Er ist kein Monster. Langsam lehne ich mich vor; er wartet geduldig, drängt mich nicht. Edward will mir nicht weh tun.
Ich schmiege mein Gesicht in seine große Hand. Mein Herz pocht ängstlich gegen meine Rippen und fürchtet sich davor, wieder zerfetzt zu werden. Aber es wird nicht zerfetzt. Es wird berührt. Liebkost. Er hebt auch seinen anderen Arm und hält mein Gesicht in beiden Händen. Seltsam wohl fühle ich mich dort, denn ich weiß, dass er ein gutes Herz hat. So ein liebes, gutes Herz. Durch meine halb geschlossenen Augen sehe ich, dass er lächelt.

Sein Daumen streichelt meine Wange. Er zieht mein Gesicht an seine Brust und legt seine Hände auf mein Haar. Ich seufze, versuche, mich in seine Arme zu kuscheln. Ich fühle mich sicher. In diesem Moment kann mir niemand weh tun, nicht mal ich selbst. Es existiert nur noch Wonne. Mit sehr langsamen Bewegungen streicht Edward über mein Haar, murmelt etwas, das ich durch den Schleier aus Freude und Zufriedenheit nicht hören kann. Ich höre genauer hin.
„Kleines… Kleine Bella… Warme Bella…“ Er scheint nicht darauf zu achten, was er sagt, er sieht verträumt aus. Ich gähne. Mit verständnisvollem Blick sieht Edward mich an. „Du bist müde.“ Er hebt mich in seine Arme und trägt mich zum Bett, kniet sich auf die Decke und legt mich vorsichtig in die Kissen. „Versuch zu Schlafen“, schlägt er vor und wickelt die Bettdecke um mich. Ich gähne noch einmal. Edward will aufstehen.
Dass ich meine Hand ausstrecke, um mich an sein Hemd zu klammern, scheint ein Reflex zu sein. Edward dreht sich um und sieht mich eine Weile an. Ich vermisse das Gold in seinen Augen. Schwarz wirkt plötzlich bedrohlich. Ich drücke mich in die Kissen und verkrieche mich unter der Bettdecke, sodass nur noch mein Gesicht herausschaut. Ich schäme mich. Ich will doch keine Angst vor ihm haben. Edward setzt sich auf die Bettkante und schaut zu Boden.
„Ich bin durstig“, gibt er zu. Ich presse meine Hände auf den Mund, doch er hat den Schrei schon gehört. Seine zusammengefallenen Schultern machen ihn verletzlich, ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Er quält sich wegen mir. Ich bin an allem schuld, immer. Edward wendet mir sein Gesicht zu. Es ist vor Schmerz verzerrt und doch sanft. „Du kannst nichts dafür, dass ich ein Monster bin. Ich müsste jagen gehen, aber ich möchte bei dir bleiben. Ich möchte dich beschützen.“
Er lächelt mich an und kommt zögerlich näher. Ich halte den Atem an. Er legt den Kopf auf meinen Bauch und sieht mit seinen onyxfarbenen Augen in meine. Ich atme aus und ein. Ich glaube, ich habe keine Angst. Ich berühre sein Gesicht und es macht mir nichts aus, dass es kalt ist. Solange es Edwards Gesicht ist. Nicht seins. Schnell lasse ich ihn los, bevor ich anfange zu weinen. Traurig schließt er die Augen und liegt einfach ruhig da. Er zwingt mich nicht, ihn anzufassen. Ich bin ihm dankbar.
Ich merke, dass ich müde bin, aber ich traue mich nicht, die Augen zu schließen. Ich möchte noch ein wenig in Frieden leben. Nur ein paar Minuten noch. Ich strecke die Hand nach ihm aus und ziehe sie wieder zurück. Ich will dieses vollkommene Bild nicht zerstören. Also betrachte ich ihn und erinnere mich wie schon so oft daran, dass ich ihm dankbar bin. Seit er hier ist, habe ich nicht ein Mal das Verlangen nach einem Messer oder einer Scherbe gehabt.
Aber nach Edward verlangt mein Herz. Es will sich für immer von seinen lieben Worten und Gesten einlullen lassen. Nie wieder will es auf den Boden geworfen und zertrampelt werden. Ich fahre ihm vorsichtig mit den Fingern durch sein schimmerndes Haar und habe das Gefühl, an meinem Dankbarkeitsgefühl zu ersticken. Er ist so lieb zu mir. Ich kraule seinen Nacken ohne nachzudenken. Ein leises Schnurren ertönt aus Edwards Kehle, er reckt den Kopf und öffnet kurz die Augen, dann schließt er sie wieder.
Fasziniert von den Lauten, die er von sich gibt, lächele ich. Es ist schön, zu lächeln. Es ist ein Teil dieses friedlichen Moments. Irgendwann fallen auch mir die Augen zu, aber ich höre nicht auf, ihn zu kraulen. Zu schön ist sein Schnurren, das ihn wie eine Katze klingen lässt. Er kichert. „Keine Katze, ein Puma.“ Er legt seine Hand auf meine. „Versuch zu schlafen. Ich passe auf dich auf“, wispert er und erhebt sich von meinem Bett. Obwohl ich sehr müde bin, zwinge ich meine Augen sich zu öffnen.
Wenn ich einschlafe, kommt die Angst. Wenn ich schlafe, bin ich nicht sicher. James könnte wiederkommen und mich mitnehmen, um mich zu verletzen. Ich beiße mir auf die Lippen, bis sie bluten. Ich brauche doch keine Angst zu haben! Edward ist hier. Er beschützt mich. Eine Welle von Gefühlen schwappt durch meinen Körper. Ich kenne sie nicht, aber sie bringen mich dazu, meine Hände nach Edward auszustrecken. Er steht vor dem Fenster und verzieht gequält das Gesicht. Er kann das Blut riechen, das an meinen Lippen klebt.
Ich weiß, dass ich egoistisch bin, aber ich strecke ihm meine Hände noch weiter entgegen. Ich kann nicht einschlafen, wenn er nicht da ist. Wenn er mich nicht berührt. Vielleicht kann er das Reißen in meinem Herzen hören, denn er kommt näher. Als ich aus dem Bett kriechen will, um zu ihm zu laufen, hält er mich auf und legt sich neben mich auf die Decke. Ich seufze und lege meinen Kopf auf seine Brust. Einen Moment lang denke ich darüber nach, dass sein Herz nicht schlägt, aber dann ist es mir egal. Er ist anders. Er will nichts Böses.
Edward schließt mich in seine Arme und summt ein Lied. Es ist süß und friedlich und lässt mich schläfrig werden. Ich wehre mich dagegen, aber irgendwann ist Edwards Hand auf meinem Haar das letzte, was ich spüre.


Kapitel 21

Pflaster

Sie folterte mich. Ihre Hände schwebten in der Luft und suchten verzweifelt nach meinen, ihr glasiger Blick flehte mich an, endlich nachzugeben und meinen Durst zu bekämpfen. Das Kratzen und Brennen in meiner Kehle war unerträglich. Ich hatte nicht auf Carlisle gehört und war nicht jagen gegangen. Stattdessen war ich so schnell wie möglich zu Bella gelaufen und hatte ignoriert, wie ihr Blut das Monster in mir verführen wollte. Jetzt lag sie in ihrem Bett und streckte die Hände nach mir aus.
Ihre Lippen, die sie so bearbeitet hatte, dass sie bluteten, machten es mir zusätzlich schwer, doch ich war nicht in der Lage, ihr diesen einen simplen Wunsch abzuschlagen. Den Wunsch nach Nähe. Ich schluckte mehrfach, um das Gift in meinem Mund loszuwerden, während ich mich ihr langsam näherte. Jeder Schritt war genau berechnet und doch ein großes Risiko – das ich bereit war einzugehen. Offenbar ging es Bella nicht schnell genug, sie schlug die Bettdecke beiseite, richtete sich auf und wollte die Beine aus dem Bett schwingen.
Behutsam drückte ich sie zurück in die Kissen, deckte sie zu und legte mich mit etwas Abstand neben sie. Bella seufzte zufrieden, doch es war ihr nicht genug, ich war nicht nahe genug, also rückte sie an mich heran und machte es sich an meiner Brust bequem. So bequem, wie es bei einem Vampir eben möglich war. Nun, da sie einen Arm quer über meinen Bauch gelegt und sich mit der anderen Hand in mein Hemd gekrallt hatte, war es unmöglich, der puren Verlockung zu entfliehen.
Obwohl es mich noch mehr quälte und ich mich nicht einmal traute, die Luft anzuhalten, berührte ich ihr Haar. Als es sich bewegte, strömte ihr Duft direkt in meine Nase. Ich schämte mich für das tiefe Knurren, das durch meine Brust rumpelte, und dafür, dass ich Durst hatte. In der Hoffnung, dass es desensibilisierend wirkte, beugte ich mich zu ihr herunter und vergrub meine Nase in ihrem Haar.
Ich wollte keinen Durst haben. Es war das schlechteste, widerlichste, was ich Bella antun konnte. Wie konnte ich nur an ihr Blut denken, nach allem, was ich erfahren hatte? Nach allem, was ich gesehen hatte? Ich wollte nicht dieses Monster sein, das Bella packen wollte, um die Zähne in ihre Halsschlagader zu bohren und zu trinken…
Angewidert von mir selbst schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf Bellas Atmung. Ihre Hand entspannte sich und entließ mein Hemd aus ihrem Klammergriff. Ich war erstaunt. War sie eingeschlafen? So schnell? Ich konnte nicht verhindern, dass sich, wie schon am Tag zuvor, Stolz in mir ausbreitete. Sie war eingeschlafen, und das neben mir. Ohne Angst. „Gute Nacht“, wünschte ich ihr. Sie brummte. Lächelnd legte ich den Kopf zurück und dachte nach. Konnte ich sie tatsächlich beschützen? Auch mit Durst?
Für diesen Moment war es in Ordnung; ich konnte mich zusammenreißen und widerstehen. Aber für wie lange noch? Ich musste dringend jagen, ich war eine Gefährdung für die Menschheit, für meine Familie, für Bellas Sicherheit. Ich durfte meine Kontrolle nicht herausfordern. Das bedeutete: Ich konnte Bella in der nächsten Nacht nicht sehen. Nicht beschützen. Ich musste sie allein lassen. Alles in mir weigerte sich, diesen Gedanken zuende zu führen, doch es war unmöglich, diesen Duft, diese Tortur noch eine einzige Nacht länger auszuhalten…
Ich wollte nicht daran denken. Nicht jetzt, in diesem Moment, in dem Bella seelenruhig schlief und keinen Gedanken, keinen Traum an Monster wie mich verschwendete. Mit einem leisen Haaa atmete sie ein und mit einem Fffffftt wieder aus. Sie schnarchte ganz leise vor sich hin und bewegte sich ab und zu, wenn sie atmete. Vereinzelt hingen Strähnen ihres weichen Haares in ihrem Gesicht, bis ich sie hinter ihr Ohr steckte. Wann immer ich das tat, unterbrach sie für einen Sekundenbruchteil das Atmen.
Wehmütig spielte ich mit ihren Haarsträhnen. Was, wenn ich zu spät gekommen wäre? Was, wenn sie es in der kommenden Nacht noch einmal versuchte? Meine Fingerspitzen fuhren federleicht über ihren Verband. Er war blutdurchtränkt. Das machte mich traurig. In mir wuchs die Entschlossenheit, den Verband zu wechseln, mich um ihre Wunden zu kümmern. Ich wusste, dass ich mich damit quälen würde, aber das war egal.
Ich wurde immer entschlossener und aufgeregter und schließlich war mir klar, dass ich keine Ruhe finden würde, solange ihre Wunden nicht versorgt waren. Ich konzentrierte mich darauf, eine Möglichkeit zu finden, Bella nicht aufzuwecken, mich aber dennoch von ihr lösen zu können. Auch wenn es mir widerstrebte – ich versuchte, mich aus Bellas Armen zu befreien. Doch sobald ich mich bewegte, schlang sie ihre Ärmchen noch fester um meinen Bauch. Seufzend fiel mein Kopf zurück in die Kissen.
Ich sah lediglich eine letzte Möglichkeit: Ich musste mit ihr zusammen aufstehen, ohne ruckartige Bewegungen zu machen, ohne sie loszulassen. Ich drehte mich umständlich, sodass ich Bella in meine Arme heben konnte, federleicht fühlte sie sich an, als ich sie ins Bad trug und mich vorsichtig neben dem Waschbecken auf einen Korb setzte. Bella drehte den Kopf, schmiegte ihn an meinen Hals, aber bewegte sich nicht weiter. Ich seufzte, hätte Bella gerne gefragt, ob sie es mir erlaubte, ihre Wunden zu berühren. Ich holte tief Luft.
Behutsam wickelte ich den Verband ab und löste die Pflaster von ihrer blassen Haut, sog scharf die Luft ein und zwang mich, weiter zu machen… nicht so gierig auf das Blut zu starren. Voller Scham fixierte ich stattdessen den Wasserhahn. Kaltes Wasser strömte in das Becken, über das ich Bellas Arm hielt. Ihre Haut reagierte mit Gänsehaut auf die Kälte, obwohl ich nicht viel wärmer war, aber das schien sie nicht zu stören – sie lag noch immer zusammengerollt an meiner Brust.
Es kostete mich viel Beherrschung, hinzusehen, wie meine Fingerspitzen das getrocknete Blut von ihrem Arm wuschen. Innerlich zuckte ich zusammen, als ich einen der Schnitte berührte, und stoppte. Meine Hand weigerte sich, diesen Teil ihres Körpers, den niemand sehen durfte, der ihr Geheimnis war, anzufassen. Wie konnte ich es wagen? Ich war fassungslos. Mit zitternder Hand stellte ich das Wasser aus. Wie konnte ich nur…
*Edward…*
Ich erschrak und riss den Blick von ihrem Arm. Braune, wachsame Augen sahen in meine, und sie schnürten mir die Kehle zu, die noch immer schmerzte. Ich legte meine Wange an ihr Haar, um ihre angstvoll geweiteten Pupillen nicht mehr sehen zu müssen. Wie lange war sie schon wach? Wie lange war ich so hinterhältig gewesen und hatte ohne großen Erfolg versucht, ihren Arm zu waschen, ihre Wunden zu reinigen?
„Verzeih mir.“ Ich wusste, dass es mir nicht zustand, das zu tun, was ich getan hatte, und noch weniger, dass Bella mir dies verzieh. Aber sie legte einen Finger auf meine Lippen und brachte mich zum Schweigen. Sie schüttelte den Kopf und probte ein schüchternes Lächeln.
*Danke…*
Ihr Lächeln wurde mutiger.
*Danke für Alles…*
Bella nahm meine Hand, die immer noch wie erstarrt über dem Waschbecken hing, und legte sie wieder auf ihren Arm. Vielleicht wollte sie mir zeigen, dass sie mir vertraute. Ja, sie musste mir wirklich sehr vertrauen, wenn sie mir erlaubte, die Schnitte zu berühren…
Ich lächelte zurück um ihr zu sagen, dass ich mich freute, dass ich gerührt war, dass ich ihr auch vertraute. Von ihrer Reaktion ermutigt führte ich fort, was ich begonnen hatte, und wusch das restliche Blut von ihrer weichen Haut. Benommen sah Bella mir dabei zu. Als ich das Wasser ausstellte und noch einmal vorsichtig über ihr Handgelenk strich, legte sie den Kopf zurück an meine Schulter. Es war unübersehbar, dass sie den Moment, die Berührung genoss.
So bekam Bella gar nicht mit, wie ich ihr einen neuen Verband anlegte, wie ich sie zurück ins Bett trug und wie sie wieder in ihren verdienten traumlosen Schlaf fiel.


