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Prolog

In dem langen modernen Flur sah sich Jaden nicht sonderlich um, er kannte jeden Winkel dieses Stockwerks und es interessierte ihn nicht, wie die Leute ihn anstarrten, weil er dem Dresscode nicht entsprach. Doch er gehörte auch nicht zu den Anzugträgern. Ganz im Gegenteil. Die Konferenzräume und Büros waren mit Milchglas ausgestattet, dennoch spürte er ihre verurteilenden Blicke auf sich.

Er wunderte sich nicht, dass er schon wieder hierhergerufen wurde. Schließlich war es sein Chef, der ihn hierher gerufen hatte. Und sein Chef war kein zimperlicher Mann, seine Aufträge waren schmutzig und manchmal auch tragisch. Wobei Jaden eh keine großartigen Schuldgefühle oder Ähnliches bei seinen Aufträgen verspürte.

Jaden klopfte gar nicht erst an die Milchglastür des Konferenzraumes, sondern packte den Griff und schwang sie auf und trat in den großen, hellbeleuchteten Konferenzsaal. Alle Ratsmitglieder saßen an dem großen langen Tisch und hatten ihre Unterhaltungen beendet, sobald sie ihn sahen.

»Jaden. Wie schön, dass du nun anwesend bist«, sagte Walther. Er war der Kopf des Rats der Vampire und sein Chef. Sein Haar war kurz und schwarz, an den Seiten sah man die ersten grauen Haare. Er war schlank, hatte wenig Muskelmasse, dennoch große Kraft in seinen alten Knochen. Walther war einer mit der ältesten Vampire, die es auf der Welt gab.

Und immer, wenn Jaden Walther sah, bekam er einen Adrenalinstoß und hätte am liebsten den ganzen Konferenzsaal auseinandergenommen.

Die Einrichtung konnte Jaden sowieso nicht leiden. Nichts konnte er hier leiden. Geschweige denn den Rat selbst. Denn Jaden war ein Auftragskiller und konnte sich diesem Job nicht einmal entziehen.

Die Wände waren weiß, cremeweiß, was in seinen Augen noch abscheulicher war und die abstrakte Einrichtung mit der abstrakten Deko ließ seinen Magen umdrehen. Alles war geheuchelt in dieser Firma. Am Glastisch saßen die Vampire in den schwarzen eleganten Stühlen und betrachteten ihn. Er verabscheute diesen Raum, genauso wie er Walther verabscheute.

Und Jaden wusste, dass es nicht angebracht war, dem Vampir Fragen zu stellen. Walther genoss es, dass man ihm seine Zeit ließ, damit er seine Machtposition auskosten konnte. Dabei wollte er dann im Nachhinein, dass seine Aufträge am besten schon zu vorgestern erledigt wurden.

Er war der Mann, dem man lieber nicht auf die Pelle rückte, aber Jaden wollte sich nicht seine Zeit stehlen lassen. Schließlich war auch seine Zeit begrenzt.

An der Glaswand neben der Tür lehnte sich Jaden an und stemmte einen Fuß dagegen, während er nur an einen Punkt starrte, der außerhalb der anderen Personen lag. Jaden war einfach kein Mann der Gesellschaft. Und wenn Walther erstmal von seinem Stuhl aufstand, und durch den Raum wanderte, dann würde seine Rede mindestens eine halbe Stunde dauern.

Doch der Vampir blieb an seinem Platz sitzen. Ein Glück.

Er saß auf dem einzigen Stuhl, der anders aussah als die anderen Stühle. Seiner sah mehr aus wie ein Thron und das gefiel Jaden nicht. Walther war kein Herrscher. Und schon gar nicht über das Vampirvolk. Es gab niemanden, der die Vampire anführte, und es würde auch nie jemanden geben. Die Vampire waren ein freies Volk, dennoch gab es selbstverständlich Regeln.

»Ich möchte dich doch sehr bitten, dich mit an den Tisch zu setzen«, sagte Walther eindringlich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Zähneknirschend ging Jaden auf den Tisch zu und zog sich einen Stuhl zurück und setzte sich. Mit verschränkten Armen beobachtete er Walther und die anderen Vampire am Tisch.

Wie lange wollte Walther ihn denn noch hinhalten? War der Auftrag diesmal schwieriger? Oder musste Jaden diesmal in ein weit entferntes Land? Dagegen hatte er nichts, so konnte er wenigstens Mal seine Ruhe vor diesem Vampir genießen.

Jaden wartete immer noch darauf, dass Walther endlich wieder etwas sagte, damit er schnell hier abhauen konnte. Von diesem Raum bekam er buchstäblich Ausschlag.

»Hast du jemals einen Mischling gesehen?«, fragte Walther und Jaden zog die Augenbrauen zusammen.

»Einen Halbvampir? Nein, natürlich nicht«, sagte er und wollte sich darüber lustig machen, allerdings verstand Walther keinen Humor. Deshalb ließ er es einfach dabei. Walther nickte mit dem Kopf und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Akte und schob sie dann über den Tisch zu Jaden.

»Und weißt du, woran das liegt?«, fragte Walther.

Jaden hatte sich die Akte genommen, allerdings war der Inhalt nicht das, was er erwartet hatte, denn es handelte sich um ein altes Artefakt, welches dem Vampirvolk gehörte. Davon hatte Jaden schon einige Geschichten gehört und es für eine Legende gehalten. Schließlich war das Artefakt, welches er hier sah, die uralte Halskette der Göttin Lilith.

»Weil es ein Verbot gibt. Vampire dürfen sich nicht mit Menschen paaren, denn die Wesen, die daraus entstehen, können einfach zu mächtig sein.«

Auch jetzt nickte Walther wieder. Wollte er einfach nur Jadens Allgemeinwissen testen?

»Dieses uralte Artefakt wurde aufgespürt in einer kleinen Stadt. Jahrhunderte lang wurde dieses Artefakt von einer Hand in die nächste Hand verhandelt und verkauft. Man wusste nie, wo sich diese Halskette nun befand. Doch vor einigen Jahren hat man ihren Standort ausfindig machen können und dieser Ort galt als sicher. Deshalb haben wir uns nicht die Mühe gemacht, das Artefakt zu holen und wegzusperren.«

Jaden wusste immer noch nicht, worauf Walther eigentlich hinaus wollte. Sollte er das Artefakt nun doch von diesem sicheren Ort stehlen? Und dann geschah das, was Jaden hoffte, zu vermeiden. Walther war von seinem Sitzplatz aufgestanden. Seine Hände legte er sich auf den Rücken und marschierte gemächlich um den Tisch.

»Das Artefakt symbolisiert, wie du weißt, das Leben der Göttin Lilith. Es ist ihr Blut in diesem Artefakt und es ist unglaublich heilig für das Vampirvolk. Wir wissen nicht genau, wann es passiert ist, aber das Artefakt wurde aus dem Museum gestohlen. Dort wo wir dachten, es sei sicher«, erklärte Walther weiter.

Jaden hatte sich in dem Stuhl zurückgelehnt und beobachtete den Vampir. Er mochte es nicht, wenn Walther hinter ihm herging. Es machte Jaden regelrecht nervös.

Da wollte er am liebsten seine Waffe ziehen und sie auf ihn richten. Aber dann würde er vermutlich einen grausamen Tod sterben. Und auch wenn Jaden diesen ganzen Rat hasste wie die Pest, er wollte nicht sterben.

»Ich will, dass du dieses Artefakt findest und es dem Rat bringst. Diese Halskette der Lilith gehört nicht in die Hände eines Menschen.«

»Okay, verstanden. Artefakt suchen, finden und hierher bringen. Das war’s?«, fragte Jaden, denn er hatte wirklich keine Lust mehr, Walther noch weiter zuzuhören. Was sollten Menschen schon mit so einem Artefakt anfangen können? Für die Menschen hatte es nicht die geringste Bedeutung. Allerdings hatte Jaden das Gefühl, als würde Walther nicht alles über dieses Artefakt erzählen.

»Das war’s«, sagte Walther und lächelte, die kleinen Spitzen seiner Fänge wurden sichtbar.

»Eine Frage noch, gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, wo sich das Artefakt nun aufhalten könnte?«, fragte Jaden und stand bereits von dem Stuhl auf. Doch scheinbar war sich keiner sicher und selbst Walther schwieg für einen Moment. Na super. Ein Artefakt in der Größe einer Erdbeere konnte nun überall auf der Welt sein.

»Die letzte Beobachtung war irgendwo im Westen von Oregon in Amerika.«

Wow, das war auf jeden Fall einen Sprung entfernt von New York City, dachte sich Jaden und grinste in sich hinein.

Kapitel 1 - Khalida

 Nicht das erste Mal schrak ich aus meinem Schlaf hoch. Schweiß rann an meiner Stirn und meinen Wangen hinab, tropfte von meiner Nasenspitze auf meine Hände. Aber ich war wach, das merkte ich daran, dass ich mich kneifen konnte und auch Schmerzen spürte. In meinen Träumen konnte ich mich nicht verletzen und hatte dementsprechend auch keine Schmerzen.

Diese Träume fingen vor ein paar Wochen an und seitdem hatte ich sie so gut wie jede Nacht und sie hielten mich stundenlang wach.

Mein Blick war immer noch an die Wand gerichtet und langsam atmete ich ein und wieder aus, langsam beruhigte ich mich wieder. Dann wanderte mein Blick über meinen Schreibtisch und wanderte weiter zu meinem Nachttisch und starrte auf die roten Ziffern meines Digitalweckers. Drei Uhr morgens. Na toll!

Vier ganze Stunden hatte ich geschlafen und weitere drei Stunden blieben mir noch, bis mein Wecker eigentlich klingeln würde. Aber es hatte ohnehin keinen Sinn für mich, mich noch einmal umzudrehen. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Das konnte ich nie.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand und bettete meinen Kopf auf meine angezogenen Knie. Dann spielte sich mein Albtraum in meinen Gedanken wieder ab.

Ich befand mich auf einer riesigen Rasenfläche. Sie war wunderschön grün. Die Blumen auf der Wiese hatten richtig schöne Farben und leuchteten und funkelten in der Sonne.

Und plötzlich verwelkten sie. Sie verloren ihre Farbe und ihre Schönheit und alles um mich herum wirkte kühler. In meinem Körper wallte ein Fluchtgefühl auf und eine grausige Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Aus reinem Instinkt war ich die Wiese entlang gelaufen, um mich zu verstecken. Dabei wusste ich nicht einmal, vor was ich davonlief. Oft sah ich über meine Schulter, aber mich Verfolgte niemand. Zumindest konnte ich niemanden sehen.

Trotzdem hatte ich Todesangst und die kleinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf und ich fing an zu zittern. Am Ende stand ich an einer Klippe und unten hörte ich es rauschen. Ich vermutete, dass dort weit unten ein Wasserfall war.

Außerdem stand neben mir ein Felsen mit Moos und ein bereits toter Baum. Unter meinen Füßen knirschte die vertrocknete Erde. Es hatte sich binnen weniger Minuten alles geändert. All das Leben auf dieser Wiese war ... erloschen.

Mit meinen Augen suchte ich die Umgebung ab, suchte denjenigen, der mir solche Angst bereitete, doch weit und breit war niemand zu sehen. Meine Hand berührte den Felsen und strich über das kalte Moos. Ich stand nun ganz nah am Rand der Klippe und ich wagte einen Blick hinunter.

Und dann geschah alles unfassbar schnell. Jemand stieß mich von hinten an und schubste mich die Klippe hinunter.

Sofort öffnete ich meine Augen und fing am ganzen Körper an zu zittern. Ich schwang die Beine über die Bettkante meines Doppelbetts und sah vor meinen Füßen meine rosa Pantoffeln liegen, allerdings schlüpfte ich nicht hinein.

Leise ging ich auf Zehenspitzen zu meiner Zimmertür, öffnete sie und sah hinaus in den dunklen Flur. Für einen Moment wollte ich meine Tür wieder schließen, doch ich wollte nicht allein sein, denn ich hatte immer noch Angst. Obwohl es nur ein bescheuerter Albtraum war.

Daher ging ich auf den Flur und schloss meine Tür hinter mir. Ganz leise schlich ich mich durch den Flur, ging an der Treppe vorbei, die nach unten führte und stand dann vor dem Zimmer von Noel.

Seufzend griff ich nach dem Türgriff und zögerte. Doch dann öffnete ich sie und die Tür knarzte leise und ich fluchte innerlich, dass Noel seine Tür immer noch nicht geölt hatte. Ich spähte in sein Zimmer, die dunklen Jalousien waren nach unten gezogen und verschlossen.

Ich kam mir kindisch vor, hier zu stehen und zu überlegen, ob ich mich zu meinem großen Bruder ins Bett legen sollte. Aber es war ja auch nicht die erste Nacht, in der ich mich zu ihm schlich, darüber nachdachte und dann doch wieder in mein Zimmer zurückging.

Ich atmete leise aus, als hätte ich gehofft, dass Noel von dem Geräusch der Tür wach werden könnte, und war gerade wieder dabei seine Tür zu schließen.

Doch seine leise tiefe Stimme ließ mich innehalten.

»Khalida?«, fragte Noel und ich hörte, wie die Decke raschelte. Ich hielt immer noch in der Bewegung inne und starrte ihn an. »Ist etwas passiert?«

Ich räusperte mich kurz und hoffte, dass meine Stimme nicht zu leise klang, doch das Einzige, was ich dann zustande brachte, war ein Kopf schütteln. Noel hatte sich mittlerweile aufgesetzt und rieb sich mit einer Hand über sein verschlafenes Gesicht.

»Komm her. Leg dich hin.«

Er warf seine Decke zur Seite und rutschte weiter nach hinten, um mir Platz zu machen. Ich neigte meinen Kopf zur Seite, da ich mit dieser Reaktion von ihm nicht gerechnet hatte. Auch er betrachtete mich und ahmte meine Bewegung mit einem fragenden Blick nach. Als er dann seufzte, schloss ich hinter mir die Tür und ging schnell auf ihn zu, legte mich mit in sein Bett und er deckte mich zu.

Er fragte nicht weiter nach und streichelte kurz über meine Haare.

»Du solltest noch ein wenig schlafen«, murmelte er, drehte sich auf den Rücken und keine zwei Sekunden später, war er auch schon wieder eingeschlafen.

Neben Noel zu schlafen, hatte für mich immer etwas Beruhigendes und Geborgenes. Schon als ich klein war, schlich ich mich oft in sein Zimmer und hatte bei ihm geschlafen, weil ich Angst hatte, dass sich Monster unter meinem Bett oder in meinem Schrank befanden. Es war eine einfache Art, bei ihm einzuschlafen, denn ich hatte das Gefühl, mir könnte nichts passieren.

Jetzt überkam mich die Müdigkeit und ich schloss meine Augen.

Eine Bewegung auf der Matratze ließ mich aufschrecken und ich öffnete verschlafen meine Augen. Ich sah Noel etwas benommen vor seinem Kleiderschrank stehen und mir fiel wieder ein, dass ich ja die Nacht mit in seinem Bett geschlafen hatte, weil ich Angst hatte, wieder von einer Klippe zu stürzen. Und nein, ich war in dieser Nacht nicht mehr von einer Klippe geschubst worden. Ich hatte tief und fest geschlafen. Ohne Träume.

Noch immer halb im Schlaf, drehte ich mich um und spürte einen sachten Schmerz in meinem Rücken, der darauf hindeutete, dass ich mich vollkommen verlegen hatte, und zuckte kurz zusammen.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte Noel und als es still blieb, merkte ich, dass die Frage ja nur mir gelten konnte.

»Ja, danke«, brummte ich und setzte mich auf. Sein Bett hatte nicht so eine weiche Matratze wie meines, aber neben meinem Bruder zu schlafen, war doch wesentlich besser, als sich in dem eigenen Bett zu fürchten und die Nacht überhaupt nicht zu schlafen.

»Kein Thema«, murmelte er.

Noel hatte sich mittlerweile angezogen und ich sah auf seinen Wecker, den ich nicht gehört hatte. Verflucht! Ich hatte verschlafen. Mal wieder. Und dabei war heute der erste Schultag nach den Sommerferien. 

Nicht sehr elegant stand ich auf und ging in den Flur, an der Treppe vorbei und in mein Zimmer. Meine Mutter war schon wach, denn aus der Küche hörte ich das Radio und ich roch, dass sie wieder etwas gebraten hatte. Sie machte uns wahrscheinlich Frühstück.

Als ich mir ein paar Klamotten aus dem Kleiderschrank schnappte, machte ich mich auf den Weg ins Bad, doch es war schon besetzt.

»Ich brauche nicht lange!«, meinte Noel, als ich kurz anklopfte, und nickte dann einfach nur. Ich war definitiv kein glücklicher Morgenmensch. Also ging ich die Treppe hinunter und schlenderte mit meinen Sachen in die Küche.

»Guten Morgen, Khali«, sagte Mom und lächelte. Aber sie war definitiv ein Morgenmensch!

»Morgen«, nuschelte ich und ließ mich auf einen Hocker plumpsen und lehnte meine Ellbogen auf den Tresen. Morgendliche Fröhlichkeit blieb bei mir aus.

»Ich werde heute wieder später nach Hause kommen. Heute ist eine wichtige Deadline und die muss perfekt werden. Wenn ihr Hunger habt, dann bestellt euch etwas«, sagte Mom und legte ein paar Prospekte auf den Tresen. Sie machte noch den Herd aus und ich nickte einfach wieder. Es war schon regelmäßig vorgekommen, dass sie erst spät abends nach Hause kam. Aber sie war auch die Einzige in diesem Haushalt, die Geld mit nach Hause brachte. Ich ging noch auf die High-School und Noel ging zur Uni. Da blieb nicht viel Zeit für einen Job und Mom wollte, dass wir uns voll und ganz auf unsere Schulen konzentrierten.

Wir kamen trotzdem gut über die Runden und es gab fast nie etwas, dass sie uns nicht kaufen konnte. Sie versuchte wirklich alles, damit wir ein sorgenfreies Leben genießen konnten.

»Leider muss ich auch schon los«, meinte sie, schaute auf ihre Armbanduhr und ich fragte mich, wieso sie schon so früh in der Redaktion sein musste oder wollte.

Gab es da sonst keinen, der sich so in die Arbeit hängte?

»Okay, bis später Mom. Hab dich lieb«, sagte ich und hörte dann auch schon die Badezimmertür.

»Bad ist frei!«, rief Noel dann auch schon und ich nahm meine Wäsche in die Hand und stand auf. Meine Mutter packte ihr Sachen noch in die Handtasche und winkte mir zum Abschied, dann war sie auch schon aus der Haustür verschwunden und ich lief die Treppe hinauf.

Da ich ein wenig Zeitdruck hatte, musste ich mich schnell abduschen, meine Haare waschen und genauso schnell wieder heraus. Nach der schnellen Dusche föhnte ich meine Haare, schminkte mich dezent und zog meine Kleider an.

Aus meinem Zimmer schnappte ich mir meine Schultasche, eine Jacke und meine Sneakers, dann lief ich auch schon die Treppe hinunter in die Küche. Noel saß auf einem Hocker und frühstückte in Ruhe, während er in der Zeitung las.

Seine dunkelblonden kurzen Haare waren ganz durcheinander, als hätten sie noch nie eine Haarbürste gesehen. Aber das war normal. Egal wie oft er sie durchkämmte, sie sahen immer so aus, als wäre er gerade aufgestanden.

Und seine hellen blauen Augen waren groß, umrahmt von vielen dunklen braunen Wimpern.

»Soll ich dich fahren? Bei mir fällt die erste Stunde aus«, riss er mich aus meinen Gedanken und biss in sein Brötchen mit Salami. Ich stopfte mir ein bisschen Rührei in den Mund und kaute, bevor ich ihm antwortete.

»Nein, brauchst du nicht. Wieso fällt bei dir die erste Stunde aus, deine Semesterferien sind doch auch gerade erst vorbei?«

Ich zog meine Jacke über und schwang die Tasche über meine Schulter. Dann schnappte ich mir ein Glas, goss ein wenig Orangensaft hinein und trank es aus.

»Der Professor ist die Treppe hinunter gestürzt und im Krankenhaus. Und deshalb hat er erst eine Vertretung für die zweite Stunde gefunden.«

Aha, so viel Glück musste man erstmal haben. Gleich am Anfang des Semesters eine Freistunde, dieses Glück hätte ich auch gern.

»Oh, das ist natürlich bedauerlich«, murmelte ich.

»Aber ich treffe mich mit Dilara«, fügte ich noch hinzu und gab ihm dann einen Kuss auf die Wange und verschwand aus der Tür. Ich hatte mich so sehr beeilt, dass ich zum Glück noch rechtzeitig am Treffpunkt ankam, an dem Dilara und ich uns immer trafen.

Es war Anfang September, aber die Luft war immer noch so trocken und von weitem dachte man, die Straßen würden brennen. Bei der nächsten Abzweigung traf ich dann auf meine beste Freundin.

»Hey, Dilara!«, rief ich und lief die letzten Meter auf sie zu. Stürmisch nahm ich sie in die Arme und knuddelte sie. Lachend tätschelte sie mir den Rücken.

»Ah, Khalida«, lachte sie und wir ließen einander los.

»Wie geht’s dir? Wie waren deine Ferien?«, fragte ich sie und hakte ihren Arm in meinen, um gemeinsam mit ihr zur Schule zu gehen. Schließlich war dies unser letztes Jahr an dieser Schule.

»Sie waren einfach super, ich hätte sie so gern verlängert«, schwärmte sie und erzählte von London und Tennis. Wir kicherten viel und es tat gut, sie nach so langer Zeit wiederzusehen. Die Sommerferien verbrachten wir nie gemeinsam, denn ihre Eltern verreisten in der Zeit viel mit ihr. Ihre Eltern hatten gut bezahlte Berufe, soweit ich wusste, arbeitete ihr Vater in einer Baufirma und saß irgendwo ganz oben und ihre Mutter war Filialleiterin in einer Privatbank.

»Wie sieht eigentlich dein Stundenplan dieses Jahr aus?«, fragte Dilara mich und strich sich eine ihrer leicht gelockten, hellbraunen Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Schnell durchsuchte ich meine Tasche, doch dann fiel mir ein, dass ich den Stundenplan an den Kühlschrank geheftet hatte.

»Mist, den hab ich zu Hause vergessen.«

»Dann lass uns im Büro nachfragen. Die werden dir den bestimmt nochmal ausdrucken.«

In dem großen Schulgebäude ging ich direkt in das Büro der Sekretärin und ließ mir meinen Stundenplan nochmal ausdrucken. Ein Glück war die Sekretärin sehr nett.

Als ich mir den Plan durchlas, musste ich feststellen, dass ich zusammen mit Dilara Mathematik hatte. Na, wenigstens was Positives an diesem ersten Tag.

Die Flure waren voll mit Schülern, die zu ihrem Unterricht gingen und sich über ihre Ferien unterhielten. Ich ging in den Raum, wo auch Dilara saß, und setzte mich schnell neben sie und schob ihr meinen Plan zu.

»Wir haben einige Kurse zusammen!«, freute sie sich und ich nickte ihr grinsend zu. Wenige Minuten später kam der Lehrer herein und ein junger Mann folgte ihm.

Zumindest erkannte ich sonst jedes Gesicht in diesem Klassenzimmer. Er sprach leise mit dem Lehrer, hielt einen Zettel hin und dann sah er sich im Raum um. Sein Blick blieb an meinem hängen und ich starrte ihn weiter an. Ich spürte, dass mein Herzschlag sich beschleunigte, vermutlich vor Aufregung und Nervosität.

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, dann sah er wieder den Lehrer an, der in meine Richtung zeigte. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von dem Neuen lösen. Erst, als er schon an mir vorbeigegangen war, war ich in der Lage, meinen halb geöffneten Mund zu schließen. Fehlte nur noch der Sabberfaden.

Hinter mir klirrte ein Stuhl über den Boden und ich wusste, dass der Neue sich hinter mich gesetzt hatte. Kurz sah ich zu Dilara, aber sie wirkte total desinteressiert an dem Neuen und schaute einfach zum Lehrer. Normalerweise sprachen wir schon über das Thema Jungs, nur scheinbar bemerkte sie nicht, wie gutaussehend der Neue war.

Himmel, der Typ war wirklich heiß!

Selbst Dilara konnte das nicht abstreiten.

»Für die neuen Schüler, mein Name ist Mr. Johnson und ich unterrichte Mathe sowie auch Physik«, stellte sich der Lehrer vor und wandte sich der Tafel zu. Ich drehte mich zu dem Neuen um, doch er hatte seinen Kopf auf seinen Arm gelegt und seine Augen geschlossen. Welche Farbe sie wohl hatten?

Seine schwarzen Haare hingen ihm ein wenig ins Gesicht, seine Wimpern waren lang und schwarz und sein Gesicht wirkte sehr markant. Seine Lippen waren voll, die untere ein wenig dicker als die obere Lippe.

An meiner Schulter spürte ich jemanden einen Marathon tippen und ich drehte mich wieder nach vorne. Dilara hatte mich wie verrückt mit dem Finger angetippt und zeigte dann mit ihrem Stift nach vorne. Der Lehrer hatte ein Buch aufgeschlagen und ich suchte in meiner Tasche nach dem Buch. Mist!

Jetzt hatte ich schon in der ersten Stunde kaum aufgepasst. Das fing ja super an.

Nachdem die erste Stunde vorbei war, konnte ich es irgendwie kaum erwarten den neuen Schüler kennen zu lernen, auch wenn er etwas Geheimnisvolles an sich hatte. Ich räumte schnell meine Sachen ein und stellte mich vor ihn und versperrte ihm somit den Weg.

»Hi, ich bin Khalida«, meinte ich freundlich und reichte ihm lächelnd die Hand. Den Begriff schüchtern kannte ich nicht, was nicht hieß, dass ich eingebildet oder arrogant war. Aber ich wollte dem neuen Schüler helfen, falls er Fragen hatte. Schließlich war der erste Schultag nicht immer der leichteste.

Aber die Sekunden vergingen und der Neue sah mich einfach nur an und ignorierte mich komplett. Und mit einem Mal bahnte er sich einen Weg durch die anderen Tischreihen und verschwand aus dem Klassenzimmer. Nun, das war überraschend.

»Naja«, fing Dilara an und wir beide schauten ihm hinterher.

»Vielleicht ist er sehr schüchtern.«

Wir verließen als Letztes das Zimmer und ich seufzte. Denn die nächste Stunde hatten wir nicht gemeinsam. In der zweiten Stunde erwartete mich eine bekannte Lehrerin aus dem letzten Schuljahr, mit der ich den Geschichtsunterricht verbringen durfte.

Ich blickte in den nächsten Klassenraum und sah mich um, um mir einen Überblick der Schüler zu verschaffen, mit denen ich ein ganzes Jahr verbringen musste.

Argh.

Mein Blick fiel auf einen Schopf blonder Mähne. Gott! Wie ich dieses Mädchen hasste! Ich blickte stur gerade aus und ging auf meinen Stammplatz zu und setzte mich. Solange ich niemanden ansah, würde mich auch hoffentlich keiner ansprechen.

»Ah, Khalida. Kennst du schon unseren neuen Mitschüler?«, sagte Penelopé und ich verdrehte die Augen. Meine gute Laune war somit dahin und ich drehte mich zu ihr. Penelopé Summer, eines der beliebtesten Mädchen in diesem Jahrgang, saß auf ihrem Tisch und hatte ein Bein über das andere gelegt. Ihr Minirock rutschte immer höher und ich wartete nur auf den Moment, in dem sie irgendwann einmal nur in Unterwäsche zur Schule kam.

Dann bemerkte ich, dass der Neue aus meinem Mathekurs drei Tische hinter Penelopé saß.

»Ja, ich habe ihn bereits gesehen. Aber er hat sich nicht vorgestellt«, bemerkte ich trocken, den Blick wieder Penelopé zugewandt, die breit grinste, als würde sie alles über ihn wissen. Zum Teufel, er war gerade einmal eine Stunde an dieser Schule!

Ich strich meine schwarzen Haare zurück, dir mir ins Gesicht gefallen waren und sah aus dem Augenwinkel, wie der Neue aufstand und auf mich zukam. Als er vor mir stand und seine hellen grauen Augen in meine sahen, reichte er mir seine Hand.

»Ich bin Jaden.«

Seine Stimme war dunkel und rau. Aus einem Impuls heraus stand ich vom Stuhl auf, weil ich mir plötzlich so klein vorkam.

»Freut mich«, fiel mir dazu nur ein und verlegen nahm ich seine Hand und drückte sie leicht. Sie war warm und er drückte ebenfalls kurz meine Hand. Er war zärtlich und langsam ließ er meine Hand wieder los. Wow, also schüchtern war er definitiv nicht. Vorhin hatte er nicht ein Wort herausgebracht und nun strotzte er nur vor Selbstbewusstsein.

Als seine Fingerspitzen noch meine berührten, wollte ich seine Hand gar nicht loslassen, es fühlte sich warm und angenehm an. Kurz schüttelte ich den Kopf, was war denn jetzt los?

Schnell entzog ich ihm meine Hand komplett und beugte mich leicht zur Seite, um an Jaden vorbeizuschauen, und blickte zu Penelopé.

»Jetzt weiß ich wie er heißt«, sagte ich schnippisch und wunderte mich, dass Jaden mich immer noch ansah und Penelopé anscheinend die Sprache verloren hatte.

Ich setzte mich wieder und sah der hereintretenden Lehrerin zu, wie sie sich vor der Tafel aufbaute. Sofort traf ihr stahlblauer Blick meinen.

Mrs. Bennet war klein und dick, ihre Haare hatten die Farbe von ergrauten Wolken, wovon ich ausging, dass sie früher vielleicht braun oder schwarz waren. Und ihr Blick war immer zornig, wenn sie in einen Raum trat. Dabei konnte ich mir gut vorstellen, wie sie ihre Enkel mit Geschenken überhäufte und verwöhnte. Obwohl ....

Ich hätte vermutlich Angst, dass sie mich in einen Ofen schubste und verbrannte. An sowas hatte sie bestimmt schon mal gedacht, wenn Penelopé und ich mal aneinandergeraten waren. Was so ziemlich häufig der Fall war.

Leider schimpften die Lehrer mich meistens aus, denn Penelopés Eltern waren einflussreiche Menschen und unterstützten die Schule finanziell mit Spenden. Spenden!

Aber auch an diesem ersten Schultag ging es schon gut los. Ich saß schon fast ganz vorne, doch Mrs. Bennet wollte, dass ich in der ersten Reihe saß. Genauso wie Penelopé. Perfekt!

Jetzt hatte ich den besten Blick, auf den nicht schönsten Anblick und als Nachbarin eine riesige Nervensäge!

Ich hatte mir wirklich größte Mühe gegeben, nicht auf Penelopé einzugehen, mich nicht darüber aufzuregen, wie sie von ihren ach so tollen Ferien erzählte. Also verschloss ich mich hinter einer dicken Wand aus vielen eigenen Gedanken.

Was könnte ich heute zu Essen bestellen? Worauf hatte Noel wohl Hunger? Ja, das waren die Gedanken, die ich mir als Ablenkung in den Kopf rief. Und es funktionierte meistens.

Die Stunden schienen Jahre zu dauern, bis ich endlich mit Dilara das Gelände der Schule verlassen konnte. Sie hatte kaum einen Kurs mit Penelopé und hatte es entspannter gehabt an diesem ersten Schultag. Ihr bester Ratschlag war, dass ich Penelopé einfach komplett ignorieren sollte. Das klang immer so einfach, aber ich konnte nicht ignorieren, wenn Penelopé davon schwärmte, wie ihre Mutter ihr eine Gucci Tasche kaufte oder ein neues Parfüm von einem Prominenten und mich dann fragte, was ich denn so gemacht hätte.

Sie und ich waren wie Feuer und Eis, nie im Leben würden wir jemals Freunde werden.

Die meiste Zeit fluchte ich auf dem Heimweg und kotzte mich bei meiner besten Freundin aus und seufzte viel. Und Dilara versuchte, mich aufzuheitern, und ich schätzte ihren Versuch, aber es brachte nicht viel. Dennoch war ich ihr dankbar.

Vor einer roten Ampel blieb sie stehen.

»Rate Mal, wer dieses Jahr wieder zusätzlichen Privatunterricht hat«, murrte Dilara und hob kurz ihre Arme, als würde sie gleich Jubeln wollen. Ich drückte betroffen ihren Arm.

»Tut mir leid. Falls du mit jemanden zusammen lernen magst, ich bin bereit mich zu opfern«, sagte ich und Dilara lächelte. Ihre Eltern waren zu mir immer nett gewesen, dennoch war ich kein Genie und sie wollten nicht, dass Dilara in der Schule schlecht abschnitt. Zum Glück war ihr Vater supernett und hatte nichts dagegen, wenn Dilara und ich uns trafen.

 

Jaden

 Die Suche nach dem Artefakt gestaltete sich als äußerst umfangreich und schwieriger, als er anfangs angenommen hatte. Die ersten Wochen hatte Jaden in Hotels übernachtet und immer in seiner Umgebung danach gesucht.

Er fragte in jedem Juweliergeschäft nach, ob jemand das Schmuckstück gesehen hätte. Meist log er die Menschen an, dass es für eine Freundin sei oder ein Familienerbstück, das jemand versehentlich verkauft hatte. Die Menschen waren leicht zu überzeugen und sie halfen scheinbar gern, allerdings hatte niemand dieses Schmuckstück gesehen. Keiner der Juweliere in Portland in Oregon hatte je so etwas im Besitz oder im Laden gehabt. Es war auf einer Seite nervenaufreibend, auf der anderen Seite hatte Jaden das Gefühl von Freiheit. Schließlich musste er niemanden töten, er musste keinen bedrohen. Dieser Auftrag war das erste Mal eine Entspannung für ihn.

Mittlerweile hatte er eine eigene kleine Wohnung in Portland in einem Hochhaus gemietet. Durch den Zeitaufwand brauchte Jaden definitiv seine eigenen vier Wände. Und wie es das Glück so wollte, willigte sogar Walther ein und bezahlte ihm die gesamten Kosten.

Auf dem Weg in seine Wohnung fuhr Jaden mit dem Motorrad über den Highway. Seine Recherchen waren gleich null, obwohl er nun schon so lange suchte. Auch wenn Walther ihm kein Zeitlimit gegeben hatte, so wollte er bestimmt bald Ergebnisse von Jaden hören. Nur leider hatte er bisher keine.

Auch seine Nachfrage in dem Museum, wo es zuletzt war, ergab keine ausreichende Information. Niemand hatte gesehen, wer es mitgenommen hatte. Die Kameras waren zwar angeschaltet gewesen und man konnte das Artefakt gut erkennen. Doch der Raub dauerte nur Sekunden.