Kapitel 22

Wärme

„Aufstehen, kleiner Faulpelz.“
Bella drehte sich auf die andere Seite und seufzte in ihr Kissen. Grinsend zog ich ihr mit einem Ruck die Decke vom Bett und kitzelte sie. Seit einer halben Stunde schon versuchte ich, sie davon zu überzeugen, dass wir uns dieses Mal vielleicht beeilen sollten, in die Schule zu kommen, aber das schien sie nicht groß zu beeindrucken. Sie quiekte und ergab sich schließlich, indem sie es zuließ, dass ich sie in die Küche trug. Ich setzte sie auf einem der Stühle ab, hatte in kaum einer Sekunde den Tisch gedeckt und ließ mich ihr gegenüber auf einen Stuhl sinken, um sie zu beobachten.
Während sie ihre Müsliflocken zerkaute, huschte ihr Blick immer wieder zu mir, um gleich darauf wieder den Löffel zu anzuschauen; ihre Wangen röteten sich leicht. Dieses Bild machte mich nachdenklich. Ich hatte sie gekitzelt, wir hatten gelacht und uns berührt. Ich saß mit ihr am Frühstückstisch, sah ihr beim Essen zu. Es fühlte sich an, als würden wir uns schon Jahre kennen, so vertraut waren wir miteinander. Ich seufzte. Bellas Hand stoppte in ihrer Bewegung, Milch schwappte von ihrem Löffel. Aufmerksam schauten wir uns an, bevor wir gleichzeitig beiseite sahen und lächelten. Wir benahmen uns wie kleine Kinder.
„Wo sind eigentlich deine Eltern?“, fiel mir ein. Weder in dieser noch in der letzten Nacht hatte ich sie bemerkt. Hatten sie Bellas Schreie nicht gehört? Das schien mir unmöglich…
*Arbeiten… Überstunden…* Bella zuckte mit den Schultern und rührte mit dem Löffel die pampigen Reste ihres Müslis um. Ihr Blick wurde glasig… sentimental… melancholisch… Ich bereute es, sie gefragt zu haben. Die Stimmung in der kleinen Küche drückte schwer auf uns, erschwerte das Atmen. Bella schnappte nach Luft, stand auf und räumte den Tisch ab. Ich half ihr mit schlechtem Gewissen.
„Habe ich dir weh getan?“, fragte ich vorsichtig und drehte sie zu mir um. Ihr Blick war angestrengt auf meine Brust gerichtet. Ich schämte mich dafür, den schönen, vertrauten Moment vernichtet zu haben. Ich senkte meinen Kopf und hob ihr Kinn an, und endlich waren wir auf gleicher Augenhöhe. Sie schüttelte den Kopf.
„Das glaube ich dir aber nicht“, erwiderte ich leise und legte meine Arme um sie. Kurz versteifte sie sich, doch dann löste sich ihre Verkrampfung und sie ließ sich über ihr Haar, ihre Arme, ihren Rücken streicheln. Nach einer Weile gab ich sie, auch wenn es mir widerstrebte, frei. Gerührt sah sie mir in die Augen und lächelte; Wehmut war verschwunden und machte Platz für Wohlbefinden.
*Danke*, flüsterte sie ihr Lieblingswort. Ich lachte befreit und verwuschelte ihr Haar. „Ich warte draußen auf dich, okay?“ Sie drückte ihre rote Wange an meine Schulter, bevor sie zur Treppe lief und in ihrem Zimmer verschwand.

***

Es war schwer, vor der ersten Stunde Abschied zu nehmen… Bella allein zu lassen. Sie immer und überall zu beschützen war beinahe ein Zwang. Aber ich schaffte es, Bella für ein paar Stunden gehen zu lassen. Unser Wiedersehen in der Cafeteria, nach Stunden der Angst und Sehnsucht, war seltsam. Erleichternd, aber schüchtern. Als hätten wir uns Ewigkeiten nicht gesehen. Ich hob meine Hand, um zur Begrüßung ihre Wangenknochen mit meinen Fingerspitzen nachzuzeichnen, danach suchte meine Hand nach ihrer, fand sie, drückte sie aufmunternd.
Wir bahnten uns einen Weg durch die Menschen und sahen uns ratlos an, als wir schließlich vor meinen Geschwistern standen. Alice grinste vor sich hin und Jasper und Emmett machten es ihr nach, Rosalie reckte die Nase in die Luft und wandte demonstrativ das Gesicht ab. Ich setzte mich auf den fünften Stuhl und zog Bella ebenso demonstrativ auf meinen Schoß. Überrascht blinzelte sie und errötete zum dritten Mal heute. Wir benahmen uns wie eines dieser verknallten Teenager-Pärchen, über die ich mich heimlich immer lustig machte.
Mit dem kleinen Unterschied, dass wir nicht verknallt waren.
Ich schüttelte den Kopf bei diesem merkwürdigen Vergleich.
Bella Kopf an meiner Schulter versorgte mich mit Wärme, wohltuender Wärme, die sich durch mein Innerstes und über meine Haut zog. Ich brummte zufrieden in mich hinein.
„Bella, magst du Shoppen?“ Überrascht riss ich den Kopf hoch. Alice hatte sich vorgelehnt und den Kopf in die Hände gestützt, sie lächelte Bella freundlich an. Verunsichert, ratsuchend schaute Bella mich an, doch ich konnte nichts anderes tun, als mit den Schultern zu zucken. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Alice zog einen Schmollmund. Meine Geschwister lachten über sie – endlich jemand, den sie nicht zu einer ihrer schier endlosen Shopping-Touren schleppen konnte.
„Wie schade“, brummte Alice beleidigt. Nach einer halben Minuten rief sie aber: „Bella, gehst du gerne ins Kino?“ Bella errötete, als fünf Augenpaare sie erwartungsvoll musterten. Wieder schüttelte sie zaghaft den Kopf.
„Hmpf“, machte Alice frustriert und grübelte. „Was machst du denn dann gerne?“ Offenbar eingeschüchtert von Alices aufgekratzter Stimmung versteckte Bella ihr Gesicht an meinem Hals. Ich wusste nicht, wie ich mit Bellas plötzlich rasendem Herzen und ihrer Schüchternheit umgehen sollte. „Oh, habe ich dich erschreckt?“, fragte Alice sofort. Hilflos sah sie mich an. „Edward, kannst du nicht übersetzten?“, bat sie mich mit ihrem ganz speziellen ich-bin-doch-dein-Schwesterherz-und-du-bist-mir-noch-was-schuldig-Blick. Ich neigte lächelnd meinen Kopf und murmelte in Bellas Ohr.
„Bella… malst du gerne?“ Ich war mir sehr sicher, dass ich richtig lag, schließlich war die Wand über ihrem Bett mit Zeichnungen zugepflastert. Ich spürte, dass sie zögerte, doch dann hatte sie sich überwunden - und nickte. Alica begann zu strahlen und in ihrer Tasche zu wühlen. Sie zauberte einen Bleistift und ein Blatt Blanko-Papier hervor und schob es auf Bellas Seite des kleinen Tisches. Neugierig beugte sich Bella ein Stück vor, betrachtete das Papier mit großen Augen.
„Möchtest du malen?“, fragten Alice und ich zeitgleich, froh darüber, scheinbar etwas gefunden zu machen, was Bella mochte. Sie nickte begeistert und richtete sich auf, nahm den Stift in ihre kleine Hand. Die Wärme an meiner Schulter fehlte mir, aber es wäre mehr als egoistisch von mir gewesen, sie zurück an meine Brust zu ziehen und sie nicht malen zu lassen. Mit der Begeisterung eines kleinen Kindes fing sie an, etwas zu zeichnen, das am Ende der Pause aussah wie… ich?
Interessiert beugten sich meine Geschwister über das Blatt. Sogar Rosalie zeigte einen Funken Neugier an dem Mädchen. Bella lächelte mich an, nahm die Zeichnung und reichte sie mir. Ich schluckte. Der Junge sah tatsächlich aus wie ich. Warum ausgerechnet ich? Warum nicht einer ihrer Teddys? Warum kein Engel? Warum ich? Bella geriet in Panik.
*Bild… nicht schön?*
Mein Blick wurde weich.
„Dummerchen. Das Portrait ist wundervoll…“
Ich strich über ihr Haar. Ihre Augen glänzten, füllten sich mit schimmernden Tränen, die meine Fingerspitzen aus ihrem Augenwinkel wischten. Vorsichtig stand ich auf und stellte Bella auf ihre wackeligen Beine, ohne ihre Hand loszulassen. Mein Magen zog sich unsanft zusammen bei dem Gedanken, dass ich sie ein weiteres Mal allein zu ihrem Unterricht gehen lassen musste. Bella schien auch nicht glücklich darüber zu sein. Sie drückte sich fest an mich, wollte nicht von mir getrennt sein.
Ich löste mich von ihr, bevor ich vergaß, wo wir waren, und sie nach Hause trug, um sie in ihr Bett zu legen und sie schlafen zu lassen.
Aber ich wollte sie nicht loslassen. Ich wollte nicht aufhören, sie zu wiegen. Ich wollte nicht aufhören, ihr zu geben, was sie brauchte. Ich wollte weiterhin bekommen, was ich brauchte.
Wärme.


Kapitel 23

Nachsitzen

Zum ersten Mal schafften wir es, pünktlich zu Mr. Banners Unterricht – zum Nachsitzen - zu erscheinen. Bella sah unsicher zu mir; ich lächelte ihr aufmunternd zu.
„Keine Sorge. Er kann uns höchstens irgendwelche Arbeitsblätter geben. Dir passiert nichts“, versprach ich. Außerdem bin ich ja da, wollte ich hinzufügen, aber in diesem Moment kam Mr. Banner den Flur entlang und bedachte uns mit missbilligenden Blicken. Er schloss den Raum auf ohne uns aus den Augen zu lassen.
*Der schon wieder.*

Bella zögerte und blieb im Türrahmen stehen. Ich sah sie erbleichen, hörte ihr aufgeregtes Herz flattern, spürte ihre Angst. Nur den Grund dafür kannte ich nicht.
„Heute noch?“, bellte Mr. Banner. Bella zuckte zusammen, ihre Fingernägel krallten sich in den Türrahmen. Ich stellte mich neben sie und drückte ihre Arme herunter.
„Komm mit“, bat ich sie und nahm ihre Hände zwischen meine, um sie in den Raum zu führen. Sie machte ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Ich hörte Mr. Banner hinter uns schimpfen.

Beruhigend ließ ich meinen Daumen auf ihrem Handrücken kreisen und führte sie mit mir in die Mitte des Raumes. Wir setzten uns, aber lösten unsere Hände nicht von einander. Unser Biolehrer sah mich fragend an, dann, als ich nichts sagte, schnaufte er verärgert.
„Was machen Sie hier?“
„Nachsitzen.“
„Habe ich Sie eingeladen?“
„Nein.“
Auf seiner Stirn pochte eine Ader. Er war mehr als verärgert. Gleichzeitig wusste er, dass er keine Chance hatte, mich zum Gehen zu bewegen. Er müsste mich schon persönlich aus dem Rum schleifen, und dazu hatte er kein Recht. Er konnte mir nicht verbieten, nachzusitzen, er konnte mich höchstens für verrückt erklären - aber das hatte er ja schon längst getan.

„Es ist Ihre Zeit, also sollten Sie sich beeilen.“
Er wühlte in seiner Tasche und warf zwei Blätter auf unseren Tisch, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und las in einem Biologiebuch. Bella nahm sich brav ein Blatt und schrieb drauf los; sie hob nicht einmal den Blick. Ich riss – zum ersten Mal in meiner Existenz – ein Blatt aus meinem Heft und schrieb hastig.

Ich mache mir Sorgen um dich.

Unauffällig, obwohl Mr. Banner uns demonstrativ den Rücken zugewandt hatte, schob ich Bella den Zettel zu. Überrascht sah sie von ihrem Blatt auf. Während sie las, legte sich ihre Stirn in Falten.

Warum?,

kritzelte sie und schob den Zettel zurück.

Wie geht es dir?

Sie hob ihre Schultern und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

Gut.

Sie log.

Du wolltest den Raum nicht betreten.

Sie konzentrierte sich sehr auf das Blatt, traute sich nicht, mir in die Augen zu sehen.

Ich hatte Angst.

-

Magst du mir sagen, wovor?

Sie kaute minutenlang auf ihrem Stift und wich meinen Blicken aus. Irgendwann begann sie, zögerlich, Wort für Wort zu Papier zu bringen. Immer wieder hielt Bella inne - ich drängte sie nicht. Ihre zitternde Hand reichte mir das Blatt.

Ich habe Angst vor dem Raum. Ich habe Angst davor, mit jemandem alleine in einem Raum zu sein. Ich habe riesige Angst...

Meine Hand drückte Bellas. Ganz sacht nur. Das schien ihr zu gefallen - ihr Puls wurde wieder normal und ihr Zittern hörte auf.

Du musst keine Angst haben. Du bist nicht allein hier.

Ich hob unsere ineinander geschobenen Hände, legte den Stift beiseite und spielte mit ihren kleinen Fingern. Bella lächelte. Ein lautes Räuspern von Mr. Banner brachte uns zurück in die Realität; Bella schüttelte eilig meine Hand ab. Ich registrierte es mit leisem Bedauern.
Nach einer Stunde, die sich nur wie ein paar Minuten anfühlte, da ich meine Zeit damit verbrachte, Bella beim Schreiben zuzusehen, gaben wir unsere Aufgaben ab. Ich wollte Bella so schnell wie möglich von hier weg bringen, bevor Mr. Banner noch irgendeine Gemeinheit einfiel. Er dagegen schien anders geplant zu haben.

„Miss Swan! Ich bin sehr enttäuscht.“ Erbarmungslos starrte er sie an; Bella nickte kurz. „Ich will nie wieder sehen, wie Sie in meinem Unterricht einschlafen!“, sagte er hart und sah Bella mit kaltem Blick an. Ich berührte ihren Arm, um sie daran zu erinnern, dass ihr nichts passieren konnte. Wieder nickte Bella gehorsam und schaute beschämt zu Boden.
„Und reden Sie endlich mit mir!“, brüllte er sie jetzt so laut an, dass wir beide erschrocken zusammenfuhren.

Bella war anzusehen, dass sie litt. Sie versteckte sich halb hinter meinem Rücken und klammerte sich an meinen Arm.
„Sie machen ihr Angst!“, brüllte ich zurück. Überrascht musterte Mr. Banner mich – er hatte nicht erwartet, dass ich so laut werden könnte. Ich war nicht weniger von mir selbst überrascht. Mr. Banner ballte eine Hand zur Faust und schlug damit auf das Pult. „Verrückte gehören nicht in eine Schule!“, bellte er, vollkommen außer sich. Bella hielt sich die Ohren zu. Wütend funkelte ich ihn an.

„Sie ist nicht verrückt! Sie ist hilflos, weil sie nichts sagen kann! Weil sie sich nicht wehren kann!“ Ich versuchte, mich zu beherrschen. Ich erkannte mich nicht mehr wieder.
„Dann muss sie eben lernen, ihren Mund aufzumachen!“, schrie der Lehrer heiser zurück. Dann trat Stille ein. Wir betrachteten uns abschätzend, bereit, zurückzubrüllen, sobald einer von uns etwas erwiderte. Mr. Banner rang nach Atem, sein Kopf war hochrot.

Bella wimmerte leise.

Mit schlechtem Gewissen drehte ich mich zu ihr um, legte meine Hand auf ihr Haar. Ihre ängstlichen Laute verstummten. Doch das hinderte die Tränen nicht daran, zu fließen. Sie liefen über Bellas bleiche Wangen und sickerten in mein Hemd. Mein Magen zog sich krampfhaft zusammen, ich schämte mich so sehr dafür, dass ich derart rumgebrüllt und sie geängstigt hatte.
Mr. Banner hinter uns schnaubte verständnislos. Gefühlslos. Ich wollte ihn fragen: War es das, was Sie erreichen wollten? Bella weinte still und mit geschlossenen Augen, ihre Arme lagen fest um meinen Bauch. Sie musste riesige Angst haben…

Es war schwierig, sie aus dem Raum zu führen. Ihre Füße wollten sich nicht bewegen, Bella wollte sich nicht bewegen. Sie machte sich steif, und ich musste sie mehr oder weniger aus dem Gebäude und über den Schulhof schleifen. Ich setzte uns auf eine Bank und tat nichts weiter, als mit Bella zu atmen. Hektisch, unkontrolliert. Bellas Schultern fielen in sich zusammen. Sie ließ den Kopf hängen, zitterte am ganzen Leib und krallte ihre Fingernägel in ihren Arm. Ich schüttelte den Kopf und legte ihre Hände wieder um meinen Bauch.

„So ist es besser“, flüsterte ich. Sie rollte sich - wie immer, wenn sie sich allein fühlte - zu einer Kugel zusammen und seufzte tief. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
„Du magst keinen Lärm.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Bella seufzte ein zweites Mal.
„Es tut mir leid.“ Reumütig sah ich den Boden an. „Ich hätte nicht schreien dürfen. Aber er hat mich so wütend gemacht, Bella, ich war so wütend und musste dich verteidigen…“ Sie rückte an mich heran und lehnte sich an meinen Arm.
„Danke“, sagten und dachten wir gleichzeitig.
Wir lächelten.

Es begann zu regnen; feine Regentropfen durchnässten unsere Kleidung.
„Möchtest du nicht nach Hause?“, fragte ich. Es dauerte eine Weile, bis Bella nickte. Ich schluckte, denn ich musste ihr irgendwie beibringen, dass sie diese Nacht allein sein würde. Ich hasste mich dafür, doch meine Kehle brannte so grausam, dass ich mich beherrschen musste, nicht über den nächstbesten Menschen herzufallen. Ich wollte gerade etwas sagen, als Bella mit großen Augen fragte:*Kommst du… mich besuchen?* Sie richtete sich auf, strich sich einige verirrte Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte mich flehend an. Es war ein so herzzerreißender Blick, dass ich nicht anderes konnte, als benommen zu nicken.
„Natürlich“, versprach ich leichtsinnig und drückte sie fest. „Natürlich, kleine Bella…“

Ihr seliger Blick war es wert, meinen unerträglich brennenden Durst noch eine weitere Nacht zu ertragen.


Kapitel 24

Teddy

Als ich mit meinen Geschwistern nach Hause fuhr, war ich sehr schweigsam. Wir alle waren schweigsam. Niemand wollte über das sprechen, was zwischen Bella und mir passierte.
Es war tabu.
Zuhause angekommen schloss ich mich in meinem Zimmer ein - das hatte ich noch nie getan, und ich hatte auch nie gedacht, dass ich das einmal tun würde. Ich nahm mir nicht einmal Zeit, Esme zu begrüßen. Mit Sicherheit war sie enttäuscht, doch daran konnte ich nicht denken. Die einzige Person, an die ich im Moment noch denken konnte, war Bella.

Ich setzte mich auf das Sofa, das bis vor kurzem nur eine Attrappe gewesen war, denn ich hatte es nie gebraucht, hatte nie eine Pause benötigt. Ich war ein Vampir und ich war unglaublich stark. Bis vor kurzem. Jetzt hatte ich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Ich öffnete viel zu langsam meine Schultasche und zog Bellas Bleistiftzeichnung heraus, hielt sie in meinen Händen. Sie hatte mich gemalt und es hatte ihr Spaß gemacht.
Ich lächelte müde, während ich in den wenigen Schränken und Schubladen, die es in meinem Zimmer gab, nach einem Bilderrahmen suchte.
Ich fand keinen.

Ich überlegte, ob ich Esme bitten konnte, einen passenden Rahmen für die Zeichnung zu basteln – sie liebte solche Arbeiten. Doch dann entschied ich mich dagegen. Ich wollte das Bild erst einmal für mich haben, niemand sollte es sehen; es war Bellas und mein Schatz, ein Symbol für dieses unbekannte Etwas, das uns verband.
Ich legte das Bild neben mich und ließ den Kopf in meine Hände sinken. Ich war durcheinander und ich wurde sentimental. Ich dachte an meine Familie - meine menschliche Familie. Ich kniete mich auf den Boden, suchte zwischen meinen vielen CDs nach dem Karton, den ich ganz hinten in einer Ecke des Regals hinter mehreren Dutzend CDs versteckt hatte. Seit achtundneunzig Jahren war er nun nicht mehr geöffnet worden.
Ich hatte es mir verboten.

Zögerlich zog ich den Deckel beiseite und sah hinein. Alles war ein wenig verstaubt, aber das war nicht weiter schlimm, ich pustete Luft in die nach alten Dingen und Erinnerungen duftende Kiste. Dann holte ich eine der Erinnerungen an mein menschliches Leben heraus – meinen Teddy. Ich hatte ihn sehr früh in diese Kiste verbannt, hatte mich für ihn geschämt, weil ich ein Junge war und ein starker Soldat werden wollte. Jetzt berührte ich das zerfranste Ohr des Stofftieres, fuhr mit den Fingerspitzen durch sein Fell. Meine Mom hatte ihn selbst genäht – sicher war sie sehr traurig gewesen, dass ich ihn schon so früh in eine Kiste verbannt hatte.