Jaden wusste, was es zu bedeuten hatte. Denn der Dieb war somit kein Mensch gewesen.

Dieser Dieb war ein Vampir und er hatte seine Spuren perfekt verwischt. Die Mitarbeiter vom Museum nahmen an, dass die Kameras gehackt worden seien und zum Zeitpunkt des Raubes ausgeschaltet gewesen waren. Oder aber, man hatte den Zeitraum des Diebstahls gelöscht.

Jedoch hatte Jaden das Flimmern erkennen können und der kurze sichtbare Schemen, war für Jaden nicht zu übersehen. Das konnten nur Vampire sein.

Mittlerweile hatte Jaden auch in den benachbarten Städten die Juweliere gefragt, aber auch hier kein Glück gehabt. Als er dann in McMinnville war und mit dem Motorrad hindurch gefahren war, konnte er eine Stimme in seinem Kopf hören.

Im ersten Moment hatte er wirklich gedacht, dass das Artefakt nach ihm rief. Es war zwar ein heiliges Artefakt und manche hatten darüber spekuliert, dass es vielleicht geheimnisvolle Kräfte haben könnte, doch Jaden hatte diese Halbwahrheiten nicht glauben wollen.

Also war er der Stimme gefolgt, bis sie so laut in seinen Gedanken zu hören war, dass er die Gespräche genau verstehen konnte.

Und dann stand er vor einem Einfamilienhaus.

Und die Gedanken, die er hörte, waren die einer Jugendlichen. Zu allem Überfluss war sie auch noch ein Mensch. Was zur Hölle, hatte er sich gedacht.

Da er sie in der ganzen Stadt hören konnte, musste er definitiv in Portland wohnen bleiben, da hatte er seinen Kopf wenigstens wieder für sich allein.

So war es auch jetzt. Kaum hatte er die Stadt verlassen und einige Kilometer hinter sich, hörte er ihre Gedanken nicht mehr in seinem Kopf.

Heute hatte er Khalida dann das erste Mal wirklich gesehen. In den letzten Tagen, wo er sie auch das erste Mal gehört hatte, wollte er nicht zu nah an ihr Haus heran. Daher hatte er sie nur ab und an Mal gesehen, wenn sie das Haus verlassen hatte, doch meist stand er zu weit weg, um sie genauer zu erkennen.

Da er momentan eh keinen weiteren Anhaltspunkt hatte für das Artefakt, hatte er sich den Spaß erlaubt, und sich an ihrer Schule angemeldet. Es hatte gut gepasst, dass nun die Sommerferien vorbei waren. Natürlich hatte Jaden vorab ein paar Informationen gesammelt, damit er in ein paar Kursen mit ihr gemeinsam war.

Und der erste Schultag war kein so großes Desaster gewesen, wie er gedacht hatte. Zwar hatte er dröhnende Kopfschmerzen gehabt, da er seinen eigenen Gedanken kaum folgen konnte und ihre Gedanken zu laut waren, aber er konnte so auch versuchen, diese neue Fähigkeit zu kontrollieren. Aktuell waren ihre Gedanken einfach noch zu präsent und beherrschten meistens seine eigenen Gedanken, das musste er definitiv unter Kontrolle bringen und ihre Gedanken irgendwie leiser machen.

Und er sollte auch herausfinden, weshalb er gerade ihre Gedanken hören konnte. Eventuell war sie ja ein Medium. Sollte sie eines sein, konnte er vielleicht mit ihr herausfinden, wo sich das Artefakt befand.

Sobald er an seinem Wohnhaus ankam, parkte er sein Motorrad in die Garage und stieg in den Fahrstuhl. Seufzend drückte er die Sechs und schaute nebenbei auf sein Handy. Er hatte noch keine neue Nachricht von Walther erhalten. Bisher hatte er sich einmal die Woche gemeldet. Walther versuchte, von New York aus mit dem Rat gemeinsam ein paar Informationen zu sammeln. Aber auch sie kamen nicht weiter.

Im sechsten Stock stieg er aus und ging auf sein Apartment zu. Es war Jaden ein Rätsel, weshalb Walther ihm eine dermaßen teure Wohnung bezahlte. Natürlich war Jaden ein regelrechter Meister darin, die Aufträge schnell und ohne weitere Komplikationen abzuschließen, und auch seine Abschlussraten waren immer zufriedenstellend. Aber diese Wohnung war reiner Luxus.

Nicht das Jaden sich wirklich beschweren wollte, eigentlich hatte er Walther nur ärgern wollen. Tja, daraus war leider nichts geworden.

Kurz bevor Jaden seine Wohnung erreichte, kam eine junge Frau aus einer anderen Wohnung und sah ihn überrascht an. Jaden wirkte nicht wie einer dieser Typen, die in Geld schwammen. Seine Kleidung bestand meist aus schwarzen Klamotten, seine Ausstrahlung wirkte abschreckend und die meisten Menschen machten einen Bogen um ihn herum.

Daher wunderte er sich nicht darüber, dass sie ihn eher skeptisch betrachtete.

»Wohnen Sie hier?«, fragte sie dann und Jaden drehte sich zu ihr.

»Ja«, meinte er nur und schloss seine Tür auf.

»Ich weiß zwar nicht, wann Sie hier eingezogen sind, aber, herzlich Willkommen.«

Da Jaden nicht in Plauderlaune war, nickte er nur und hob die Mundwinkel zu einem Lächeln und verschwand dann in seiner Wohnung. Er hatte kein großes Interesse an menschlichen Frauen. Zumindest nicht im Sinne einer Freundschaft oder dergleichen. Das Einzige, was er von menschlichen Frauen wollte, war das Blut.

Er schloss seine Wohnung von innen ab und legte den Schlüssel auf eine Kommode. Die Wohnung wurde von Walther eingerichtet. Beziehungsweise vom Rat. Jaden hatte keine Entscheidungsfreiheit. Die hatte er nie.

Man kam direkt ins große Wohnzimmer, in dem ein großes weißes Sofa aus Stoff und ein Tisch standen, und ein Plasmafernseher hing an der Wand. Diesen schaltete Jaden auch sogleich ein. Dann zog er seine Lederjacke aus und warf sie achtlos auf die Sofalehne. Seine Schuhe kickte er sich einfach von den Füßen.

In der Küche steuerte er geradewegs den Kühlschrank an und nahm sich eine Bierflasche. Mit einem klack öffnete er sie und setzte direkt an.

Von wem könnte er jetzt noch Informationen beschaffen? Gab es andere Vampire, die von diesem Artefakt wussten und es vielleicht Mal zu Gesicht bekommen hatten? Dieses kleine Schmuckstück schien wie vom Erdboden verschwunden zu sein.

Vielleicht konnte er einige seiner Kollegen um einen Gefallen bitten. 

Kapitel 2 - Khalida

  Die ersten zwei Wochen hatten wir gerade so hinter uns gebracht und die Lehrer waren der Meinung, dass ein Test angebracht gewesen wäre, um die Erinnerungen an das letzte Schuljahr wachzurütteln. Und natürlich hatte ich in meinem Test nur eine durchschnittliche Note.

Deprimierend.

Das war das erste Wort, dass mir in den Sinn kam.

Während Dilara eine sehr gute Note geschrieben hatte, was nicht verwunderlich war, wollte ich im ersten Moment, meinen Test zusammenknüllen und wegschmeißen. Meine Mutter war zwar nicht streng und sie wurde auch nie sauer, wenn ich eine nicht sehr gute Note mit nach Hause brachte, aber ich konnte in ihrem Gesicht lesen, dass sie sich Sorgen um meine Zukunft machte. Wenn ich dieses Schuljahr nicht gut abschloss, dann würde ich keine Universität besuchen können, auf die Dilara auch gehen würde. Denn Dilara würde sich nur für exzellente Universitäten anmelden und ich wollte sie um jeden Preis begleiten.

Und um mir diese Woche natürlich noch zu versüßen, kam mein Bruder auf die Idee, mich jeden Morgen zur Schule fahren zu müssen. Mit seinem Motorrad.

Und jeden Morgen fragte ich mich, wieso ich ihm zugestimmt hatte?

Ach ja, weil er behauptete, dass sich aktuell ein Verbrecher herumtrieb, der es auf junge Mädchen abgesehen hatte. Und ich kannte meinen Bruder. So wie meine Mutter, machte auch er sich ständig Sorgen um mich. Es war, als könnte ich nicht einmal den Weg zur Schule allein finden.

Schließlich hatte ich am Ende zugestimmt, dass er mich fahren kann.

Seither galt die Aufmerksamkeit mir, auch wenn ich mir wünschte, es wäre nicht so. Ich hasste es, wenn die Leute mich ansahen und über mich sprachen. Wobei es nur indirekt um mich ging und viel direkter um meinen Bruder.

Sie alle hatten Vermutungen, dass er gar nicht mein Bruder war, sondern mein geheimer Freund, nur weil wir keine äußerlichen Ähnlichkeiten hatten. Na und?

Da ich nicht wusste, wie unser Vater aussah, konnte ich nicht beurteilen, wer mehr Ähnlichkeit mit welchem Elternteil hatte, aber wen interessierte es schon?

Ich musste Noel unbedingt klar machen, dass das so nicht weitergehen konnte. Er machte mir mein High-School-Leben nicht einfacher. Und dabei hatte es gerade erst begonnen. Schlimmer konnte das alles nicht werden. Außer das ich unfassbar müde im Geschichtsunterricht saß und mein zehntes Gähnen hinter meiner Hand verstecken musste.

Mrs. Bennet sah mich schon wütend an, als hätte ich sie beleidigt. Aber ich konnte nichts dafür. Ich hatte diese Nacht schon wieder diesen Albtraum gehabt und konnte nicht mehr einschlafen, dieser Traum machte mich noch ganz verrückt. Denn manchmal fühlte es sich so unfassbar real an. Diese Dunkelheit war mitunter unerträglich.

Da wollte ich am liebsten am Tage schlafen, da hatte ich vielleicht keine Albträume und keine Angst. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind bei diesen Albträumen.

Mit viel Mühe schleppte ich mich von Stunde zu Stunde und powerte meinen sowieso schon ausgelaugten Körper vollkommen aus.

Seufzend setzte ich mich in die letzte Stunde und legte alles bereit. Die anderen Schüler konnte ich erfolgreich ausblenden, denn ich konnte mich eh nicht konzentrieren. Alles, was ich jetzt noch wollte, war ein Kissen.

»...Party am Wochenende. Nur die coolen...«, hörte ich am Rande Penelopé. Nur die coolen Leute? Tja, das war mal wieder typisch für dieses Blondinenbiest.

Meine Augen klappten immer wieder zu und meine Arme legten sich automatisch in eine bequemere Position. Und als dann mein Kopf auf meinen Armen lag, schlossen sich meine Augen. Jetzt konnte ich den Schlaf nicht mehr aufhalten, egal wie sehr ich es auch versuchte.

»Hey.«

Jemand tippte in einem unaufhörlichen Rhythmus gegen meine Schulter. Und dann auch noch immer wieder auf dieselbe Stelle. Murrend versuchte ich in meinem Schlaf zu bleiben und die Person zu ignorieren.

»Wach auf. Die Stunde ist vorbei.«

War es der Lehrer, der mich weckte? Verdammt, das bedeutete auf jeden Fall eine Menge Ärger. Mit einem Mal öffnete ich die Augen und setzte mich aufrecht hin. Oh verdammt!

Doch als ich ein paar Mal blinzelte, sah ich, dass der Lehrer bereits weg war. Und auch der Rest der Klasse war schon raus.

Nur Jaden stand neben mir und blickte mich an. Seufzend schloss ich die Augen für einen Moment. So gut hatte ich in den letzten Tagen nicht geschlafen. Und wenn Jaden mich nicht geweckt hätte ... dann hätte mich der Lehrer morgen früh hier vorgefunden.

»Danke, dass du mich geweckt hast«, murmelte ich und streckte mich.

»Tja, du hast sehr tief geschlafen. Kommst du nachts nicht dazu?«, fragte er. In meinem Stuhl lehnte ich mich zurück und betrachtete ihn lange.

Egal, was es war, er war einfach zu gutaussehend für sein Alter. Ob es an diesem kurzen Bart lag? Oder waren es die schwarzen Haare?

Und etwas an ihm, etwas ganz Bestimmtes, bescherte mir eine klitzekleine Gänsehaut im Nacken, die ich aus meinen Albträumen kannte. Und von diesen Träumen würde ich niemals jemandem erzählen. Das war, als würde ich mein Kryptonit preisgeben. Nein, danke.

Daher winkte ich mit der Hand ab und packte alles ein.

»Es ist nichts«, versuchte ich ihn abzuwimmeln und stand dann von meinem Platz auf. Allerdings hatte sich Jaden keinen Zentimeter bewegt und so stand ich nun direkt vor ihm und kam nicht vorbei.

Die Gänsehaut in meinem Nacken war immer noch da und über meine Haut huschte ein unangenehmes Kribbeln. Ein Fluchtgefühl machte sich in meinem Inneren breit und mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich in Jadens Gesicht. Ich hatte Angst.

Diese Erkenntnis verunsicherte mich und ich machte einen kleinen Schritt zurück. Jadens helle Augen folgten meiner Bewegung.

Gleich würde ich eine Schnappatmung bekommen, wenn er nicht bald Platz machte oder von selbst ging. Musste er nicht nach Hause?

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er und machte einen kleinen Schritt auf mich zu. Ich musste raus. Ich musste an die Luft.

»Ja. Wir sollten gehen. Es ist spät.«

Doch Jaden regte sich nicht. Ehe er noch einen Schritt auf mich zugehen konnte, bahnte ich mir meinen Weg durch die anderen Tischreihen und sprang regelrecht nach draußen. Aber ich musste ganz dringend nach draußen an die frische Luft, bevor ich mich ängstlich in die Ecke setzte. Diesen Anblick würde ich Jaden gern ersparen. Und mir wollte ich die Peinlichkeit ersparen. Was auch immer gerade passiert war, ich hoffte, dass es eine einmalige Sache war.

Als ich am Schultor vorbeiging, hielt mich jemand am Arm fest und ich schrie kurz auf.

»Ich bin’s nur«, sagte Dilara und ich verdrehte die Augen. Gott im Himmel!

»Wo warst du? Ist was passiert?«, fragte sie und ich versuchte, meinen Atem wieder etwas unter Kontrolle zu bringen. Und mein Herz schlug auch immer noch viel zu schnell.

»Nein, ist nichts passiert. Ich war nur in der letzten Stunde eingeschlafen.«

»Was? Du bist echt eingeschlafen?«

Ich nickte und Dilara und ich gingen ein Stück den Weg entlang. Jedoch konnten wir nicht lange miteinander plaudern. Denn Dilara deutete auf die andere Straßenseite und mein Blick folgte ihr.

Na toll, mein Bruder wartete auch schon auf mich.

Seufzend nahm ich meine beste Freundin in den Arm.

»Oh, Dilara. Das ist das letzte schlimmste Schuljahr, welches man haben kann. Bitte, bitte tu was dagegen«, maulte ich. Ich wollte nicht mit Noel nach Hause fahren. Ich wollte allgemein nicht nach Hause. Schließlich hatte ich immer noch diesen doofen Test in meiner Tasche.

»Das wird schon. Noel zieht das bestimmt nicht bis zu unserem Abschluss durch.«

»Da kennst du meinen Bruder aber schlecht.«

»Dann musst du es ändern. Überzeuge ihn!«, feuerte sie mich an und drückte mich an sich. Dann ließen wir einander los und ich lief auf die andere Straßenseite. Dort angekommen, tippte ich Noel auf die Schulter und winkte Dilara noch hinterher, die gerade um die Ecke gebogen war. Vielleicht sollte ich bei ihrem Privatunterricht Mal vorbeischauen und mitmachen.

Aber erst musste ich mich um mein Bruder-Problem kümmern.

Ein genervter Ton kam über seine Lippen und er nahm den Helm ab. Nur waren es keine blonden Haare, die zum Vorschein kamen, sondern schwarze. Und auch die Augen waren nicht blau. Sondern grau.

Verflixt! Gerade war ich noch aus dem Klassenzimmer geflohen und nun starrte ich ihn hier an.

»Was willst du?«, fragte Jaden unhöflich. Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren und mich kurz zu räuspern. Wenn ich die vorherige Situation schon peinlich fand, dann war das hier gerade mein Untergang.

»Ich warte auf jemanden«, murmelte ich verwirrt. Eigentlich sollte ich nicht verwirrt sein, denn ich hatte Jaden schon öfter auf seinem Motorrad wegfahren sehen. Ich war ein Idiot.

Mehr konnte ich dazu einfach nicht sagen.

»Eine Verwechslung«, stammelte ich dümmlich und ging einen Schritt zurück. Ich sollte gehen und ihn in Ruhe lassen, damit das alles nicht noch peinlicher wurde. Und zwar für mich.

»Ich bin nicht dein Bruder.«

Verunsichert blickte ich auf den Boden zu meinen Füßen, die auch nicht still standen. War ich etwa ängstlich und nervös zugleich? Was war hier los?

»Woher weißt du, dass ich auf meinen Bruder warte?«

Im selben Moment, als ich diese Frage stellte, hätte ich mich auch selbst begraben können. Es fiel auf, wenn die Mädchen einer Schule sich nur noch über einen Jungen unterhielten. Und das war bei Noel der Fall.

Wie gesagt: Idiot!

Aber solange ich Jaden nicht direkt ansah, war ich nicht wirklich nervös und das Sprechen viel mir leichter und auch meine Gedanken waren klarer. Jaden lachte leise, aber es klang nicht freundlich, sondern wirklich genervt. Ich sah wieder hoch in sein Gesicht, doch er hatte den Helm wieder aufgesetzt und stieg auf sein Motorrad, welches schwarz war und mit dunkelblauen Streifen verziert war.

»Weil sich alle Mädchen eifersüchtig über dich«, er deutete mit dem Zeigefinger auf mich.

»Und deinen Bruder unterhalten. Traumpaar und so.«

Was? Traumpaar?!

Doch ehe ich ihm etwas Schnippisches entgegnen konnte, ließ er den Hinterreifen quietschen und fuhr los. Was war nur los mit den Leuten? Ein Geschwisterpärchen sollte ein Traumpaar sein? Die haben sie ja nicht mehr alle. So ein Schwachsinn.

Und Jaden war alles andere als höflich. Auch wenn ich ihm dankbar war, dass er mich geweckt hatte, er war wirklich gemein! Ich streckte die Zunge raus, obwohl er schon längst weg war, und ging zurück auf die andere Straßenseite. Noel sollte eigentlich auch bald kommen.

In Zukunft sollte ich aufmerksamer sein, bevor ich zu irgendjemanden hinging und ihn für meinen Bruder hielt. 

 

 

 

Jaden

Er hatte es keine Sekunde länger bei Khalida ausgehalten. Ihre Anwesenheit war regelrecht erdrückend. Ihre Gedanken erschlugen ihn, obwohl er sie fast jeden Tag in der Schule sah, konnte er immer noch nicht ihre und seine Gedanken wirklich auseinanderhalten. Und ihre Gedanken hallten immer noch in seinem Kopf.

Was das Ganze noch verschlimmert hatte, war ich Geruch. Erst war er ganz leicht gewesen, er hatte ihre Angst riechen können. Aber er konnte nicht herausfinden, weshalb sie Angst hatte. Vor allem galt dieses Gefühl ihm. Wusste sie, was er war? Dass er ein Vampir war?

Nein, sonst hätte er das in ihren Gedanken bestimmt schon längst gehört.

Allerdings war es schön gewesen, ihr beim Schlafen zuzusehen. Denn da waren ihre Gedanken ruhig. Für diese eine Stunde hatte er es einmal genossen, in ihrer Nähe zu sein.

Doch sobald sie wach war, fing das Ganze wieder an. Dennoch ... ihr Geruch bestand nicht nur aus Angst. Und dieser kleine Teil, den hatte Jaden versucht herauszufiltern. Sein erster Gedanke war Rosen. Sie roch nach Rosen. Es war ein lieblicher und vertrauter Geruch.

In diesem Moment der Erkenntnis hatten sich seine Fänge verlängert und sein Blick konnte er nicht mehr von ihrem Hals abwenden. Er hätte sie auf der Stelle gebissen und ihr Blut getrunken, aber ein inneres Gefühl warnte ihn, sagte ihm, dass es falsch wäre. Was war daran falsch?

Jaden beschleunigte und fuhr auf den Highway zu. Ihre Gedanken konnte er immer noch leise hören.

Es war seine Natur als Vampir, dass er das Blut trinken wollte. Und augenscheinlich suchte sie seine Nähe, weshalb sollte er da nicht ihr Blut trinken? Und Jaden war sich sicher, dass sie fantastisch schmecken würde.

Als er dann endlich zu Hause ankam und seine Maschine abstellte, atmete er tief ein und aus. Ein wenig bereute er es, dass er nicht von ihr gekostet hatte. Schließlich konnte er am Ende ihre Erinnerungen löschen.

In seiner Wohnung kickte Jaden sich die Schuhe von den Füßen und sie landeten im Flur in einer Ecke. Die Jacke warf er zur Kommode und ließ sie liegen. Um aufzuräumen, war er zu faul. Und allgemein hasste er es, aufräumen.

Die letzten Gedanken von Khalida hatte er noch mitbekommen. Sie hielt ihn für einen unhöflichen Typ. Aber das konnte er ihr nicht verdenken. Sie hatte schließlich Recht. Na ja, sollte er lieber an die Tür klopfen und sagen: Hi, ich bin gekommen, um dich zu beißen? Klar.

Gedankenverloren stand er in der Küche und schnappte sich ein Bier.

Einfacher wäre das alles natürlich, wenn man eine Partnerin oder einen Partner hatte. Denn dann trank man ausschließlich das Blut des Partners. Man teilte es sich gegenseitig.

Jadens Magen knurrte lautstark und er stellte das Bier ab.

Da er nicht sehr viele Zutaten hier hatte, kochte er ein paar Nudeln.

Wegen des Artefakts hatte er auch keine Informationen von seinen Kollegen erhalten. Jetzt blieb ihm nur noch, die Museen abzuklappern und zu hoffen, dass jemand das Artefakt gesehen hatte.

Nebenbei bereitete er die Tomatensoße zu und rührte ab und an die Nudeln herum.

Über eine Partnerin hatte Jaden nie nachgedacht, schließlich war er Auftragskiller und arbeitete für den Rat, an den er für die Ewigkeit gebunden war.

Das Khalida ihm dabei in seinen Gedanken herumspukte, hatte eindeutig etwas Schlechtes zu bedeuten. Eigentlich sollte er nicht über sie nachdenken, aber leider beherrschte sie seine Gedanken. Obwohl er weit genug von ihr weg war, hatte er das Gefühl, sie sei immer noch zu nah. Es bedeutete aber auch, dass er sie noch einmal sehen wollte. Und zwar heute. Das Bedürfnis, zu ihr zu fahren, war groß. Und es war nicht nur ihr Blut, was ihn zu ihr zog. Sondern auch ihr Geruch und ihre Art. Obwohl ihre Gedanken ihm Kopfschmerzen bereiteten und es ihm ab und an unangenehm war, sie zu hören, konnte er gerade einfach nicht anders.

Jaden füllte sich einen Teller von den Spagetti auf und schlang es geradezu hinunter. Nach dem Essen sprang er fix unter die Dusche. Er hoffte, dass das Verlangen sie zu sehen sich mindern würde. Jedoch war seine Hoffnung umsonst. Schon wieder spürte er ein Kribbeln in seinem Zahnfleisch.

Kaum hatte er sich frisch angezogen, strich er sich durch die Haare. Was in Gottes Namen tat er nur? Mutierte er zu einem Stalker? Das war ganz und gar nicht richtig.

»Verflucht!«, murmelte er, schnappte sich seine Jacke, den Schlüssel und schlüpfte in seine Schuhe. Seine Beine trugen ihn von ganz allein durch den Flur und auf den Fahrstuhl zu.

Die Türen des Fahrstuhls glitten auf und die junge Frau, die er letztens getroffen hatte, stieg hinaus und kam ihm entgegen. In Jaden flammte der Hunger auf und sein Zahnfleisch pochte. Seine Fänge wollten sich in eine Halsschlagader schlagen und er wollte einfach nur trinken.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Jaden höflich und sah der Frau in die Augen. Sie hatten eine schöne helle blaue Farbe. Überrascht und erleichtert sah sie ihn an.

»Ja. Sie kommen zur richtigen Zeit«, sagte sie und Jaden nahm ihr einige der Tüten ab, damit sie ihren Schlüssel aus der Tasche holen konnte. Als sie ihre Haustür aufschloss, begleitete Jaden sie hinein und sah sich unauffällig um. Allerdings waren sie beide hier allein.

Er stellte die Tüten auf die Küchenanrichte und lehnte sich dann dagegen. Die junge Frau lächelte ihn dankbar an und legte ihre Taschen ebenfalls ab.

»Vielen Dank. Ich wollte eigentlich gar nicht so viel einkaufen. Aber wie sagt man so schön: Typisch Frau«, lachte sie und Jaden stimmte ihr zu. Er lachte aus Höflichkeit und berührte dann ihren Arm, als sie in seine Nähe kam. Kaum hatte sie realisiert, dass er sie in seine Arme gezogen hatte, sah er ihr tief in die Augen.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er und sie nickte langsam. Mit der anderen Hand strich er ihre blonden Haare zurück und legte die Lippen an ihren Hals. An ihrer Haut roch er ein schwaches Parfüm, dann teilte er seine Lippen und seine Fänge verlängerten sich. Als seine Fänge ihre Haut durchstachen und das leckere Blut in seinen Mund floss, stellte er sich Khalida vor.

Wie er sie in den Armen hielt und an ihrem Hals saugte. Wie ihr süßes reines Blut ihm die Kehle herunterlief. Wie er ihren Körper berührte.

Doch er ließ den Gedanken fallen, löste sich von der Frau und leckte über die Wunde. Er nahm sich ein Küchentuch und machte es unter dem Wasserhahn nass. Damit wischte er dann die letzten Spuren von ihrem Hals.

»Es ist nichts passiert«, murmelte er und löschte ihre Gedanken, dann ließ er sie allein in der Küche stehen und stieg in den Fahrstuhl. Selbst nach diesem kleinen Imbiss hatte er immer noch das Verlangen Khalida zu sehen. Wenn das Mal kein schlechtes Omen war.

Mit dem Motorrad brauste er zurück in die Kleinstadt und steuerte geradewegs das Haus an, in dem Khalida lebte. Mittlerweile war es dunkel geworden, doch im Haus brannte noch immer Licht. Das Motorrad ließ Jaden ein wenig abseits der Straße stehen und ging um das Haus herum.

Er konnte Khalidas Geruch wahrnehmen. Ihr Zimmer lag im ersten Stock genau über ihm. So nah war er noch nie bei ihr gewesen. Abgesehen in der Schule. Daher war sich Jaden sicher, dass dies der größte Fehler war, den er seit langem gemacht hatte.

Mit Leichtigkeit kletterte er die Hauswand hinauf, hielt sich an den Fensterläden fest und öffnete das verschlossene Fenster kraft seines willens. Kaum hatte das Fenster sich geöffnet, sprang er in das dunkle Schlafzimmer.

Es war ein ganz normales Zimmer einer Jugendlichen. Kurz sah er sich um, um sich zu orientieren. Khalida lag zusammengerollt auf dem Bett und trug zum Schlafen eine kurze Hose und ein Shirt. Jaden schloss hinter sich das Fenster und ging auf den Schreibtisch zu. Wer war sie wirklich? Warum waren es ausgerechnet ihre Gedanken?

Doch auf ihrem Schreibtisch gab es nichts Außergewöhnliches. Er schob einige Unterlagen beiseite. Alles nur Bücher und Zettel für die Schule. Khalida war ganz und gar ein normaler Mensch.

Dann zuckte er zusammen. In seinem Kopf ertönte ein Schrei. Laut und furchterregend. Er drehte sich zum Bett und sah Khalida an. Sie hatte einen furchtbaren Albtraum. Er konnte sie schreien hören, sie litt und hatte Angst. Ganz normal war sie also doch nicht.

Aber was machte sie so anders? Jaden ging zum Bett und setzte sich. Er wollte sie nicht wecken, aber er wollte sie von nahem sehen.

Er berührte mit den Fingerspitzen ihre Wange, sie war nass und kalt. Kurz verharrte er und nahm ihren Geruch in sich auf. Er beugte sich leicht über sie, sein Gesicht berührte fast ihren Hals. Nein, er konnte nicht. Sie litt eh schon, da sollte er ihr nicht noch mehr Leid zufügen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Zum Teufel, er konnte ihre Erinnerungen löschen.

Warum zögerte er?

Er beugte sich weiter zu ihr, seine Lippen berührten ihre Haut am Hals. Bedächtig küsste er sie und bemerkte fast schon zu spät, dass sie fast aus ihrem Schlaf aufwachte. 

Kapitel 3 - Khalida

Wenn ich eines hasste, dann war es mein Albtraum. Ich konnte nichts in diesem Verlauf verändern und ich konnte nicht weglaufen. Denn wenn ich lief, dann lief ich immer auf die Klippe zu. Es war, als wäre mein Albtraum etwas, das auf jeden Fall passieren würde. Dieser Ablauf ließ sich nicht ändern. Aber welche Bedeutung hatte es?

Das fragte ich mich mittlerweile sogar in meinen Träumen. Ich stand neben dem Felsen mit dem Moos und betrachtete den toten Baum. Ich wusste ganz genau, was hier geschah, und dennoch lief ich immer wieder hierher.

Ich berührte mit den Fingerspitzen einen der Äste, der dann zu Staub zerfiel. Ich strich über das weiche Moos, das sich unter meiner Hand klebrig und alt anfühlte. Hinter mir ertönten Schritte, doch bevor ich mich umdrehen konnte, um zu sehen, wer hinter mir war, bekam ich auch schon den schmerzhaftesten Stoß meines Lebens. Mit voller Wucht wurde ich die Klippe hinunter gestoßen und der Schmerz schoss durch meine Wirbelsäule. Mir blieb die Luft weg, während ich über den Abgrund in die Tiefe fiel.

Aus Panik schloss ich meine Augen, denn ich hatte Angst vor dem Aufprall. Was erwartete mich da unten? Starb ich?

Jedoch kam ich nie unten an, denn ich erwachte vorzeitig aus meinem Schlaf. Schweißgebadet saß ich in meinem Bett und kniff in meinen Arm. Schmerz. Das war gut. Schmerz war gut, dann war ich wach.

Ich wischte meine Haare aus meinem Gesicht und knipste neben mir die Nachttischlampe an. Es war früher Morgen, ich hatte zumindest die Nacht durchgeschlafen, ehe mich mein Albtraum geweckt hatte.

Dann sollte ich die Zeit nutzen und mich für die Schule fertig machen. Ich schnappte mir frische Klamotten und ging direkt ins Badezimmer. Ob Dilara eine Idee hatte, wie man nervige Albträume loswerden konnte?

Nein, ich sollte nicht mit jemanden darüber sprechen, es klang viel zu bizarr, wenn man vom eigenen Tod träumte. Und ich wollte nicht, dass sich mein Traum bewahrheitete, schließlich gab es nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass ich sterben könnte. Nickend versuchte ich mein Spiegelbild von mir zu überzeugen.

Ich werde nicht sterben, sprach ich mir selber zu und putzte weiter meine Zähne. Und ich nahm mir heute vor, nicht mehr von Noel zur Schule gefahren zu werden. Ich musste das nun selbst in die Hand nehmen und ihm zeigen, dass er sich keine Sorgen um mich machen musste. Ich war fast volljährig. Genau, als volljährige musste ich nicht mehr zur Schule gefahren werden.

Außerdem fühlte ich mich ausgeschlafen, das konnte also nur ein guter Tag werden. Hoffte ich. Irgendwie war ich mir nicht sicher.

»Heute wird ein guter Tag«, versuchte ich mir einzureden und stieg die Treppen nach unten. Meine Tasche legte ich auf den Küchentresen.

»Guten Morgen, Khali. So früh sehe ich dich selten hier unten«, begrüßte mich meine Mom und gab mir einen Kuss auf die Schläfe.

»Ja, ich war gestern so früh im Bett. Außerdem muss ich meine Hausaufgaben noch zu Ende machen. Eine Aufgabe muss Dilara mir allerdings erklären«, murmelte ich und nahm die Brotdose entgegen, die Mom mir überreichte. Schnell verstaute ich die Dose und etwas zu trinken in meiner Tasche und sah dann auch schon, wie Noel die Treppe hinunter schlenderte. Dann konnte ich meinen guten Vorsatz für heute auch gleich bekanntmachen.

»Hey, Noel«, begrüßte ich ihn und er hob müde die Hand. Solange er noch nicht im wirklich richtigen Wach-Modus war, konnte ich ihn überzeugen.

»Ab heute gehe ich wieder mit Dilara zur Schule. Du brauchst mich nicht fahren, okay?«

Noel wollte mir widersprechen, doch ich sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich bin bald 18. Ich bin fast volljährig. Ich werde allein zur Schule gehen. Klar.«

»Okay, ich fahre dich nicht mehr. Aber schrei ja nicht, wenn der Kriminelle dich als Opfer aussucht«, meinte er und schnappte sich eine Tasse und goss sich Kaffee ein.

»Ja, ja. Schon klar.« Ich verdrehte die Augen und nahm mir meine Sachen.

»Bis später!«, rief ich noch und verließ dann das Haus. Tatsächlich musste ich keine Hausaufgaben nachholen. Ich hatte sie bereits gestern alle fertig, aber ich brauchte die Bewegung und den Abstand. Ich schlenderte zur Kreuzung, an der ich immer Dilara traf und wartete dort auf sie.

Es dauerte auch nur zwanzig Minuten, bis ich sie sah und lächelte ihr zu, als sie mir entgegenkam.

»Wow, hat Noel dich wirklich allein gehen lassen? Du hast ihn also überzeugen können?«, fragte sie und hakte ihren Arm unter meinen.

»Ach naja, war keine große Sache. Aber ich kann mir das Gerede in der Schule nicht mehr anhören.«

Gemeinsam schlenderten wir zur Schule und es war wirklich befreiend, mal wieder allein zur Schule zu kommen. Das Rampenlicht galt hoffentlich nicht länger mir.

An unseren Spinden konnte ich nicht fassen, dass ich mich im Tag geirrt hatte mit dem Stundenplan. Denn ich hatte komplett die falschen Bücher dabei.

»Na toll, dabei fing der Tag so gut an«, murmelte ich.

Dilara lehnte sich neben mich an einen Spind und lächelte betroffen. Sie hatte mir eines ihrer Bücher geliehen, welches sie erst nächste Woche wieder benötigte. Ansonsten war ich total aufgeschmissen.