Ich drückte das Tier an mich und dachte an Bella.
Sie hätte diesen Teddy geliebt; sie wäre jeden Abend neben ihm eingeschlafen und wäre froh gewesen, ihn zu haben.
Ich stellte mir vor, wie ihre Augen leuchten würden, wenn sie diesen weichen Teddy sehen würde, egal, ob sie sieben oder siebzehn Jahre alt war. Sie hatte einiges nachzuholen – als sie sieben Jahre alt war, wurde ihre kindliche Welt zerstört…
Es bereitete mir Schmerzen, daran zu denken. Ich wollte, dass es Bella gut ging.

Ich kniff die Augen zusammen, versuchte, die Schmerzen zu vertreiben, indem ich mir vorstellte, Bella würde den Teddy auf ihr Bett setzen, von wo aus er auf sie aufpassen würde, wenn ich nicht da war.
Es funktionierte. Die Schmerzen verschwanden.
Ich warf einen Blick auf die Uhr – 6 pm. Das konnte man schon Abend nennen, oder? Ich überlegte fieberhaft, ob es zu früh war, Bella besuchen zu können. Aber was sprach dagegen? Ich redete mir ein, dass es keinen Grund gab, sie länger allein zu lassen.
Bella.
Dieses eine Wort reichte aus, um meine Kehle zu entflammen, meinen Durst anzustacheln.
Ich schämte mich dafür.

Schnell schnappte ich mir meine Schultasche, schwang mich aus dem Fenster und lief, ohne mich von meiner Familie verabschiedet zu haben, zu Bella. Ich rannte und rannte und kletterte blind die Hauswand empor, sah durch ihr Fenster und hielt inne. Ich freute mich so sehr, sie zu sehen. Sie gesund zu sehen.
Ich klopfte kurz an die Glasscheibe. Bellas Kopf bewegte sich ruckartig in meine Richtung, ihre Augen leuchteten. Sie öffnete das Fenster, dessen Rahmen ein schrilles Quietschen von sich gab.
Stumm sahen wir uns an. Ihre Wangen waren warm und rot, ihr Mund zu einem Lächeln geformt und ihre Augen erstrahlt.

Sie hob eine ihrer kleinen Hände, legte sie an meine Wange. Ich wusste nicht, was mir anzusehen war, doch Bella erkundete mutig mein Gesicht und wärmte mich.
Dann, sehr plötzlich, schlang sie beide Arme um mich. Erschrocken ließ ich mich fallen und landete im Gras. Bella war nicht weniger erschrocken, doch als ich lachte, schien sie beruhigt zu sein. Ich war schließlich unsterblich.
Ich schwang mich durch das Fenster in Bellas Zimmer und beendete, was sie angefangen hatte, indem ich sie fest in meine Arme schloss. Lächelnd legte sie ihre Hände an meine Schultern und ihr Gesicht an meinen Hals.

„Hallo“, lachte ich an ihrem Ohr. Jetzt war ich mir sicher, dass ich auf keinen Fall zu früh war. Es konnte nie zu früh sein, um Bella zu umarmen.
Ich löste mich von ihr und legte meine Tasche beiseite, nur, um kurz darauf meine Hände auf ihr Haar zu legen und ihr forschend in die großen Augen zu sehen. Sie waren wirklich hell und ungetrübt, strahlten Wärme und Zufriedenheit aus.
*Hallo*, erwiderte sie schüchtern und wich meinem intensiven Blick aus, indem sie meinen Hemdkragen anstarrte.

Ich überlegte, was wir mit unserer Zeit anfangen konnten, denn es war unmöglich, Bella bis zum Einschlafen im Arm halten - auch wenn ich es liebend gern tun würde.
Bella würde erfrieren und ich verdursten.
Doch für den Moment war es in Ordnung, in diesem Augenblick brauchten wir das.
Während meine Hände an ihrem Rücken auf und ab strichen, entdeckte ich das Papier auf ihrer Bettdecke.
„Malst du?“
Bella drehte sich zu dem Blatt um und errötete. Ich ließ sie los, setzte mich auf das Bett, betrachtete die Zeichnung. Auf den ersten Blick erkannte ich nichts, aber dann…

Bella zupfte an den Ärmeln ihres schwarzen Pullovers, den sie bis über die Fingerknöchel gezogen hatte. Ich streckte ihr eine Hand entgegen, die sie lächelnd zwischen ihre warmen Hände nahm, und sie setzte sich zu mir.

Sie hatte zwei Hände gemalt, die ineinander verschlungen waren.

Vorsichtig schob ich ihren Ärmel nach oben.
Ich dachte nicht nach, als ich Bellas kleine Hand festhielt, sie an mein Gesicht zog und mich in Zeitlupentempo über sie beugte, damit Bella Gelegenheit hatte, zu protestieren, falls sie Angst hatte. Zaghaft streiften meine Lippen ihre Innenfläche, liebkosten die samtene Haut dort, folgte den Linien. Ich schloss meine Augen, konzentrierte mich einzig und allein darauf, ihre Hand zu erforschen. Ich küsste Bellas Fingerspitzen.
Jede einzelne.
Erst, als sich das zirkulierende Blut unter ihrer Haut in meine Gedanken drängte, stoppte ich.

Bellas Kopf kippte müde zur Seite. Ich legte sie behutsam auf ihr Kissen und legte ihre Zeichnung beiseite, damit sie sich nicht auf sie rollen und sie zerknüllen konnte.
Bella gab zufriedene Laute von sich.
Unauffällig erhob ich mich und öffnete meine Tasche, dann ging ich zurück und legte mich neben sie, ohne sie zu berühren. Das Pulsieren ihrer Adern war einfach zu verlockend.
Ich wurde ein wenig nervös, als ich Bellas Arm anhob und den Stoffbär darunter legte.
Sie öffnete die Augen.
*Teddy…*
Überrascht streichelten ihre Fingerspitzen den Bär; sie war sehr konzentriert, dann plötzlich sehr gerührt. Sie vergrub ihr Gesicht in dem flauschigen Fell und rührte sich nicht mehr.

Ich dachte darüber nach, meine Hand an ihre Wange zu legen, aber dann zog ich sie zurück – ich konnte nicht mehr, ich war zu durstig, fühlte mich, als würden mich Flammen von innen heraus verbrennen.
Wie sollte ich Bella das erklären? Wie sollte ich es schaffen, ihr keine Angst einzujagen?

„Falls du in dieser Nacht aufwachst, bin ich nicht hier…“
Erschrocken hob sie den Kopf und richtete ihren traurigen Blick auf mich.
Ich schluckte.
„Ich bin durstig…“
Sie nickte, als würde sie mich verstehen, dann versteckte sie ihr Gesicht schnell wieder im Fell des Teddys.
„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich. „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid…“
Ich schaffte es nicht, mich davon abzuhalten, meine Arme um dieses zu Recht so ängstliche, zerbrechliche Mädchen zu legen. Sie hatte sich schon wieder zusammengerollt, den Kopf an ihre Brust gedrückt und die Arme vor ihr Gesicht gehoben.
„Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid…“
Ich konnte überhaupt nicht mehr aufhören, mich zu entschuldigen, sie zu umarmen, sie zu streicheln.

„Der Teddy ist ja da, Bella, du musst keine Angst haben.“
Ich redete mit Bella wie mit einem kleinen Kind. Aber wenn ich beobachtete, wie liebevoll Bella ihren neuen Teddy behandelte, dann konnte ich eine sieben Jahre alte Bella sehen. Eine kleine, fröhliche Bella, die einfach nur lebte, ohne Angst haben zu müssen.
Ich wollte, dass sie nie wieder Angst haben musste.
Nie, nie wieder.
Bella zögerte, bevor sie sich auseinander rollte und noch einmal zögerte, bevor sie näher an mich heran rückte, den Teddy fest im Arm.

„Morgen früh bin ich wieder da“, flüsterte ich. Sie schloss die Augen.
*Versprochen?*
Ihren Kopf legte sie an meine Schulter, ohne hinzusehen. Vielleicht war es für sie so etwas wie ein Reflex, so wie ich nicht lange darüber nachdenken musste, sie zu umarmen.
Es passierte einfach.
Sie war so zerbrechlich.

„Versprochen.“

Dann schlief sie ein.


Kapitel 25

Sorgen




Als ich gesättigt und gestärkt von der Jagd zurückkehrte und durch das noch immer geöffnete Fenster in Bella Zimmer kletterte, war ich froh: Bella lag friedlich schlafend in ihrem Bett.
Ich legte mich neben sie, zog die Bettdecke über ihre Schultern und berührte ihren Arm, mit dem sie den Teddy an ihre Brust gedrückt hatte. Ihre Wimpern bewegten sich kurz, dann drehte sie sich auf den Rücken und breitete ihre Arme aus, von denen einer auf meinem Bauch landete. Der Teddy fiel aus dem Bett. Ich schloss die Augen und rückte näher an sie heran, ihre Hand in meiner.

Es war fünf Uhr morgens und ich war beinahe stolz auf mich, dafür, dass ich mein Versprechen gehalten hatte - ich war bei Bella und sie würde nicht allein aufwachen.
Ich drehte mich auf die Seite und schaltete Bellas Wecker aus. Ich wollte nicht, dass sie so geweckt wurde. So… unsanft.
Ich stand auf und legte das Stofftier zurück auf ihren Bauch, woraufhin sie den Teddy sofort in ihre Arme zog. Sie verdrehte den Kopf, die Bettdecke raschelte, ich berührte ihre Stirn mit meiner kühlen Hand. Ein leiser, zufriedener Ton kam ihr über die Lippen.

Als schließlich die Uhrzeit erreicht war, zu der Bellas Wecker klingeln sollte, beugte ich mich über ihr Gesicht, um in ihr Ohr zu flüstern und sie mit ihren langen Haaren zu kitzeln.
„Bella…“
Ich stupste sie an, rüttelte sacht an ihrer Schulter. Sie reckte sich, machte es sich wieder bequem und vergrub das Gesicht in meiner Halsbeuge.
Da wollte wohl jemand nicht aufstehen.
„Schlafmütze…“

Ich hörte ihre Wimpern flattern.
Mit wild klopfendem Herzen rollte sie sich auf den Rücken und sah mir in die Augen; scheinbar fasziniert hob sie ihre Hand und berührte meine geschlossenen Lider.
*Gold…*
Sie ließ ihre Hand wieder sinken. Bellas Gesicht sah friedlich aus - es war das erste Mal, dass sie mich so dermaßen… glücklich ansah. Instinktiv beugte ich mich über sie, um meine Hand erneut an ihre warme Stirn zu legen.
„Guten Morgen, Bella, Kleines“, begrüßte ich sie sanft. Sie hielt inne und berührte mit ihrer Hand ihre erhitzte Wange, ehe sie sie an meine legte und lächelte. Es war ihre Art, Guten Morgen zu sagen.

*Wie heißt er?*, fragte sie aus heiterem Himmel.
„Wer?“ Ich war verwirrt.
*Er…*, hauchte sie, noch ganz müde, und legte ihre Hand auf den Kopf des Teddys.
„Oh… Ach so…“ Nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht. „Ich weiß nicht…“
Bella machte große Augen. *Du…weißt nicht?*
Ich bekam glatt ein schlechtes Gewissen. Dabei hatte ich nichts anderes getan, als meinen Teddy namenlos zu lassen!
„Gib du ihm doch einen Namen!“, schlug ich vor. Ihr Blick war herzzerreißend. So… selig. Sie klatschte in die Hände.

„Und?“, fragte ich neugierig. „Wie heißt er?“
Sie lächelte verschmitzt – und stürmte an mir vorbei, die Treppe hinunter, den Teddy fest im Arm. „Hey!“, rief ich ihr hinterher und rannte so schnell an ihr vorbei, dass ich sie überholte und von der letzten Stufe auffangen konnte. Sie vergrub ihre Nase im Baumwollstoff meines Hemdes und schnupperte; ihre Arme lagen fest um meinen Bauch. Bella löste die rechte Hand von meinem Rücken, legte sie an meine Brust. Mit einem Gähnen protestierte sie gegen meinen Versuch, sie in die Küche zu schieben.

Ich brachte es nicht übers Herz… über den Eisklumpen… etwas gegen ihren Willen zu tun. Ich ließ mich auf einer Treppenstufe nieder, zog sie auf meinen Schoß. Wir schwiegen.
„Es ist ja noch früh“, sagte ich irgendwann, aber sie reagierte nicht. Nur ihr Magen knurrte. Behutsam schob ich sie von meinem Schoß auf die Treppenstufe, stand auf, ging in die Küche, bereitete Bellas Frühstück zu und setzte mich wieder neben sie. Bella nahm die Müslischüssel entgegen, ohne etwas zu sagen.

„Habe ich die richtige Müslisorte erwischt?“, fragte ich leise. Sie hob den Kopf, um zu nicken, und wandte sich wieder ihrem Frühstück zu.
„Du möchtest nicht in die Schule, richtig?“ Sie rührte mit dem Löffel lustlos in der Schüssel herum. Seufzte. Nickte. Lehnte sich zaghaft an mich.
„Morgen ist Wochenende, Kleines. Nur noch ein Tag. Nur einer.“ Sie ließ sich widerstandslos von mir in ihr Zimmer tragen und auf das Bett setzen.
„Nur ein Tag, Bella.“ Ich konnte spüren, wovor sie Angst hatte. Mike, Hass, Lärm. Kälte. Doch ich war mir sicher, dass sie es überstehen konnte.
Wenn ich dabei war.

„Du gehst zum Unterricht und in den Pausen setzt du dich zu mir, hm?“
Sie ließ den Kopf sinken, ihre dunklen Haare rahmten ihr Gesicht ein. Ich beugte mich vor und küsste schnell ihren Scheitel, dann sprang ich auf und verließ ihr Zimmer, um draußen auf sie zu warten. Ich lauschte, doch nichts tat sich - ich konnte bloß ihr Herz und ihren Atem hören. Ich ließ die Haustür angelehnt und trat hinaus in den Schnee; einzelne Flocken rieselten vom Himmel.

Ich wartete eine Viertelstunde. Eine halbe Stunde. Eine dreiviertel Stunde. Es waren noch höchstens zwanzig Minuten bis Unterrichtsbeginn.
Ich ärgerte mich darüber, wie naiv ich gewesen war - dass ich tatsächlich geglaubt hatte, Bella würde sich von mir überreden lassen, einen weiteren Tag in ihrer ganz persönlichen Hölle zu verbringen. Ich schüttelte den Kopf, ging auf die Haustür zu. Da ließ mich ein leises Knarren aufhorchen.
Bella schloss die Tür hinter sich und kniff die Augen zusammen, geblendet von dem intensiven Weiß, das sich überall breit gemacht hatte. Sie zog die Ärmel ihres schwarzen Pullovers über ihre Fingerknöchel und lief ungelenk durch den Schnee auf mich zu.

Diesmal war ich derjenige, der „Danke“ sagte; ein angedeutetes Lächeln huschte über Bellas blasses Gesicht.
Sie führte mich zu ihrem rostbraunen Chevy, hielt die Beifahrertür für mich auf. Ich tat ihr den Gefallen und ließ sie fahren, was ich wenig später bereute, aber ich blieb tapfer und sah aus dem Fenster, um mich abzulenken.
Bella kicherte vergnügt angesichts meiner leidenden Miene. Sofort störte mich ihre Fahrweise nicht mehr, ich achtete nur noch auf den Klang ihrer Stimme und ihre Wangen, die etwas Farbe angenommen hatten.

Mein Blick viel auf die Schultasche, die Bella mir in die Hand gedrückt hatte. Sie war nahezu kugelrund. Verwundert sah ich Bella an.
„Was ist denn da alles drin?“ Sie warf mir einen ihrer seligen Blicke zu, die sie mir bereits heute früh geschenkt hatte, und befreite eine Hand vom Lenkrad, um den Reißverschluss ihrer Schultasche aufzuziehen.
Braunes Fell kam zum Vorschein.
„Er freut sich bestimmt“, sinnierte ich. Bella runzelte die Stirn.
„Der Teddy, meine ich. Er freut sich bestimmt darüber, dass er dich begleiten darf.“
Jetzt lächelte sie.

„Verrätst du mir irgendwann, wie er heißt?“
Bella fuhr auf den Schulparkplatz und schaltete den Motor aus. Schließlich holte sie den ziemlich zerknautschten Bär aus ihrer Schultasche und setzte ihn auf ihre Beine.
„Und?“, drängte ich. Sie sah mich nicht an.
*Edward…*, bestimmte sie und knuddelte ihren Teddy wie ein kleines Kind.
Hatte ich mich verhört? Hatte sie wirklich meinen Namen genannt? Hatte sie wirklich ihren neuen Teddy nach einem Vampir benannt?
„Er heißt… Ed… ward?“, fragte ich dümmlich. Sie stopfte das arme Tier wieder in ihre Tasche, nickte anschließend.
Er hieß tatsächlich wie ich.

Wir bahnten uns einen Weg durch Schneematsch und lärmende Schüler und stoppten schließlich vor Gebäude zwei. Bella verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte sie ihr laut pochendes Herz vor der Kälte schützen. Sie schluckte.
Ich wollte sagen: Nachher bin ich wieder bei dir. Meine Bella…
Stattdessen sagte ich nichts. Bella brauchte keine Worte.
Nur mich.
Ich streckte meine Hand nach ihr aus und berührte auf halbem Weg Bellas, die sich an meine Wange schmiegen wollte. Ich hielt sie fest.

Es machte mich glücklich, zu sehen, wie sie lächelte. In den letzten Stunden und Tagen hatte sie schon so oft gelächelt, doch für jedes Lächeln bezahlte sie einen Preis. Einen viel zu hohen Preis. Mit meinen Fingerspitzen berührte ich ihr Lächeln, das selten so sorgenfrei war wie in dieser Sekunde.
*Du… bist hier… oder? Du gehst nicht… weg.* Sie klang sicher, und genau so sollte es sein. Sie sollte immer wissen, dass ich nicht weggehen würde.
Ich wollte antworten, brachte jedoch nicht mehr heraus als ihren Namen.

Ich zog meine Hand zurück und drehte mich langsam um. Sie winkte, in ihren Augen leuchtete Zuversicht.
Ich winkte zurück, bevor ich mich endgültig von ihr abwenden konnte.


Kapitel 26

Neu


- ein halbes Jahr später -


Wir gewöhnten uns aneinander.

Den größten Teil ihrer Zeit verbrachte Bella mit mir. Zumindest in meiner Anwesenheit - wenn sie schlief. Das, woran ich mich am meisten gewöhnen musste, aber nicht wollte, waren die Decke, der Kakao und die Umarmung. Die drei Dinge, die Bella am meisten und häufigsten brauchte.
Ich schaffte es nicht, mich daran zu gewöhnen.
Bella auch nicht.
Doch inzwischen ruderte sie nicht mehr hilflos mit Armen und Beinen, um sich zu wehren, sondern ließ es geschehen, dass ich ihr die Decke um die Schultern hängte. Danach schlief sie selig.
Wenn sie auf dem Boden einschlief - was recht oft der Fall war- trug ich sie, in ihre Decke gewickelt, ins Bett.

Es fiel uns schwer, zu akzeptieren, dass ich jagen musste, um zu überleben. Ich schämte mich. Bella schämte sich auch - wenn sie entdeckte, dass sie sich gekratzt hatte, obwohl sie mir versprochen hatte, nicht…
Dann weinte sie.
Niemals würde ich mich daran gewöhnen können.
Sie versuchte, es zu verstecken, aber sie konnte mich nicht täuschen. Nein, nicht mich. Ich spürte es schon Minuten früher, bevor es losging. Bevor sie sich zusammenrollte wie ein Embryo. Bevor sie ihr Gesicht unter ihren Armen verbarg. Und wimmerte.
In gewisser Weise war ich ihr dankbar, denn dieses Wimmern hatte einen Instinkt geweckt, den ich verloren geglaubt hatte. Schritt für Schritt kam er hervor und drängte sich an die Oberfläche.
Mein Beschützerinstinkt.

Er hatte mich mutig gemacht, und mittlerweile wusste ich, wann der richtige Zeitpunkt war, mich neben sie zu legen und nichts mehr zu sagen außer: Shhh.
Ich glaube, sie mochte es.
Das Shhh.
Es betäubte sie. Es weckte auch in ihr einen Instinkt, ein angeborenes Verhalten, ein Bedürfnis. Sich fallen und trösten zu lassen. Wenn es so weit war, wurde eine Kettenreaktionen in Gang gesetzt.
Ich atmete – sie atmete. Sie war traurig – ich war traurig. Sie weinte – ich machte Shhh – sie seufzte – ich lächelte – sie suchte Zuflucht – ich breitete die Arme aus…
Dann, irgendwann, wenn sie erschöpft war vom langen Weinen, war es vorüber. Bis es wieder von vorne losging.
Ich wünschte, die zeitlichen Abstände wären größer.

Plötzlich war es uns so vertraut. Wir kannten uns doch kaum! Trotzdem hatte ich sie seit dem ersten Tag beschützt. Ich hatte es mir nicht erklären können, doch jetzt brauchte ich keine Erklärung mehr. Jetzt war es natürlich. So natürlich wie der Name, den sie so gern mochte. Kleine Bella.
Es war ihr egal gewesen, was ich bin. Sie hätte schreiend fortlaufen können; stattdessen war sie fasziniert davon, wie „lieb“ ich zu ihr war.
Sie dachte das sehr oft:
Edward… so lieb.
Ich verstand nicht, was genau sie an mir „lieb“ fand. Ich war ein Monster. Monster konnten nicht lieb sein.

Das war es, was mir am meisten zu schaffen machte – die Momente, in denen sie mich heimlich mit James verglich, mit dem noch viel größeren Monster. Manchmal dachte sie daran, wie unterschiedlich unsere Hände waren. Lieb… und grob. Unsere Blicke… zärtlich… und herablassend. Ich wollte nicht mit ihm verglichen werden. Ich hasste ihn, denn er hatte ihr weh getan, auch wenn ich noch nicht alles wusste. Er hatte sie kaputt gemacht. Wegen ihm war sie so verletzlich und wegen ihm war sie stumm.
Damit sie nichts tat, was in seinen gierigen roten Augen falsch sein könnte.
Damit er ihr nicht noch mehr antat.

Aber solange ich bei ihr war, konnte nichts passieren. Wir verbrachten die Pausen in der Schule gemeinsam. Alice hatte es sich als Ziel gesetzt, Bella ein paar Wörter zu entlocken, allerdings scheiterte sie täglich. Meine Brüder amüsierten sich köstlich darüber. Rosalie – nun, sie hielt sich im Hintergrund, wenn sie Bella nicht gerade anfauchte. Für sie war Bella immer noch eine Klette, eine Last. Für mich war Isabella Swan jemand, der mir sehr viel bedeutete. Jemand, der meine Hilfe brauchte. Für mich war sie einfach… meine kleine Bella.

Es gab Tage, an denen war alles in Ordnung. Wenn ich abends zu ihr lief und sie am Fenster auf mich wartete, konnte ihr nichts passieren. Wir taten nichts Besonderes – meistens malten wir Bilder. Es gab sogar Tage, an denen taten wir nichts weiter als einfach dazusitzen und, aneinander gelehnt, unserem Atem zuzuhören.
Es störte mich nicht. Es war genug. Mehr brauchten wir nicht.

Es gab Tage, die waren schrecklicher als die Nächte. Ich traute mich kaum, sie allein zu lassen um zu jagen, obwohl sie Edward, den Bären, verlässlich an ihrer Seite hatte. Doch das reichte nicht immer aus. Nicht dann, wenn sie schrie. Nach Hilfe, nach einem Halt, nach mir.

Doch heute war keiner dieser vorhersehbaren Tage.
Heute war etwas… neu.