Meine erste Stunde hatte ich mit ihr gemeinsam, daher konnte ich mit ihr in ein Buch schauen, jedoch gefiel es den Lehrern nicht, dass wir nebeneinandersaßen. Wenigstens machte man eine Ausnahme, damit ich zumindest mit lesen konnte.

Und in der nächsten Stunde hatte ich Gott sei Dank das Buch von Dilara. So musste ich mir keinen Sitznachbarn suchen. Davon abgesehen, hatte ich die nächste Stunde mit Penelopé und ihrer Clique und mit Jaden. Seufzend musste ich feststellen, dass ich für diese Stunde nicht ausgerüstet war. Am besten suchte ich mir dann einen Sitznachbarn, der keiner von den beiden war.

Allerdings gab es nicht viel Auswahlmöglichkeit in der nächsten Stunde. Denn entweder setzte ich mich zu einer von Penelopés Freundinnen oder ich fragte Jaden. Oh Gott, das überließ ich lieber dem Lehrer. Diese Entscheidung würde ich niemals allein treffen. Denn egal, wie ich mich entschied, beides war unangenehm.

Daher setzte ich mich auf meinen gewöhnlichen Platz und wartete auf den Lehrer. Als er auch schon eintrat, wartete ich einfach, bis er das Buch aufschlug. Aber er tat es nicht. Allgemein war sein Unterricht heute eher langweilig.

Und mit einem Mal wurde ich doch müde. Dabei dachte ich, dass ich ausgeschlafen war. Ich fing an zu gähnen und schloss kurz die Augen.

Der Lehrer fragte mich, ob sein Unterricht mich langweilen würde, und ich schüttelte den Kopf. Natürlich tat er das, dachte ich und legte die Hand wieder vor den Mund. Ich musste ganz dringend das Gähnen unterdrücken. Als ich einen kurzen Schluck aus der Wasserflasche trank, hatte ich die Hoffnung, dass es besser werden würde. Pustekuchen. Ich war immer noch müde. Das musste an diesem verfluchten Albtraum liegen.

»Khalida, ich bitte dich, geh auf den Flur«, sagte dann der Lehrer und ich stand seufzend von meinem Stuhl auf. Dieser Tag war die reinste Folter. Obwohl er wirklich gut angefangen hatte.

Als ich dann die Tür hinter mir schloss, lehnte ich mich gegen die Wand und schloss die Augen. Nur für zwei Sekunden.

Doch ich öffnete sie wieder und ging zu einem der Getränkeautomaten. Ich entschied mich für eine Cola und wollte dann wieder zurückgehen.

»Hi. Du bist doch Khalida, oder?«

Ich sah mich nach der Stimme um und entdeckte hinter mir einen Jungen.

»Ja, die bin ich.«

Verwirrt legte ich die Cola Dose von einer Hand in die andere und wieder zurück. Der Junge sah etwas älter aus als ich und blickte mich aus haselnussbraunen Augen an. Er war der andere Neue, der kurz nach Jaden auf die Schule gewechselt kam.

»Ich bin Liam. Wir haben zusammen Englisch«, sagte er und lächelte mich an.

»Oh, stimmt. Wir haben uns noch gar nicht wirklich kennen gelernt«, erwiderte ich und lächelte ebenfalls. Mir fiel die Cola Dose aus der Hand und rollte auf Liam zu. Was für ein Klischee, dachte ich und wollte mich vorher bücken, um sie aufzuheben.

Allerdings war ich nicht schnell genug und Liam griff bereits nach ihr. Dann hielt er sie mir hin.

»Danke.«

Ich nahm sie ihm ab und hielt sie eisern fest, damit mir das nicht noch einmal passierte. Da deutete er auf einmal mit dem Finger auf mich, oder wohl eher auf meine Brust.

»Wow, deine Kette ist hübsch. Eigenartig, aber hübsch«, sagte er und ich blickte hinab. Die muss mir beim Bücken aus dem Oberteil gerutscht sein.

Ich nahm den Anhänger in die Hand und strich leicht darüber.

»Vielen Dank, ich finde sie auch sehr hübsch.«

»Darf ich sie mal berühren?«, fragte er.

Etwas verwirrt über seine merkwürdige Frage, zuckte ich die Schultern und ging einen kleinen Schritt auf ihn zu. Dann hielt ich ihm den Anhänger so weit hin, wie es ging. Ganz zart berührte er mit seinen Fingerspitzen den kleinen Anhänger und strich es entlang, bis er die Silberkette berührte und zurückzuckte.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich skeptisch. Liam nickte nur und blickte wie erstarrt auf meinen Anhänger, als hätte er eine interessante Entdeckung gemacht. Schnell versteckte ich meine Kette wieder unter meinem Oberteil.

»Ich muss zurück«, meinte ich und winkte zum Abschied. So langsam sollte der Lehrer mich wieder ins Klassenzimmer holen.

Doch bevor ich beim Klassenzimmer ankam, sah ich den Lehrer schon im Flur und ich fluchte leise vor mich hin. Der Lehrer war eindeutig wütend.

»Verlässt du immer deinen Platz, wenn du rausgeschickt wirst? Und dann kaufst du dir auch noch so etwas Ungesundes!«, fuhr er mich streng an und bürdete mir eine Zusatzaufgabe auf. Na super!

In diesem Schuljahr war es übrigens erst das erste Mal, das ich vor die Tür geschickt wurde! Der Lehrer nahm mich trotzdem wieder mit ins Klassenzimmer und ich setzte mich an meinen Platz und steckte die Cola Dose in meine Tasche. Gott sei Dank war die Stunde fast vorbei. Die Bücher hatten wir nicht gebraucht und ich dankte Gott dafür. Auch wenn er heute nicht ganz auf meiner Seite stand.

In der Pause war ich erleichtert, mich wieder mit Dilara unterhalten zu können. Ich erzählte ihr direkt von dem anderen neuen Schüler.

»Hast du ihn in einigen Kursen?«, fragte ich sie und trank nun meine Cola. Nebenbei aß ich einen Apfel, damit es nicht ganz so ungesund aussah.

»Vielleicht in einem. Ich bin mir nicht sicher. Dieser Liam ist irgendwie so still und ruhig, man übersieht ihn leicht.«

Da hatte Dilara Recht. Mir war er auch nicht sofort aufgefallen.

»Das Gute ist, dass wir heute nur noch zwei Stunden Sport haben«, sagte Dilara und freute sich. Sie sprang bereits von ihrem Stuhl und brachte ihr Tablett weg, während ich seufzte. Normalerweise freute ich mich auch auf die zwei Stunden, allerdings war ich gar nicht in Stimmung zu tanzen.

»Na komm!«, jubelte Dilara, nahm meinen Arm und verließ mit mir die Cafeteria. Eigentlich war Dilara nicht der sportliche Typ, doch wenn wir Tanzunterricht hatten, war sie kaum zu bremsen. Das war die Aktivität, die wir uns für dieses Jahr ausgesucht hatten. Wir hatten auch schon das letzte Jahr den Tanzunterricht ausgewählt und wussten sofort, dass wir es zum Abschluss ebenfalls machen wollten. Denn genauso wie Dilara das Tanzen liebte, so sehr liebte ich es auch, was uns noch mehr als beste Freundinnen zusammenschweißte.

In der Mädchenumkleide der Sporthalle zogen wir unsere Sportsachen an und betraten die Tanzfläche, wie es Mrs. Rees stolz nannte. Mrs. Rees konnte wirklich alles Tanzen und bestand darauf, dass alles perfekt sein musste. Von der Kleidung angefangen, bis zum perfekten Lied und der dazu passenden Choreografie.

Ursprünglich kam Mrs. Rees aus dem Süden, irgendwo aus Kenia. Sie war außerdem glücklich verheiratet und hatte auch schon Kinder. Ihre kleine Tochter kam gerade in die Grundschule.

Am liebsten tanzte Mrs. Rees Samba und Flamenco. Das hatte sie alles im letzten Jahr erzählt, bevor sie mit uns getanzt hatte.

»Guten Tag«, sagte sie mit ihrer tiefen rauchigen Stimme. Es hatten sich so weit alle Schüler gesammelt und Dilara drückte ganz aufgeregt meinen Arm.

»Viele von euch kennen mich schon. Ich bin Mrs. Rees und Tanzen ist meine Leidenschaft. Und ich hoffe, dass ich euch ein wenig Leidenschaft hier beibringen kann.«

Ein Raunen ging durch die Schüler, einige lachten und einige freuten sich.

»Dieses Jahr möchte ich mit euch den Walzer lernen. Er ist ein sehr klassischer Tanz. Und sobald ihr den Walzer beherrscht, geht es weiter mit Tango. Die klassischen Tänze sind weit verbreitet und machen in jeder Form Spaß. Es gibt natürlich nicht nur die langsamen und langweiligen Moves«, erklärte sie und sah ganz bestimmte Schüler an.

»Aber es ist ein Gemeinschaftstanz und diese solltet ihr beherrschen, damit punktet ihr auf vielen Veranstaltungen. Außerdem seid ihr dann für den Abschluss gewappnet.«

Ob das für die Zukunft wichtig war, bezweifelte ich. Dennoch wollte sie uns von den klassischen Tänzen überzeugen. Und mir war im Grunde egal, welchen Tanz wir lernten. Alles war besser, als ein Buch vor der Nase liegen zu haben.

Letztes Jahr im Tanzkurs hatten wir Hip-Hop getanzt. Es gab kaum etwas anderes für mich im letzten Jahr. In jeder freien Minute hatte ich die Schritte gelernt oder sie zur Musik wiederholt. Es hatte solch einen Spaß gemacht mit den Leuten die Choreo zu tanzen. Die Leidenschaft konnte Mrs. Rees definitiv verbreiten.

Zu meinem Bedauern hatte sich auch Penelopé dieses Jahr für diesen Kurs angemeldet, scheinbar hatte sie gesehen, wie cool es aussieht, wenn man sich gut bewegen konnte. Schließlich trat die Tanzgruppe auch mal auf Schulfesten auf. Und da war nun einmal nicht Penelopé im Mittelpunkt. Das ging ja gar nicht.

»Sucht euch erst einmal einen Partner oder eine Partnerin und stellt euch gegenüber. Dann beginnen wir auch schon mit den Grundschritten.«

Ich hoffte, dass der gute Tänzer vom letzten Jahr ebenfalls hier war, doch ich konnte ihn nirgends entdecken. Ich blieb als einzige ohne Partner übrig und stellte mich an den Rand und sah den anderen Schülern zu. Zwischen den fast 20 Schülern konnte ich Dilara erkennen. Ihr Tanzpartner stand direkt vor ihr. Er war etwas größer als sie und strich sich durch sein kurzes blondes Haar.

Penelopé stand auf der anderen Seite und blickte sich um, der Junge vor ihr sprach die ganze Zeit mit ihr. Doch sie ignorierte ihn. Mit dieser Haltung konnte sie ganz sicher nicht für den Winterball kandidieren. Sie musste mit ihrem Tanzpartner harmonieren oder es zumindest versuchen.

»Ah, Khalida!«, riss mich Mrs. Rees aus meinen Gedanken. Ich blickte die dunkelhäutige Frau an, die mich zu sich winkte.

»Hier ist noch jemand, der keinen Tanzpartner hat. Komm mal her«, rief sie und ich lief auf sie zu. An ihrer Seite stand niemand anderer als Jaden.

Sobald ich vor ihm stand, ließ Mrs. Rees uns auch schon allein. Keiner von uns beiden sagte ein Wort und ich ließ meinen Blick, wie Penelopé durch den Raum schweifen, in der Hoffnung, vielleicht noch einen anderen Tanzpartner zu bekommen.

»Kannst du Walzer tanzen?«, fragte er leise und ich konnte seinen durchdringenden Blick auf mir spüren, während mein Blick langsam zu ihm glitt. Eigentlich wollte ich ihn nicht ansehen. Aber ich konnte nicht anders.

»Ich weiß es nicht. Ich habe es noch nie getanzt«, meinte ich und hoffte, dass er tanzen konnte und mir nicht auf die Füße trat. Oder umgekehrt. Das wäre mir total peinlich ihm gegenüber.

Also hielt ich ihm meine Hand hin und wartete auf seine Reaktion.

In seinen Augen regte sich etwas und er kam auf mich zu. Meine kleine Hand verschwand in seiner warmen Hand. Seine andere Hand legte sich erst an meine Hüfte, wanderte über meine Taille und höher zu meiner Schulter. Es war, als hätte er die Chance genutzt und meinen Körper studiert. Tatsächlich war mir diese Berührung nicht unangenehm gewesen. Seine Hand auf meinem Körper bewusst zu spüren war seltsam.

Außerdem war er mir so unglaublich nahe, dass ich dachte, ich könnte seinen Herzschlag hören. Aber das war wahrscheinlich nur mein eigener schneller Puls, der mir in den Ohren rauschte.

Von Jaden fühlte ich mich in diesem Moment kein bisschen bedrängt. Es traf eher das Gegenteil zu, ich fühlte mich in seiner Nähe wohl. Noch vor ein paar Tagen war ich vor ihm geflüchtet, doch nun hatte ich keine Angst. Und der kurze Schauer, der mir über den Rücken glitt, als ich in seine Augen sah, war angenehm. Mehr als angenehm.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Mrs. Rees neben uns stand und unsere Haltung verbesserte. Sie legte meine freie Hand auf Jadens Schulter und führte uns noch einen kleinen Schritt näher. Für einen Moment hielt ich die Luft an und versuchte, nicht zu nervös zu werden. Schließlich war Jaden gutaussehend. Es war nur normal, dass man nervös wurde, wenn man einem Kerl so nah war, dass man seinen Atem auf der Haut spüren konnte.

Herr im Himmel, er roch fantastisch. Ich konnte mich kaum auf das konzentrieren, was Mrs. Rees erklärte. Als dann leise die Musik ertönte, war ich verunsichert und blickte auf unsere Füße. Wir machten exakt die Schritte, die Mrs. Rees uns erklärte. Allerdings schien Jaden den Walzer zu beherrschen, denn ich ließ mich einfach von ihm führen. Seine Hand drückte meine kurz und ich sah in sein Gesicht.

Warum musste man so nah tanzen? Doch ich sah ein kleines Lächeln und das brachte mich aus meiner Konzentration für die Schritte. Prompt trat ich auf seinen Fuß.

»Entschuldige«, murmelte ich und versuchte, mir die Schrittreihenfolge zu merken. Wir fingen von vorne an und ich wurde mir seiner Nähe wieder bewusst, als wir die Drehung versuchten und er meine Hand wieder auffing. Es fühlte sich so natürlich an mit ihm zu tanzen, dass es mir mit ihm doch Spaß machte. Das hatte ich nicht erwartet.

Mein Blick glitt immer noch oft zu unseren Füßen und ich zählte die Schritte mit, damit ich nicht durcheinander kam und ihm nicht noch einmal auf die Füße trat. Doch es passierte trotzdem und für jedes entschuldigen, bekam ich ein raues Lachen von ihm. Das Geräusch verursachte bei mir Herzklopfen und ich konnte nicht verhindern, dass es mich noch nervöser machte.

»Sieh nicht nach unten. Sieh mich an«, flüsterte Jaden plötzlich in mein Ohr und mein Herz setzte für einen Moment aus. Ich keuchte und schreckte zurück, doch Jaden ließ mich nicht los und machte stattdessen eine kleine improvisierte Drehung.

»Das sah sehr schön aus.«

Plötzlich stand Mrs. Rees neben uns und ich blieb erschrocken stehen, da half auch kein weiterer Schritt nach hinten, den Jaden versuchte. Aber tanzen konnte er, das musste ich ihm lassen. Seine Hand hielt immer noch meine fest und er schien mich nur widerwillig loszulassen. Ich begegnete seinem Blick und er fing an zu grinsen. Natürlich war ich erschrocken gewesen, was hatte er erwartet, als er so nah war.

Eine mit der Letzteren verließ ich die Sporthalle und ging über den Campus auf den Ausgang zu. Da Dilara jeden Tag Privatunterricht hatte, musste sie sich beeilen.

Und Noel hatte heute keine Zeit, um mich von der Schule abzuholen, daher musste ich zu Fuß allein nach Hause gehen.

»Hey. Khalida!«, rief jemand hinter mir und ich drehte mich herum. Liam kam auf mich zugelaufen und lächelte mich verlegen an.

»Kann ich dich begleiten?«

»Klar. Wieso nicht. Hattest du bis jetzt auch noch einen Kurs?«, fragte ich, während wir vom Campus gingen.

»Nein, ich hatte keinen Kurs mehr. Aber ich habe euch tanzen gesehen und fand das sehr interessant.«

»Echt? Naja, heute war es nicht so gut gelaufen, wir lernen einen neuen Tanz.«

»Oh und dein Partner ist darin nicht so gut?«

Seine Stimme klang härter und ich glaubte, Feindseligkeit herauszuhören. Kannte er vielleicht Jaden? Die beiden kamen schließlich zur gleichen Zeit an die Schule.

»Nein. Das ist einfach der neue Tanz«, meinte ich und hatte das Gefühl, dass ich Jaden verteidigen müsste. Immer noch skeptisch sah ich zu Liam, der im gleichen Moment zu mir herunter blickte und mir nur kurz zu nickte.

»Von wo hast du die Kette eigentlich?«, fragte er völlig unvorbereitet und ich war einen Moment ziemlich verwirrt über den Themenwechsel.

»Es war ein Geschenk zu meiner Geburt, seither ist sie ein Teil von mir.«

Ich spürte den Anhänger an meiner Haut, er hatte die Größe einer Erdbeere und sah aus wie ein Herz. Um dieses Herz war eine blaue Ader geschlungen. Der Anhänger sah tatsächlich auf dem ersten Blick merkwürdig aus, dennoch liebte ich dieses Schmuckstück. Denn es hieß, dass mein Vater es mir geschenkt hatte. Das war das Einzige, was ich von ihm hatte, und es war das einzige Detail, dass meine Mutter mir von ihm erzählt hatte.

»Oh, das klingt, als hätte sie eine große Bedeutung für dich«, sagte Liam und ich nickte.

»Definitiv. Und gibt es bei dir etwas, was für dich von großer Bedeutung ist? Etwas, was du nur selten ablegen kannst?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, so etwas Wertvolles besitze ich nicht.«

Ich wollte mich im ersten Moment entschuldigen, doch es ergab keinen Sinn. Mit meinen Gedanken war ich gerade ganz woanders gewesen. Aber die Vorstellung, ich müsste ohne meine Kette leben. Nein, diese Vorstellung gab es nicht. Sie gehörte zu mir, denn das war meine einzige Verbindung zu meinem Vater.

Ich schloss für einen Moment die Augen und wollte Liam gerade etwas Fragen, da stieß ich plötzlich mit der Schulter gegen jemanden. Sofort entschuldigte ich mich und blickte die Person an, die ich angerempelt hatte.

Ein ziemlich großer, unheimlicher Mann stand vor mir und finster blickten mich seine hellen braunen Augen an. Von ihm ging eindeutig eine Gefahr aus.

Schon sein Gesichtsausdruck war eine Warnung an die Menschen. Meine Nackenhaare stellten sich auf und eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus.

»Es tut mir leid. Ich habe nicht aufgepasst«, nuschelte ich nochmal automatisch, damit er mir nicht gleich den Kopf von den Schultern riss und ging um den Mann herum.

Mit schnellen Schritten entfernte ich mich und drehte mich zur anderen Seite, um mit Liam über diesen Mann zu sprechen. Doch Liam war gar nicht mehr da.

Ich drehte mich herum, doch ich war ganz allein auf dem Gehweg. Okay, das war mehr als merkwürdig. Meine Haut kribbelte immer noch und ich lief einfach nach Hause. Diesen Vorfall sollte ich am besten ganz schnell vergessen.

Ausatmend stand ich vor der Haustür und hielt den Schlüssel bereit. Wir wohnten in einem Einfamilienhaus, aber wie sollten wir uns Familie nennen, wenn ein Mitglied fehlte? Das fragte ich mich seit ein paar Jahren. Doch dann musste ich auch wieder über mich selbst lachen. Viele Kinder wuchsen ohne einen Vater auf, wieso also sollte ich mir über meinen Vater Gedanken machen. Nur weil er mir diesen Anhänger geschenkt hatte?

Oft hatte ich Mom nach ihm ausgefragt, doch jedes Mal wich sie diesen Fragen aus und sagte, er sei damals auf Weltreise gegangen, da er kein Interesse an einem Familienleben hatte. Und als ich Noel gefragt hatte, sagte er, dass unser Vater Kinder hasste und ein richtig schlechter Mensch sei. Zumindest kannte er unseren Vater und hatte ihn auch schon mal gesehen. Noel wirkte immer abweisend und kühl, wenn es um unseren Vater ging.

Nachdem ich wieder einmal über ein Leben mit Vater nachgedacht hatte, schloss ich die Tür auf und rief, dass ich wieder da sei. Hm. Keine Antwort war auch eine Antwort.
Langsam und erschöpft ging ich durch den Flur in die Küche.

Meine Tasche ließ ich achtlos auf den Boden fallen und ich setzte mich auf einen der Hocker. Seufzend strich ich mir über das Gesicht.

Ich sah mich in der Küche um, es wirkte alles so vertraut. Die Wände waren in einem hellen Braun gestrichen und die Schränke waren schlicht in Weiß. Der Tresen allerdings passte gar nicht in diese Einrichtung. Er war in einem dunklen Braun und wirkte viel zu groß für die Küche. Dennoch liebte Mom diesen Tresen und die Hocker. Manchmal saß sie Stunden hier, um sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und ab und an schaute sie sich auch die alten Familienfotos an.

Ich strich meine Haare zurück und legte meinen zu schweren Kopf auf die kühle Platte. Um zur Ruhe zu kommen, sei es nun äußerlich sowie innerlich, atmete ich ein paar Mal tief ein und aus. Dann hob ich meinen Kopf wieder und plötzlich stand meine Mom direkt neben mir.

Erschrocken sprang ich vom Hocker auf und legte eine Hand auf mein Herz, welches nun wieder aufgeregt pochte.

»Verflucht, Mom! Du hast mich zu Tode erschreckt. Wieso hast du denn nichts gesagt?«

Sie winkte mit der Hand ab, als sei nichts gewesen. »Du lebst noch, oder? Ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte sie trocken und deutete ins Wohnzimmer.

Meine Mom hatte kein Mitgefühl für mich und mein Herz.

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und sobald ich einen großen Mann sah, wollte ich mich direkt noch einmal entschuldigen. Denn er sah aus wie der riesige unheimliche Mann, den ich versehentlich angerempelt hatte. Aber die erschreckende Gänsehaut blieb aus, nur ein angenehmes Kribbeln in meiner Wirbelsäule war zu spüren.

Ich studierte den Mann, der nun langsam auf mich zukam. Sein Gesichtsausdruck ähnelte nicht im Geringsten dem Mann von vorhin. Und er war auch nicht unheimlich.

Der Mann hatte schwarze Haare, die etwas länger waren. Seine goldbraunen Augen ruhten auf meinem Gesicht, studierten mich ebenfalls, als suchte er etwas Bestimmtes an mir.

Er hatte die Statur eines Footballspielers, war groß und breitgebaut.

»Hallo«, sagte ich zaghaft, weil sich noch niemand geräuspert hatte, und der gutaussehende fremde Mann legte eine Hand an seinen Kopf. Er seufzte tief und voller Gefühl, als wäre etwas Furchtbares geschehen. Hatte ich etwas falsch gemacht? Sein Gesichtsausdruck war traurig und er wirkte betroffen.

Ich legte die Hand an die Lehne der Couch und sah dem Mann dabei zu, wie er langsam auf mich zu kam. Seine Bewegungen waren elegant und dann stand er vor mir.

»Hallo. Ich bin Devin. Dein Onkel.«

Seine Stimme war weich und tief. Es war, als lullte seine Stimme mich ein. Und er roch nach frischem Aftershave. Plötzlich hatte ich das Gefühl, diesen Mann schon einmal gesehen zu haben. Irgendwie kam mir dieser Mann ziemlich bekannt vor. Und dennoch wusste mein Gehirn, dass ich ihn heute das erste Mal traf.

Ich reichte ihm meine Hand und als er sie entgegennahm, wurde mir für einen Moment schwindelig. Gott, was war denn jetzt los? In letzter Zeit hatte ich sehr merkwürdige Begegnungen.

»Du solltest dich ein wenig ausruhen, Khalida«, sagte er und ein liebevolles Lächeln huschte über sein markantes Gesicht.

»Du kennst meinen Namen?«, fragte ich überrascht, was ihn nun zu einem verlegenen Grinsen brachte.

»Ich bin dein Onkel. Natürlich kenne ich deinen Namen.«

Einen Augenblick war ich noch verwirrt. Mom hatte doch gar keinen Bruder oder etwa doch?

»Von wo...«, doch ich konnte nichts sagen. Mir wollten die Worte nicht über die Lippen kommen.

»Ich bin der Bruder deines Vaters.«

Ich nickte langsam. Wenn mein Vater ihm ähnlich sah, dann wusste ich zumindest schon einmal, von wem ich die schwarzen Haare hatte. Dann musste Noel mehr nach Moms Familie kommen. Hatte dort jemand blonde Haare?

Und mir stellte sich natürlich auch die Frage, weshalb unser Onkel nach so langer Zeit hier auftauchte. Hatte es etwas mit unserem Vater zu tun? Oder lag es daran, dass ich bald achtzehn wurde?

»Komm, geh dich ein wenig ausruhen. Du hattest bestimmt einen anstrengenden Tag.«

Devin lächelte mir wieder freundlich und liebevoll zu, worauf ich nur nicken konnte, und verließ das Wohnzimmer. Aus der Küche schnappte ich meine Sachen und ging hoch in mein Zimmer. Hinter mir schloss ich die Tür. Tatsächlich freute ich mich, endlich ein anderes Familienmitglied zu treffen. 

Devin

Nachdem Khalida nach oben gegangen war und Devin hörte, wie sie ihre Zimmertür geschlossen hatte, ging er zum Sofa und setzte sich. Dann seufzte er tief, denn er wusste nicht, wie er dieses Gespräch mit Irina führen sollte. Tief in seinem Inneren hatte er gewusst, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kam, denn irgendwann kam für jeden Vampir die Zeit, in der er erwachte.

Und er hatte es Khalida angesehen. Sobald er sie berührt hatte, war in ihrem Körper ein Schalter umgelegt worden. Ihr Körper hatte auf seine Anwesenheit reagiert und erkannte sein wahres Wesen.

»Sie ist groß geworden«, versuchte Devin ein Gespräch anzufangen.

»Ich hätte nicht erwartet, dass du wiederkommst. Nach all den Jahren«, sagte sie barsch. Jedes Gefühl der Zärtlichkeit und Zuneigung, welches sie Khalida entgegengebracht hatte, wich aus ihrem Gesicht.

Eigentlich sollte er auch nicht hier sein, denn er hatte vor langer Zeit dem Vampirrat versprechen müssen, dass er seine Frau nie wieder sah. Konnte er Irina immer noch als seine Frau betrachten? Sie waren nicht verheiratet gewesen und die Zeit, die sie damals gemeinsam verbracht hatten, war viel zu kurz gewesen. Noch bevor Irina schwanger wurde, hatte er Irina in das Vampirgeheimnis eingeweiht. Und das war laut den Vampirgesetzen verboten.

Menschen durften von der Existenz nicht erfahren. Jedoch war die Situation komplizierter geworden, als Irina dann tatsächlich schwanger geworden war und Devin wollte, dass Irina wusste, auf was sie sich eingelassen hatte.

Tja und somit hatte er die Regel gebrochen und der Rat hatte ihn vor die Wahl gestellt.

»Ja, ich hatte es auch nicht erwartet«, murmelte Devin und er spürte, wie sein Körper sich anspannte.

»Aber sie ist auch meine Tochter.«

Er hatte sich bei Khalida als ihren Onkel vorgestellt, denn Irina hatte ihn vorgewarnt, dass Khalida nicht gut auf ihren »Vater« zu sprechen war. Und er wollte nicht, dass Khalida ihn vom ersten Moment an schon ablehnte.

»Das verstehe ich«, sagte Irina und blieb neben dem Sofa stehen. Sie schaute ihn kaum an, als würde sie seinen Anblick nicht ertragen. Dabei war sein einziger Wunsch in den letzten Jahren gewesen, bei seiner Familie sein zu können. Seiner Tochter dabei zuzusehen, wie sie aufwuchs und erwachsen wurde.

»Wo warst du die ganze Zeit? Nicht, dass mich das etwas angeht. Ich bin nur neugierig«, fragte Irina.

In der ganzen Zeit seiner Abwesenheit hatte er sich viele Szenarien für diese Situation vorgestellt. Jedoch hatte er nie gedacht, dass Irina ihn mit solch einer kühlen Art behandelte. Schließlich war er damals nicht freiwillig gegangen. Er hatte eine Wahl treffen müssen und hatte sich nur schweren Herzens von ihr trennen wollen.

Genau genommen war Devin über die ganze Zeit in der Nähe gewesen. Zwar hatte er nicht in derselben Stadt gewohnt und das tat er immer noch nicht. Aber er war nie zu weit weg. Er fühlte sich für Irina und Khalida verantwortlich und passte immer auf seine Tochter auf.

Devin blickte zu Irina, doch sie hatte ihr Gesicht abgewandt, den Blick starr nach draußen gerichtet. Ihr Profil wirkte älter, sie war älter geworden. Es lag inzwischen achtzehn Jahre zurück, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

»Ich, ähm«, stotterte Devin und räusperte sich. Obwohl er Irina kannte und wusste, was er für sie empfand, war es, als sei es ihre erste Begegnung. Devin war schon ewig nicht mehr so nervös gewesen. Seine Gefühle für sie hatten sich in den letzten Jahren überhaupt nicht verändert und er bemerkte, wie sehr er sie vermisst hatte.

»Ich war immer in der Nähe. Mit dem Auto fährt man ungefähr drei Tage. Du kennst bestimmt noch die Bedingung des Rats, dass ich dir nicht zu nahe kommen darf.«

»Und was machst du jetzt hier? Welchen Grund hast du, jetzt plötzlich hier aufzutauchen?«

Wie er befürchtet hatte, war Irina nicht sehr erfreut ihn hier zu sehen. Sie hatte ihn entsetzt angeschaut, als er plötzlich vor der Tür stand. Aus einem Impuls heraus wollte er sie als Erstes in die Arme nehmen, doch ihre kühle Art ihm gegenüber war eindeutig gewesen.

Dennoch glaubte ein kleiner Teil in seinem Herzen daran, dass sie sich zumindest ein wenig gefreut hatte, ihn zu sehen. Schließlich war nicht alles schlecht, was sie gemeinsam erlebt hatten. Und er spürte auch immer noch ihr Herzklopfen, es verstärkte sich, wenn sie sich ansahen und er ihr näherkam. Aber sie hielt ihn immer noch auf Abstand.

»Darüber wollte ich mit dir sprechen. Irina, unsere Tochter...« Devin stockte und strich sich über das Gesicht. Er wusste nicht, wie er es ihr erklären sollte, ohne sie zu verängstigen. Oder zu verärgern.

»Was ist mit Khalida?«, fragte sie alarmiert und gleichzeitig verspannt. Sie blickte ihn mit ihren dunkelblauen Augen an. Es erinnerte Devin an Khalidas grüne Augen, die sie vermutlich von Devins Vater geerbt hatte, Gavin.

»Sie wird durch die Wandlung gehen. Irina, es tut mir leid«, sagte er schnell, damit er keinen Rückzieher machte. Sofort schlug Irina sich die Hand vor den Mund und sank auf den Sessel, der neben dem Sofa stand.

»Irina, sie wird so sein wie ich. Ein Vampir.«

Devin wollte Irina nicht verletzen, aber wenn er es ihr nicht sagte, könnte es sein, dass sie ihre Tochter verloren. Und das war das Letzte, was Devin wollte. Nur einmal wollte er etwas Richtiges tun und seiner Tochter helfen. Er konnte schon die letzten Jahre nicht für sie da sein, weil der Rat es ihm verboten hatte.

Denn wenn er bei Irina damals geblieben wäre, dann hätte der Rat sie getötet. Und seine Tochter ebenfalls. Allerdings wusste der Rat nicht, dass Irina damals bereits schwanger gewesen war. Keiner wusste, dass Khalida ein Mischlingskind war, und Devin hoffte, dass es auch nie jemand erfahren würde.

»Wie kannst du so etwas sagen? Ich bin ihre Mutter. Sie ist meine Tochter. Khalida ist ein Mensch!«, sagte Irina und schüttelte kräftig den Kopf.

Devin stand vom Sofa auf und ging auf sie zu. Doch als er eine Hand nach ihr ausstreckte, weil er sie trösten wollte, hob sie abwehrend die Arme. Das verpasste ihm einen heftigen Stich ins Herz. Daher ließ er die Hand wieder sinken und stand einfach neben ihr. Er würde alles ertragen, ihre Wut, ihren Frust. Wirklich alles. Aber sie sagte nichts. Stattdessen fing sie an zu weinen. Still und leise rannen die Tränen über ihre Wangen, sammelten sich an ihrem Kinn und fielen auf ihre Hose.

»Das stimmt«, sagte er leise und legte eine Hand langsam auf ihre Schulter. Auch wenn diese Berührung nur kurz war, hoffte er, dass Irina verstand, was es für Khalida bedeutete.

»Khalida ist ein Mensch. Aber sie wird durch die Wandlung gehen. Ich wünschte, es würde nicht passieren. Aber wir können nichts dagegen tun. Wir können ihr aber helfen.«

Wieder schüttelte Irina den Kopf und stand auf. Seine Hand löste sich von ihrer Schulter und sie nahm direkt ein paar Schritte Abstand zu ihm.

»Du lügst! Ich bin mir sicher, dass es nicht so sein muss.«

Es war zu diesem Zeitpunkt zwecklos, sich weiter mit Irina darüber zu unterhalten. Und sie würde es ihm auch nicht gestatten, wieder hierher zu kommen. Denn sie wollte diese Wahrheit nicht hören.

»Du solltest besser gehen«, sagte sie und drehte sich von ihm weg. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und drehte sich nicht noch einmal zu ihm herum. Daher blieb Devin nichts anderes übrig und er verließ das Haus.

Einen Moment lang schaute er noch zum Fenster, dann lief er in Richtung Innenstadt. Er wollte nicht zu weit weg von ihr und seiner Tochter sein. 

Kapitel 4 - Khalida

 Ich hatte verschlafen und hetzte nun wie eine Irre durch das Haus. Zuletzt schnappte ich meine Jacke aus dem Flur und riss die Tür auf. Hinter mir zog ich die Tür wieder zu und sprang die Stufen von der Veranda herunter auf den Gehweg.

Ausgerechnet heute konnte meine Mutter mich nicht zur Schule fahren. Und Noel hatte heute einen freien Tag. Ausgerechnet heute. Und dann hatte ich auch noch meinen Wecker überhört!

Ein Glück kam der Lehrer, den ich in der ersten Stunde hatte, immer etwas später, so fiel es vielleicht nicht auf, wenn ich ein paar Minuten später da war.

Und hoffentlich war der Lehrer heute zufällig vergesslich und kontrollierte nicht die Hausaufgaben. Ich hatte gestern so viele Fragen und Gedanken gehabt, dass ich mich nicht auf die Schulaufgaben konzentrieren konnte. Ich mein, mein Onkel war aufgetaucht. Das war doch einfach mega fantastisch, oder nicht?

Wie eine Wilde hetzte ich über eine Straße und hob dann die Hände, damit mich das heranfahrende Auto nicht überfuhr. Dann wurde gehupt und ich lächelte entschuldigend. Aber ich war wirklich spät dran.

Als ich dann endlich die Schule erreichte und meinen Sprint verlangsamte, sah ich eine schwarze kleine Limousine am Straßenrand stehen. Natürlich gehörte sie niemand geringeren als Penelopé Summer! Anscheinend hatte sie noch nicht genügend Aufmerksamkeit und gierte nach noch mehr. Kotz.

Kopfschüttelnd lief ich schnell an dem Auto vorbei und erreichte endlich den Campus. Mensch, das nannte ich Mal einen guten Start in den Tag. Ausatmend öffnete ich meinen Spind und nahm schnell das Buch heraus. So langsam sollte ich in den Klassenraum gehen.

Kaum erreichte ich den Klassenraum, atmete ich erleichtert aus. Der Lehrer war tatsächlich noch nicht da. Seufzend setzte ich mich an meinen Platz und kramte meine Sachen hervor.

Mr. Ich-kann-super-Tanzen saß auch an seinem Tisch, hatte die Augen geschlossen und schien alles um sich herum zu ignorieren. Die einzige Person, die mir hier wirklich fehlte, war Dilara. Allerdings hatte sie mir bereits gesimst, dass sie heute nicht in die Schule kam, da es ihr irgendwie nicht so gut ging. Ohne sie fand ich die Schule langweilig und am liebsten hätte ich geschwänzt. Hm, was sprach dagegen?

Ich wusste die Antwort bereits und es ließ mich seufzen. Meine Noten.

Wenn ich das Schuljahr schlecht abschloss ... würde ich meiner Mom nur noch mehr Sorgen bereiten. Sie hoffte bestimmt, dass ich zumindest an die Uni gehen konnte, die Noel besuchte. An Medizin hatte ich zwar kein Interesse, aber mir würde schon noch einfallen, was ich studieren wollte.

Vielleicht konnte ich mir auch direkt einen Job suchen, dann konnte ich meine Mutter unterstützen und sie konnte weniger arbeiten. Sie machte sich noch komplett kaputt. Schließlich hatte sie bereits zwei Kinder großgezogen und kam nicht eine Minute zur Ruhe.

Von einer auf die andere Sekunde wurden die Gespräche im Klassenraum beendet und ich blickte auf. Ein großer Mann betrat den Klassenraum und das Erste, was mir auffiel, war, dass er nicht der Lehrer war. Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und plötzlich blickten seine goldbraunen Augen direkt zu mir.

Das ist mein Onkel. Devin, erkannte ich und schluckte schwer. Was machte er denn hier? Und was noch viel wichtiger war, hatte er denselben Nachnamen wie ich? Herr im Himmel, hoffentlich nicht!

»Hallo. Ich bin heute stellvertretender Lehrer und mein Name ist. Mr. Ravyn«, sagte er und stellte sich hinter das Pult. Erleichtert schnaubte ich leise und legte den Kopf in den Nacken. Die Verspannung reichte von meinen Schultern bis in meinen unteren Rücken.

Als ich den Blick wieder zu ihm richtete, war sein Blick fragend.

»Alles in Ordnung, Khalida?«, fragte er sofort und ich bemerkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss.

»Alles bestens«, sagte ich schnell und hoffte, dass er mich nicht noch einmal so direkt ansprach.

Er nickte einfach, drehte sich zur Tafel und schrieb seinen Namen noch einmal auf. Mir gingen viele Fragen durch den Kopf, die ich ihm am liebsten gestern schon gestellt hatte. Doch als ich wieder ins Wohnzimmer ging, war er schon weg gewesen. Dabei wollte ich ihm auch Fragen über meinen Vater stellen. Wenn er der Bruder meines Vaters war, dann konnte er bestimmt wissen, wo er war. Was er tat. Was er für ein Mensch war.

Ich wollte alles wissen, denn auch wenn mein Vater uns im Stich gelassen hatte, ich war zu neugierig.

Hinter mir hörte ich plötzlich, wie Jaden mit der Faust auf den Tisch schlug. Langsam drehte ich mich leicht in seine Richtung und sah, wie seine Fäuste auf dem Tisch lagen. Wütend schaute er zu Devin.

Eine Bewegung im Augenwinkel weckte meine Aufmerksamkeit und ich blickte zu Penelopé. Sie starrte wie gebannt zu Jaden. Jeder beobachtete ihn. Ich wollte einen blöden Spruch bringen und Penelopé verärgern, allerdings brachte ich kein Wort heraus. Meine Augen wanderten sofort wieder zu Jaden, zu seinen Augen, dann zu seinen Lippen und noch weiter runter zu seinem Hals. Es ließ mich die Stirn runzeln.

Was geschah hier? Was zum Teufel ging in mir vor? Sofort sah ich wieder in seine Augen. Jaden sah mich ebenfalls an. Oh, er sah überrascht aus.

»Was hast du?«, fragte er leise, doch die Worte drangen nicht richtig durch meine Gedanken. Und mit einem Schlag fühlte ich mich noch seltsamer, mein Puls fing an zu rasen und in meinen Ohren rauschte es. Die Gedanken in meinem Kopf waren wirr, denn ich wollte Jaden berühren. Ich wollte die Hand an seine Wange legen und erfahren, wie sich sein kurzer stoppeliger Bart an meiner Haut anfühlte. Jadens Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Lippen öffneten sich. Er schien irgendwas zu sagen, doch ich verstand kein Wort. Stattdessen wollte ich diese Lippen küssen. Ihn schmecken. Schmecken? Was genau schmecken?

Unbewusst leckte ich mir die Lippen und beobachtete Jaden, wie er sich leicht vorbeugte.

»Khalida?«, hörte ich dann die Stimme von Devin durch das Rauschen und mit einem Schlag war ich vom Bann gelöst. Ich blinzelte Jaden verwirrt an und drehte mich zu Devin.

»Mir geht es nicht so gut«, sagte ich schnell und mit belegter Stimme und stand auf. Meine Beine zitterten ein wenig und ich schwankte. Dann spürte ich eine Hand an meinem Ellbogen.

»Ich glaube, sie könnte frische Luft vertragen. Was meinen Sie, Mr. Ravyn?«, sagte Jaden und wartete erst gar nicht auf eine Antwort.

»Ja, das denke ich auch«, meinte Devin und Jaden führte mich nach draußen.

Obwohl es mir vorhin wunderbar ging, war ich erleichtert, endlich aus dem Klassenraum raus zu sein. Es fühlte sich dort erdrückend an. Dennoch war ich nervös, denn die Gedanken, die ich hatte, waren alles andere als normal gewesen. Jaden hielt mich immer noch am Ellbogen fest und stand nun vor mir, doch ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen.

Auf einmal legte Jaden einen Finger unter mein Kinn und brachte mein Gesicht direkt vor seines. Seine grauen Augen musterten mein Gesicht und als er meinen Ellbogen freigab, strich er eine meiner Haarsträhnen nach hinten.

»Geht’s wieder?«, fragte er und brachte mich mit der Frage komplett durcheinander. Schließlich hatte ich vor wenigen Sekunden noch darüber nachgedacht, ihn zu küssen. Und wenn er mir so nah war, dann wollte ich es nur noch mehr.

Um mich aber nicht komplett zum Vollidioten zu machen, nickte ich und versuchte etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Ich beruhigte mich und atmete tief ein und aus. Nun fühlte ich mich nicht mehr so benommen.

»Möchtest du etwas trinken? Ich lade dich ein«, sagte Jaden und deutete in den Flur. 

Jaden

Nun stand Jaden mit Khalida auf dem Schulflur, hörte ihre Gedanken und war zutiefst verwirrt darüber, was vor wenigen Sekunden passiert war. Der angeblich neue Lehrer war kein Lehrer. Das wusste Jaden, denn dieser andere Vampir war ein ehemaliges Ratsmitglied. Auch wenn Jaden noch nicht so lange für den Rat der Vampire arbeitete, war ihm sehr bewusst, wer den Rat damals vor vielen Jahrzehnten gegründet hatte.

Zum einen natürlich Walther Crow und zum anderen eben Devin Ravyn. Die Familien der beiden Vampire waren uralt und somit sehr stark. Ihre Blutlinien waren unfassbar mächtig und reichten weit zurück. Kurz schaute er zu Khalida, die ihn immer noch verwirrt ansah.

Er hatte ihre Gedanken selbstverständlich gehört, als sie darüber nachdachte, was denn ihr Onkel in der Schule machte. Soweit Jaden wusste, hatte Devin Ravyn keine Brüder oder Schwestern und konnte somit keine Nichten haben.

Wenn Khalida tatsächlich mit ihm verwandt war, was war er dann wirklich für sie? Kopfschüttelnd versuchte Jaden sich wieder auf Khalida zu konzentrieren und drehte sich in die Richtung um, zu der es zur Cafeteria ging. Dann machte er sich langsam auf den Weg. Da Jaden nicht vor hatte, wieder ins Klassenzimmer zurückzukehren, konnte er auch blau machen für diese Stunde. Mit Devin in einem Raum war es gefährlich.

Ob Devin ihn erkannt hatte? Schließlich war Devin noch ein Ratsmitglied gewesen, als Jaden für den Rat angefangen hatte zu arbeiten. Allerdings war Devin nicht sehr oft vor Ort gewesen und Jaden hatte ihn nie zu Gesicht bekommen.

Hinter sich hörte er Khalidas schritte. Sie folgte ihm also und es erleichterte ihn. Was ihn jedoch Verunsicherte war, dass er ihre Gedanken nicht mehr hören konnte, seit sie das Klassenzimmer verlassen hatten. Und davor waren ihre Gedanken sehr ... seltsam gewesen.

Jaden hatte sie für einen Moment für einen ungewandelten-Vampir gehalten. Tief in ihm drinnen hatte er das Bedürfnis gehabt sie zu nähren. Ihr das zu geben, wonach sie auch immer verlangte. Und er hatte sie genauso sehr küssen wollen, wie sie ihn. Aber verdammt nochmal, sie war ein Mensch!

Nun ja, abgesehen davon, dass sie anscheinend mit Devin Ravyn verwandt war! Was zum Teufel war sie dann? Etwa doch ein Vampir?

Was zur Hölle war hier los? Und wo war er hier hineingeraten?

Für Jaden bedeutete es, dass er Informationen beschaffen musste. Ob er Walther davon in Kenntnis setzen sollte?

»Geht es dir denn gut?«, fragte Khalida auf einmal hinter ihm und er blieb stehen, damit sie zu ihm aufholen konnte. Das Schweigen zwischen ihnen hatte ihn nicht gestört. Da er gerade ihre Gedanken nicht hören konnte, fand er ihre Nähe sehr angenehm. Allgemein war er unheimlich gern bei ihr, sah sie gern an. Und sie roch unfassbar gut.

Er atmete ein und bemerkte sofort den rosigen Duft von ihr. Er roch auch das Duschgel. Und sie trug kein Parfüm.

»Ja, wieso sollte es mir nicht gut gehen?«

Sie zuckte die Schultern und starrte ihn mit ihren smaragdgrünen Augen an. Es war hypnotisierend und Jaden musste den Blick abwenden. Dann ging er weiter, denn er hatte sie ja schließlich auf ein Getränk eingeladen.

Eigentlich hatte er nicht geplant, Khalida mitzunehmen, die Frage war ihm einfach herausgerutscht. Normalerweise rutschte ihm nichts heraus. Er war immer gefasst und auf die meisten Situationen vorbereitet. Im Grunde hatte er nicht einmal Gefühle. So etwas hatte er vor langer, sehr langer Zeit abgeschaltet.

Aber bei Khalida ... Heilige Scheiße, er hatte vorher noch nie das Bedürfnis gehabt eine Vampirin zu nähren.

»Weil du die ganze Zeit deine Augenbrauen zusammenziehst und besorgt aussiehst.«

Da er darauf nichts zu antworten wusste und Khalida nicht mit in seine Angelegenheiten hineinziehen wollte, zuckte er die Schultern.

»Es ist nichts«, sagte er dann knapp.

Jaden bemerkte, dass Khalida stehen geblieben war, und drehte sich zu ihr herum. Sie zögerte und wirkte verunsichert, dann verschränkte sie ihre Arme vor der Brust. In diesem Augenblick wirkte sie nicht nur zerstreut, sondern auch zerbrechlich.

»Ich denke, ich sollte zurück in den Unterricht«, murmelte sie und vermied es, ihn anzusehen. Seine Konzentration war auf sie gerichtet, doch er spürte nicht, dass sie Furcht oder Angst empfand, also musste sie etwas anderes beschäftigen.

Gerade wollte sie sich umdrehen, da streckte Jaden eine Hand nach ihr aus und griff sanft an ihr Handgelenk. Jetzt gerade wünschte er sich, dass er ihre Gedanken hören könnte. Er mochte es zu wissen, wie sie über andere Leute und auch über ihn dachte.

»Warte. Nur auf ein Getränk«, sagte er und wusste selbst nicht ganz, weshalb er sie aufhielt. Wollte er nicht, dass sie in Devins Nähe war? Das war absurd. Als Khalida ihm nun ins Gesicht sah, konnte Jaden sich nicht bremsen und legte eine Hand an ihre Wange. Sie war weich und kühl. Auch ihre Haut am Handgelenk war kühl und er strich mit dem Daumen über die weiche Stelle.

Was hatte er jetzt vor? Und weshalb war er auf einmal so nett zu mir? Und was hatte es im Klassenraum zu bedeuten? Hatte Jaden mitbekommen, was in mir vorgegangen war? Aber das war unmöglich!

Da waren sie wieder. Ihre lauten und verwirrenden Gedanken. Was auch immer vorhin in diesem Raum mit ihr geschehen war, es war nun vorbei. Ihre Gedanken sprudelten in seinen Kopf und ihm wurde leicht schwindelig. Er nahm die Hand von ihrer Wange und taumelte einen Schritt zurück.

»Jaden?«

Sie griff nach seinem Arm und hielt ihn einen Moment fest. Das war etwas unüberlegt gewesen, sie mit in die Cafeteria zu nehmen.

»Komm mit, du solltest dich setzen«, sagte sie und führte ihn direkt in die Cafeteria. Bevor sie ihn an einen Tisch setzen konnte, hatte er sich schon wieder gefasst und konnte nun ihre und seine Gedanken etwas sortieren.

»Es geht wieder. Was möchtest du trinken? Oder hast du vielleicht Hunger?«, fragte er sie und deutete auf die Auslage. Ablenkung war jetzt gut. Wenn er seine Gedanken auf etwas anderes konzentrierte, dann konnte er ihre Stimme in seinem Kopf leiser stellen.

»Eine Cola.«

»Mehr nicht?«, fragte er nach und griff sich eine Colaflasche und eine Wasserflasche. Bei der Schokolade nahm er sich einen Riegel und bezahlte es dann schnell. Khalida hatte sich an den Tisch gesetzt und fummelte an ihren Fingern herum.

Als er sich vor sie hinsetzte und die Beine ausstreckte, berührte versehentlich sein Knie ihres und ein Schauder durchlief ihn. Verflucht, sie war ein Mensch und hatte trotzdem eine dermaßen starke Ausstrahlung, dass selbst Jaden auf sie reagierte. Normalerweise hatten Menschen nicht diese Wirkung auf Vampire.

Auch Khalida schien sich anders zu fühlen, denn ihre Wangen röteten sich und sie vermied es mal wieder ihm ins Gesicht zu schauen. Er stellte die Cola vor ihr ab und legte einen Schokoriegel daneben.

»Falls du doch Hunger haben solltest.«

»Danke«, murmelte sie verlegen und öffnete die Flasche. Als sie die Flasche ansetzte und einen Schluck trank, beobachtete Jaden ihren Hals. Was, wenn sie nicht menschlich war, wer war sie dann?

Und wenn sie ein Vampir war, wie würde ihr Blut schmecken, wenn sie sich wandelte? Verflixt! Wenn Jaden weiter über sie nachdachte, dann würde er sie wirklich beißen. Konnte er dann ihre Erinnerungen trotzdem noch verschleiern?

»Habe ich etwas im Gesicht?«, fragte sie in die Stille und wischte sich mit dem Handrücken über ihren Mund. Dann befühlte sie ihre Wangen. Scheinbar hatte sie seinen Blick auf ihren Hals bemerkt, denn sie legte als Nächstes eine Hand direkt an ihren Hals und bedeckte ihn.

»Nein, hast du nicht. Ich war nur in Gedanken.«

»Tut mir leid, wenn ich dich in eine unangenehme Lage gebracht habe«, murmelte sie und spielte an dem Aufkleber der Flasche herum. Jaden war sich nicht sicher, was sie überhaupt wusste oder ob sie einfach nur drauf losgeraten hatte.

Aber er konnte hier nicht mit ihr offen reden. Vor allem konnte er sie hier und jetzt ja nicht fragen, ob sie ein Vampir war.

»Mach dir keine Gedanken, das hast du nicht«, erwiderte er und legte beiläufig eine Hand auf ihre, damit sie aufhörte, den Aufkleber abzureißen.

»Weshalb bist du so nervös?«, fragte er und streichelte langsam über ihre zarten Finger. Als sie nicht direkt antwortete, konnte er ihre Antwort bereits in seinem Kopf hören.

Es brachte ihn sogar zum Lächeln.

»Bin ich nicht«, sagte sie dann und blickte ihm direkt in die Augen. Sie hatte überzeugend geklungen, das musste er zugeben, aber leider blieb ihr Geheimnis bei ihm nicht geheim. Denn diese Gedankenübertragung zeigte ihm jeden, wirklich jeden Gedanken, den sie hatte. Und gerade dachte sie etwas vollkommen Verrücktes und Jaden war versucht, genau das zu tun.

»Sollen wir dann zurück gehen? Ich vermute, dass die Stunde eh gleich vorbei ist.«

Damit konnte sie recht haben, aber eigentlich wollte Jaden noch nicht hier weg. Dennoch rappelte er sich auf und wartete darauf, dass sie sich ihren Schokoriegel schnappte und die Cola und verließ dann mit ihr wieder die Cafeteria. 

Khalida

Am Anfang hatte ich Jaden vermutlich komplett falsch eingeschätzt. Nie hatte ich von ihm erwartet, dass er mich in der Cafeteria auf ein Getränk einladen würde. Es war natürlich kein Date und keine richtige romantische Verabredung. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er das für jedes andere Mädchen getan hätte. Wieso also ich?

Das war etwas, das ich an Jaden nicht verstand. Mal war er supernett zu mir und dann aber ignorierte er mich wieder. Als wären wir in der Grundschule, wo es noch albern war und man die Jungs doof fand. Aber in diesem Alter waren wir nicht mehr.

Im Schulflur streifte ich beiläufig seinen Arm und blickte zu ihm hoch. Was ging ihm wohl gerade durch den Kopf? War er mit mir hier raus gegangen, weil er mich mochte? Mir war es ein Rätsel. Denn ich mochte ihn. Irgendwie sehr sogar, obwohl ich nicht wusste weshalb.

Plötzlich sah er auch mich an und mein Herzschlag setzte aus. Dieser Ausdruck in seinen Augen verunsicherte mich.

»Eigentlich möchte ich nicht wieder in den Klassenraum«, sagte er auf einmal und hielt mich sanft am Arm fest. Wir blieben stehen und Jaden stellte sich direkt vor mich. Er war zu nah, ich konnte mich nicht konzentrieren.

»Warte«, brachte ich hervor und legte eine Hand auf sein dunkelrotes Shirt. Über diesem Shirt trug er eine dünne schwarze Jacke. Doch er ließ sich nicht aufhalten, als er sich zu mir beugte.

»Wieso?«, fragte er schließlich leise und sah mir in die Augen. Allerdings brachte ich kein Wort heraus. Mein Kopf war wie leergefegt. Es war wie vorhin. Alles, was ich wollte, war diese Lippen zu berühren.

Ich spürte seinen Daumen an meiner Unterlippe, seine grauen Augen beobachteten mich, musterten mein Gesicht und blieben dann auf meine Lippen gerichtet. Plötzlich spürte ich die Wand hinter mir, ich hatte nicht realisiert, dass ich mich bewegt hatte. Und auf einmal lag seine andere Hand an meinem Hinterkopf. Er kam mir noch näher, sein Oberkörper berührte nun fast meinen. Meine Augen schlossen sich langsam und ich erwartete fast schon sehnsüchtig seine Berührungen.

Seine Lippen trafen sachte und zärtlich auf meine, es war, als würde ich zum ersten Mal jemanden küssen. Nur war Jaden nicht irgendjemand und das fühlte sich fantastisch an. Er küsste mich bedächtig, löste sich für einen Moment von mir, nur um mich noch einmal zu küssen. Aus Reflex teilten sich meine Lippen und Jaden drückte seinen Körper an mich, seine Hand packte meine Hüfte. Diesmal küsste er mich leidenschaftlicher und inniger. Als seine Zunge über meine Lippen streichelte, konnte ich ein leises Keuchen nicht unterdrücken. Meine Arme legten sich um seinen Hals und ich zog ihn noch näher, presste mich an ihn und hatte vollkommen vergessen, dass wir uns immer noch in der Schule befanden.

Scheiß drauf! Dieser Kuss war alles Wert, egal wer uns sah.

Als seine Zunge in meinen Mund drang, spürte ich auch gleichzeitig seine Hand unter meinem Shirt und ein Schauer rollte über meinen Körper. Seine Hand fühlte sich rau und warm auf meiner Haut an. Er streichelte über meine Taille und glitt mit der Hand über meinen nackten Rücken, berührte den Stoff meines BHs.

Eine meiner Hände lag bereits in seinem weichen Haar, die andere legte ich zielsicher an seinen Bauch und schob sein Shirt ein bisschen hoch. Als ich seine Haut berührte, zuckte er leicht zusammen und löste seine Lippen von mir.

»Du hast kalte Hände«, flüsterte er und legte seine Stirn an meine.

Anscheinend hatte ich unseren Kuss kaputt gemacht und ich zog meine Hand wieder zurück. Jaden drückte mich jedoch wieder fest an sich, seine Umarmung war warm und ich fühlte mich viel zu geborgen bei ihm.

War ich etwa ... verliebt? In den Neuen?

Na ja, ich hatte ihn geküsst. Nein, er hatte mich zuerst geküsst.

»Du solltest in den Unterricht zurück«, murmelte er in mein Haar und streichelte nebenbei über meinen Rücken und spielte mit meinen Haaren. Fühlte er vielleicht genauso wie ich?

Oder war er einer dieser Männer, die gerne mit den Frauen spielte? Schließlich kannte ich Jaden nicht. Es könnte ja auch sein, dass er eine Freundin hatte. Argh, ich sollte nicht in so einem schönen Moment diese doofen Gedanken haben. Das zerstörte nur das gute Bild, das ich gerade von ihm hatte.

Dann jedoch löste er sich von mir und ließ mich los. Sollte ich ihm irgendwas sagen? Wieso kam er nicht mit?

»Okay, wir sehen uns später?«, fragte ich und taumelte in die Richtung, in der das Klassenzimmer lag. Jaden lehnte sich gegen die Wand, an der ich eben noch gestanden hatte und nickte mir zu. Dann fing er an zu lächeln und ich drehte mich um und ging zum Klassenzimmer zurück. 

Kapitel 5 - Khalida

»Geht es dir wieder besser?«, fragte ich Dilara, als ich mit ihr zusammen im Klassenzimmer saß und sie eingehend beobachtete. Sie war zwar gestern zu Hause gewesen und hatte sich erholt, aber dennoch sah sie etwas erschöpft aus. Scheinbar war sie nur leicht erkältet, aber sie sollte sich trotzdem noch ausruhen.

»Ja, es geht mir besser. Aber ich halte es zu Hause nicht aus«, seufzte sie und plötzlich fing sie an zu grinsen. »Aber mein Privatlehrer bringt mich immer zum Lachen.«

Sie erzählte viel über Roman, ihren russischen Privatlehrer. Dilara schwärmte von ihm und fand seinen Akzent unglaublich süß.

»Er scheint dir ja wirklich zu gefallen«, neckte ich sie und stupste ihr in die Seite. Sofort fing sie an zu lachen und schüttelte den Kopf. »Er ist doch viel zu alt für mich.«

Unbewusst glitt mein Blick hinter mich und ich sah kurz zu Jaden. Wie alt er wohl war? Das hatte ich ihn noch nie gefragt. Jedoch schien er unserem Gespräch nicht zu folgen. Wie immer lag sein Kopf auf seinen Armen und er hatte die Augen geschlossen.

Mir kamen seine Lippen wieder in den Sinn und ich drehte mich sofort zu Dilara um. Ausgerechnet jetzt musste ich an den Kuss denken. Seit gestern hatte ich versucht, diesen Moment zu verdrängen. Selbst als ich gestern noch in den Unterricht ging, konnte ich mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Da ich nicht wusste, was es bedeutete, versuchte ich mir einzureden, dass es nur eine einmalige Sache war. Auch wenn es sich kein bisschen so angefühlt hatte. Das einzig Gute war, dass ich diese Nacht keinen Albtraum hatte. Stattdessen hatte ich von Jaden geträumt. Oh Gott, es war so peinlich. Und wegen eines Kusses sollte ich nicht gleich solche verrückten Gedanken haben.

»Ach, vermutlich werden wir unseren Traummann eh erst an der Uni kennenlernen. Die Typen dort sind erwachsen und attraktiv. Findest du nicht auch, Khali?«, riss mich Dilara aus meinen Gedanken.

»Hä. Ja, das denke ich auch«, stammelte ich und wagte wieder einen Blick hinter mich. Diesmal sah Jaden mich an, jedoch konnte ich in seinem Blick nicht herauslesen, was er gerade dachte. Sollte ich diesen Kuss also vergessen oder nicht?

Plötzlich stand Jaden auf und blickte zur Tür.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Dilara ihn und grinste immer noch. Ihr schien der Gedanke an die Männer zu gefallen. Sie würde es definitiv leichter als ich haben, an einer der Universitäten angenommen zu werden. Die Unis würden sich um sie streiten, ganz im Gegensatz zu mir.

Auf die Sekunde trat der Lehrer in den Raum und die Gespräche wurden wie immer abrupt beendet und die Schüler, die nicht in diesen Kurs gehörten, verließen fluchtartig den Raum. Auch Dilara verließ eilig das Zimmer und winkte mir noch einmal zu. Dann schloss Devin die Tür und ging zum Pult.

»Überraschenderweise fällt euer Lehrer heute aus wegen dringenden Familienangelegenheiten. Daher bin ich heute als Stellvertreter hier. Mein Name ist Mr. Ravyn und ich unterrichte Mathe und Geschichte.«

Jetzt auch noch Geschichte? Obwohl er erst seit wenigen Tagen an der Schule als Lehrer eingestellt wurde, war ich immer noch überrascht ihn hier zu sehen. Devin wirkte überhaupt nicht wie ein Lehrer.

Seit Devin das erste Mal bei uns gewesen war, hatte ich ihn kaum noch bei uns zu Hause gesehen und es wunderte mich, dass Mama ihn nicht zum Essen einlud. Lag es daran, dass er ihr Schwager war? Hasste sie meinen Vater so sehr, dass sie auch seinen Bruder hasste? Irgendwie musste ich ein Familienessen arrangieren. Hoffentlich konnte ich so die Familie zumindest ein wenig zueinander bringen. Hatte Noel sich schon mit Devin unterhalten? Irgendwie hatte ich Noel seither noch weniger gesehen. Das machte mich traurig.

Schließlich hatten sie bestimmt über achtzehn Jahre keinen Kontakt gehabt, da hatte man sich doch eigentlich sehr viel zu erzählen. Ob Devin Mama nicht mochte? Nein, so hatte das nicht ausgesehen. Was war dann das Problem?

Etwas war allerdings seltsam. Ich kannte den Namen von meinem Onkel, aber über meinen Vater sprach kein Mensch. Wieso nicht? War er es nicht Wert erwähnt zu werden? Das ärgerte mich tatsächlich auf eine Weise und ich hatte das Bedürfnis, meinen unbekannten Vater in Schutz zu nehmen. Argh, was stimmte nicht mit mir? Mein Vater hatte uns im Stich gelassen. Genau. Ich sollte kein Mitleid mit ihm haben.

Ich schaute auf meinen Block und malte kleine Kreise in die Ecken des Papiers. Jedes Mal, wenn ich eine Unterrichtsstunde mit Devin hatte, konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich wollte ihm Fragen stellen und mich mit ihm unterhalten, aber nicht über den Unterrichtskram. Der interessierte mich nicht.

Plötzlich schoben sich ein paar Zettel auf meine Seite und ich blickte neben mich. Seit wann hatte ich denn einen Sitznachbarn?

Und seit wann saß Jaden neben mir? Als er meinen fragenden Blick einfing, lächelte er leicht.

»Er geht die Französische Revolution noch einmal durch. Am Ende stellt er ein paar Fragen«, flüsterte Jaden und sah dann wieder zu Devin.

Was für ein seltsames Gefühl. Obwohl ich Jaden nicht sehr gut kannte, hatte ich das Gefühl, wir waren uns nicht nur körperlich näher gekommen. Oh je, ich sollte im Unterricht wirklich nicht an unseren Kuss denken.

»Okay«, murmelte ich und schaute auf den Zettel von ihm. Ich stützte den Kopf in die Hand und lauschte Devins Stimme. Erleichtert hatte ich festgestellt, dass wir das schon in den letzten Unterrichtsstunden durchgenommen hatten. Als Jaden sich ebenfalls zur Seite beugte und wir gemeinsam auf seinen Zettel schauten, atmete ich seinen Geruch ein und wäre am liebsten darin versunken. Wie konnte man einem Menschen nur so sehr in so kurzer Zeit verfallen? 

Devin

Um in dieser Unterrichtsstunde unterrichten zu können, hatte Devin dem eigentlichen Lehrer eine ordentliche Gehirnwäsche verpasst. Und das nur, damit er Khalida im Auge behalten konnte, denn seit er vor ein paar Tagen bei Irina vor dem Haus stand, hatte sie ihn nicht mehr hereingelassen. Seither versuchte er, Khalida auf andere Weise zu beschützen und in der Schule konnte er sie am besten beobachten.

War es normal, dass Eltern sich so hilflos fühlten? Er konnte ihr nicht einmal die Wahrheit über sich erzählen. Außerdem bemerkte er an ihr, dass sie immer mehr auf die Vampire in ihrer Nähe reagierte. Ihr Körper bereitete sich auf die bevorstehende Wandlung vor.

Verdammt!

Und er hatte noch keine Ahnung, wie er es Irina und Khalida am besten erklären sollte. Wie sagte man einer Jugendlichen, dass sie in nächster Zeit und für immer als Vampir auf der Welt wandelte?

Devin stützte seine Hände auf das Pult, das sich unter seinen Fingern kühl und staubig anfühlte und schaute sich in dem Klassenzimmer um. Die Schüler hatten eine Aufgabe von ihm erhalten und er stellte stetig Fragen.

Als sein Blick wieder zu Khalida glitt, erfasste er den Blick des anderen Vampirs. Irgendwoher kannte Devin ihn. War er vom Rat? Sein Name war ihm entfallen, doch er hatte ihn schon einmal gesehen. In Frankreich oder in New York? Wusste er, dass Khalida seine Tochter war? Wusste er überhaupt, dass sie ein Vampir war? Oder dass sie eigentlich ein Mischling war?

Devin hoffte nicht, denn er hatte ein schlechtes Bauchgefühl, wenn er den Vampir ansah. Etwas an ihm beunruhigte ihn. Vielleicht die Tatsache, dass Khalida von ihm beeindruckt schien. War das alles? Würde sie sich zu so einem wie ihm hingezogen fühlen?

Am liebsten hätte Devin die Fänge gebleckt und dem Vampir gedroht.

Allerdings blieb ihm nicht viel Zeit, er musste so oder so einen Vampir finden, der ihr sein Blut gab, damit sie die Wandlung überstehen konnte. Es lag Devin auf der Zunge, woher er den anderen Vampir kannte. Wenn ihm doch nur sein Name wieder einfallen würde.

Doch Devin schloss die Augen und nahm sich eines der Hefte zur Hand. Die Stunde schien viel länger anzudauern, als er gedacht hatte. Und erst gestern hatte es diesen kleinen Zwischenfall mit Khalida gegeben. Ob der andere Vampir ihr irgendwas erzählt hatte? Nun, was sollte er ihr groß erzählen?

Verdammter Mist!

Er musste unbedingt mit Irina darüber reden. Schließlich hing Khalidas Leben davon ab und Devin wollte sie auf keinen Fall verlieren. Jetzt wo er endlich die Chance hatte sie richtig kennen zu lernen. Daher musste er über seinen Schatten springen und nochmal bei Irina anklopfen. Er musste sie überzeugen.

Es würde nicht mehr lange dauern und die anderen Vampire in Khalidas nähe würden spüren, dass ihre Wandlung kurz bevorstand. Jeder verfluchte Vampir der Single war, würde um sie herumtänzeln und sich ihr anbieten. Dass sie ein Mischling war, spielte dennoch eine große Rolle, es war gefährlich. Gefährlich für die gesamte Vampirrasse. Obwohl, Vampir war Vampir.

Devin ließ wieder den Blick schweifen, er war froh, wenn diese Stunde vorbei war. Denn er konnte keine Kinder leiden. Sie waren nervig und aufdringlich und man war nur verärgert, wenn sie etwas falsch machten. Als Devin aber damals von Irina erfuhr, dass sie schwanger war, konnte er es erst gar nicht fassen.

Natürlich war er glücklich gewesen, aber andererseits hatte er sich Sorgen gemacht. Ein Mischling, eine halbmenschliche Vampirin. Das war ein Verstoß der Gesetze und da Devin damals im Rat saß, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie erfuhren, dass er eine menschliche Frau traf. Und das nicht nur, um ihr Blut zu trinken.