„Was hast du mit ihr gemacht?“, japste ich.
Bella hockte auf der Kante eines Plastikstuhls am Tisch meiner Geschwister und starrte ihre Pizza an. Ihre Nasenspitze war kreidebleich und zuckte.
„Gar nichts!“, verteidigte sich Alice aufgebracht.
Bella sank in ihrem Stuhl zusammen wie ein Häufchen Elend und kaute auf einem Stück Teig herum.
„Ich habe sie bloß ein bisschen ausgefragt… ihre Interessen, du weißt schon! Ich glaube, sie hat etwas gegen Farben. Sie zieht ja doch nur schwarze Pullover an! Ach so, und Schmuck mag sie auch nicht. Vielleicht sollte ich mit ihr mal nach Seattle fahren, shoppen, was meinst du, Bruderherz?“

Bella verschluckte sich an einer Salami.
„Ich glaube, ein dezentes Rosa würde deine Bella gleich viel gesünder aussehen lassen, nicht?“
Ich klopfte Bella halbherzig auf den Rücken und knurrte leise in Alices Richtung.
„Was?“, fragte sie unschuldig. Ich seufzte.
„Ich finde, schwarz steht Bella ganz gut“, erwiderte ich vorsichtig, woraufhin meine Schwester mir einen ausdruckslosen Blick zuwarf.
„Mein lieber Edward. Schwarz ist… nichts!“ Bei dem letzten Wort breitete sie theatralisch die Arme aus. Bella verfolgte – mit mittlerweile immerhin normaler Gesichtsfarbe – unsere Auseinandersetzung.

Sie beugte sich mit amüsierter Miene über den Tisch und griff in Alices Haare.
*Schwarz*, stellte sie fest.
Alice verdrehte die Augen.

***

Schulschluss.
Bella hüpfte im Slalom um die letzten Pfützen, die nicht verschwinden wollten, obwohl bereits Mai war. Es störte mich nicht – regnerische Tage sicherten mir meine Zeit mit Bella.
Sie schlang einmal kurz ihre Arme um mich, bevor sie einen Schritt zurück machte – in die nächstbeste Pfütze – und mich mit schief gelegtem Kopf ansah. Das tat sie immer, jeden Tag, bevor ich, auch wie jeden Tag, meine Hand hob, um ihr zum Abschied zuzuwinken und mich umzudrehen mit den Worten: „Bis morgen, Bella.“

Ich hatte mich gerade umgedreht, als ich warme, menschliche Hände an meinem Rücken fühlte. Sie griffen in mein Hemd und ließen es solange nicht los, bis ich stehen blieb. Ich wunderte mich. Hatte ich etwas ganz wichtiges vergessen? Hatte Bella etwas ganz wichtiges vergessen? Ich drehte mich um.
Ratlos starrte sie auf meine Schulter, ratlos starrte ich zurück. Dann hob sie den Blick und lächelte, griff nach meiner Hand. Was hatte sie vor? Ich leistete keinen Widerstand, war zu neugierig.
Bella führte mich über den Parkplatz zu ihrem Chevy. Dort angekommen warf sie sich in meine Arme.

Ich stoppte meine Atmung. Es war nicht neu, dass Bella sich urplötzlich an mich klammerte. Doch dieses Mal hatte ihre Umarmung nichts Verzweifeltes. Nur etwas Friedliches. Vielleicht wollte sie mir etwas Schönes mitteilen? Ich legte meine Hand unter ihr Kinn, um ihr Gesicht anzuheben.
„Was ist passiert?“, fragte ich geradeheraus. Sie schloss ihre Augen - was mir nicht gefiel, denn so blieb mir verborgen, was ihre Augen mir über ihre Seele mitteilen konnten.
*Nichts passiert...*
Sie legte ihren Kopf seitlich an meine Brust.
*Komm…*
Sie lehnte sich fort von mir und zupfte an meinem Hemd.
*Komm…*
Bella öffnete die Beifahrertür. Erwartungsvoll sah sie mich an.

Ich verstand: Ich sollte sie begleiten. Bella verzog das Gesicht, während ich zögerte.
*Nicht… okay?*
Ich sagte nichts. War es okay? Wieso nicht? Was sprach dagegen? Nichts.
*Schon… gut.*
Sie biss fest auf ihre Unterlippe und kehrte mir den Rücken zu. Hatte ich zu lange gezögert? Sie womöglich verletzt? Ich legte eine Hand auf ihren Kopf, um ihre Haare durcheinander zu bringen. Schnell drehte sie sich um. In ihren Augen leuchtete noch Hoffnung.
„Wieso nicht?“, sprach ich es laut aus. Selig wirbelte sie herum, setzte sich und klopfte auf den Beifahrersitz.

Wortlos fuhren wir durch Forks. Die Stille war altbekannt und angenehm, wir hingen beide unseren Gedanken nach. Obwohl ich bereits so viele Stunden mit Bella verbracht hatte, machte es mich nervös, mit ihr beisammen zu sein, wenn nicht der Ausnahmezustand herrschte. Die Nacht.
Heute würde ich einen Tag mit Bella verbringen, die nachts oft nicht wiederzuerkennen war. Verstohlen sahen wir uns an, bevor sich unsere Blicke lächelnd trennten.
Bella fuhr in die Auffahrt; der Transporter kam zum Stehen.
Wir seufzten.
Bella machte den Anfang und floh aus diesem verwirrenden Moment.

Ich folgte ihr bis zur Haustür und stutzte. Bis jetzt hatte ich das Haus immer durch das Fenster in der ersten Etage betreten.
Bella schloss die Tür auf, blieb jedoch im Türrahmen stehen und sah mich äußerst vorsichtig an. Ich drückte ihre hochgezogenen Schultern sanft herunter und schob uns in den Flur, wo mir ein vertrauter menschlicher Geruch entgegenkam. Bella zog schweigend ihre Jacke aus, hängte sie an einen Haken, hängte meine hinterher und führte mich unsicher zur Treppe.

Geräusche aus der Küche ließen mich aufhorchen.
„Bella, Schatz? Wir haben schon gegessen! Dein Vater ist nicht hier, wir…
Oh…“


Kapitel 27


Anthony


„Ich schätze, Sie sind… äh… Bellas Mitschüler oder sowas?“, riet die zierliche Frau, die mir nun gegenüberstand. Sie war recht jung.
„Jawohl. Sie sind… Bellas Mutter?“ …oder sowas.
Sie räusperte sich. „Richtig.“
Stille.
Bella hatte sich auf eine Treppenstufe gesetzt und kratzte mit einem Fingernagel über das Holz. Ich richtete meinen Blick wieder auf ihre Mutter, die mir forschend in die Augen sah. Was suchte sie in meinem Gesicht?
*Entweder, er redet auch nicht viel, oder hat etwas mit ihr vor… Nein, er sieht so nett aus. Wahrscheinlich wird er es bald leid und zieht sich zurück. Das überlebt sie nicht. Aber wer weiß… man weiß ja nie… Vielleicht ist er anders? Er sieht jedenfalls anders aus…*

„Das ist das erste Mal, dass du jemanden mit nach Hause bringst!“ Fältchen bildeten sich um die Augen der Frau, als sie zu ihrer Tochter aufschaute und dabei lächelte. Bella starrte die Treppe hinab auf den Boden.
„Schön! Nenn mich Renee!“ Bellas Mutter schüttelte mir aufgeregt die Hand und zog mich ins Wohnzimmer. „Du hast bestimmt einen unglaublichen Namen! Einen edlen Namen!“ *Wer edel aussieht, hat einen edlen Namen!* Sie drückte mich auf das Sofa und verschwand in der Küche. „Roy? Charles? Anthony?“, rief sie.
Anthony. Verdammt.
„Eigentlich… Edward“, erwähnte ich, wobei ich ungewohnt kleinlaut klang.
„Und Anthony“, fügte ich leiser hinzu. Das Kratzen im Flur verstummte.

Renee erschien wieder und setzte sich mir gegenüber. „Edward! Schön!“ Über den kleinen Holztisch, der zwischen uns stand, schob sie eine Tasse; auffordernd hielt sie eine Teekanne in die Luft. Ich nahm sie entgegen und stellte sie höflich zurück an ihren Platz.
*Wahrscheinlich mag er keine Kräuter.*
Ein vertrautes Tapsen auf knarrendem Boden näherte sich. Erfreut streckte Renee die Hand nach ihrer Tochter aus. „Bella, Schatz! Setz dich!“ Erwartungsvoll wanderte ihr Blick zu dem leeren Platz neben mir. Ihre Mundwinkel senkten sich etwas, als Bella sich auf dem Teppich niederließ und zu mir aufsah.

*Anthony!* Bellas Gesicht hellte sich auf, bis sie wahrhaftig grinste. Renee beobachtete uns ungläubig. Sie war gerührt. Dann setzte sie ein Pokerface auf, das im Gegensatz zu ihren Gedanken stand.
„Also, Edward, du kennst Bella aus der Schule.“ Das war keine Frage, doch schien sie auf eine Antwort zu warten. „Ja - aus der Schule“, bekräftigte ich daher.
„Aha. Uhm… und du magst sie?“ Während das Lächeln von Bellas Lippen verschwand, setzte es sich auf Renees Gesicht und blieb dort. Bella sah mich an, die Intensität ihres Blickes machte mich nervös.
„Ja, natürlich“, antwortete ich ehrlich und versuchte dabei, Bella ebenso intensiv anzusehen.
*Süß, der haut nicht ab!*
„Schön!“ Die Frau hatte mittlerweile den Gedanken, ich wollte Bella benutzen, vergessen.

„Sei froh, dass Bella dich auch mag. Sie ist wählerisch. Genau genommen hat sie zum allerersten Mal überhaupt gewählt. Naja, wie auch immer. Schön, dich zu kennen!“
Bella zupfte an meinem Hemd. Ich glaube, das Gespräch war ihr sehr unangenehm. Ich stand auf, nahm ihre Hand und sah ihre Mutter mit meinem überzeugendsten Blick an. Das verwirrte sie.
„Jaja, geht nur! Ich sehe dich sicherlich bald wieder, nehme ich an.“ Renee strahlte zufrieden und tätschelte Bellas Kopf. Beschämt lehnte sie ihr glühendes Gesicht an meinen Arm, um es abzukühlen. Dabei zog sie mich langsam aus dem Raum, zur Treppe. Hastig löste sie sich von mir und flüchtete die Stufen hinauf.

Ich hatte gerade einen Fuß auf die erste Stufe gesetzt.
„Warte!“, zischte es da hinter meinem Rücken. Renee hielt mich am Ärmel fest und kam mit ihrem Gesicht bedrohlich nahe an meines heran. Hatte ich etwas falsch gemacht? War ich durch irgendetwas plötzlich schon in Ungnade gefallen? Angespannt wartete ich darauf, dass sie etwas tat.
„… redet sie mit dir?“, fragte Renee dann irgendwann verstohlen. In ihren Augen regte sich etwas, das aussah wie Hoffnung. Oh.
„Nein“, flüsterte ich traurig. Sichtlich enttäuscht nickte Renee, wandte sich endgültig von mir ab und verschwand in der Küche.
*Natürlich nicht. Natürlich. Wie dumm von mir…*

*Edward?*
Bella beugte sich über das Treppengeländer, streckte die Hand nach mir aus. Zu gerne hätte ich ihrer Mutter diesen Hoffnungsschimmer gegönnt und ihr von unserer besonderen Art von Kommunikation erzählt. Doch das war nicht möglich. Es war gefährlich. Und es war unser kleines Geheimnis. Bella konnte sich sicher sein, dass alles, was sie dachte, nur wir beide wussten.

Ich folgte ihr nachdenklich in ihr Zimmer und legte ihre verkrampfte Hand an meine Wange.
„Sie ist sehr nett“, sagte ich geradeheraus. Bella verbarg das Gesicht unter meinem Kinn.
„Sie sorgt sich um dich“, versuchte ich sie gesprächiger zu machen. Mit einem Seufzer stieß sie warme Luft gegen meinen Hals. *Ich… weiß…* Mehr sagte sie nicht dazu. Doch ich konnte ahnen, dass sie sich schämte. Ich wusste nicht, was ich dagegen unternehmen konnte, wartete also still ab – irgendwann musste sie sich schließlich wieder bewegen. Und normale Temperaturen an ihr Gesicht lassen, bevor sich ihre Lippen blau färbten.
Aber sie schien lieber ein eisiges Gesicht zu haben, als mir in die Augen zu sehen.