Umso mehr wollte er, dass sie ihn ins Haus ließ. Nicht, damit er von ihrem Blut trank, sondern einfach, damit er ihr wieder näher sein konnte.

In seinem Inneren breitete sich eine gähnende Leere aus. Sein reiner Instinkt brachte ihn dazu, dass er wieder seine Tochter ansah. Sie blickte mit ihren schönen grünen Augen auf den Block, den der Junge ihr zugeschoben hatte.

Und da viel es Devin wie Schuppen von den Augen.

Jaden. Das war der Auftragskiller des Rats.

Devin hatte ihn damals in Frankreich gesehen, nur wenige Male, denn er war meist in Amerika. Und bevor das mit Irina passierte, war Devin kaum noch in Frankreich.

War er auf Khalida angesetzt worden?

Fast wäre Devin über den Schreibtisch gesprungen. Allerdings konnte er hier kein Blutbad anrichten und mit Jaden über Vampirangelegenheiten sprechen. Es fiel ihm zwar unfassbar schwer und nun machte sich Devin noch mehr Sorgen um seine Tochter, aber er musste fürs Erste die Füße stillhalten.

Jedoch war es nun umso wichtiger, dass er in der Nähe von Irina und Khalida blieb. Denn wenn Jaden den Auftrag hatte, einen von ihnen oder vielleicht sogar beide zu töten, dann musste er seine Familie beschützen.

Verfluchter Scheiß Mist! 

Dilara

Ihre Freistunde verbrachte Dilara an der frischen warmen Endsommerluft auf dem Campus der Schule. Sie hatte sich auf einen der Holztische gesetzt und ihre Tasche neben sich gelegt. Aus Langeweile hatte sie bereits ihr Brot gegessen und genoss nun die Ruhe. Ihre Füße baumelten von der Kante und sie ließ den Kopf in den Nacken gleiten.

»Hast du das gestern gesehen? Wie der Neue sich an Khalida herangemacht hat? Sie saßen eine Weile allein in der Cafeteria«, hörte Dilara ein paar Mädchen tratschen und wurde hellhörig. Das hatte ihre beste Freundin ihr gar nicht erzählt.

»Was echt? Nein, ich hab sie nur im Flur gesehen. Ich glaube, dass sie sich geküsst haben.«

Das Gequatsche wurde leiser, als die anderen Schülerinnen sich immer weiter entfernten. Geküsst? Khalida und Jaden? Da war man einen Tag nicht in der Schule und dann gab es direkt solche Gerüchte. Dabei dachte Dilara, dass sie sich einander alles erzählen konnten.

Noch heute Morgen hatte sie mit Khalida über die Typen von der Uni gesprochen. Na gut, da konnte Dilara verstehen, dass Khalida nichts gesagt hatte, schließlich saß Jaden ebenfalls in dem Zimmer und hätte alles mithören können.

Seufzend schlug Dilara ein Bein über das andere. Eine Freistunde zu haben war ganz schön langweilig, wenn man sie allein verbrachte.

Und was den neuen Lehrer betraf, der wirkte hier vollkommen fehl am Platz. War der als Lehrer tatsächlich zugelassen?

Dilara hoffte, dass die Stunde schnell vorbeiging, denn sie wollte alles über das Gerücht wissen, was sie eben aufgeschnappt hatte.

Plötzlich ertönte ein Gebimmel aus ihrer Tasche und Dilara runzelte die Stirn. Normalerweise rief keiner sie um diese Uhrzeit an, da sie eigentlich Unterricht hätte. Allerdings war sie nicht überrascht, als die Nummer ihrer Mutter angezeigt wurde.

»Ja?«, fragte sie, als sie den Anruf entgegennahm.

»Hey, Liebling«, hörte sie die Stimme an der anderen Leitung, aber es war keineswegs ihre Mutter.

»Oh. Hallo, Papa. Warum rufst du an?«

»Die Sekretärin sagte mir, dass du eine Freistunde hast und da wollte ich dir das selber sagen. Bitte komm jetzt nach Hause. Deine Großmutter ist verstorben«, erklärte er Dilara. Seine Stimme klang traurig, verwirrt und im Hintergrund konnte sie dezent ihre Mutter hören.

»Ja, natürlich. Ich mache mich sofort auf den Weg.«

»Gut. Bis gleich.«

Dann wurde auch schon aufgelegt und Dilara musste sich erst einmal fassen. Ihre Großmutter, die sie auch liebevoll Granny nannte, war tot. Noch vor zwei Wochen hatte sie Granny besucht und hatte nicht das Gefühl, dass sie sobald schon, nicht mehr unter ihnen war.

Mit ihrer Großmutter hatte sich Dilara immer fantastisch verstanden und sie hatte sich jedes Mal gefreut, wenn sie Dilara sehen konnte. Manchmal hatte Dilara dann das Gefühl, dass Granny in ihr einen Moment lang jemand anderen erkannte, jedoch verflogen diese Momente auch schnell wieder. Und obwohl sie sich immer gut verstanden, gab es auch die Momente, in denen Granny sich, ganz wie eine Erwachsene eben war, über Dilara ärgerte. Sie war immer der Meinung, dass Dilara keine öffentliche Schule besuchen sollte und sie ihren Freundeskreis ändern sollte. Daher hatte man für Dilara auch einen Privatlehrer eingestellt, damit sie zumindest in dieser Hinsicht ihre Ruhe gab.

Und ja, Granny hatte Khalida kennen gelernt und war ziemlich begeistert von Dilaras Freundin gewesen. Zumindest bis Granny sich an ein Thema klammerte, mit dem Khalida nichts anfangen konnte. Und seit dem Augenblick hatte Granny Khalida nicht mehr gemocht und Dilara vermied es, die beiden irgendwie in Kontakt zu bringen. Auf Geburtstagen, auf Schulfesten oder irgendwelchen anderen Veranstaltungen.

Und nun würde Dilara das wirre Zeug von Granny nicht mehr mit einem augenrollen hinnehmen und darüber lachen. Denn Granny war sowas von überzeugt davon, dass Vampire existierten und sie einmal in einen unsterblich verliebt gewesen war.

Ja, solch ein wirres Zeug hatte sie von sich gegeben, aber Dilara wollte ihr ihren Spaß lassen, denn sie war eben alt. Angeblich wäre Dilaras Mutter aus dieser Beziehung hervorgegangen. Aber das waren alles Wahnvorstellungen ihrer Großmutter und Dilara schob die Gedanken beiseite.

Jetzt musste sie erst einmal nach Hause.

Leider musste sie somit das Gespräch mit Khalida verschieben, obwohl sie extrem neugierig war. Seufzend packte sie ihre Sachen ein und lief auf das Schulgebäude zu. Als sie in dem Klassenzimmer war, wo sie eigentlich gleich Unterricht hatte, schrieb sie einen Zettel für Khalida und dass sie sich später bei ihr melden würde.

Danach steuerte Dilara das Schulbüro an und meldete sich für diesen Tag ab, auch wenn ihr Vater es bereits getan hatte. 

Kapitel 6 - Khalida

Gott sei Dank war das Verhör von Devin endlich vorbei und ich atmete erleichtert aus. Die Stunde hatte sich viel zu lange angefühlt. Wenn ich eines nun gebrauchen konnte, war es die Anwesenheit meiner besten Freundin. Seufzend stand ich vom Stuhl auf und nahm mir meine Sachen. Einfach schnell raus hier.

Ich wusste einfach nicht, wie ich mit Jaden umgehen sollte. Was war er eigentlich für mich. Ein Freund? Jemand, den ich mochte? Vielleicht mehr als nur mochte? Das alles musste ich meine beste Freundin fragen, sie musste mir helfen, mich zu verstehen.

Und dann noch das mit Devin. Er war zwar mein Onkel, aber was sollte ich hier groß mit ihm besprechen? Daher hob ich meine Hand, um ihm zuzuwinken, doch statt mir zurückzuwinken, winkte er mich zu sich. Ernsthaft?

Ich ging die paar Schritte wieder zurück und stellte mich zum Pult.

»Wie geht’s dir? Wegen gestern?«, fragte er und ich bemerkte, wie mein Gesicht warm wurde. Außerdem war Jaden auch immer noch hier. Ich konnte meinem Onkel doch schlecht erklären, dass ich Jaden geküsst hatte.

»Besser«, sagte ich daher und nickte bekräftigend. »Mir geht’s gut. Danke der Nachfrage.«

»Und deiner Mutter?«

Oh, ein empfindliches Thema in der Schule. Wenn die anderen Schüler das mitbekamen, dann war ich das Klatsch-Thema für den Rest meiner Schultage. Daher wartete ich, bis auch die Letzten den Raum verlassen hatten, und blickte mich kurz um. Okay, wenn Jaden hierblieb, dann sollte es in Ordnung sein.

»In der Schule solltest du nicht über meine Mutter reden. Die anderen Schüler werden das falsch verstehen«, sagte ich dennoch leise und Devin blickte mich verwirrt an.

Ich verdrehte die Augen und beugte mich leicht zu ihm. Da es mir peinlich war, ihm das zu sagen, konnte ich ihm nicht einmal ins Gesicht schauen.

»Die anderen würden denken, dass du ein Verhältnis mit meiner Mutter hast«, murmelte ich leise und versuchte, mich unauffällig abzuwenden.

»Oh«, sagte dann Devin und räusperte sich verlegen. »Tut mir leid. Ich werde es in der Schule nicht mehr zur Sprache bringen.«

»Gut«, erwiderte ich und lächelte kurz, ehe ich auf die Tür zeigte.

»Dann werde ich mal zur nächsten Stunde gehen.«

Kurz schaute ich zu Jaden, der immer noch am Tisch saß und uns beobachtete. Da keiner mehr etwas sagte, verließ ich das Klassenzimmer und hoffte, dass Jaden ihm nicht erzählte, dass wir uns geküsst hatten. Das musste mein Onkel nun wirklich nicht erfahren.

Ich ging mit schnellen Schritten durch das Schulgebäude auf den nächsten Klassenraum zu und bog um die nächste Ecke. Prompt stieß ich mit jemanden Schulter an Schulter und die Bücher der anderen Person fielen zu Boden.

Kaum blickte ich der Person ins Gesicht, hätte ich laut schreien können. Penelopé war auch echt überall. Egal wo man hinsah, sie vermieste einem sofort die Stimmung.

»Kannst du nicht aufpassen!«, blaffte sie mich an und deutete auf die Bücher und Unterlagen, die verstreut auf dem Boden lagen.

»Heb das auf, das ist schließlich deine schuld!« Sie verschränkte die Arme vor Brust und zog ihre perfekt gezupften Augenbrauen auffordernd hoch.

»Ich denke nicht einmal daran«, zickte ich zurück und wedelte mit meinen Büchern vor ihr herum. »Wenn du deine Sachen ordentlich festgehalten hättest, wären sie nicht zu Boden gesegelt.«

»Wenn du nicht so ein Trampel wärst, dann wäre das gar nicht passiert!«

»Und wenn du nicht so dumm wärst, dann...«, doch weiter kam ich nicht, denn es legte sich eine Hand auf meine Schulter und seine Stimme unterbrach meinen Satz.

»Streitet euch woanders, ihr seid zu laut«, sagte Jaden und ich sah ihn kurz an.

»Halte dich daraus, Badboy«, giftete Penelopé und für ein paar Sekunden war ich überrascht. Sie hatte sich nicht an ihn herangemacht. Sie hatte ihm kein Honig um den Mund geschmiert und wollte ihm nicht an den Hals springen. Was war hier los?

Eigentlich ließ sie doch bei keinem etwas anbrennen.

Ich blinzelte verwirrt von ihr zu Jaden und schüttelte kurz den Kopf. Was war mit Penelopé Summer geschehen? Oder ... Ha! Hatte sie es bei Jaden versucht und einen heftigen Korb von ihm bekommen?

Scheinbar hatte sie diese überaus leckeren Lippen nicht kosten dürfen!

»Scheinbar hast du einen Bodyguard, kleines Biest«, zickte sie mich wieder an und ich machte einen Schritt auf sie zu. »Heb meine Bücher auf!«

»Bück dich doch selbst, Prinzesschen!«, zischte ich.

Was auch immer sie jetzt noch sagen würde, sie würde mich damit nicht brechen. Sie war diejenige, die nicht genügend Argumente gegen mich vorbringen konnte und sie bot dahingegen leider zu viele für mich.

»Falls du glaubst, dass du Rückendeckung hast, dann freue dich nicht zu früh. Deine kleine Streber-Freundin ist nämlich früher nach Hause gegangen.«

»Ich brauche keine Rückendeckung, wenn ich dir eine verpassen will.«

In meinen Fingern kribbelte es. Seit Jahren war ich schon in keiner Schlägerei mehr gewesen und ich hatte es auch erfolgreich geschafft, mich von jeglicher Gewalt fernzuhalten. Aber wenn ich eines nicht ausstehen konnte, waren es Ungerechtigkeit und Gewalt gegenüber den falschen Menschen. Ich beschützte dementsprechend nur das, was mir wichtig war. Und Dilara gehörte definitiv dazu.

»Das reicht jetzt«, mischte sich Jaden wieder ein und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Es blieb nur ein Spruch aus. Denn wenn Penelopé auch nur noch ein weiteres Wort sagte, schlug ich zu. Und zwar so fest ich konnte.

Gerade öffnete sie den Mund und wollte etwas erwidern, da riss mich Jaden an meinem Handgelenk hinter sich her. Was sollte das denn jetzt?

»Halt, warte. Jaden«, sagte ich und versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

»Wohin gehst du?«

Doch er antwortete nicht und an meiner Hand, die er festhielt, sah ich ein wenig Blut heruntertropfen. Ah, was war passiert?

Unter meinen Fingernägeln war ebenfalls ein wenig Blut. Aber ich hatte doch noch gar nicht zugeschlagen. Ich hob meine andere Hand an und sah auch dort ein wenig Blut.

Anscheinend hatte ich meine Fingernägel zu tief in meine Handflächen gedrückt. Aber es hatte nicht geschmerzt. Ich mochte nicht sonderlich gern mein eigenes Blut sehen und kurz wurde mir schwindelig.

»Warte kurz, Jaden«, sagte ich und er hielt nur kurz an. Ich lehnte mich an die Wand hinter mir und versuchte, kurz durchzuatmen und die Situation Revue passieren zu lassen. Aber ich hatte es rein gar nicht bemerkt.

Als ich dann wieder auf meine Hände sah, musste ich die Augen verdrehen.

»Was ist los? Kannst du kein Blut sehen?«, fragte Jaden belustigt und ich sah ihn böse an.

»Ich kann nur nicht meines sehen. Das ist ... eklig.«

Jaden nahm sanft meine Hand und sah sich das kurz an.

»Es ist nicht tief. Wir waschen es schnell ab und dann sollte es auch schon aufhören zu bluten.«

Ich nickte und steuerte geradewegs das Mädchenklo an. Doch Jaden packte mich am Ellbogen und zog mich in die andere Richtung. Zur Jungentoilette.

»Nein, warte. Ich will nicht«, maulte ich und presste mich mit ganzer Kraft gegen seinen starken Körper. Aber er war, wie ein sich bewegender Fels. Ich hatte keine Chance an ihm vorbeizukommen.

»Na komm, das geht ganz schnell.«

Zwei Jungen verließen eilig die Toilette, als sie Jaden und mich sahen. Als würde er regelmäßig mit Mädchen hierherkommen. Plötzlich zuckte es mich im ganzen Körper und ich konnte nichts gegen die aufkommende Übelkeit tun. Die Vorstellung, dass er wirklich mit anderen Mädchen auf die Toilette ging. Wie sie ...

Ein tiefes Brummen ertönte und unterbrach meine Gedanken. Mein Herz fing an wild in meiner Brust zu hämmern. Wir hatten uns geküsst und auch wenn ich ihn nicht sonderlich gut kannte, sollte ich keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Oh, ich sollte jetzt wohl lieber meine Hände waschen. In dem Moment, als ich zum Waschbecken gehen wollte, drückte Jaden mir ein nasses Tuch auf die Hand und tupfte das Blut weg.

»Ist alles okay?«, fragte er in die Stille und ich schaute ihn an. Da mir übel wurde, wenn ich mein Blut sah, war das die beste Option. Er sah auf meine Hände und machte sie sauber.

»Ja, geht schon. Ich habe es nur nicht bemerkt.«

»Schon okay. Geh sie nochmal waschen.«

Ich tat, was er sagte, drückte den Wasserhahn hoch und wusch mir die Hände warm ab. Im Spiegel konnte ich sehen, dass ich in letzter Zeit blasser geworden war. Seit die Albträume begonnen hatten, schlief ich schlechter. Das machte sich langsam bemerkbar.

Schnell trocknete ich meine Hände ab und blickte auf die kleinen Kratzer, die meine Fingernägel hinterlassen hatten. Dennoch hatte Jaden Recht, es hatte aufgehört zu bluten.

»Wir sollten zum Unterricht«, sagte ich und griff nach meiner Tasche, die ich auf den Boden gelegt hatte. Als ich mich bückte und mein Handy aus meiner Tasche nahm, sah ich, dass die Stunde bereits seit zehn Minuten begonnen hatte.

Wenn wir uns beeilten, dann sollten wir nicht allzu großen Ärger bekommen.

Doch als ich mich wieder aufrichtete und Jaden ansah, starrte er mich regelrecht an. Als ich auf ihn zuging und vor ihm stand, streckte er eine Hand nach mir aus.

Doch er berührte nicht mich direkt, sondern meine Halskette.

»Was zum Teufel«, flüsterte er und blickte mich dann entsetzt an. »Woher hast du diese Kette?«

»Ich hatte sie schon immer«, murmelte ich und nahm seine Hand von meiner Kette. Dann verstaute ich sie wieder unter meinem Oberteil, so wie immer.

»Von wem?«

»Von meinem Vater. Was interessiert dich das?«

Jaden schüttelte den Kopf und raufte sich die Haare. Was war denn nun los?

»Das gibt’s einfach nicht«, murmelte er und ging in der Toilette auf und ab. Ich griff nach meiner Tasche und schnappte mir meine Unterlagen. Selbst wenn ich jetzt allein zum Unterricht gehen würde, wäre es immer noch in Ordnung. Ich würde nicht allzu viel vom Unterrichtsstoff verpassen.

»Bleib stehen«, sagte er streng und ich tat es. Irgendwas in seiner Stimme hatte sich verändert. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Und ein kleines bisschen Angst hatte ich auch. Obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass Jaden mir etwas antun würde, diese Angst kam von meinem Unterbewusstsein.

»Ich muss ... nachdenken«, murmelte er weiter und ich lehnte mich gegen die Fliesen. Meine Handflächen fingen ein wenig an zu brennen und ich versuchte es zu ignorieren.

»Worüber?«, fragte ich ihn und er stoppte sein hin und her und kam direkt auf mich zu. Sein Gesicht war eine einzige Maske und seine sonst so schönen grauen Augen sahen mich böse an.

»Wie kommt es, dass ein einfacher Mensch wie du, im Besitz eines solchen Artefakts ist«, sagte er und sah mich wütend an. Ein einfacher Mensch? Was bitte war er denn? Der Sohn des Papstes?

Schnaubend baute ich mich vor ihm auf.

»Was glaubst du eigentlich, wer du bist«, sagte ich und konnte kaum fassen, dass ich jemanden wie ihn geküsst hatte. Doch trotz meines Ärgers spürte ich dennoch diese unfassbare Anziehungskraft zwischen uns. Was auch immer hier vorging, ich hatte die Schnauze voll davon. Sollte er doch zur Hölle fahren!

»Ich gehe jetzt«, sagte ich und drehte mich um. Jedoch kam ich nicht weit, denn Jaden legte einen Arm um meinen Bauch und zog mich zurück an seine Brust.

Ich hielt die Luft einen Moment an.

»Du gehst nirgendwo hin. Du kommst mit mir.«

»Hä? Willst du mich etwa entführen, oder was?«

»Sieht wohl ganz so aus.«

Ich versuchte, mich von ihm loszureißen, und schlug mit meinen Büchern auf seine Hand. Doch Jaden schien das nicht im Geringsten zu stören. Stattdessen packte er mit der anderen Hand eine meiner Hände und drückte in meine verletzte Handfläche. Das Brennen wurde stärker und zischend versuchte ich mich von ihm zu befreien.

»Hör auf dich zu wehren. Sonst werden das nicht die einzigen Schmerzen sein«, drohte er mir und für einen Moment spürte ich wieder dieses eigenartige Fluchtgefühl. Zwar hatte ich es die Zeit über immer gespürt, aber es war stetig geschrumpft. Jetzt kam es mit einem Schlag zurück und eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus.

»Bist du also brav und kommst mit mir?«

Hatte ich eine Wahl? Scheinbar meinte er es vollkommen ernst. Daher nickte ich widerwillig und Jaden ließ mich langsam los. Ich hob das Buch auf, das ich fallengelassen hatte, und folgte Jaden aus der Jungentoilette.

Vielleicht liefen wir ja zufällig Devin über den Weg, dann konnte er mir helfen und mich vor Jaden beschützen.

Was für eine bizarre Situation. Ein anderer Schüler, der eine Schülerin entführte. Konnte es noch verrückter werden?

Jaden steuerte geradewegs den Schulausgang an und blickte bei jeder Ecke zu mir nach hinten. Allerdings hatte ich nicht vorgehabt zu fliehen. Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht. Ach, das verwirrte mich alles nur noch mehr.

Wir gingen schnurstracks an dem Schulbüro vorbei und dann hielt Jaden mir die große Tür der Schule auf. Als ich hindurch ging, konnte ich Verunsicherung in Jadens Gesicht erkennen.

»Was ist los?«, fragte ich ihn aus Reflex, doch er schüttelte nur den Kopf und deutete auf den Schülerparkplatz. Brav folgte ich ihm weiterhin.

Vor seinem Motorrad blieb er wieder stehen und reichte mir seinen einzigen Helm.

»Ich will nicht mit dir fahren, nur damit du es weißt«, sagte ich und nahm ihm den Helm ab. Er sollte wissen, dass ich ihn langsam, aber sicher hasste. Dieser Kuss war der größte Fehler in meinem Leben. Und jetzt entpuppte er sich als ein Krimineller. Ich hatte scheinbar ein Händchen dafür, mich von einem Dilemma ins nächste zu befördern.

Plötzlich beugte Jaden sich vor, seine Nase berührte fast meine und ich hielt den Atem an.

»Ich weiß zufällig ganz genau, dass dir der Kuss genauso gut gefallen hat wie mir. Es bringt dir nichts, mir jetzt die kalte Schulter zu zeigen.«

Um seine Worte auch noch zu betonen, lag seine Hand auf einmal an meiner Hüfte und er drückte mich an sich. Sein Bekenntnis, dass ihm der Kuss zwischen uns gefallen hatte, ließ mein Herz höher schlagen. Dennoch wollte ich ihm nicht diese Genugtuung geben und starrte ihn ebenfalls an. Das Kribbeln an den Körperstellen, die er berührte, versuchte ich konkret zu ignorieren.

»Na und? Zufällig weiß ich ganz genau, dass du mich noch mehr küssen willst als ich dich.« Ich presste meinen Oberkörper an seinen und legte meine Wange an seine. Sein kurzer Bart kratzte leicht an meiner Haut. Mir gefiel diese Nähe zu ihm, auch wenn er alles andere als vertrauenswürdig wirkte.

»Wenn du denkst, dass du mir damit Angst machst, dann lass dir gesagt sein, dass ich keine Angst vor dir habe«, flüsterte ich und nahm dann Abstand zu ihm.

Tatsächlich hatte ich keine Angst vor ihm selbst, es war mehr die Situation, in die er mich brachte. Denn ich hasste es, wenn ich nicht wusste, worauf ich mich einließ.

Die Überraschung und Belustigung in Jadens Gesicht zeigte mir nur, wie sehr es ihm Spaß machte, und das verunsicherte mich. Was ging nur in seinem Kopf vor?

»Steig auf«, sagte er dann und setzte sich auf seine Maschine. Ich hielt mich an seiner Jacke fest und schwang ein Bein über die Maschine. Kurz blickte er über seine Schulter.

»Wenn ich du wäre, würde ich mich richtig festhalten.«

Das war doch wohl nicht sein Ernst. Selbst jetzt versuchte er, mich noch zu verärgern.

»Du willst doch nur das ich dich anfasse«, zickte ich.

»Und wenn das so ist?«, sagte er belustigt und ich versuchte die Flüche, die mir auf der Zunge lagen, einfach herunterzuschlucken. Ich legte meine Arme um seinen Körper und rückte noch ein Stück näher an ihn heran. In dem Moment, als unsere Körper sich berührten, spürte ich, dass Jaden erzitterte. Scheinbar ließ ich ihn auch nicht so kalt und das machte mich glücklich, auf eine verrückte Art und Weise.

Dann startete er das Motorrad und brauste von dem Schülerparkplatz. Ich bemerkte es sofort.

Er fuhr viel schneller als Noel und viel schneller, als es überhaupt in der Stadt erlaubt war. Ich drückte mich etwas dichter an ihn und beobachtete, wie die Häuser vorbeizogen und wir die anderen Autos überholten.

An einer roten Ampel hielt er kurz und ich hatte das Gefühl, dass in meinem Bauch ein Haufen Schmetterlinge war. So frei hatte ich mich noch nie gefühlt und dennoch war ich eigentlich gar nicht frei. Denn Jaden entführte mich ja gerade irgendwie.

»Wo fahren wir hin?«, fragte ich ihn, doch er antwortete mir nicht. Als die Lichter der Ampel wieder auf Grün schalteten, ließ er den Hinterreifen mal wieder quietschen und fuhr rasant durch die Stadt.

Als Jaden das nächste Mal anhielt, standen wir vor meinem Haus. Er entführte mich in mein Eigenes zu Hause? War er nicht ganz bei Verstand?

Jaden stieg vom Motorrad und reichte mir seine Hand. Doch ich nahm sie nicht an und sprang aus eigener Kraft herunter. Dann nahm ich den Helm vom Kopf und schüttelte meine Haare aus meinem Gesicht.

»Woher weißt du wo ich wohne?«, fragte ich skeptisch, doch auch dazu schwieg Jaden und deutete an, dass ich vorgehen sollte.

»Willst du etwa meine ganze Familie entführen?«

»Gott, kannst du nicht einfach aufhören zu reden und reingehen?«

»Sei nicht so empfindlich. Ich geh ja schon«, blaffte ich ihn an und zog meinen Schlüssel aus meiner Tasche. Als ich aufschloss und ins Haus ging, hielt ich Jaden die Tür auf und verdrehte die Augen. Jetzt hielt ich meinem Entführer auch schon die Tür auf.

Was zum Henker stimmte nicht mit mir?

Ich ging voran in die Küche und legte meine Sachen ab. Jaden folgte mir und aus einem unbestimmten Grund war es mir peinlich, dass er im Haus war. Ich hatte nie darüber nachgedacht einen Freund mit ins Haus zu bringen. Jaden war der Erste.

Halt Stopp!

Er war kein Freund. Nicht mehr.

Als ich Jadens Blick begegnete, fühlte ich mich zwar ängstlich und das Fluchtgefühl stieg schon wieder an, doch in ihm sah ich leider immer noch den Typen von gestern. Was hatte sich geändert?

Auf einmal griff Jaden nach meiner Hand und führte mich in das Wohnzimmer, das gegenüber der Küche war.

»Ruf Devin an«, sagte er dann und setzte sich auf das Sofa. Ganz, als wäre er zu Hause, breitete er die Arme auf der Rückenlehne aus und legte einen Fußknöchel auf seinem Knie ab.

»Was?«, fragte ich ungläubig und stemmte die Hände in die Hüften.

»Du hast mich schon verstanden.«

Kopfschüttelnd nahm ich mein Handy und stand dann da wie blöde. Ich hatte seine Handynummer nicht. Ich scrollte in meinem Telefonbuch zur Nummer meiner Mutter und rief stattdessen sie an.

Als sie heranging, war sie überrascht.

»Schatz, was ist los? Hast du nicht noch Schule?«, fragte sie skeptisch und ein gewisser Unterton hatte sich in ihre Stimme gemischt. Auweia. Ich sollte ihr lieber die Wahrheit sagen. Plötzlich stand Jaden vor mir und wollte mir das Handy abnehmen, doch ich hob eine Hand und er blieb zu meiner Überraschung einfach vor mir stehen.

»Es ist etwas in der Schule vorgefallen, Mom. Ich bräuchte daher dringend die Nummer von Devin. Kannst du sie mir herübersenden? Ich bin bereits zu Hause.«

»Was?«, fragte sie entsetzt und schwieg einige Sekunden. »Ich komme nach Hause, Schatz. Ich gebe Devin Bescheid.«

Dann hatte sie einfach aufgelegt und ich betrachtete stumm mein Handy. Was zur Hölle ging hier vor?

Da Jaden immer noch vor mir stand, kam ich nicht drum herum, mich für nur einen Moment zu ihm zu beugen. Er roch wahnsinnig gut.

Dann fasste ich mich wieder und blieb eisern stehen. Er sollte ja nicht denken, dass ich mich einschüchtern ließ. Ganz egal, was er auch tat. Dann setzte er sich wieder auf das Sofa und wir warteten. Sollte ich ihm etwas zu trinken anbieten? Nein lieber nicht.

Im Flur hörte ich die Haustür auf und zugehen. Wow, meine Mom war ja wirklich schnell, das war ja unmöglich.

Und es war auch gar nicht meine Mom, die in das Wohnzimmer kam, sondern Devin. Sofort blickte er zwischen mir und Jaden hin und her. Dann kam er auf mich zu und seine großen schweren Hände legten sich auf meine Schultern.

»Alles in Ordnung? Hat er dir etwas angetan?«, fragte Devin besorgt.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Deine Mutter hat mich panisch angerufen. Ich dachte dir sei etwas passiert.«

Da räusperte sich Jaden plötzlich und sowohl Devin als auch ich sahen ihn an.

»Und was zum Beispiel?«, fragte Jaden dann. Da keiner etwas antwortete, ich nicht, weil ich nicht wusste, worum es ging und Devin nicht, weil er es wohl auch nicht wusste, stand Jaden auf und kam auf mich zu.

Devin wollte sich schützend vor mich stellen. Abwehrend hob Jaden seine Hände und zeigte damit, dass er niemanden angreifen wollte. Stattdessen griff er mit einer Hand leicht an meinen Hals, seine Fingerspitzen hinterließen eine Gänsehaut auf meiner Haut, und zog meine Halskette hervor.

Das kleine Schmuckstück lag nun in seiner Hand und fragend blickte er zu Devin.

»Woher hat sie das Artefakt?«, fragte Jaden kühl.

Doch Devin zögerte immer noch.

»Wir können auch warten. Auf ihre Mutter. Auf ihren Bruder. Hat sie noch mehr Verwandte, die davon erfahren sollten?«, sprach Jaden weiter und Devin knurrte ihn an. Es war wortwörtlich ein Knurren und ich wich vor ihm und Jaden zurück.

»Oder lass mich raten. Sie ist die Einzige, die von nichts weiß, stimmts?«

»Das reicht!«, brüllte Devin und an meinen Beinen spürte ich die Sessellehne. Als Jaden sich zu mir herumdrehte, knickte ich mit meinem Knie ein und landete mit meinem Hintern im Sessel. Das kribbelige Gefühl in meinem Nacken verstärkte sich und eine innere Stimme rief mir zu, dass ich laufen sollte. Ganz weit weg.

»Wieso weiß sie von nichts?«, fragte Jaden weiter und meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Was geschah hier nur? Worum ging es eigentlich genau? Was hatte meine Halskette damit zu tun? Was hatte es mit mir zu tun?

»Stopp!«, schrie ich und setzte mich in dem Sessel richtig hin. Beide Männer waren endlich ruhig und ich atmete ein paar Mal tief durch.

»Fangen wir einfach von vorne an. Von ganz vorne«, sagte ich und unterdrückte das stetige Gefühl der Gefahr. Alles, was von den beiden ausging, war für mich ein einziges Signal. Gefahr. Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Und ich brauchte die Klarheit.

Zu meiner Überraschung ging Jaden zum Sitzfenster und setzte sich. Devin blieb in einem sicheren Abstand zu mir stehen und überblickte die Situation.

»Wir werden noch auf deine Mutter warten«, sagte Devin dann und ich nickte. Wenn Mom erst einmal hier war, dann löste sich vielleicht dieser Knoten in meinem Magen. Aber für diesen Moment brauchte ich erst einmal etwas zu trinken.

Daher stand ich auf und sah kurz zu Jaden und dann zu Devin.

»Möchte jemand ein Wasser?«

Da beide still blieben, ging ich allein in die Küche und schnappte mir schnell ein Glas und füllte es mit kaltem Wasser. Das alles war doch nicht richtig.

Zurück im Wohnzimmer setzte ich mich diesmal auf das Sofa und trank einen kleinen Schluck. Das war einfach nicht richtig. Was machte ich hier? Ich sollte in der Schule sein, stattdessen war ich in eine seltsame Situation geraten. Mit meinem Onkel.

Und mit einem Kerl, den ich geküsst hatte. Wer war Jaden also wirklich? Anscheinend kannten sich die beiden.

Als ich dann endlich die Haustür hörte, atmete ich erleichtert auf.

»Khalida?«, rief meine Mutter vom Flur aus und ich hörte ihren Schlüssel auf der Kommode klirren.

»Im Wohnzimmer«, rief ich zurück und meine Mom kam sofort angestürmt. Sie setzte sich neben mich und betastete mein Gesicht und befühlte meine Stirn. Dann sah sie zu Devin.

»Was ist denn passiert?«, fragte sie und ich nahm ihre Hand in meine.

»Das würde ich auch gern wissen, Mom«, sagte ich und als sie mich anblickte, nahm ich meine Halskette in die Hand und sah sie fragend an. Doch meine Mom blickte nur wieder zu Devin.

Seufzend stellte sich Devin vor uns und blickte mich lange schweigend an. Er hatte vorhin genügend Zeit gehabt sich zu überlegen, was er sagen wollte.

»Lass ihm die Zeit. Ich glaube das das, was er dir zu sagen hat, schwerer auf ihm lastet, als man erahnen kann«, sagte Jaden plötzlich und ich stand vom Sofa auf. Ich hatte doch gar nichts gesagt. Wie kam er darauf, zu wissen, was ich dachte und was in mir vorging.

»Weil ich deine Gedanken immer kenne«, sagte er in die Stille und mir schwirrte leicht der Kopf. Was hatte das zu bedeuten?

»Wie bitte?«, fragte ich und Jaden blickte mich nun auch an. Er grinste fies und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Kopf.

»Ich kann deine Gedanken hören«, sagte er und ich sackte in mich zusammen. Meine Gedanken? Er konnte meine Gedanken lesen?

»Du liest meine Gedanken?«

»Ich höre sie. Unfreiwillig.«

»Du belauscht mich.«

»Ich kann nichts dagegen tun. Ich kann sie einfach hören. Wie, ein immer eingestelltes Radio.« Mein Gesicht brannte vor Scham. Alles was ich ihm je gesagt hatte und das, was ich ihm nicht gesagt hatte. Er wusste alles. Einfach alles!

Wutentbrannt wollte ich auf ihn losstürmen, doch da legte sich Devins Hand auf meinen Unterarm. Sofort war meine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet.

»Das klären wir später mit ihm«, sagte er und deutete mir an, dass ich mich wieder setzen sollte. Devin setzte sich auf die Tischkante mir gegenüber und seufzte schwer.

»Irina und ich«, fing er dann an, doch wurde er unterbrochen. Denn die Haustür ging ein weiteres Mal auf.

Und plötzlich stand ein verwirrter Noel im Flur und blickte einen nach dem anderen an.

»Was geht hier ab?«, fragte er und zuletzt blickte er zu Devin. In seinen Augen erkannte ich eine Wut, die ich nicht verstand.

»Hallo, Noel«, sagte Devin und meine Mutter seufzte schwer. Sie stand auf und ging zu Noel. Kurz sprach sie leise mit ihm, dann kamen sie beide zum Sofa. War ich tatsächlich die Einzige in diesem Raum, die nicht in deren Geheimnis eingeweiht war?

Das war niederschmetternd.

»Dann warte erst einmal ab, wenn du die Wahrheit kennst«, sagte Jaden und ich stöhnte genervt.

»Halt dich fern von mir! Geh aus meinem Kopf raus!«

»Kann ich nicht. Du bist diejenige, die in meinem Kopf ist.«

Okay, einfach nicht denken. Das konnte doch nicht so schwer sein.

Eiscreme.

Gesüßtes Popcorn.

Es klappte nicht, nicht zu denken. Dann musste ich eben an meine Lieblingssüßigkeiten denken. Vollmilchschokolade.

Knusprige Nachos mit Käse Dip.

Erdbeershake.

»Ich hasse dich«, sagte ich zwischen meinen Lieblingssüßigkeiten und vernahm nur das leise Lachen von Jaden. Dann versuchte ich, mich wieder auf Devin zu konzentrieren.

»Also. Mama und du«, versuchte ich Devin auf die Sprünge zu helfen.

»Ja. Sie und ich, wir haben uns vor achtzehn Jahren kennen gelernt und eine Beziehung geführt. Wir waren einige Monate zusammen. Und dann war sie schwanger. Mit dir.«

Es wurde ruhig. Sowohl im Wohnzimmer als auch in meinem Kopf. Wow.

Ich sackte in mich zusammen und sah Devin lange einfach nur an. Seine goldbraunen Augen beobachteten mich und ich erkannte den Ausdruck von Trauer in ihnen.

»Warte«, sagte ich und stand dann vom Sofa auf. »Du bist dann mein Vater.«

Der kalte Unterton in meiner Stimme war ungewollt. Aber ich war sauer. Er hatte mich angelogen. Und meine Mutter hatte mich ebenfalls angelogen.

»Ja. Ich bin dein Vater«, sagte Devin und strich sich durch die schwarzen Haare. Es hätte mir vorher auffallen müssen.

Als ich Noel anblickte, wirkte er vollkommen desinteressiert.

»Du wusstest, dass unser Vater hier ist und hast es mir nicht einmal versucht zu erklären.«

»Dein Vater«, sagte Noel und hatte ebenfalls kühl geklungen. Mein Vater?

Sofort schnellte mein Blick zu meiner Mom. Sie wirkte im Augenblick nicht wie die taffe Frau, die ich sonst jeden Morgen sah. Ich schüttelte kurz den Kopf und atmete tief ein und aus. Das war ja jetzt wohl ein wirklich richtig schlechter Scherz. Am liebsten wollte ich laut und aus voller Seele schreien.

»Kann mir bitte einer sagen, was zur Hölle hier los ist? Ich verliere den Verstand bei diesen ganzen Geheimnissen!«

»Devin ist dein leiblicher Vater. Mom hat meinen Vater vor achtzehn Jahren verlassen und dann ist Devin abgehauen!«, erklärte Noel aufgebracht und vermutlich auch nur die Kurzfassung und stand vom Sofa auf. Die Feindseligkeit in seiner Stimme ließ mich kurz innehalten. »Wir, Khalida, wir sind Halbgeschwister!«

Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals herunter und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren. Ein- und ausatmen. Es war ganz leicht. Einfach weiter atmen.

»Hasst du mich deswegen?«, fragte ich Noel, denn als er mich nun anblickte, war er zornig.

»Als du geboren wurdest, ja. Aber umso älter du wurdest, desto mehr liebte ich dich. Schließlich kannst du ja nichts für die Fehler von Devin«, sagte Noel und setzte sich wieder auf das Sofa.

»Und wieso hat mir keiner gesagt, dass ich ... einen anderen Vater habe?«, fragte ich und sah zu Mom. Dann blickte ich zu Devin und mir wurde bewusst, dass es wohl noch ein viel größeres Geheimnis gab. Wollte ich es wirklich wissen?

»Ich wollte es dir sagen, wenn du älter bist und es gut verkraftest«, sagte meine Mom und ich schüttelte den Kopf. Viele Kinder erfuhren das früher als ich. Ich war keine fünf mehr. Mittlerweile konnte ich denken. Mein Blick glitt zum Sitzfenster und Jaden sah mich ebenfalls an, es war ja auch kein Wunder. Er konnte meine Gedanken lesen. Hören, verbesserte ich mich und ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Scheinbar machte ihm diese kleine Familienangelegenheit richtig Spaß. Konnte er nicht einfach verschwinden? Das alles ging ihn rein gar nichts an.

»Der eigentliche Spaß kommt gleich erst. Und das geht mich etwas an«, sagte Jaden und stand dann auf. Nicht denken. Nicht denken, redete ich mir ein und drehte mich von ihm weg.

Dann spürte ich ihn plötzlich direkt hinter mir. Und obwohl er mich nicht berührte, fühlte ich seine körperliche Präsenz nur allzu deutlich. Seine Stimme war ganz nah, als er sprach und die Gänsehaut in meinem Nacken verstärkte sich.

»Sagt ihr endlich die Wahrheit. Es gibt nämlich noch etwas, das ich mit Devin besprechen muss. Als ehemaliges Ratsmitglied solltest du dir denken können, worauf ich hinaus will.«
Ratsmitglied? Was waren die beiden für Menschen? Gehörten sie einer Sekte an? Devin schnaubte und seine goldbraunen Augen trafen meine.

»Was ist denn noch? Ich werde ja nicht gleich umkippen und sterben. Also raus damit!«

»Tja, vielleicht wirst du sterben«, sagte Jaden hinter mir und ich schluckte schwer.

»Was meinst du damit?«, fragte ich und konnte mich nicht überwinden, mich umzudrehen.

»Ich meine das, was ich sagte. Du wirst vielleicht sterben. Habe ich nicht Recht, Devin?«

Schweigen erfüllte den Raum. Das machte das Ganze nicht besser. Ich brauchte Raum für mich. Jaden war mir zu nah. Allgemein waren mir alle zu nah. Schnell ging ich auf die andere Seite des Raumes und legte die Hände an den Kopf. Vor dem Kamin ging ich auf und ab und dachte an alle Krankheiten, die ich bisher in meiner Kindheit hatte. Oder eher nicht hatte.

Mein Blick fiel auf die Fotos, die eingerahmt auf dem Kaminsims standen. Waren das alles Lügen? War mein Leben eine Lüge? Ich stützte mich an dem Kaminsims ab und versuchte wirklich nicht zu denken. Tja, aber nicht über den Tod nachzudenken, das war schier unmöglich.

»Woran werde ich sterben?«, fragte ich. Keiner sah mich an. Nicht einmal meine Mutter.

Herr im Himmel, was hatte ich getan, damit ich in so eine Situation geraten konnte?

Nur Jaden kam auf mich zu und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Woran sterbe ich, Jaden?«

»Khalida«, sagte Devin gequält und stand ebenfalls auf. Er stellte sich zu Jaden, der ihn fragend anblickte. Devin nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Scheinbar war Jaden der Einzige in diesem Raum, der keine Probleme damit hatte, mich aufzuklären.

Als ich dann wieder Jaden ansah, beugte er sich zu mir herab.

»Willst du es hören oder soll ich es dir zeigen?«

Panik durchflutete meinen Körper. Hatte er vor, mich hier auf der Stelle zu töten? Eindeutig würde meine Wahl auf Hören fallen. Doch da grinste Jaden schon wieder fies und nebenbei bemerkte ich, dass etwas mit seinem Mund nicht stimmte. Als ich erkannte, dass er lange weiße und bedrohliche Reißzähne besaß, wich ich vor ihm zurück. Ich stolperte vor Panik über meinen Fuß und fiel nach hinten auf meinen Hintern.

»Was zur Hölle!«, schrie ich hysterisch und stoppte abrupt. Denn Jaden hockte vor mir und griff nach meinem Handgelenk. Falls er vorhatte, meinen Sturz zu stoppen, kam er eindeutig zu spät.

Ich wollte ihm mein Handgelenk entreißen, doch er ließ mich nicht los.

»Lass mich los, du perverses Arschloch!«

»Die sind echt. Und jetzt beruhige dich. Wir sind noch nicht fertig«, sagte er und meine Angst verstärkte sich. Wie konnte er so verdammt ruhig bleiben?

Und was noch viel schlimmer war. Ich hatte diesen Perversen geküsst.

Meine Wangen glühten, als er mich wissend ansah.

»Hör mir zu, Khalida. Das ist jetzt unglaublich wichtig«, sagte Devin und Jaden zog mich plötzlich auf die Beine. Unsicher stand ich auf und entzog ihm schnell mein Handgelenk. Nicht noch eine Sekunde länger wollte ich, dass er mich berührte.

»Jaden und ich sind Vampire«, sagte Devin und seufzte auf, als er meine Reaktion bemerkte. Wo war ich zum Teufel noch einmal gelandet? Aber weder meine Mom noch Noel widersprachen dem. Es gab tatsächlich Vampire?

Dann deutete ich auf mich und sah zwischen Devin und meiner Mutter hin und her.

»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte ich, denn meine Gedanken waren ein einziges Chaos.

»Du bist das Kind eines Vampirs und einer menschlichen Frau. Auch als Mischlingskind bekannt«, sagte Devin ruhig und wollte auf mich zukommen. Doch ich wich auch vor ihm zurück. Hatte denn sonst keiner einen gesunden Menschenverstand? War es denn nicht gefährlich? Waren die beiden ... Monster denn nicht gefährlich?

Ich hörte Jaden schnauben, vermutlich war das seine Reaktion auf meine Gedanken.

»Khalida. Du bist ebenfalls ein Vampir«, sagte Devin.

Entschlossen schüttelte ich den Kopf und wich noch weiter zurück. Auf einmal spürte ich das Bücherregal hinter mir und zuckte zusammen. Das alles war der reinste Albtraum!
Schlimmer noch.

»Du musst mir vertrauen, Khalida. Wir werden zwar als Menschen geboren, doch wir verwandeln uns dann im Alter von ungefähr zwanzig Jahren in einen vollwertigen Vampir. Diese Wandlung machst auch du bald«, sprach Devin weiter. Niemals. Nein. Nie und nimmer.

»Es gibt keine Vampire«, sagte ich mit fester Stimme und spürte zeitgleich das Fluchtgefühl und die Angst in mir aufsteigen. Es fühlte sich ähnlich an wie in meinen Albträumen. Doch dieses hier war real. In meinen Träumen konnte ich zwar nicht weglaufen und am Ende starb ich mit Sicherheit, doch dort konnte ich aufwachen.

»Ich muss hier raus«, sagte Noel auf einmal und ich streckte die Hand nach ihm aus, als er aufstand und fluchtartig das Haus verließ. Aber was hätte ich schon groß sagen sollen. Mein Bruder ... mein Halbbruder. Tränen stiegen in mir auf.

Als ich zu Mom blickte, sah sie mich betroffen und voller Schuld an.

»Mom. Das ist...«, sagte ich, doch auch ihr Blick verriet mir, dass das alles der Wahrheit entsprach. Was sollte ich tun?

»Hör bitte deinem Vater zu«, sagte sie mit belegter Stimme und ihre dunklen blauen Augen blickten zu Devin. Mein Blick wanderte zu ihm, Jaden stand neben ihm.

»Deine Wandlung geht schneller voran als gedacht. Vermutlich liegt es daran, dass du ein Mischlingskind bist. Wie du siehst, können wir uns in der Sonne bewegen. Wir vertragen menschliches Essen, denn auch das gibt uns die nötigen Nährstoffe. Selbstverständlich ist trotz alledem Blut unsere Hauptnahrung«, sprach Devin langsam und ich musste die Übelkeit herunterschlucken.

»Nein. Ich töte niemanden«, entwich es mir plötzlich und Devin versuchte zu lächeln. Ich kapitulierte nicht. Ich hatte nur gesagt, was ich dachte.

»Das musst du nicht. Bei der Wandlung trinkt ein Vampir das Blut eines anderen Vampirs vom anderen Geschlecht. Du brauchst also keinen zu töten, du benötigst nur das Blut eines männlichen Vampirs.«

In meinem Kopf drehte sich alles und ich streckte die Hand nach der Wand aus. Das war mir zu viel. Ich sollte einen anderen Vampir beißen?

»Da du ein Mischling bist, weiß aber niemand, ob du die Wandlung überhaupt überlebst. In der Regel dürfen keine Mischlinge überleben«, sagte Jaden finster und ein kalter Schauer glitt über meinen Rücken.

»Wirst du mich töten?«, fragte ich ihn, doch er schüttelte den Kopf. Das beruhigte mich zumindest ein wenig.

»Wenn er dir auch nur ein Haar krümmt, werde ich ihn auseinanderreißen«, zischte Devin auf einmal und ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Allerdings kam mir Jaden zuvor und überraschte nicht nur mich mit seinen nächsten Worten.

»Ich habe nicht den Auftrag sie, oder sonst irgendjemanden zu töten. Das Einzige, was ich getan habe, war sie zu küssen«, sagte er und als ich die Hitze in meinem Gesicht spürte, grinste er nur mal wieder. So ein Arsch!

Knurrend bleckte Devin die Fänge und ich wandte den Blick ab. Das hier war eindeutig ein Irrenhaus. Und am liebsten wäre ich Noel hinterhergelaufen.

»Und sollte ich den Auftrag erhalten dich zu töten, dann warte ich einfach auf deine Wandlung. Dauert ja scheinbar nicht mehr lange«, grinste Jaden höhnisch.

»Also hast du es vorher schon an ihr bemerkt«, meinte Devin und Jaden zuckte die Schultern. Was war sein Problem?

»Was ist dann dein Auftrag? Was will der Rat von meiner Tochter?«, fragte Devin weiter. Wie so oft an diesem Tag kam Jaden auf mich zu und hielt seine Hand auf.

Mittlerweile war mir bewusst, was er wollte. Ich holte die Halskette hervor, doch ich würde sie ihm niemals überlassen.

»Du hast sie damals aus dem Museum gestohlen, nicht wahr?«, richtete Jaden seine Frage an Devin.

»Ja. Sie gehört nicht in die Welt der Menschen.«

»Sie gehört aber auch nicht dir.«

»Nein! Sie gehört mir!«, schrie ich und versteckte das Schmuckstück wieder. Wenn Jaden diese Kette haben wollte, musste er mich schon töten!

Freiwillig würde ich sie ihm niemals überlassen.

»Welchen Wert hat sie schon für dich? Du kennst ja nicht einmal die Bedeutung des Artefakts.«

Ich zuckte die Schultern und blickte von Jaden zu Devin. Es erleichterte mich irgendwie, dass ich nun wusste, wer mein Vater war. Und ich war auch zum Teil glücklich darüber, dass ich ihn kennen lernen durfte.

»Weil das das Einzige ist, was ich von meinem Vater habe. Es hat mich immer mit ihm verbunden. Das ist die Bedeutung für mich.«

»Oh, Khali«, sagte meine Mom. Sie war diejenige, die mich damals natürlich aufgeklärt hatte über das Schmuckstück. Als sie mir sagte, dass mein Vater es mir zu meiner Geburt geschenkt hatte, hatte mich das unglaublich glücklich gemacht.

»Das Artefakt, das du als dein bezeichnest ist uralt und gehört dem Vampirvolk. Mein Auftrag lautet, dieses an den Rat zurückzubringen«, erklärte Jaden und drehte sich dann zu Devin.

»Ist dir eigentlich bewusst, was du angerichtet hast?«

Devin zuckte die Schultern und kam auf einmal auf mich zu. Als er vor mir stand, versperrte er mir die Sicht auf Jaden.

»Wenn du meiner Tochter auch nur ein Haar krümmst oder ihr zu nahe kommst, werde ich dir den Kopf abreißen. Du wirst dir sicherlich eine Ausrede für den Rat einfallen lassen können, aber du hast Khalida gehört. Die Kette gehört ihr«, knurrte Devin und ich bemerkte die Angst in meinem Bauch. Mein ganzer Körper erzitterte.

Monster.

Sie waren eindeutig Monster. Und sie brachten Menschen um.

»Hör auf so ein Schwachsinn zu denken«, hörte ich Jadens Stimme und ich erzitterte vor Furcht. Wie konnte meine Mutter nur so ruhig bleiben? Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch!

Das war doch alles nicht real!

Monster.

Es gab Monster auf dieser Welt. »Wir sind keine... Monster!«

Ich musste hier weg. Lauf!

Lauf endlich, rief ich mir zu.

Langsam bewegte ich mich zur Tür und beobachtete die zwei Männer, wie sie sich anstarrten. Dann blickten sie zu mir und ich rannte die Treppe hinauf und riss meine Zimmertür auf. Hinter mir knallte ich sie zu und drehte den Schlüssel herum.

Keuchend sank ich auf den Boden.

Monster.

Vampire.

Was zur Hölle war nur gerade passiert? Was in Gottes Namen hatte ich dort erlebt?

Mein Onkel war eigentlich mein Vater. Und mein Vater war ein Vampir. Meine Hand griff an meine Halskette. Sie gehörte mir.

Ich musste ... ich dachte den Gedanken nicht zu Ende und summte stattdessen irgendein Lied in meinem Kopf. Hoffentlich war er laut genug in meinen Gedanken.

Schnell suchte ich ein geeignetes Versteck für meine Halskette. Unter meiner Matratze? Zu naheliegend. Mein Kleiderschrank? Eine zweite Wahl zum Suchen. Zu offensichtlich.

Ich riss meine Schubladen auf. Aber mein Schreibtisch war zu übersichtlich, da konnte man es leicht finden.

Summend durchkämmte ich mein Zimmer und fand dann das beste Versteck, welches man überhaupt haben konnte. Es war das erste Mal, dass ich meine Halskette bewusst nicht trug, und ich fühlte mich ohne sie unsicher.

Ich betete zu Gott, dass mein Summen und Singen in meinem Kopf meine restlichen Gedanken übertönt hatte und Jaden sie nicht gehört hatte.

Und was nun? Was tat ich nun?

Unbewusst nahm ich mir mein Schlafanzug und zog mich um. Ich brauchte Normalität. Obwohl es nicht einmal Abend war. Unter meiner Bettdecke fühlte ich mich seltsam einsam. Als gehörte ich nicht hierher.

Kapitel 7 - Jaden

Khalida war so schnell davon gerannt, dass Jaden sich nicht einmal für sein Benehmen entschuldigen konnte. Aber ihre Gedanken hatten ihn aufgeregt. Und sie besaß auch noch das Artefakt, das Walther um jeden Preis zurückwollte. Was sollte er tun?

Und Devin war auch noch als ehemaliges Ratsmitglied der Grund für diese unaussprechlich dumme Situation. Er hatte es doch tatsächlich geschafft, ein Mischling vor dem Rat geheim zu halten. Was hatte er sich nur dabei gedacht?

Aber er hatte mit seiner Vermutung vorher recht behalten. Khalida war nicht menschlich und das erklärte auch seine Reaktion auf sie. Sie war anziehend und das allein lag nur daran, dass sie bald ihre Wandlung machte. Jaden schätzte, dass sie in ungefähr zwei Wochen zum Vampir erwachte und bis dahin sollte Devin sich gut überlegen, was er tat. Denn der Rat war bestimmt nicht damit einverstanden, dass ein Mischling überlebte.

Jaden stand immer noch vor dem Kamin und beobachtete Devin dabei, wie er mit seiner menschlichen Frau über Khalida sprach. Sie hatte angefangen, zu weinen, und hatte ihn angeschrien. Als sie dann zu Jaden blickte, war sie noch aufgebrachter.

Da sie wusste, dass er und Devin Vampire waren, war sie nicht allzu überrascht gewesen. Aber sie hätte es in Betracht ziehen müssen, dass Khalida die Wandlung machen könnte. Schließlich entstammte Devin einer ziemlich starken Blutlinie. Eigentlich gab es da nur eine Chance für Khalida. Sie musste das Blut eines Vampirs trinken, der ebenfalls aus einer starken Blutlinie stammte. Nur dann sah Jaden die Möglichkeit, dass sie die Wandlung auch wirklich überlebte.

Verdammt, das war ziemlich dünnes Eis, auf dem er sich bewegte.

Plötzlich hörte er, wie etwas in seinem Kopf summte.

Summte sie etwa gerade ... ein Lied aus den 80er? AC/DC? War das ihre neue Masche, damit er ihre Gedanken nicht mehr hören konnte?

Es ließ Jaden schmunzeln, auf was für verrückte Ideen sie kam.

Dann verließ Khalidas Mutter plötzlich das Wohnzimmer und Jaden stand allein mit Devin hier.

»Was wirst du tun? Wirst du dem Rat von Khalida erzählen?«, fragte Devin, seine Arme waren vor der Brust gekreuzt. Obwohl Jaden ein guter Auftragskiller war und viel Erfahrung im Kampf hatte. Gegen Devin würde er nicht kämpfen. Diesen Kampf würde er mit Sicherheit verlieren und Jaden hatte nicht vor zu sterben. Weder heute noch sonst in nächster Zeit.

»Nein. Das liegt nicht in meinem Aufgabenbereich und gehört auch nicht zu meinem Auftrag«, sagte er und dachte über das Artefakt nach. Wenn Khalida es ihm nicht aushändigte und er es Walther so erzählte, dann würde er ihm mit Sicherheit einen neuen Auftrag erteilen. Aber Jaden wollte Khalida nicht töten.

Scheinbar war es das erste Mal, wo er darüber nachdachte, jemanden nicht zu töten. Sonst war es ihm immer egal gewesen. Hatte es etwas mit ihr persönlich zu tun?

Ah, da waren sie schon wieder. Diese nervigen Gefühle, die er vor Jahrzehnten abgestellt hatte, doch bei ihr konnte er einige Gefühle nicht unterdrücken.

»Und das Artefakt?«

»Ich werde es mir nicht mit Gewalt nehmen, falls du das denkst.«

Und selbst darüber war Jaden überrascht. Mehr würde er nicht mit Devin besprechen. Seine Antworten hatte Jaden jetzt. Das Einzige, was noch zählte, war die Wahrheit ein wenig zu verschleiern. Denn wenn Jaden ihm das Artefakt nicht aushändigte und Walther davon Wind bekam, dann setzte er sofort den nächsten Auftragskiller darauf an.

»Ich werde Walther vorerst nichts sagen. Überlass den Rat mir und kümmere du dich um Khalida«, sagte Jaden und wollte das Wohnzimmer verlassen.

»Vorerst ... werde ich ihre Gedanken verschleiern und ihr zu einem anderen Zeitpunkt die Wahrheit offenbaren. Auf andere Art und Weise«, sagte Devin und Jaden zog die Augenbrauen zusammen. Seiner Meinung nach hatte Khalida das ganz gut verkraftet. Er hatte eigentlich gedacht, dass sie ohnmächtig werden würde. Sie war ziemlich stark, dafür, dass sie wirklich fürchterliche Angst gehabt hatte.

»Findest du, dass es eine gute Idee ist? Ihre Wandlung steht kurz bevor. Sie sollte es vorher erfahren und nicht währenddessen.«

Devin spannte sich an.

»Du hast sicherlich bemerkt, dass Wölfe in der Nähe sind«, wechselte Devin das Thema.

Jaden nickte. Auf der Schule hatte er einen gerochen. Er war Khalida ziemlich nah gewesen. Ob sie ebenfalls von dem Artefakt wussten? Das musste er herausfinden.

»Ich würde gern ihre Gedanken bis zu einem bestimmten Punkt verschleiern«, sagte Jaden und Devin knurrte.

»Du wirst ihr nicht zu nahe kommen. Geh jetzt.«

Doch Jaden grinste und schüttelte den Kopf.

»Du hast kein Vertrauen in meine Fähigkeiten, was?«

»Ich habe allgemein kein Vertrauen in dich«, erwiderte Devin. »Geht es dir um euren Kuss? Vergiss es, sie hat mit Sicherheit keinerlei Gefühle für dich. Wenn sie erst dein wahres Ich kennt, wird sie dich verabscheuen.«

Autsch. Die Worte von Devin waren harsch gewesen und Jaden wusste ganz genau, was sein Wahres ich war. Und dass er nur als Auftragskiller lebte und keine eigenen Entscheidungen treffen durfte. Er gehörte ganz und gar dem Rat.

»Tja, leider weiß ich immer was sie denkt. Lass mich zu ihr«, sagte Jaden fest und Devin zögerte, eher er andeutete, dass er die Treppe hochgehen sollte.

Nur dieses eine Mal wollte er eine eigene Entscheidung treffen. Daher lief er schnell die Treppe hinauf und ging auf die Tür von Khalida zu. Sie war verschlossen, doch das war für ihn kein Hindernis.

Durch die Kraft seines Willens öffnete er die abgeschlossene Tür und drückte die Tür auf. Hinter sich schloss er sie wieder und sah sich im Zimmer um. Die Vorhänge waren zugezogen, nur leichtes Sonnenlicht drang in ihr Zimmer.

Er entdeckte sie im Bett, sie lag zusammengerollt auf der Seite. Ihre Augen hatte sie zusammengepresst, doch er spürte, dass sie wach war. Was wollte sie damit erreichen?

Sachte setzte er sich an die Bettkante.

»Ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen«, sagte er ruhig und Khalida drehte sich zu ihm herum.

»Verschwinde. Ich möchte nicht, dass du meine Gedanken hörst.«

»Ist das wirklich das Einzige, was du willst?«, fragte er und sah sie an. Ihre grünen Augen ruhten auf seinem Gesicht und sie setzte sich auf. Die Bettdecke rutschte herunter und ein paar ihrer schwarzen Haarsträhnen fiel ihr über die Schulter.

Sie trug bereits ihren Schlafanzug.

»Ich will, dass du mich in Ruhe lässt. Alles was du je zu mir gesagt hast oder was du getan hast, hast du doch nur aufgrund meiner Gedanken getan«, sagte sie.

Doch das war nur die halbe Wahrheit. Ja, er hatte vieles getan, weil ihre Gedanken ihn dazu antrieben. Weil er wusste, was sie wollte. Aber er wollte es auch. Ihr Kuss war ungeplant gewesen. Er hatte nicht vorgehabt, sie küssen, aber das Bedürfnis, sie zu berühren war zu diesem Zeitpunkt zu groß gewesen. Die Anziehungskraft war zu groß zwischen ihnen. Er spürte es ständig. Sein Inneres sehnte sich nach einer Berührung von ihr.

»Wenn du mich ansiehst, was siehst du?«, fragte er und setzte sich anders hin. Er wollte es von ihr wissen, bevor sie ihre Erinnerungen an die letzte Stunde verlor.

Sein Bein berührte ihr Bein, welches unter der Bettdecke lag. Seine Hand lag auf dem Bett, berührte fast ihre Hand und er beugte sich leicht zu ihr. Ihr Duft stieg ihm in die Nase und benebelte seine Sinne. Sie roch köstlich und vertraut.

Sie versuchte stetig nicht zu denken. Doch umso mehr sie versuchte, nicht zu denken, umso mehr Gedanken sprudelten in seinen Kopf.

»Jemand ... der mich angelogen hat.«

»In welcher Hinsicht habe ich dich angelogen?«

Ihr viel keine Situation ein. In gewisser Weise war er derjenige, der ihr erst die Wahrheit offenbart hatte.

»Anders gefragt. Wenn du an gestern denkst, was kommt dir als erstes in den Sinn, wenn du mich siehst. Siehst du in mir dann immer noch ein Monster?«

»Das werde ich nicht beantworten«, sagte sie wie aus der Pistole Geschossen.

»Brauchst du auch nicht. Ich habe es bereits in meinem Kopf gehört. Du glaubst ja gar nicht, wie schnell deine Gedanken sind und wie langsam dein Mund ist.«

Ihr stieg die Röte ins Gesicht und breitete sich auch auf ihrem Dekolleté aus. Als sie mit der flachen Hand ausholte, fing er sie mit Leichtigkeit auf. Er führte ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre Handfläche. Und zwar genau dort, wo sie sich heute verletzt hatte. Und wo er ihr dann auch noch weh getan hatte.

»Khalida«, flüsterte er und zwang sich, sich zurückzuziehen. Das war das erste Mal, dass er sie mit ihrem Namen direkt angesprochen hatte. Er ließ ihre Hand los und legte eine Hand auf ihre Stirn. Sie wich nicht zurück und starrte ihn weiter an. Ihr Herzschlag raste, er konnte ihren Puls hören. Ihre Halsschlagader pulsierte.

Langsam schlossen sich ihre Lider. Jaden konnte sehen, wie sie gegen die Müdigkeit ankämpfte, doch er ließ nicht locker. Er verschleierte ihre Gedanken und änderte ein paar ihrer Erinnerungen. Als sie in sich zusammensackte, löste er seine Hand von ihrer Stirn und legte sie an ihren Rücken. Vorsichtig legte er sie dann hin und deckte sie zu.

Zumindest würde sie in dieser Nacht auch keinen ihrer Albträume haben. 

Khalida

Während ich meine Tasche für die Schule packte, musste ich immer wieder ins Wohnzimmer blicken.

Meine Hand strich gedankenverloren über mein Dekolleté, aber meine Halskette war nicht dort, wo sie eigentlich sein sollte.

Ich konnte mich auch nicht daran erinnern, dass ich sie abgenommen hatte. Wo hätte ich sie denn hinlegen sollen. Seufzend schnappte ich mir den Apfel aus der Obstschale und steckte ihn ebenfalls noch in meine Tasche.

»Ich bin dann mal weg«, rief ich ins Wohnzimmer und verließ dann das Haus. Nebenbei sah ich immer wieder auf mein Handy, aber Dilara hatte sich nicht bei mir gemeldet. Soweit ich wusste, war sie gestern früher gegangen.

An unserem Treffpunkt sah ich sie auch nicht. Blieb sie heute noch einmal zu Hause?
Ich wartete so lange, bis ich kaum noch Zeit hatte, bis es zur ersten Stunde klingelte. Daher machte ich mich weiter auf den Weg zur Schule und simste ihr.

»Guten Morgen, Khalida«, sagte jemand hinter mir und ich schreckte kurz zusammen. So früh am Morgen war ich noch nicht darauf eingestellt, dass mich jemand ansprach.

»Oh, hey.«

Liam kam auf mich zu und lächelte zur Begrüßung.

»Wollen wir zusammen zu Englisch gehen?«

Da Dilara sich immer noch nicht gemeldet hatte, nickte ich Liam zu.

»Klar, gern.«

Irgendwas war seltsam. Hatte ich einen Streit mit Dilara gehabt? Oder warum hatte ich das Gefühl, dass sie mir aus dem Weg ging? Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen? Aber für was?

»Trägst du heute gar nicht deine hübsche Kette?«, fragte er auf einmal und meine Hand glitt automatisch zu meinem Hals. Ohne sie fühlte ich mich nackt und fremd. Sonst spürte ich immer das kühle kleine Schmuckstück auf meiner Haut.

»Hm, ich weiß nicht mehr, wo ich sie hingelegt habe«, murmelte ich und lächelte verlegen. Normalerweise war ich nicht so leicht vergesslich, vor allem nicht, wenn es um wichtige Gegenstände ging. Schließlich war sie mein einziges Geschenk meines Vaters. Kurz hielt ich inne, meine Schläfe pochte. Ich hatte heute vermutlich zu wenig getrunken.

»Alles okay?«, fragte Liam.

»Es ist nichts. Nur leichte Kopfschmerzen.«

Als wir den Klassenraum erreichten, fühlte ich mich nach wenigen Minuten schon ein bisschen besser. Liam saß an dem Tisch links von meinem und legte seine Sachen ab. Mir fiel auf, dass heute die bösartige Blondine gar nicht in der Schule war. Umso besser, dann war es zur Abwechslung mal ein entspannter Schultag.

Auf meine Nachricht hatte Dilara immer noch nicht geantwortet, daher simste ich ihr noch einmal, ob sie in der Pause mit mir in die Cafeteria will. Normalerweise konnten wir über alles reden, was war diesmal der Grund für unseren »Streit«?

Das musste ich sie auf jeden Fall in der nächsten Stunde fragen.

Nach der Stunde nahm ich direkt meine Tasche und meine Jacke und flitzte in den Flur. Dilara hatte mir zurück gesimst, dass sie in der Bibliothek sei und ihre Hausaufgaben in der Pause machen wollte. Das hatte sie schon ewig nicht mehr gemacht. Hatte ich etwas Dummes angestellt und wusste es nicht mehr?

Aber gestern war doch an sich ein ganz normaler Tag.

Ich öffnete die Tür zur Bibliothek und schaute beim Herumschleichen durch die Gänge. Keiner kam mir hier so richtig bekannt vor, daher steuerte ich geradewegs die Schreibtische an. Und an einem von ihnen sah ich dann Dilara sitzen. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren.

Da ich sie nicht erschrecken wollte, setzte ich mich ihr gegenüber und legte meine Hand vorsichtig auf ihr Blatt Papier. Als sie aufblickte, nahm sie die Kopfhörer heraus und tippte auf ihrem Handy herum, bis die Musik aus war.

»Hey, Khalida«, sagte sie, doch sie wirkte überhaupt nicht froh darüber, mich zu sehen.

»Hey, was ist los? Du gehst mir doch aus dem Weg, oder etwa nicht?«

Dilara atmete genervt aus.

»Ja, ich gehe dir aus dem Weg. Gestern ist Granny gestorben und du hast dich nicht einmal bei mir gemeldet«, sagte sie enttäuscht und ich nahm meine Hand wieder weg.