„Du bist so stur“, lockte ich sie sanft und lehnte mich zurück; mit großen Augen sah Bella mich an. Schließlich rieb sie ihre farblose Wange und brummte undeutlich. Ich setzte mich in den Schaukelstuhl, weit weg von ihr – fast zu weit – und tat nichts weiter, als gemütlich zu schaukeln und Bella anzusehen. Warum mied sie dieses eine Thema? Fast jeden Abend verbrachte ich mit ihr – grübelte, malte, lauschte den wenigen Worten, die sie mich hören ließ. Es waren mehr geworden in letzter Zeit. Nur ihre Eltern hatte ich noch nie angetroffen. Es kam mir beinahe so vor, als wohnte Bella allein in diesem Haus…

Sie hörte ein Geräusch, drehte kaum merklich den Kopf. Was sie gehört hatte, war die zufallende Haustür. Wohin ging Mrs. Swan?
Bella hockte sich vor mich auf den Boden, lehnte sich an den Nachttisch, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen, öffnete die Augen, schaute mich an, schaute weg, schaute mich ein zweites Mal an und robbte nahe genug an mein Bein heran, um den Kopf an mein Knie zu lehnen. Ich hörte auf zu schaukeln und beugte mich vor, beugte mich so weit zu ihr herunter, bis ich einen Kuss auf ihren Scheitel drücken konnte. Ein ungewohntes Brennen zog sich durch meine Lippen.

Nicht nur durch meinen, sondern auch durch Bellas Körper ging ein Ruck. Was ich gerade getan hatte, war weder geplant noch kontrollierbar gewesen. Es war der Welle von Glück zuzuschreiben, die mich durchflutet hatte, als sie mich so vertrauensvoll berührte: Zwar durcheinander, vielleicht auch unglücklich, doch ohne Angst.
Sie fuhr mit der Hand über ihr Haar.
„Wohin geht deine Mutter?“, fragte ich leise. Bella schlang ihre Arme um mein Bein.
*Arbeiten…*, kam es nach einiger Zeit aus einer stillen Ecke ihres Kopfes. Ihre Mutter ging also zur Arbeit. Um sechs Uhr abends?
Ich fuhr mit meinem Zeigefinger ihren Scheitel entlang.

„So spät?“
*Hm…*
„Wo denn?“
*Pub…*
Deswegen die Uhrzeit.
Bella zog die Beine an ihren Körper und legte den Kopf nun auf ihr eigenes Knie, den Blick müde auf ihr Bett gerichtet.
*Wegen mir…*, wisperte sie in Gedanken. Diese Stimme, die eigentlich niemand hören durfte, war leise und wackelig, klirrte wie Glas, zerbrach in viele Einzelteile. Das machte mich… traurig. Immer war sie so zerbrechlich. Natürlich war sie das, denn sie war menschlich – mehr als die meisten Menschen. Ich war nicht menschlich. Langsamer als normal für Wesen wie mich sank ich neben Bella auf den Boden, um wenigsten auf gleicher Augenhöhe mit ihr zu sein. Außerdem beruhigte sie meine Nähe. Meistens.

„Wegen dir?“
Was konnte sie für Auswirkungen auf Mrs. Swans Arbeit haben? Da ich direkt neben ihr saß, konnte ich nicht in ihre Augen sehen, aber ihren Atem konnte ich hören - gepresst, mühevoll.
*Damit… wir uns nicht… ansehen müssen…*, stieß sie hervor. Damit sie sich nicht ansehen mussten? Was sollte das heißen?
„Das verstehe ich nicht“, gab ich zu. Drängen wollte ich Bella nicht, und damit sie das wusste, legte ich meine Hand auf ihren Kopf.
*Ich… gehe ihr aus dem Weg… hab Angst.* Bella atmete ein.
*Deswegen… geht sie.* Bella atmete aus. Laut.

„Sie geht, wenn du kommst, damit du ihrem Blick nicht öfter ausweichen musst als nötig, weil du dich schämst?“ Ich verstand allmählich. Bella nickte, ein trockenes Schluchzen wurde von meinem Hemd erstickt, in dem sie ihr Gesicht vergrub. Sie erschrak nicht, als ich meine Hand – immer noch auf ihrem Kopf liegend – in gleichmäßig streichelnden Bewegungen über ihr Haar bewegte. Das war noch nicht lange so. Dass sie es geschehen lassen und dabei wissen konnte, dass es in zärtlicher Absicht passierte.
„Bella…“ Auch das war etwas, was sie gern hatte. Ihren Kosenamen zu hören. „Ich glaube nicht, dass deine Mom denkt, dass du dich schämen solltest.“ Ihr Atem wurde sehr ruhig. Sie verdrehte den Kopf. Sah mich an, zweifelnd.

„Das klingt fremd?“, fragte ich sanft. Eine Weile dachte sie nach, nickte dann. Ihr Blick irrte umher, auf der Flucht vor meinem. Ich bemühte mich, meiner Stimme einen noch sanfteren Klang zu geben, als ich sagte: „Lass dir Zeit.“
Jetzt huschte ihr Blick doch kurz zu mir.
*Wofür…?*
Für alles, wollte ich sagen. Zum Leben, zum Herausfinden ihrer Grenzen, zum zaghaften Annähern an andere Menschen… und mich…
„Weiß nicht – was tust du denn gerade?“
Sie schloss die Augen. Das hieß, dass sie sich wohler, sicherer fühlte.
*Naja… nachdenken?* Sie streckte die Beine aus.

„Na, dann lass dir Zeit mit… Nachdenken.“ Unsicher öffnete sie die Augen und sah sie zu mir auf. Es war schön und erleichternd, ihr direkt in die Augen sehen zu können. Das passierte nicht oft. Ihre Augen waren weit geöffnet, die Pupillen groß, die Iris dunkel und tief. Ich mochte ihre Augen. Sie waren anders. Anders als die der anderen Menschen. Sie waren ehrlich.
Ich brachte mein Gesicht noch ein wenig näher an Bellas. Sie wich nicht aus. Noch näher. Ihre Pupillen wurden immer größer. Ihre Nase war im Weg, ich berührte sie mit meiner.
Sicherheitshalber beschloss ich, nicht mehr zu atmen.
*Näschen-Näschen…*, murmelte sie benommen. Eine Sekunde darauf schloss sie die Augen.
Schade, jetzt konnte ich nicht mehr in ihnen lesen. Es gab nichts, was ich lieber tat.

Aber zu beobachten, wie sich ihre Wimpern bewegten, war auch schön. Ich konnte gut dabei nachdenken. Und Bella auch. Es war gut, dass sie sich damit „Zeit ließ“, es war wichtig, dass sie auf sich aufpasste und merkte, dass sie nicht alles schuld war. Dass sie manche Dinge nicht verdient hatte, manche Dinge nicht ändern konnte - und dass manche Dinge, die ihr gut taten, richtig waren. Wieso sollte ihr kein Glück zustehen?
Bella gähnte.
„Müde?“, fragte ich und lachte leise, weil sie errötete. Zu schnell, um von ihr vorausgesehen zu werden, hatte ich sie ein paar Meter weiter auf das Bett gehoben. Sofort griff sie nach meiner Hand; ich könnte ja weglaufen. Natürlich tat ich es nicht. Ich legte mich mit ein wenig Abstand neben sie.

So warteten wir – wie fast jeden Abend - gemeinsam darauf, dass Bella der Schlaf übermannte. Weder mir noch Bella wurde es langweilig, mehrere Stunden zu schweigen. Im Gegenteil – es war aufregend, neben einem warmen Menschen zu liegen und ohne störende Hintergrundgeräusche ein Herz schlagen zu hören, zart und lebendig. Und für Bella bedeutete es, dass sie sich nicht verstecken oder verstellen musste; dass sie sich trauen konnte einzuschlafen, denn es war jemand da, der aufpasste und der keine Worte von ihr verlangte – der einfach nichts von ihr verlangte.
Sie war in Sicherheit.

Mit dem Wissen schlief sie ein.


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Letzte Woche bekam ich Post von lachmaus, einige kennen sie bestimmt. Sie teilte mir mit, dass auch in diesem Jahr der DHA – Diamond Heart Award stattfindet, sowas wie die Oscars für Twilight-FFs. :D
Sie bat mich, auch in diesem Jahr Werbung zu machen und ich tue es liebend gerne, weil ich die veranstaltende Seite und den DHA selbst richtig gut finde. Die Seite heißt fictionfans.de, ist gedacht für Twilight und Harry Potter FFs sowie für unabhängige Texte und hat das Motto: More love for the fandom.

Seit fast einer Woche läuft nun also (unter diesem Motto) der zweite Diamond Heart Award, bei dem jeder – ohne Anmeldung – Twilight FFs nominieren kann. Dieses Jahr sind zwei neue Kategorien dabei: Der beste Cliffhanger und die Evergreen-FF.
Alle Regeln, Kategorien und andere Infos könnt ihr euch bei Interesse auf der Seite selbst anschauen:

http://fictionfans.de/viewpage.php?page=award

Momentan läuft die Nominierungsphase. Wenn ihr FFs vorschlagen wollt, habt ihr noch zweieinhalb Wochen Zeit, um fleißig zu lesen – maximal bis zum
25. Mai 2011.
Ab dem 29. Mai könnt ihr dann abstimmen, und Mitte Juni gibt es dann schließlich die Ergebnisse.
Ich finde es prima, dass es den DHA überhaupt gibt, und es lohnt sich auf jeden Fall, fleißig FFs zu lesen, vorzuschlagen und abzustimmen. Es macht Spaß, bringt „more love for the fandom“ und die Banner, die lachmaus für die Gewinner bastelt, sind genial. :D

Schaut euch den Link oben einfach mal an und überlegt es euch.

Liebe Grüße

SheLovesTwilight


Kapitel 28

Atmosphäre


Es war sechs Uhr morgens am Wochenende. Die Sonne tat Forks den Gefallen und drängelte sich durch die Wolken, jedoch schwach genug, um keine Gefahr für mich darzustellen. Ein Blick zur Seite zeigte mir, dass mein schutzbedürftiges Menschenmädchen mit leicht angezogenen Beinen friedlich schlief, mit dem Kopf neben dem Kopfkissen und der Bettdecke auf dem Boden.
Es war ein vollkommener Morgen.
So vollkommen, dass ich mich traute, mich auf die Seite zu rollen, einen Arm um Bellas Bauch zu legen und mein Gesicht an ihren Nacken zu schmiegen. Guten Morgen, dachte ich zufrieden. Die durch Bellas Haare gedämpfte Wärme war wohltuend. Was hätte ich dafür gegeben, für immer so verharren zu können! Diese Freundschaft mit allem, was Bella und mir durch sie geschenkt wurde, begann meiner Existenz irrationaler Weise einen Sinn zu geben.

Ich hörte sie einatmen, fühlte, wie ihr Körper sich hob. Mich ihrem Rhythmus anpassend atmete ich aus, sobald ihre Brust sich senkte. Ich zog meine Hand von ihrem Bauch, legte sie flach an ihren Hals. Ich sah nicht hin, nein, ich verließ mich diesmal nicht auf meine Augen. Ich verließ mich nicht auf Tatsachen, sondern auf etwas, das ich nur fühlen, nur erahnen konnte. Langsam tastete ich mich voran. Meine feinnervigen Fingerspitzen fanden bald, wonach sie gesucht hatten. Ich hielt meine Augen geschlossen, während ich den Atem anhielt und nur noch fühlte.
Zart pochte ihr Puls gegen meine Hand.
Ehrfurcht ergriff mich. Sie war ein Mensch. Ich hatte es gewusst, aber noch nie so intensiv gespürt. Meine Finger berührten ihr graziles Schlüsselbein, bestaunten die ungeheuer leicht brechbaren Knochen, erkundeten auch die weiche, warme Haut, die darüber gespannt war…

Ich wollte nicht zu weit gehen, aber meine Hand wollte nicht aufhören zu suchen, nach… ich wusste nicht wonach. Aber ich suchte es, ich fühlte, dass es nahe war. Behutsam tastete ich mich weiter, der Wärme entgegen… stoppte an ihrem Busen. Meine Hand zitterte nach der abrupten Bewegung. Ich hatte es gefunden, ich hatte gefunden, wonach ich mich sehnte. Ich spürte ihn!
Bellas Herzschlag…

Jäh riss mich das Knarren der Treppe aus meinem Ausnahmezustand. Meine Sinne waren alarmiert. Wie konnte es sein, dass ich – ausgerechnet ich, der aufmerksamste der Cullens! – nicht schon längst die Schritte gehört hatte, die sich unaufhaltsam und zögerlich zugleich auf Bellas Zimmer zubewegten?
Was sollte ich tun?
Gehen?
Bella allein lassen?
Das konnte ich nicht. Obwohl ich sie noch nie am Wochenende besucht hatte, denn meistens nutzte ich diese Zeit zum Jagen, brachte ich es diesmal nicht über mich, einfach zu verschwinden. Ihr enttäuschter Blick! Ich wollte ihn mir nicht länger vorstellen…
Irgendwann musste der Zeitpunkt sein, an dem sich etwas änderte. Warum nicht heute? So legte ich meinen Arm zurück um Bellas Bauch, schloss die Augen und stellte mich schlafend. Mir war bewusst, dass ich mich weit vorwagte, dadurch, dass ich trotz der Schritte, die vor der Zimmertür innehielten, immer noch neben Bella lag. Ich hoffte, dass es richtig war, mutig zu sein.