»Oh mein Gott. Ich wusste nicht, dass sie gestorben ist. Das tut mir sehr leid«, erwiderte ich ihr. Doch sie schien mir nicht zu glauben.

»Aber ich habe dir einen Zettel hinterlassen im Klassenzimmer.«

»Es tut mir leid, ich war gestern nicht im Klassenzimmer. Ich hatte von Penelopé erfahren, dass du früher gegangen warst und dann ging es mir irgendwie nicht gut. Danach bin ich nach Hause geschickt worden«, erklärte ich und hatte ein unangenehmes Bauchgefühl. Es war irgendwie nicht richtig, was ich ihr erzählte, aber ich wusste nicht, warum. Schließlich war es das, was gestern vorgefallen war.

»Ich verspreche dir, wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich dich definitiv angerufen. Du weißt, dass ich mit Granny zwar nicht immer ein gutes Verhältnis hatte, aber mir tut es trotzdem leid«, versuchte ich ihr zu zeigen, dass es mir aufrichtig leidtat. Ihre Granny war eine seltsame alte Dame gewesen. Sie hatte mir erzählt, dass sie mal einen Vampir geliebt hatte.

Kurz spürte ich schon wieder einen Druck in meinen Schläfen, doch der Schmerz verging schnell wieder.

»Schon okay. Eigentlich hattet ihr gar kein Verhältnis«, gab mir Dilara auf einmal schnippisch zur Antwort, räumte ihre Sachen zusammen und stand dann auf. Was hatte ich denn Falsches gesagt? Ich sah ihr nach, bis sie die Bibliothek verlassen hatte und seufzte. Dann griff ich nach meiner Wasserflasche und trank einen ausgiebigen Schluck.

Kurz schloss ich die Augen und als ich die Flasche wieder absetzte und die Augen öffnete, saß plötzlich Jaden vor mir.

»Heilige Sch...«, wollte ich fluchen, doch in der Bibliothek sollte man es nicht unbedingt tun, wenn ein Lehrer in der Nähe war.

»Zur Hölle«, flüsterte ich dann doch und versuchte, meine Überraschung zu verstecken.

»Tja, ich hab dich scheinbar erschreckt«, sagte er leise und ein kleines Grinsen huschte über sein Gesicht. Schön, dass er darüber lachen konnte.

»Hast du«, bestätigte ich und war irritiert darüber, dass er sich hier zu mir gesetzt hatte. Es war schließlich nur ein Kuss gewesen. Hatte es einem von uns beiden mehr bedeutet?

In seinen grauen kühlen Augen konnte man nicht einmal seine Gefühle lesen. Was dachte er über uns? Unseren Kuss?

»Was treibst du hier?«, fragte ich, da er nichts mehr sagte.

»Lernen. Was macht man denn sonst hier.«

Wo er auch wieder Recht hatte.

»Wo hast du denn heute deinen Anhänger gelassen?«, fragte er und ich seufzte. Hatte ich meine Halskette so oft jemanden gezeigt? Oder war sie versehentlich Mal herausgerutscht?

»Ich weiß es nicht. Gestern hatte ich sie noch und heute habe ich sie nicht gefunden«, sagte ich und stand auf. Was interessierte sich denn heute jeder für meine Halskette?

War sie vielleicht ein kleines Vermögen wert?

Nun ja, es zu verkaufen, kam mir nicht in den Sinn.

Oh, der Schmerz kehrte augenblicklich in meinen Schläfen zurück und ich musste mich an der Stuhllehne festhalten. Was war denn heute nur los? Hatte ich mir vielleicht eine Erkältung eingefangen? Aber ich fühlte mich sonst nicht kränklich.

»Ist dir schwindelig?«, fragte Jaden und ich spürte, wie seine Hand sich an meinen Rücken legte. Diese kleine Berührung reichte schon aus, um mich nervös zu machen. Und mir kam die Frage, ob dieser Kuss nur einmalig war.

Ich blickte in sein Gesicht und auf seine Lippen. Der Kuss ....

Nicht darüber nachdenken. Es war nichts, redete ich mir ein. Jaden mochte bestimmt keine Mädchen, die klammerten.

»Es geht schon, danke«, murmelte ich und verließ dann die Bibliothek.

»Tja, dann hoffe ich, dass du deine Halskette bald wiederfindest.«

Fragend sah ich Jaden an. Wieso folgte er mir eigentlich?

Oh stimmt, wir hatten gleich denselben Kurs.

»Wieso hoffst du es?«

»Hm? Weil ich weiß, wie es ist, wenn man etwas wichtiges verloren hat. Man kommt nicht zur Ruhe, bis man weiß, wo es ist. Und die Kette ist dir wichtig. Oder?«

»Ja, sehr sogar.«

Wir erreichten dann auch schon das Klassenzimmer und ich freute mich dennoch, dass ich Dilara sah, auch wenn sie scheinbar sauer auf mich war.

Doch als ich in den Raum sah, musste ich überrascht feststellen, dass sie bereits einen Sitznachbarn hatte. Enttäuscht ging ich zu einem anderen Tisch und setzte mich nach hinten. Direkt neben mir zog sich Jaden den Stuhl zurück und ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob ich etwas verpasst hatte. Waren wir jetzt zu einem Pärchen geworden?

Ich drehte mich zu ihm herum und wollte ihn darauf ansprechen. Allerdings kam gerade mein Onkel ins Klassenzimmer und begrüßte alle lautstark.

Es war immer noch merkwürdig ihn hier als Lehrer zu sehen. Wie kam es dazu, dass er überhaupt Lehrer wurde. Aber ich musste zugeben, dass sein Unterricht Spaß machte. Es war nicht so langweilig wie mit Mrs. Bennet.

Auf einmal spürte ich Jadens Hand in meinem Kreuz. Er hatte sie unter meine Haare gelegt und ließ sie dort liegen. Kurz sah ich zu ihm herüber, er saß lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt und beobachtete Devin. Er musste meinen Blick gespürt haben, denn Jaden sah zu mir und lächelte kurz. Süß.

Wenn er lächelte, konnte er wirklich süß aussehen. Und unglaublich attraktiv.

Okay. Wo war meine Konzentration?

Ich sah wieder zu Devin, der eine Frage gestellt hatte, und ich hob die Hand. Genauso wie alle anderen. Jedoch nahm Devin nicht mich dran und auf einer Seite beruhigte mich das, denn es sollte niemand erfahren, dass ich mit ihm verwandt war.

Nach den anderen Unterrichtsstunden konnte ich es kaum erwarten, wenn ich wieder zu Hause war. Ich hatte nicht einmal wirklich Lust auf den Tanzkurs heute. Erstens, weil ich nicht in Stimmung war. Zweitens, weil Dilara nicht mit mir sprach und drittens ...

Ein drittens viel mir nicht ein.

Ich saß allein auf einer Bank auf dem Campus und genoss das sonnige Wetter. Eigentlich hätte ich schon gern mit Dilara gesprochen, doch scheinbar wollte sie gerade wirklich nicht in meiner Nähe sein.

Seufzend warf ich die Reste von meinem Apfel in die Mülltonne und befühlte meinen Hals und mein Dekolleté. Gestern hatte ich meine Kette noch getragen, da war ich mir zu hundert Prozent sicher. Zum Schlafen gehen nahm ich sie in der Regel nicht ab. Nur zum Duschen.

Wo also hatte ich sie gestern hingelegt, bevor ich schlafen gegangen war. Wie viele Orte gab es denn schon in meinem Zimmer, wo sie liegen könnte?

Die Kopfschmerzen verstärkten sich, als ich an den gestrigen Nachmittag dachte. Das Pochen war so stark geworden, dass ich tief durchatmen musste. Und als ich aufhörte nachzudenken, vergingen die Schmerzen relativ schnell. Dann sollte ich wohl aufhören mit dem Denken.

Als es zum Pausenende klingelte, stand ich lustlos auf und schlenderte über den Campus zur Sporthalle. Ich war die Letzte, die in den Umkleideraum kam, und legte meine Tasche in die hinterste Ecke. Dilara war nicht zusehen, vermutlich war sie schon in der Halle.

»Glaub nicht, dass das schon alles war, Freak«, sagte jemand schnippisch hinter mir und ich blickte über die Schulter. Ich zog mir gerade mein Oberteil aus, als ich Penny anblickte und anfing zu grinsen.

»Ist euer Boss heute krank? Egal was sie hat, es geschieht ihr Recht! Und du kannst mir so oder so nichts, du bist eine Fliege. Und weißt du was? Penelopé ist der Kackhaufen, an dem du dich mit July aufhältst.«

Empört kreuzte sie die Arme vor der Brust. »Ich bin keine Fliege!«

Scheinbar hatte sie den Vergleich nicht verstanden, schließlich war ihr IQ gerade einmal so hoch, dass sie noch ihr Smartphone benutzen konnte.

Ich zog mich zu Ende um und verließ dann die Umkleide. Die meisten Schüler standen bereits bei Mrs. Rees und wie es schien, wartete sie noch auf die letzten von uns.

Schnell lief ich zu der Gruppe und die letzten Nachzügler aus der Umkleide trafen dann auch ein. Nur einer fehlte noch und das war Jaden. Wo blieb er denn?

»Gut, da nun fast alle anwesend sind. Bis natürlich auf die, die heute entschuldigt sind, möchte ich euch sagen, wer auf dem Winterball den Solopart tanzen wird.«
Das Flüstern unter den Schülern nahm zu und ich war überrascht darüber, dass Mrs. Rees jetzt schon eine Gruppe aussuchen wollte. Bis zum Winterball waren schließlich noch ein paar Monate Zeit. Aber aufgeregt war ich trotzdem.

»Den Solopart auf dem Winterball werden ... Jaden und Khalida tanzen. Einen Applaus für sie«, sagte Mrs. Rees und die Gruppe klatschte in die Hände. Aus dem Augenwinkel sah ich Dilara, sie klatschte ebenfalls, beachtete mich jedoch nicht. Als das Klatschen langsam nachließ und die Schüler sich aufstellten, um sich für das Tanzen aufzuwärmen, kam Mrs. Rees auf mich zu.

»Wo hast du denn Jaden gelassen«?, fragte sie mit ihrer rauchigen Stimme und blickte sich um. Auch ich sah mich kurz um, zuckte dann jedoch die Schultern.

»Ich weiß nicht. Wie kommen Sie eigentlich auf Jaden und mich?«

»Du hast im letzten Jahr schon sehr gut getanzt und ich spüre die Leidenschaft, die du beim Tanzen empfindest. Und Jaden beherrscht den Gesellschaftstanz sehr gut, das hat für mich sehr gut gepasst«, erklärte sie und deutete dann an, dass sie gleich mit den Aufwärmübungen starteten. Sie schaltete die Musikanlage an und stellte sich nach ganz vorne. Ich blieb einfach stehen, wo ich war, und schüttelte meinen Körper einmal aus.

Nach den Dehnübungen und dem Aufwärmtraining hatte ich immer noch keine Motivation zum Tanzen. Und vermutlich würde ich heute eh nicht tanzen, denn Jaden war immer noch nicht hier. Und prinzipiell brauchte man einen Tanzpartner, damit man den Gesellschaftstanz tanzen konnte. Die anderen Tanzpaare stellten sich nach Mrs. Rees Aufforderung auf, nur ich blieb als Einzige übrig und stellte mich somit an den Rand. Für den Solopart war eh eine andere Choreo vorgegeben, die uns Mrs. Rees beibringen würde. Daher war es vielleicht nicht weiter schlimm, dass Jaden die Stunden heute sausen ließ.

Während ich den anderen Paaren zusah, berührte mich plötzlich jemand an der Schulter und erschrocken drehte ich mich herum. Endlich war er da!

»Liam?«, fragte ich jedoch überrascht und er lächelte mich an.

»Hey. Wieso stehst du hier? Solltest du nicht tanzen?«

»Mein Tanzpartner ist nicht da«, murmelte ich und sah wieder zu den anderen. Es sah super aus, wie sie dort die Choreo einstudierten. Ich wünschte, ich könnte mit ihnen lernen.

»Dann spricht ja nichts dagegen, wenn du mir ein paar Schritte zeigst. Oder?«

Sollte er nicht auch einen Kurs haben?

Ich drehte mich wieder zu Liam und sah ihn skeptisch von oben bis unten an. Er trug zwar keine Sportklamotten, jedoch konnte man diese Schritte auch in normalen alltags Klamotten lernen.

»Wenn du möchtest«, sagte ich und reichte ihm meine Hand. Doch er sah sie ein paar Sekunden an. Als er meine Hand dann in seine nahm, war ich überrascht darüber, wie stark er mich anpackte.

»Du brauchst nicht so fest zu drücken.«

Ich legte meine andere Hand auf seine und lockerte sie ein wenig. Dann machte ich einen kleinen Schritt auf ihn zu und legte seine andere Hand an meine Hüfte und legte meine Hand an seine Schulter. Dann deutete ich mit dem Kopf zum Boden.

»Mit deinem rechten Fuß machst du einen Schritt nach vorn, ich mache mit meinem einen Schritt zurück. Und dann ziehst du deinen linken Fuß nach, okay?«

Er machte den Schritt, wie ich es ihm gesagt hatte, und ich führte uns in die jeweilige Richtung. Jedes Mal, wenn er den linken Fuß absetzte, nickte ich.

»Das machst du echt super.«

»Aber er kann jetzt gehen«, ertönte hinter Liam eine dunkle Stimme und wir blieben stehen. Jaden griff an Liams Schulter und zog ihn von mir weg. »Verschwinde.«

Das ließ sich Liam scheinbar nicht zweimal sagen, machte kehrt und verschwand aus der Turnhalle. Was war denn mit den beiden los?

»Ich weiß, ich bin zu spät. Aber, möchtest du trotzdem noch mit mir tanzen?«, fragte Jaden und reichte mir seine Hand. Zögerlich legte ich meine in seine und ein kleines elektrisierendes Gefühl ging durch meine Fingerspitzen.

»Wurde auch langsam mal Zeit«, flüsterte ich und Jaden zog mich an seinen Körper heran. Die Choreo für den Solopart lernten wir separat. Zuerst studierten wir gemeinsam mit den anderen die allgemeine Choreografie ein.

Bedauerlicherweise war die Tanzstunde mit Jaden viel zu schnell vorbei und ich ging zurück in die Umkleide. Für heute hatte ich dennoch genug von der Schule. Als ich gerade meine Tasche schulterte und meine Jacke vom Kleiderhaken nahm, stand Dilara neben mir.

»Ich wollte heute ins Tierheim gehen. Möchtest du mitkommen, Khali?«, fragte sie und überrascht lächelte ich sie an.

»Ja, sehr gern sogar.«

Gemeinsam verließen wir das Geländer der Schule und ich überlegte, über was wir uns unterhalten könnten. Es gab ziemlich viel, dass ich mit ihr besprechen wollte, aber sie hatte erst gestern ihre Granny verloren und ich wollte sie nicht mit unnötigen und belanglosen Problemen nerven.

Daher schwiegen wir eine Weile und ich sah mich in der Gegend um. In der Nähe des Tierheims war ich eher selten unterwegs.

»Wie geht es deinen Eltern?«, fragte ich, damit wir uns überhaupt unterhielten.

»Sie sind noch sehr traurig, aber das legt sich bestimmt bald.«

Für einen Moment sah Dilara mich mit ihren karamellfarbenen Augen an. Auch sie war noch traurig über den Verlust ihrer Granny. Automatisch legte meine Hand sich auf ihren Oberarm und ich drückte sie kurz. Sie hatte natürlich Recht gehabt, dass ich mit Granny so gut wie keinen Kontakt hatte, aber das bedeutete nicht, dass ich gefühlskalt war.

»Die Tiere werden dich ganz sicher ablenken«, sagte ich und nahm die Hand wieder runter. Dilara nickte mir lächelnd zu.

»Glückwunsch übrigens zum Solopart.«

»Oh, danke. Ich weiß nur nicht, ob ich das wirklich will«, gestand ich und spürte schon wieder diesen Kopfschmerz. Allerdings pochte es nicht nur in meiner Schläfe, sondern auch in meinem Hinterkopf. Dabei hatte ich heute schon zwei Wasserflaschen leergetrunken.

»Was? Das war immer etwas, was wir wollten! Und ich will lieber das du den Solopart tanzt als das Blondinenbiest«, sagte Dilara und brachte mich zum Lächeln. Ja, der Meinung war ich definitiv auch.

»Vielleicht könntest du den Solopart tanzen«, schlug ich vor, doch Dilara winkte mit der Hand ab und schüttelte den Kopf.

»Keine Chance. Mein Tanzpartner ist zwar gut, aber nicht so gut wie Jaden.«

»Und wenn du mit Jaden tanzt?«

Die Frage hatte ich zögerlich gestellt, denn ich wusste nicht, was Dilara von Jaden hielt und ob sie ihn überhaupt mochte. Als Mitschüler versteht sich. Nun ja, vielleicht war ich auch neugierig darüber, ob sie ihn genauso attraktiv fand wie ich.

»Unmöglich. Mit ihm werde ich definitiv nicht tanzen.«

Sie lehnte es mit einer wilden Entschlossenheit ab.

»Wieso nicht?«

Doch da schüttelte Dilara wieder den Kopf und blieb auf einmal stehen. Sie deutete mit der Hand auf den Parkplatz eines Supermarkts.

»Ist das nicht Noels Motorrad?«, fragte sie und ich sah auf den Parkplatz. Tatsächlich hatte ich mir gemerkt, wie das Motorrad von ihm aussah.

»Jap, das ist seines«, bestätigte ich und zog die Augenbrauen zusammen.

»Er kauft ja ganz schön weit weg ein.«

»Na und?«, fragte Dilara.

»Wir haben direkt um die Ecke einen großen Supermarkt. Lass uns rüber gehen«, sagte ich und ging mit Dilara über den Parkplatz zum Motorrad. Ich lehnte mich gegen die Maschine und wartete auf meinen Bruder.

»Was ist, wenn es nicht seines ist?«

»Ist es. Ich hab das Kennzeichen überprüft.«

Dilara schien überrascht zu sein. Doch seit ich Noel mit Jaden verwechselt hatte, wollte ich nicht, dass es noch einmal passierte. Daher hatte ich mir das Kennzeichen von Noel abfotografiert. So hätte ich es mir doch niemals merken können.

Ah, jetzt hatte Dilara konkret und mit Erfolg vom Thema abgelenkt. Später musste ich mit ihr auf jeden Fall noch einmal über Jaden reden. Auch wegen des Vorfalls auf dem Flur. Aber wenn mein Bruder gleich auftauchte, wollte ich nicht, dass er das mitbekam.

»Khalida?«, hörte ich dann die Stimme von Noel und drehte mich zur Seite. Er kam mit seinem besten Freund aus dem Supermarkt und trug einige Tüten mit ihm heraus.

»Hey, Noel«, sagte ich und ging auf ihn zu. Ich nahm ihm eine Tüte ab und trug sie mit zu seinem Motorrad. Dort stellte er seine Tüten ab und legte kurz einen Arm um meine Schulter. Wir hatten uns heute noch gar nicht gesehen, aber er behandelte mich, als ob wir uns wochenlang nicht gesehen hätten.

»Hallo, Marek. Ist schon eine Weile her«, begrüßte ich Noels Studentenfreund und Marek breitete die Arme aus. Die Umarmung war kurz und freundschaftlich.

»Schön dich zu sehen, Khalida. Du bist so groß geworden«, lachte er und sah dann zu Dilara. Ich nahm ihren Arm und schob sie ein wenig zu Marek.

»Marek, das ist meine beste Freundin Dilara«, stellte ich die beiden kurz vor und hatte das unbestimmte Gefühl, dass die beiden sich vermutlich öfter über den Weg laufen werden.

Sie gaben sich einander die Hand und ich fand es süß, wie Dilaras Wangen sich leicht rot färbten.

Davon abgesehen, war Marek auch ein hübscher Anblick. Seine dunkelbraunen Haare waren leicht durcheinander und seine dunkelbraunen Augen wirkten warm und herzlich.

Marek war eindeutig der Latino-Typ, seine Haut war immer leicht gebräunt. Allerdings kam seine Familie auch aus Spanien, daher war es gar nicht verwunderlich.

Ob er aktuell eine Freundin hatte?

»Wart ihr für Mom einkaufen?«, fragte ich Noel und spähte in die Tüten rein. Nudeln, Reis und ein paar Gemüsesorten waren zu sehen. Wo war der Süßkram?

»Nicht nur. Marek hatte auch einkaufen müssen«, erwiderte Noel und nahm die Tüten wieder in die Hand.

»Okay. Wir sind dann erstmal wieder weg. Haben noch etwas vor«, sagte ich schnell, nahm aus Reflex Dilaras Hand und verließ mit ihr den Parkplatz.

»Bis dann, Marek. Ist immer schön dich zu sehen!«, rief ich und Dilara winkte ebenfalls nochmal zurück.

»Warte! Ihr hättet uns auch helfen können!«, rief Noel uns hinterher, doch ich beachtete es nicht. 

Kapitel 8 - Noel

»Man, deine Schwester ist wirklich erwachsen geworden«, sagte Marek und hob die Tüten vom Boden auf. Der spanische Akzent trat nur manchmal bei seinem Kumpel hervor. Aber die meisten Mädchen fanden gerade das charmant.

»Ja, ist sie. Und du lässt deine Finger von ihr.«

»Keine Sorge. Ich habe tatsächlich ein wenig Angst vor ihr. Bist du dir denn sicher, dass sie wirklich alles vergessen hat von gestern?«, fragte Marek und sie beide verließen den Parkplatz. Noel hatte Khalida noch hinterher gesehen, ehe sie mit Dilara um einer Ecke verschwand. Wohin sie wohl unterwegs waren?

»Ich bin mir sicher. Jaden, der andere Typ, hat ihre Erinnerungen gelöscht. Und heute Morgen hatte sie zwar nur etwas verwirrt gewirkt, aber sie nannte Devin Onkel. Und sie hat uns heute Morgen wahnsinnig damit gemacht, dass sie nicht weiß, wo ihre Kette ist.«

Dieser seltsame Anhänger sollte bloß wegbleiben. Der hatte immer nur Ärger bereitet. Schon als Khalida klein war, war der Anhänger alles, was sie wollte. Mit ihm war sie immer glücklich gewesen und ohne ihn konnte sie nicht schlafen.

Nur weil er von Devin war.

»Und was wäre, wenn sie mich urplötzlich gebissen hätte?«, fragte Marek leise in Noels Richtung, doch Noel verdrehte nur die Augen.

»Sie ist kein Vampir, du Idiot«, gab Noel dann lachend zurück. Allerdings dauerte es nicht mehr lange, bis sie wohl zu einem wurde.

Damals hatte er seine kleine Schwester gehasst. Und er hatte es gehasst, wie sie ihn mit ihren großen grünen Augen angesehen hatte und ihre kleinen Finger nach ihm ausgestreckt hatte. Er hatte schon immer gewusst, dass sie nur seine Halbschwester war. Und als er damals Devin gesehen hatte, wollte Devin sich mit ihm verstehen und ein Ersatzvater sein. Aber Noel hatte ihn auch gehasst, denn wegen Devin hatte seine Mutter seinen Vater verlassen.

Und eigentlich hatte sich Noel vorgenommen, Khalida das Leben zur Hölle zu machen. Aber im Grunde hatte Khalida keine Schuld, schließlich war sie nur ein Baby gewesen. Und dann hatte Noel angefangen, seine kleine Halbschwester zu lieben, und er wollte ihr ein guter großer Bruder sein.

Da Noel von Anfang an wusste, dass Devin ein Vampir war, war er sich nicht sicher, ob Khalida auch einer sein würde. Aber das hatte er über die Jahre verdrängt. Bis zu dem Zeitpunkt als Devin plötzlich wieder vor der Tür stand.

»Außerdem würde Devin auf sie aufpassen, wenn sie die Wandlung macht. Also besteht keine Gefahr«, schwafelte Noel einfach weiter, bis sie zu Hause ankamen und Irina ihnen zwei der Tüten abnahm.

In der Küche half Irina, den beiden die Tüten auszupacken.

»Danke das ihr einkaufen wart. Ich muss so viel Arbeit nachholen, dass ich nicht hier weg konnte«, sagte sie und Noel sah seiner Mutter die Erschöpfung an. Eigentlich wollte sie sich ein paar Tage wegen Khalida freinehmen, doch in ihrer Firma war ungemein viel Arbeit angefallen und so hatte sie es mit nach Hause genommen.

»Das ist kein Problem, Ms. Blair«, sagte Marek lächelnd und legte einige Zutaten zur Seite, die sie zum Kochen brauchten.

Noel beobachtete seine Mutter und konnte nicht abstreiten, dass ihr die ganze Situation ziemlich an die Nieren ging. Jeden Tag kämpfte sie damit stark auszusehen und machte sich damit selbst fertig. Und Noel konnte Khalida dafür nicht schuldig machen. Es war einzig und allein Devins schuld, denn er hatte erst diese Situation heraufbeschworen, als er seine Mutter kennenlernte.

Wenigstens war Khalida dann erstmal nicht allein zu Hause, denn Noel war meist mit Marek unterwegs. Ersten, weil bald die ersten Prüfungen anstanden, und zweitens wollte er Devin nicht allzu oft über den Weg laufen.

Als Irina die Küche verließ, beugte Noel sich zu Marek.

»Du weißt, ich vertraue dir, also komm nicht auf die grandiose Idee Devin zu fragen, ob er tatsächlich ein Vampir ist. Der würde dir den Kopf abreißen, nur allein schon deswegen, weil du das Geheimnis kennst. Und dann würde er mir den Kopf abreißen«, flüsterte Noel und bereitete dann das Essen vor.

Marek war neben ihm blass geworden und zeigte mit den Fingern einen Reißverschluss an seinem Mund. Imaginär schmiss er noch den Schlüssel weg.

Lachend klopfte Noel seinem Kumpel auf den Rücken. Devin war zwar ein Arschloch, aber er tötete keine Menschen, die das Geheimnis kannten. Aber es war schön, zu sehen, dass er seinen besten Freund damit ärgern konnte.

Khalida

Die Tiere in dem Tierheim waren unfassbar niedlich. Und es gab einen bestimmten Grund, weshalb Dilara so oft hierher kam. Sie wollte einmal so werden wie die Tierheimleiterin. Dilaras größter Wunsch und Traum, Tierärztin in einem Tierheim zu sein.

Im Eingangsbereich kam uns ein schwanzwedelnder Shar Pei namens Rasputin entgegen. Sobald er Dilara sah, rannte er auf sie zu und sprang sie an. Er leckte wie verrückt über ihre Hände und winselte, bis sie sich auf ein Knie niederließ und ihn kräftig kraulte.

»Hey Großer«, sagte sie und streichelte ihn ausgiebig. Als Dilara sich wieder aufrichtete, kam Rasputin zu mir und drückte seine Schnauze an meinen Oberschenkel. Auch ich streichelte ihn am Kopf und konnte kaum fassen, wie niedlich er aussah. Da ging mir das Herz auf.

»Hallo Dilara«, begrüßte uns die Tierheimleiterin, als sie aus einem anderen Gang kam.

»Ich hatte heute gar nicht mit dir gerechnet.«

»Hallo Ms. Marilyn«, begrüßten wir sie und Rasputin ging sofort zu ihr und setzte sich neben ihr Bein. »Es war auch eher eine spontane Idee. Aber ich konnte über die Sommerferien nicht herkommen und habe die Tiere einfach vermisst.«

»Es freut mich auf jeden Fall, dass du hier bist. Und du selbstverständlich auch Khalida.«

Ms. Marilyn drehte sich zum Empfangstresen und nahm sich eine Akte und sah hinein, dann blickte sie wieder zu uns.

»Wenn ihr wollt, könnt ihr euch gern umsehen. Die Tiere sind verpflegt, daher habe ich gar nichts für dich zu tun Dilara«, sagte Ms. Marilyn und lächelte entschuldigend.

»Das macht nichts. Wir sehen uns einfach nur um«, erwiderte Dilara und strahlte förmlich.

»Gut, ich muss dann wieder. Habt viel Spaß.«

Damit ging Ms. Marilyn auch schon wieder durch die Tür in den nächsten Gang und ließ uns hier stehen.

Da Dilara, mittlerweile seit über einem Jahr hierherkam, kannte sie das Tierheim wie ihr eigenes zu Hause. Ich folgte ihr und sah mir die vielen süßen Tierchen an.

Wir gingen durch eine Tür mit der Aufschrift: Kleintiere. Und dahinter befand sich ein flauschiges Paradies. Hasen, Meerschweinchen, Hamster, Mäuse.

»Oh mein Gott«, schwärmte ich vor mich hin, als ich einen süßen kleinen schwarzen Hasen sah, der sich gerade die Ohren putzte.

Dilara stand neben mir und beobachtete ebenfalls das süße Häschen.

Da viel mir unser vorheriges Gespräch wieder ein. Hier waren wir ja mehr oder weniger ungestört.

»Ich wollte mir dir über Jaden reden«, fiel ich mit der Tür ins Haus und wartete auf eine Reaktion von Dilara. Aber sie schwieg und ich wusste nicht, ob es einfach ein schlechter Zeitpunkt war.

»Bist du sauer auf mich?«, fragte ich vorerst und folgte Dilara durch den Gang. Oft sah ich in die Käfige und legte meine Hand an die Stangen. Sie waren so klein und niedlich und es war unfair, was vielen von den kleinen Wesen geschehen war.

»Ich war sauer«, sagte sie dann und drehte sich zu mir herum.

»Du hast mir nichts von dir und Jaden erzählt.« Im Grunde gab es da auch nicht viel zu erzählen.

»Ich habe Gerüchte über euch gehört.« Gerüchte?

»Und was für welche?« Dilara zuckte die Schultern und atmete hörbar aus.

»Das ihr euch geküsst hättet.« Tja, da war was an dem Gerücht dran.

»Das stimmt«, sagte ich und ging weiter durch den Gang. »Es war ein Kuss. Auf dem Schulflur. Er hat mir eine Cola gekauft, als ich während der Stunde raus musste. Und urplötzlich hat er mich geküsst.«

Dilara öffnete eine Tür und wir verließen das flauschige Paradies. Als wir im nächsten Gang standen, entschied sich Dilara für den rechten Flur und ging weiter.

»Wieso hast du mir nichts erzählt gestern?«

Gestern ....

Irgendwie konnte ich mich nicht mehr richtig an gestern Nachmittag und Abend erinnern, es war, als hätte ich gestern nach der Schule einfach nur noch geschlafen.

»Ich hätte es dir auf jeden Fall noch erzählt, aber wir hatten uns gestern nur kurz gesehen. Und dann wurde ich direkt nach Hause geschickt.«

Mein Kopf pochte und meine Schultern verspannten sich. Hatte ich gestern Abend etwas gegessen? Wie war ich eigentlich von der Schule aus nach Hause gekommen?

»Das verstehe ich. Und was war gestern los? Wieso wurdest du nach Hause geschickt?«

Tja, wenn ich das wüsste.

»Es ging mir nicht gut, das ist alles was ich weiß«, murmelte ich und ein Schwindel überkam mich. Mit einer Hand stützte ich mich an der Wand ab und schloss kurz die Augen. Von Stunde zu Stunde wurde es schlimmer.

»Khalida? Geht es dir nicht gut?«, fragte Dilara und ich nahm die Hand von der Wand und lächelte. »Nur Kopfschmerzen. Es geht schon wieder.«

»Oh, wow!«, sagte plötzlich jemand vor uns und Dilara und ich blickten sofort nach vorne.

Das konnte doch nicht wahr sein.

»Penelopé, was machst du denn in einem Tierheim?«, fragte Dilara und ich fing spöttisch an zu lachen. Sie war wirklich immer in den ungünstigsten Zeitpunkten am falschen Ort.

»Nichts was euch angeht. Aber zufällig sucht man sich in einem Tierheim ein Haustier aus und schenkt ihm ein neues zu Hause.«

Wow, so viel Herz hatte ich dem Biest gar nicht zugetraut. Und es überraschte mich.

»Und? Wie geht es deinem Herzbuben?«, fragte sie mich und grinste höhnisch. Mein Kopf schwirrte noch mehr und ich musste den Schwindel wegblinzeln.

Ihr Mund.

Da stimmte etwas mit ihren Zähnen nicht!

Doch so schnell wie der Gedanke gekommen war, verschwand er auch schon wieder. Was passierte hier? Weshalb war ich so verwirrt?

Und ehe ich reagieren konnte, gaben meine Beine nach und ich sackte auf den Boden.

»Khalida!«

Besorgt kam Dilara zu mir und kniete sich neben mich.

»Was ist los? Hast du Schmerzen?«

»Mein Kopf«, murmelte ich und hob wieder den Blick. Jedoch war Penelopé nicht mehr da. Sie war einfach gegangen. Verflucht, was war nur los?

Dilara half mir auf die Beine und legte stützend ihren Arm um meine Taille. Dann gingen wir den Weg zum Empfang wieder zurück und Dilara setzte mich dort auf ein Sofa. Nach ein paar Minuten reichte sie mir ein Glas mit Wasser.

Aber das machte meine Kopfschmerzen nicht besser.

»Ich sollte nach Hause«, murmelte ich.

»Soll ich Noel anrufen? Oder deine Mom?«, fragte Dilara und strich beruhigend über mein Knie. Ihre Besorgnis war extrem offensichtlich und das bereitete mir selbst Sorgen. Sie war doch diejenige, die ich beschützte. Nicht sie mich.

»Nein, das geht schon«, sagte ich und stellte das Glas ab. Dann versuchte ich, sie anzulächeln, und stand von dem Sofa auf.

Zumindest konnte ich mich wieder auf meinen Beinen halten.

»Ich bringe dich aber nach Hause«, sagte sie entschlossen und hakte ihren Arm unter meinen. Dann verließen wir das Tierheim und gingen den Weg wieder zurück.

An der Ecke zum Supermarkt brauchte ich dann doch eine kleine Pause. Die Sonne machte sich immer noch mit ihren warmen Endsommerstrahlen bemerkbar und verschlimmerte meine Kopfschmerzen.

Auf einer Parkbank setzte ich mich und atmete erschöpft aus.

»Stehst du eigentlich auf Jaden?«, fragte sie plötzlich und unvorbereitet. Irgendwie hatte ich mir darüber noch keine richtigen Gedanken gemacht.

»Ich weiß nicht. Er ... sieht gut aus und er küsst ziemlich gut«, gestand ich und Dilara setzte sich neben mich. Das hier war ein Mädchenklatschthema und ich war froh, dass wir darüber sprachen, denn dann konnte ich sie um Rat fragen.

»Was denkst du über Jaden? Findest du, dass er nett ist?«, fragte ich sie und einige Sekunden schwieg sie. Dann zögerte sie.