Es klopfte.
So leise, dass Bella es unmöglich hören konnte, selbst wenn sie wach gewesen wäre.
Ein zweites Klopfen, noch leiser als das vorherige. Ich war regungslos, als die Tür aufging. Durch schwache Augen sah ich Bella und mich in einem schmalen Bett liegen; fremde Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Es waren Renees Gedanken.
*So schön friedlich…* Der Satz war dominierend in ihrem Kopf. Sogar ihre Überraschung darüber, mich immer noch in ihrem Haus zu sehen, war weniger präsent.
Die Tür wurde geschlossen. Ich hörte Bellas Mutter auf und ab gehen, bis sie sich irgendwann dazu entschloss, sich ans Bettende zu setzen. Sie faltete ihre Hände und seufzte schwer.
*Deine Mutter darf dich nicht anfassen, aber er darf in deinem Bett schlafen.*
Erst klang sie enttäuscht, dann hoffnungsvoll und gespielt entrüstet.

*Ich kann ihm ja ansehen, dass er anders ist, Schatz, aber er ist auch nicht genauso wie du. Zumindest ist er gesprächiger…* Nun ja. So viel gesprächiger auch wieder nicht.
*…ist er denn auch so einsam?* Ich beherrschte mich, nicht zusammenzuzucken. Ohne Bella war ich tatsächlich schrecklich einsam. Ich wollte nicht daran denken. Hundert Jahre waren mehr als genug gewesen. Jetzt hatte ich Bella. Oder? Egoist…
*Malt er auch gerne? Malt er mit dir?* Ich hörte sie eines der zahlreichen Bilder von der Wand abhängen. Es war die Zeichnung der zwei ineinander geschlungenen Hände. Sie sah hinab auf meine Hand, in welcher Bellas ruhte. Renee tätschelte meinen Handrücken.
*Sie hätten sich besser nicht auf, sondern unter die Bettdecke gelegt. Ihm frieren bald die Hände ab.*
Naive Renee. Ihre Instinkte funktionierten nicht richtig.

Da ich das nun wusste, verstörte es mich auch nicht, dass sie sich über uns beugte und mit ihren dünnen Fingern durch unsere Haare fuhr.
*Ich wüsste wirklich gern, wie er es geschafft hat, dass er in deine Nähe kommen darf. Hat er dich vor etwas beschützt? Vertraust du ihm?* Mrs. Swan mochte naiv sein, aber auch sehr intelligent.
*Er sieht stark aus. Naja, gestern, als er wach war, sah er stark aus. Jetzt sieht er fast so verletzlich aus wie du. Vielleicht hast du endlich jemanden gefunden, der dir den Schutz bieten kann, nach dem du suchst? Endlich! Es hat schließlich dein halbes Leben gedauert… Ach…* Sie hatte so viele Gedanken gleichzeitig, dass diese sich gegenseitig verdrängen wollten und ich nicht herausfiltern konnte, was genau sie überhaupt dachte.
Aber ihre Trauer konnte ich erkennen.

Sehr lange formulierte sie keine konkreten Gedanken, beobachtete uns stattdessen gründlich. Zum Beispiel fand sie es „niedlich“, wie ich Bella umarmte. Das wunderte mich – eher hatte ich erwartet, dass es sie störte, dass ein Fremder bei ihrer Tochter übernachtete. Doch dem war nicht so, im Gegenteil: Sie war überglücklich darüber. Noch extremer: Sie sah in mir keinen Fremden. Ich war der Edward, den Bella brauchte, also war ich kein Fremder. Von dieser Seite hatte ich es noch nie betrachtet! Obwohl es gut klang…
Mrs. Swan stand vom Bett auf, jedoch nicht ohne uns noch einmal mütterlich über den Kopf zu streicheln.
*Dann lasse ich euch mal weiterschlafen. Ich mache Frühstück für euch! Ihr wollt bestimmt allein hier oben frühstücken. Obwohl… Nein, Renee! Dann kannst du ihn ja nicht aushorchen! Richtig, sie können auch unten frühstücken, jetzt, da Edward ja quasi zur Familie gehört… Oh, ich habe so viele Fragen an ihn!...*

Aufgeregt lief sie auf die Tür zu; sie hüpfte fast. Als mir klar wurde, wie viel Hoffnung sie in mich setzte, setzte sich ein Kloß in meinen Hals. Was, wenn ich ihre Hoffnungen enttäuschte? Was genau hoffte sie? Dass ich ihre Tochter zum Reden brachte? Wie sollte ich das anstellen? Bella hatte keinen Grund dazu, normal mit mir zu reden, ich hörte doch alles, was sie mir mitteilen wollte - was sie bereit war preiszugeben. Außerdem… war da immer noch James.
Mein Magen zog sich unangenehm zusammen. Da war immer noch der Jäger, der Bella verboten hatte, zu sprechen. Er hatte ihr nicht befohlen, gar nichts zu sagen, aber für Bella war das sicherer. Denn ich hatte ja keine Ahnung, was er tat, wenn Bella etwas sagte, dass er als falsch befand! Er tat etwas, das ihr Schmerzen zufügte, körperlich oder seelisch, egal! Es waren Schmerzen! Schmerzen, die sie nicht verdient hatte! Schmerzen, die sie fürchtete! Unmenschliche Schmerzen…

*Edward…*

Bella war wach!
Sie drehte sich auf die andere Seite und sah mich verschlafen an. Ich war unvorbereitet - sie konnte die Sorge in meinem Gesicht sehen, reagierte darauf ebenfalls mit Sorge. Das hatte ich nicht gewollt, aber es war zu spät. Ein winziges Grübchen tauchte zwischen ihren Brauen auf, als sie sich wach blinzelte. Bella legte ihre Hand in meinen Nacken, zog mein Gesicht schüchtern näher an ihres. Ich wusste nicht, was sie vorhatte, aber ich gab nach. Ohne den Blick von mir zu wenden, zog sie mich immer näher, bis ich nicht mehr anders konnte, als zurück zu starren und mich ihrem forschenden Blick zu ergeben. Angesichts der Wärme in ihren braunen Augen konnte ich auch nicht länger beunruhigt sein. Zu viel Wärme…

Der Druck ihrer Hände in meinem Nacken wurde größer, sie zog mein Gesicht an ihre Schulter, schlang beide Arme um meinen Oberkörper und drückte mich fest. Ich keuchte leise, ob der gewaltigen Hitze, die auf mich einschlug. Dann begann ich mich wohl zu fühlen, so nah bei ihr. Den gesamten Morgen schon war ich so nah bei ihr gewesen, ohne dass sie davon wusste. Nun hielt sie mich fest, ganz nah bei sich, ganz nah an ihrem Herzen. Freiwillig.
„Guten Morgen“, wisperte ich rau gegen ihren Hals, von dem ein verlockender Geruch ausging - den ich ignorieren musste. „Guten Morgen“, wisperte ich ein zweites Mal, diesmal auf ihre Nähe konzentriert und somit in zärtlichem Ton. Das Blut in ihrer Halsschlagader rauschte kräftiger. Bella neigte den Kopf und konnte ihr Gesicht in meinen Haaren verstecken, ihre Hände fanden den Weg von meinem Rücken zu meinem Nacken zurück und… kraulten ihn vorsichtig. Oh, es schien beinahe, als wollte Bella mich zufrieden brummen hören, und sie gewann. Während ich nicht wusste, was ich tat, löste ich mich von ihrer Schulter, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und beugte mich herab, um ihre Stirn zu küssen.

Sie atmete schneller. Ich auch. Erschrocken setzte ich mich auf.
Bella hatte die Augen halb geschlossen, ihre Haare waren durcheinander, ihre Wangen schimmerten rot. Etwas zog sich in mir zusammen bei diesem Anblick. Sie schlang ihre dünnen Arme um ihre Brust und versuchte dabei, den Oberkörper aufzurichten. Als sie es geschafft hatte, ließ sie die Hände in ihren Schoß fallen und starrte die Matratze an.
*Du bist… nicht…weg.*
Oh Gott, ihre Stimme war tonlos. Ich hatte alles kaputt gemacht mit meiner Sucht nach Wärme, nach ihrer weichen Haut. Ekel schüttelte mich.
*Noch mal…*
Ihre Wangen färbten sich zart rot.
Ich verstand nicht.
„Was?“

*Noch mal… bitte… bitte?*
Ihre Augen huschten hin und her, ihre Unterlippe zitterte.
Ich verstand nicht, was sie von mir wollte.
„Noch mal?“, fragte ich irritiert. Sie nickte heftig.
Noch mal. Was sollte ich noch einmal tun? Verständnislos sah ich sie an.
Dann… stutzte ich. Noch mal. Sollte ich wiederholen, was ich im Affekt getan hatte?
Ich lehnte mich nach vorn. Bellas Puls raste. Aber ich dachte, sie hatte es nicht gewollt, ich dachte, ich war ihr zu nahe gekommen! Vielleicht wollte Bella gerade, dass ich nicht so sehr darüber nachdachte. Vielleicht wollte sie einfach nur… einen Guten-Morgen-Kuss.
Behutsam legte ich meine Fingerspitzen unter ihren kristallenen Kiefer und meine Handflächen an ihre weichen Wangen. Ich beobachtete genau, ob sie es wollte oder ob sie sich wehrte. Sie hatte die Augen kaum geöffnet, als sie, kaum merkbar, den Hals reckte.
Sie wollte nichts mehr als diesen einen Guten-Morgen-Kuss.

Als sich meine Lippen wieder von ihrer Haut trennten, wimmerte ich. Guten Morgen, Bella, wollte ich sagen, aber die Luft strömte zu zittrig aus meinem Mund. Die Nerven in meinen Lippen waren empfindlich und nicht an diese Hitze gewöhnt, die unter Bellas Stirn pochte. Aber sie hatten es genossen. Sehr…
*Du bist… nicht…weg*, hörte ich zum zweiten Mal. Diesmal nicht tonlos, diesmal willkommen heißend. Willkommen zuhause.
„Deine Mutter wartet in der Küche auf uns“, teilte ich ihr mit. Benommen, berauscht. Zufrieden mit der Welt. Zum ersten Mal.
Bella sah endlich zu mir auf. Lächelte, nein, strahlte! Sie kletterte vom Bett, nahm in Kauf, dass meine Hände sich von ihrem Gesicht lösten. Ich sah ihr dabei zu, wie sie ins Bad tapste und blieb allein in ihrem Zimmer zurück.

Bevor ich mich auf den Weg in die Küche machte, gestattete ich es mir, mich auf den Bauch zu legen, die Arme auszustrecken und glücklich in der Atmosphäre zu schwelgen, die sich im Zimmer ausgebreitet hatte. Es war eine Atmosphäre, die ich zum ersten Mal erlebte. Sie war rein und menschlich und herzlich und nahm mich auf, obwohl ich weder rein noch menschlich war noch ein Herz hatte. Es war eine Atmosphäre, die mir nicht gestattet sein sollte.
Denn sie ermöglichte es mir, zu fühlen.
Sie ermöglichte es mir, zu lieben.
Bella zu lieben.
Rein und menschlich und herzlich.

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Texte: Disclaimer: Sämtliche vorkommende Personen aus der Bücher-Serie "Twilight" gehören Stehenie Meyer. Ich habe keine Rechte an ihnen und ich verdiene kein Geld mit dem Veröffentlichen dieses Textes. Die Texte in den geschweiften Klammern {} sind Zitate aus „midnight sun – Edward auf den ersten Blick“ © Stephenie Meyer.
Tag der Veröffentlichung: 06.03.2011

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