»Keine Ahnung. Er ist ziemlich still und geheimnisvoll. Aber das magst du ja an den Typen. Wenn ich so an den letzten aus der Mittelstufe denke.«

Es brachte mich zum Kichern. Oh ja, der Typ aus der Mittelstufe. Der war süß. Frisch aus einer anderen Stadt hergezogen, hatte starke familiäre Probleme und wollte sich mit mir ablenken. Bis ich das gerafft hatte, war er noch mit zwei anderen Mädchen ausgegangen.

»So einen Fehler will ich nicht wiederholen«, sagte ich daher. Denn ich wollte nicht das Ersatzmädchen sein. Wenn, dann wollte ich jemanden kennen lernen, der mich wirklich wollte, nur mich allein.

Ich seufzte und lächelte Dilara an.

»Vermutlich hast du Recht und wir treffen unsere Traummänner erst auf der Uni. Daher bete ich, dass das letzte Schuljahr einfach schnell vorbeigeht.«

Dilara nickte mir zu und nahm dann meine Hand.

»Und was ist mit Mr. Ravyn?«, fragte sie und ich zog die Augenbrauen hoch.

»Oh, nein!«, rief ich und schüttelte den Kopf. »Devin ist mein Onkel.«

Urplötzlich ging es mir schlechter.

»Mist«, fluchte ich und war froh darüber, dass ich bereits auf der Bank saß.

»Khali! Es wird schlimmer, oder?«

Ich nickte langsam und versuchte mich von der Bank zu erheben. Doch ich konnte mich nicht halten und Dilara packte mich am Arm und bewahrte mich vor einem Sturz.

»Ich rufe gleich einen Krankenwagen«, sagte sie, doch ich schüttelte den Kopf.

»Nein. Meine Mom würde sich nur Sorgen machen. Es sind nur Kopfschmerzen.«

»Von wegen. Das ist mehr als nur ein Kopfschmerz.«

Zu meinem Glück rief sie nicht den Krankenwagen und führte mich stattdessen langsam über den Parkplatz des Supermarkts.

Ich versuchte, mich auf den Weg zu konzentrieren und einen Fuß vor den anderen zu setzen, und bemerkte nicht, wie uns jemand auf einmal den Weg verstellte.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte Jaden uns und betrachtete mich argwöhnisch.

»Ich bringe Khalida nach Hause. Sie meinte, dass es ihr seit gestern nicht so gut geht«, sagte Dilara und Jaden machte einen Schritt auf uns zu.

Als er seine Hand nach mir ausstreckte, wollte ich zurückweichen. Aber ich war zu langsam und er legte seine Hand an meine Wange und sah mir in die Augen.

»Was ... hast du vor?«, fragte ich ihn.

»Geh langsam nach Hause und ruh dich aus. Okay?« Dann sah er zu Dilara. »Pass gut auf sie auf.«

Wieso hatte ich das unbestimmte Gefühl zu flüchten? Weshalb wollte ich so schnell von Jaden weg, wie ich konnte?

»Lass uns gehen«, murmelte ich zu Dilara und ging mit ihr an Jaden vorbei.

»Geht’s?«, fragte sie, als wir Jaden hinter uns ließen und ich nickte. Es war seltsam. Vorhin hatte ich noch darüber nachgedacht, ob ich etwas für ihn empfand. Doch nun, wo ich ihn gesehen hatte, da hatte ich Angst.

Was zum Teufel war gestern passiert?

Während wir über den Parkplatz gingen, konnte ich im Augenwinkel einen gelben Blitz ausmachen, der viel zu schnell auf uns zukam. Mit einer schnellen Reaktion hatte ich Dilara nach hinten geschubst und sie fiel auf den Boden und mein Blick glitt zur Einfahrt.
Durch die Erkenntnis, dass mich das Auto nicht verfehlen würde, versuchte ich zurückzuweichen. Aber meine Beine fühlten sich zu schwer an. Genauso wie mein Körper und ich war einfach nicht schnell genug. Ich hörte noch, wie das Auto hupte, und im selben Moment erwischte es mich mit voller Wucht.

Ich rollte auf die Motorhaube gegen die Windschutzscheibe und mein Kopf traf unsanft den Rahmen des Glases. Meine kurze Jacke verfing sich in den Scheibenwischern, während der Wagen endlich eine Vollbremsung hinlegte. Allerdings rollte ich von der Motorhaube wieder herunter und fiel mit dem Rücken auf den Betonboden.

Noch während mein Bewusstsein immer mal wieder schwand, hörte ich die Schreie auf dem Parkplatz. Ich hätte auch gern geschrien. Vor Schmerz. Doch der Unfall hatte mir die ganze Luft aus den Lungen gepresst.

Ah, ich konnte mich nicht bewegen. Mir tat alles weh.

Das Einatmen viel mir plötzlich schwer und meine Lunge brannte.

»Ruft einen Krankenwagen!«, schrie jemand und ich spürte eine Hand an meiner Schulter. Ich wurde leicht hin und her geschwenkt. Der Schmerz schoss durch meinen gesamten Körper. Meine Augen schlossen sich, öffneten sich wieder und schlossen sich wieder.

»Khalida!«, hörte ich Dilara neben mir schluchzen.

»Nicht ... weinen«, krächzte ich und als ich dann die Augen wieder öffnete, sah ich Jaden bei mir knien.

»Was ...«, doch ich konnte nicht mehr. Es tat zu sehr in meiner Lunge weh.

»Nicht reden«, sagte er und seine Stimme zitterte. Ich wollte ihm sagen, dass es wehtat, aber ich brachte kein Wort heraus. Ich wurde panisch.

Mein Traum. Mein Albtraum. Ich starb.

Jaden legte eine Hand an meine Wange und strich vorsichtig die Tränen weg. 

Kapitel 9 - Jaden

In seinem ganzen Leben hatte Jaden noch nie so große Angst um einen Menschen gehabt. Wenn er doch nur bei ihr geblieben wäre, dann hätte er den Unfall verhindern können.

Er wischte ihre Tränen weg und bemerkte, dass sie ziemlich viel Blut verlor. Als sie das Bewusstsein verlor, setzte sein Herz kurz aus. Doch sie war noch nicht gestorben. Noch nicht.

Dabei hatte er gestern noch großkotzig gesagt, dass er auf ihre Wandlung warten würde.

Verflucht! Er konnte sie so nicht sterben lassen.

»Ich bringe sie ins Krankenhaus!«, rief er und wollte Khalida auf die Arme nehmen. Doch Dilara hielt ihn heulend am Arm fest.

»Aber ... der Krankenwagen ... kommt gleich«, schluchzte sie.

Der Krankenwagen war zu langsam. Selbst wenn die Menschen hier eintrafen, könnte es für Khalida zu spät sein.

»Vertrau mir, Dilara. Ich bringe sie ins Krankenhaus und ich werde schnell sein.«

Dilara sah von ihm zu Khalida und zuckte die Schultern. Diese Situation war zu viel für sie.

»Aber ... sie verliert so viel Blut.«

Das war Jaden bewusst und das war ein weiterer Grund, weshalb er Khalida schnell ins Krankenhaus bringen wollte.

Daher hörte er einfach nicht mehr auf die Menschen, nahm Khalida auf seine Arme und drückte sie an sich. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, ihre Arme hingen schlaff herunter. Er spürte, wie ihr Blut ihm über die Hände lief. Gott, sie war schwer verletzt am Kopf, das Blut floss über ihr Gesicht und die Wange hinab.

Dann eilte er vom Parkplatz und lief um die nächste Ecke. Sobald er nicht mehr von den restlichen Menschen gesehen wurde, lief er mit der Geschwindigkeit eines Vampirs direkt zum Krankenhaus.

Es war das erste Mal, dass er bereute, ein Vampir zu sein. Zwar war er schnell. Doch ihr Blutgeruch erweckte in ihm den Hunger und seine Fänge pochten in seinem Zahnfleisch. Doch das Letzte, was er jetzt wollte, war, ihr Blut zu trinken. Denn dann würde er sie töten. Er würde sie komplett blutleer trinken.

Vor der Notaufnahme verlangsamte er seinen Schritt ein wenig und betrat dann das Krankenhaus.

»Ich habe eine Verletzte!«, rief er und die Schwestern und Ärzte kamen auf ihn zu, als sie Khalida in seinen Armen sahen. Er selbst war nicht verletzt, aber ihr Blut klebte an seiner Kleidung und an seinen Händen.

Ein Bett wurde zu ihm geschoben und er legte Khalida vorsichtig darauf ab.

»Was ist passiert?«, fragte ein Arzt und sah Khalida von oben bis unten an.

»Autounfall. Sie wurde überfahren.«

Die Schwestern und Ärzte verschwanden sofort mit ihr in einem weiteren Gang und untersuchten sie bereits auf dem Weg dorthin. Jaden sah ihr nach und betete zur Göttin, dass Khalida nicht auf dem OP-Tisch starb.

Eine Schwester kam auf ihn zu und hatte ein Klemmbrett bei sich.

»Ich weiß, es ist gerade nicht leicht für Sie, aber können Sie mir sagen, wie sie heißt?«, fragte die Schwester und Jaden wischte sich unbewusst Khalidas Blut an der Kleidung ab. Er mochte es nicht, ihr Blut an seinen Händen zu haben.

»Sie, äh«, stammelte er und versuchte sich, auf die Schwester zu konzentrieren.

»Ihr Name ist Khalida Blair. Wir gehen in dieselbe Schule«, sagte er. Die Schwester führte ihn in einen Wartebereich und kritzelte etwas auf das Papier. Dann setzte sie sich neben ihn.

»Alles wird gut. Khalida ist in den besten Händen. Haben Sie vielleicht eine Telefonnummer von ihren Eltern?«

»Nein.«

Die Schwester nickte bedächtig und ließ ihn dann allein im Wartebereich zurück.

Jaden hatte kein Vertrauen in die Menschen. Genau genommen hatte er Menschen schon immer gehasst. Und eigentlich hatte er sich nie etwas daraus gemacht, ob ein Mensch starb oder nicht. Allerdings war Khalida nicht wirklich menschlich. Nur teils.

Das bedeutete aber auch, dass sie zu seiner Spezies gehörte. Und aus diesem Grund hatte er sie auch versucht zu retten.

Stirnrunzelnd holte er ihr Smartphone aus seiner Tasche. Er versuchte, es anzuschalten, damit er vielleicht doch eine Nachricht schreiben konnte. Allerdings ließ sich das Handy nicht mehr einschalten. Verdammt.

Jaden hatte weder die Handynummer von Devin, noch hatte er die von Dilara.

Sollte er zu Devin rennen und mit ihm reden? Oder eine Nachricht hinterlassen? Aber er wollte Khalida nicht allein im Krankenhaus bei den Menschen lassen.

Jaden wollte fluchen, etwas zerstören, nur damit er nicht den Autofahrer aufsuchte, um ihn zu töten. Khalida hätte so etwas bestimmt nicht gewollt. Für einen kurzen Moment musste Jaden schmunzeln. Selbst jetzt hatte er das Gefühl, dass er ihre Gedanken kannte.

Aber seit sie ihr Bewusstsein verloren hatte, hörte er nichts mehr. Das beunruhigte ihn tatsächlich.

Um sich irgendwie abzulenken, nahm er sich eine der Zeitschriften und blätterte darin herum, obwohl es ihn überhaupt nicht interessierte. Und auf die Artikel konnte er sich so oder so nicht konzentrieren.

Selbst nach einer halben Stunde war noch keiner vom Krankenhauspersonal zu ihm gekommen, um ihm einen Zwischenstand zu schildern. Lebte Khalida noch?

Plötzlich rannte ein kleines Mädchen in den Wartebereich und drückte einen Teddybären an sich. Sie schaute sich nach einem freien Platz um und entdeckte dann Jaden.

»Bist du verletzt?«, fragte sie mit ihrer hohen Stimme und unterzog Jaden mit einem forschenden Blick. Scheinbar hatte sie das Blut an seiner Kleidung entdeckt.

»Nein. Mir geht es gut«, antwortete er und legte seine Ellbogen auf seine Knie und beugte sich leicht zu dem kleinen Mädchen.

Ihre hellen braunen Augen betrachteten ihn eingehend.

»Wieso bist du dann hier?«

Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Und eigentlich wollte er auch nicht mit einem Kind reden. Doch dieser ehrliche Blick des kleinen Menschen ging Jaden ziemlich nahe. Seit wann machte Jaden sich etwas aus den Menschen?

»Eine Freundin hatte einen Unfall«, erzählte er dann und verfluchte sich zugleich, denn Khalida war keine Freundin. Erst gestern hatte sie ihm noch gesagt, dass sie ihn hasste. Auch, wenn ihre Gedanken anderer Meinung waren.

»Oh, das tut mir leid«, bedauerte das kleine Mädchen und setzte sich neben ihn auf den Stuhl und legte eine Hand auf seinen Arm. Ganz so, als wollte sie ihn trösten und das überraschte Jaden tatsächlich.

»Ich bin hier, weil ich am Hals operiert werde«, erzählte sie und deutete auf ihren kleinen schmalen Hals.

Er nickte ihr nur zu und sah dann auf den Boden vor sich, er wollte hier raus. Es roch nach Blut. Zu viel Blut und er hatte es gerade so geschafft, seinen Hunger bei Khalida zurückzuhalten. Noch sehr viel länger könnte er es hier nicht aushalten.

»Kommt deine Freundin denn gleich wieder?«, fragte das Mädchen und spielte mit ihrem Teddy, dessen Arme sie verschränkte.

»Nein. Ich denke nicht.«

»Bist du traurig?«

Darüber musste Jaden erst einmal nachdenken und in seinem Inneren nach Gefühlen forschen, die er abgestellt hatte. Aber ja, er war definitiv ein wenig traurig. Daher nickte er der Kleinen zu.

»Ist sie ... deine feste Freundin?«

Sie hatte sich leicht zu ihm gebeugt und geflüstert. Verstand sie eigentlich selbst, was sie ihn da fragte?

»Nein. Ist sie nicht.«

In seinen eigenen geflüsterten Worten konnte er Trauer hören. Wünschte er sich denn, dass es so wäre? Das war komplett unmöglich!

Er hatte zwar ihr Leben gerettet, zumindest hoffte er es, doch die Wandlung stand ihr noch bevor. Und er hatte seinen Auftrag gefährdet. Wenn Walther davon erfuhr, dann konnte sich Jaden auf jeden Fall von seinem Kopf verabschieden. Verflucht, für diesen Mischling ging er ganz schön weit.

Allerdings machte ihm das seltsamerweise nichts aus. Ihm war es tatsächlich sogar egal, dass er einen Vertragsbruch beging.

»Deine Freundin ist bestimmt wunderschön und klug«, strahlte das kleine Mädchen neben ihm und holte ihn mit ihren Worten wieder aus seinen Gedanken. Und ja, selbst Jaden musste sich eingestehen, dass Khalida wahnsinnig hübsch war.

»Marie?«, rief eine Frauenstimme und das kleine Mädchen rutschte vom Stuhl herunter. Dann winkte sie Jaden zu und verschwand aus dem Wartebereich.

Seufzend stemmte Jaden den Kopf in die Hände. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ihr das Leben zu retten. Umso öfter er die Situation durchging, desto mehr versteifte er sich darauf, dass es eine Kurzschlussreaktion war. Es waren ihm nur zwei Optionen geblieben. Entweder ließ er sie sterben und saugte nebenbei noch ihr Blut aus ihrem Körper oder er rettete sie und spielte dabei mit dem Feuer.

Er musste sich beruhigen, denn nur dann konnte er wieder klar denken.

Als eine Hand seine Schulter berührte, öffnete Jaden seine Augen, die er für einige Minuten geschlossen hatte. Er blickte dem Arzt entgegen, der scheinbar direkt aus dem OP kam. Denn sein blauer OP-Kittel war blutbefleckt und das brachte Jaden etwas aus dem Konzept.

»Es tut mir leid«, fing der Arzt an und Jadens Herz krampfte sich zusammen und obwohl er noch saß, wurde ihm schwindelig. Wieso empfand er Wut und Schmerz bei Khalida? Er hatte im Grunde nichts mit ihr zu tun. Dennoch wollte er sie nicht verlieren.

»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Khalida den Eingriff überlebt hat. Ich wollte sie nicht verunsichern«, fügte der Arzt hinzu und Jaden ließ den angehaltenen Atem entweichen. Einen Moment lang hatte Jaden Mordlust verspürt. Er wollte den Autofahrer gegen die Windschutzscheibe werfen und mit seinem Körper das Auto zertrümmern. Allerdings vergrub Jaden diese Emotionen und stand vom Stuhl auf.

»Wie geht es ihr jetzt?«, fragte Jaden und der Arzt wies mit der Hand in den Flur, auf eine Tür. Jaden folgte ihm und der Arzt zog nebenbei seinen blutverschmierten Kittel aus und reichte ihm einer vorbeigelaufenen Schwester.

»Haben Sie die Möglichkeit Khalidas Eltern zu benachrichtigen?«, fragte der Arzt und Jaden schüttelte den Kopf. Eigentlich rechnete er damit, dass Dilara sich bereits bei Khalidas Eltern gemeldet hatte. Vermutlich riefen sie jedes Krankenhaus an und erkundigten sich. Gott, Khalidas Mutter war vermutlich wahnsinnig vor Angst.
Kopfschüttelnd vertrieb er diese Gedanken.

»Eigentlich geben wir nur Auskunft an Familienangehörige, aber Sie haben sie hergebracht«, erzählte der Arzt und blieb vor einer Tür stehen. Dort nahm er sich die Akte aus einer Vorhängefolie an der Wand.

»Sie hat einige gebrochene Rippen. Ihr Becken ist geprellt und ihr linkes Knie ist gesprungen. Außerdem hat sie eine Gehirnerschütterung und zwei Platzwunden am Kopf erlitten. Der Rest sind blaue Flecken und einige ungefährliche Kratzer. Aber sie wird sich davon erholen.«

Dann öffnete der Arzt die Tür und ließ Jaden eintreten.

»Sie ist von der Narkose noch bewusstlos, aber sie sollte in den nächsten Minuten aufwachen. Ich versuche solange ihre Eltern ausfindig zu machen.«

Jaden nickte ihm zu und der Arzt schloss hinter sich wieder die Tür, nachdem er Jaden allein bei Khalida gelassen hatte.

Zögerlich ging Jaden auf Khalida zu und betrachtete sie. An ihrer Nase befand sich ein kleiner Schlauch und um ihren Kopf war ein dicker Verband gewickelt.

Ihre schwarzen langen Haare waren noch voller Blut und Jaden sah schnell weg. An ihrer linken Armbeuge steckte eine Infusionsnadel. Auf ihn wirkte sie nicht gerade lebendig, sondern als wäre sie an der Schwelle zum Tod.

Leicht hob er die Decke an. Khalida trug nur einen Patientenkittel und darunter vermutlich ihre Unterwäsche. Ihr linkes Bein war in Gips gehüllt und ihr Becken war bandagiert. An ihrem rechten Bein sah er blaue Flecken und Schürfwunden. Sie würde ewig zum Heilen brauchen, dachte er und legte die Decke wieder über ihren Körper.

Dabei brauchte sie die Kraft für die Wandlung.

Vorsichtig setzte er sich an die Bettkante und beugte sich über sie. Er betrachtete ihre blasse Haut, bemerkte die dunklen Augenringe und strich langsam mit einem Finger über ihre Wange.

Ehe er auch nur darüber nachdenken konnte, hatte er sich in sein eigenes Handgelenk gebissen, drang mit den Fängen durch seine Haut und saugte ein wenig seines Blutes in den Mund.

Dann legte er den Daumen an ihre Unterlippe und öffnete ihre Lippen. Er beugte sich zu ihren Lippen und erinnerte sich an das Gefühl, als er sie geküsst hatte. Wie gut sie geschmeckt hatte und dass er mehr gewollt hatte von ihr.

Er drückte seine Lippen auf ihre, ließ das Blut in ihren Mund tropfen und küsste sie bedächtig. Seine Hand lag an ihrer Wange und strich bis zu ihrem Hals und legte sich in ihren Nacken. Dann bemerkte er, dass sie sein Blut herunterschluckte, und musste sich kurz die Lippen lecken. Solch eine Erfahrung hatte er bisher noch nie gemacht. 

Khalida

Ich fühlte mich, als hätte ich ein ganzes Wochenende durchgeschlafen. Meine Muskeln und Gelenke fühlten sich schwer an, als ich zu mir kam. Doch ich spürte unter mir etwas Weiches und über mir lag etwas Warmes. Ein Bett, wie ich bemerkte.

Außerdem berührte jemand meine Lippen. Ich wurde geküsst, ging es mir durch den Kopf und doch klang es kitschig. Aber ... ich wurde wachgeküsst.

Dann waren die Lippen auf einmal weg, nur ein herber dunkler Geschmack blieb zurück und ich schmeckte ihn in meinem Mund und in meiner Kehle. Automatisch glitt meine Zunge über meine Lippen und ich versuchte, langsam meine Augen zu öffnen. Aber es schien, als würden meine Lider aneinander festkleben.

Und plötzlich wurde mein Mund wieder bedeckt, in Anspruch genommen und wieder lief diese hitzige Wärme meine Kehle hinunter und ich versuchte, es hinunter zu schlucken.

Der Kuss fühlte sich wahnsinnig toll an und ich hatte eine vage Vorstellung, wer mich küsste. War das ein Traum? Wenn ja, dann wollte ich nicht aufwachen.

Ein leises entzücktes Stöhnen entwich mir, als die Zunge des anderen hervorschnellte und über meine Unterlippe leckte.

»Khalida?«, fragte eine tiefe Stimme und durch den Klang geleitet, öffnete ich meine Augen. Auch wenn meine Sicht noch etwas verschwommen war, konnte ich Jaden über mir erkennen, er wischte sich mit dem Handrücken über seinen Mund.

Und auf einmal spürte ich seinen Daumen auf meiner Unterlippe, die er streichelte.

»Was ist passiert?«, flüsterte ich und fühlte mich immer noch etwas benebelt. Wo war ich?

»Erinnerst du dich nicht? Der Unfall?«

Unfall? Das Auto!

Doch, natürlich erinnerte ich mich. Ich blickte mich vorsichtig um und hob eine Hand. Oh, da war irgendwas in meiner Armbeuge.

Ein Krankenhaus?

»Du bist im Krankenhaus. Aber jetzt ist alles wieder gut«, sagte Jaden leise und nahm seine Hand von meinem Gesicht.

Augenblicklich fühlte ich ein Brennen in meinem Bauch. Der Schmerz schoss mir durch den Körper und ich wollte mich zusammenkrümmen. Aber ich konnte mich nicht auf die Seite drehen, meine Beine fühlten sich zu schwer an.

»Schmerzen!«, keuchte ich und packte aus Reflex Jadens Hand. Zu meiner Überraschung ließ er mich nicht sofort wieder los, stattdessen verflocht er unsere Finger ineinander.

»Es geht gleich vorbei«, flüsterte er und ich presste die Augen zusammen. Hatte ich nicht genügend Schmerzmittel?

Doch da ließen die Schmerzen langsam wieder nach und ich entspannte mich in den Kissen. Langsam atmete ich tief ein und wieder aus und dann war der Schmerz vorbei. Als wäre nie etwas gewesen.

Auf einmal beugte er sich zu mir und ich spürte seine Wange an meiner, spürte seinen Atem an meiner Haut und wie seine andere Hand meine Schulter berührte.

»Jaden? Was ist los?«, fragte ich ihn und legte meine freie Hand an seinen Hals. Mein Daumen streichelte über seine Wange und er hob seinen Kopf ein wenig. Als ich dann in seine sturmgrauen Augen sah, fingen die Geräte an, schneller zu piepen. Selbst in so einer miesen Situation schaffte er es, dass mein Puls sich erhöhte.

»Nichts«, sagte er leise und doch erkannte ich die Erleichterung in seinem Blick. Er berührte mit seiner Nasenspitze meine Wange und hauchte einen Kuss an meinen Kiefer und küsste dann meinen Hals. Sein Verhalten irritierte mich etwas, doch meine Hand legte sich in seine weichen Haare.

Dann löste er sich wieder von mir und stand vom Bett auf und ließ meine Hand los.

»Du solltest dich etwas Ausruhen. Ich komme dich später besuchen«, sagte er und wollte sich umdrehen. Da schnellte meine Hand hervor und packte sein Handgelenk. Weder ich noch Jaden hatten damit gerechnet und ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte.

»Schon gut. Ich verspreche, dass ich wiederkomme«, sagte er und ich ließ ihn widerwillig los. Kaum war er aus der Tür, legte ich den Kopf zurück und konnte kaum fassen, dass ich in einem Krankenhaus lag. Hätte dieser Autounfall mich nicht töten müssen? Ich hatte es gespürt. Mein Albtraum war real geworden.

Als die Tür sich dann wieder öffnete, hatte ich die kleine Hoffnung, dass Jaden schon wieder zurück war. Allerdings kamen eine Schwester und ein Arzt in den Raum und stellten sich an das Bettende.

»Hallo Khalida. Ich bin Dr. Corvin. Du hast deinem Freund einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Aber die OP ist gut verlaufen und deine Verletzungen werden zu hundert Prozent wieder verheilen«, sagte er und ich nickte erschöpft.

»Das ... ist super. Danke.«

Dr. Corvin kam zu mir an das Bett und betrachtete mich.

»Dein Freund hat deine Eltern nicht erreichen können. Kannst du uns eine Telefonnummer geben, damit deine Eltern herkommen können?«

Überrascht schaute ich mich nach meinen Sachen um.

»In meinem Handy sind alle Nummern drin. Es müsste in meiner Jacke sein.«

Der Arzt deutete auf meine Jacke, die auf einer Kommode lag und ich nickte. Er durchsuchte sie, aber es war kein Handy drinnen. Hatte ich es beim Unfall verloren?

»Okay, kein Problem. Wir schauen später nach. Kannst du dich an den Unfall noch erinnern? Warst du allein dort?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, meine beste Freundin war auch da.« Die Erinnerung durchzuckte mich, doch die Kopfschmerzen blieben aus. Das verdankte ich vermutlich den Schmerzmitteln. Und es war gerade ein Segen.

Plötzlich schwang die Tür auf und Devin stürmte in den Raum.

»Khalida!«

»Devin«, sagte ich überrascht und er kam sofort ans Bett geeilt und legte seine Hand vorsichtig auf meinen Kopf.

»Dilara hat uns von deinem Unfall berichtet. Deine Mutter ist auf dem Weg hierher«, sagte er besorgt und streichelte langsam über meinen Kopf.

»Sind Sie ein Familienangehöriger?«, fragte Dr. Corvin.

»Ja. Ich bin ihr Va...«, Devin hielt inne und räusperte sich einmal. »Ich bin ihr Onkel. Devin Ravyn.«

»Wo ist Jaden?«, fragte ich und sah von Devin zu Dr. Corvin.

»Jaden?«, fragte Devin überrascht und in seinen Augen konnte ich Ärger erkennen. War Jaden also nicht mehr im Krankenhaus?

»Du meinst den Jungen, der die ganze Zeit auf dich gewartet hat?«

Ich nickte und wünschte mir, dass Jaden mich wirklich noch einmal besuchte. Meine Gedanken und Gefühle konnten sich nämlich nicht einig werden, ob ich ihn wirklich mochte oder ob ich Angst vor ihm haben sollte. Das musste ich irgendwie herausfinden.

»Er sagte, dass er noch etwas zu tun hat. Daher ist er vorhin gegangen«, erklärte Dr. Corvin und sah dann zu Devin.

Nun, ich sollte nicht enttäuscht sein. Aber irgendwie war ich es.

»Gott, Khalida. Ich habe mir solche Sorgen gemacht«, sagte Devin und legte seinen Kopf auf meinen.

»Könnte ich Sie draußen sprechen, Mr. Ravyn?«, fragte der Arzt und Devin nickte. Sie gingen direkt nach draußen und schlossen die Tür hinter sich. 

Kapitel 10 - Khalida

Mein Aufenthalt im Krankenhaus war mehr oder weniger erträglich. Ich hatte immer Besuch und war im Grunde keine Minute allein. Obwohl ich auch nichts gegen ein paar Stunden Ruhe hatte. Mom war fast den ganzen Vormittag bei mir im Krankenhaus. Und Devin kam ab und an Mal vorbei und fragte, wie es mir ging. Aber innerhalb von ein paar Stunden gab es keine großen Unterschiede.

»Stehen nicht deine Prüfungen bald an?«, fragte ich Noel.

»Ja. Aber ich bin gut vorbereitet«, sagte er und setzte sich zu mir auf das Bett.

»Wie fühlst du dich? Bist du froh, dass du heute nach Hause kannst?«

»Und wie. Ich freue mich vor allem auf mein eigenes Bett.« Dann sah ich meinen Bruder wieder an.

»Hast du meine Halskette gefunden?«, fragte ich, da ich mich immer noch nicht erinnern konnte, wo ich sie liegen gelassen hatte. Und langsam kam mir der Verdacht, dass ich sie vielleicht verloren hatte. Das wäre bitter. Ich liebte diesen Anhänger.

Noel schüttelte den Kopf und seufzte.

»Es tut mir leid, Khali. Ich habe wirklich überall gesucht.«

»Schon okay. Bestimmt habe ich Dussel sie irgendwo abgelegt und dachte, ich könnte es mir merken.«

Noel streichelte sachte über meine Wange.

»Sie wird wieder auftauchen. Aber du solltest dich langsam fertig machen. Mom ist bald hier und holt uns ab.«

Ich nickte und seufzte. Gestern waren der Unfall und meine OP und heute konnte ich wieder nach Hause. Da Dr. Corvin keine weiteren Schäden ausmachen konnte und meine Verletzungen gut verheilten, hatte man beschlossen, dass ich heute entlassen werden konnte.

Aber es wunderte mich.

Wie konnte man sich nach einem Autounfall und einer OP so schnell wieder erholen? Nun gut, ich sollte mich nicht beschweren. Es hätte noch viel schlimmer ausgehen können.

Außerdem ... hatte Jaden nicht gelogen. Er hatte mich wieder besucht. Letzte Nacht hatte er sich in mein Zimmer geschlichen, aber ich erinnerte mich nur vage daran. Es wirkte alles wie in einem Traum und es erinnerte mich an den Tag, an den ich mich auch kaum erinnern konnte. Der Tag vor meinem Unfall.

Noel packte meine Sachen zusammen und ich stand etwas ungelenk vom Bett auf. Der Gips an meinem Bein störte mich. Aber mein Becken war verheilt und ich konnte mich an sich auch wieder prima bewegen. Die Platzwunden an meinem Kopf waren kaum der Rede wert. Es war, als wären diese Wunden nicht besonders schlimm gewesen. Nur oberflächliche Kratzer, die schlimmer aussahen, als sie eigentlich waren.

Zumindest hatte Mom mir das gesagt.

Da ich keine Jeanshose anziehen konnte, hatte ich eine kurze elastische Sporthose an. Da konnte ich von Glück sprechen, dass es draußen immer noch so warm war.

Ich hinkte zum Badezimmer und schnappte meine Kulturtasche, die noch auf dem Waschbecken gelegen hatte. Meine Haare hatte ich zu einem Zopf gebunden, nachdem ich sie heute Morgen gewaschen hatte. Im Spiegel betrachtete ich die leichte Wunde an meiner Stirn und betastete sie. Ich war mir sicher, dass ich gestern noch einen dicken Verband getragen hatte. Allerdings hatte mir der Arzt bestätigt, dass keine größeren Wunden zu sehen waren. Die Platzwunden wurden kaum erwähnt. Es war seltsam.

Jedoch brachte es mir nichts, darüber nachzudenken, denn ich konnte es mir eh nicht erklären. Ein Glück blieben die Kopfschmerzen aus. Seit gestern nahm ich regelmäßig Schmerztabletten wegen meines Knies und es war eine Erleichterung.

»Ich bin fertig«, sagte ich dann und Noel ging mit meiner kleinen Tasche zur Tür. Ich sah mich noch einmal um, doch ich hatte alles mit Noel eingepackt.

Auf dem Flur des Krankenhauses gingen wir an Dr. Corvin vorbei.

»Vielen Dank nochmal. Bis dann«, verabschiedete ich mich.

»Alles Gute für euch.«

Dann waren Noel und ich auch schon vor dem Krankenhaus und ich fühlte mich erleichtert. Ich atmete tief ein und aus und sah dann das Auto von Mom am Straßenrand stehen.

Sie winkte uns zu sich.

»Hey ihr zwei. Lasst uns nach Hause fahren«, sagte Mom und öffnete die hintere Wagentür. Noel half mir mich auf die Rückbank zu setzen und legte meine Tasche neben mich. Er stieg vorne auf den Beifahrersitz und wir schnallten uns an.

»Es ist doch schön, dass es dir schon wieder besser geht, nicht wahr?«

»Ja, schon«, murmelte ich und blickte aus dem Fenster, während Mom uns nach Hause fuhr. Die letzte Nacht hatte ich kaum geschlafen, denn ich hatte mich unwohl im Krankenhaus gefühlt. Ab und an kam jemand ins Zimmer und kontrollierte irgendwelche Werte und Geräte. Das alles hatte mich irritiert und dann war Jaden noch in der Nacht gekommen. Und auf einmal war es morgens und die Schwester hatte mich geweckt. Puh, ich war müde.

»Willst du zu Hause etwas essen? Ich kann dir dein Lieblingsessen kochen«, fragte Mom, doch ich war nicht in Stimmung etwas zu essen.

»Ja, wieso nicht«, antwortete ich jedoch und beobachtete die Menschen und die anderen Autos, an denen wir vorbeifuhren.

Mom und Noel unterhielten sich vorne über die Uni und die anstehenden Prüfungen, doch ich blendete ihr Gespräch aus, bis wir zu Hause ankamen.

Vor der Tür stand Devin und kam dann auf das Auto zu. Er öffnete meine Wagentür und hielt mir eine Hand hin. Ich nahm sie entgegen und ließ mir von ihm aus dem Auto helfen. Hoffentlich musste ich diesen Gips nicht allzu lange tragen. Schließlich musste ich noch den Solopart für den Winterball lernen.

»Willkommen zu Hause«, sagte Devin und ich musste mir ein Lachen verkneifen.

»Ich war nur eine Nacht nicht zu Hause«, bemerkte ich und Devin zuckte lächelnd die Schultern.

»Komm, ich helfe dir.«

Er legte seine Hand an meinen Unterarm und ich hinkte an seiner Seite zur Haustür. Die wenigen Stufen der Veranda hob mich Devin an der Hüfte hoch und setzte mich oben wieder ab.

»Wow, danke«, sagte ich, da mich das dann doch etwas überrascht hatte.

»Keine Ursache.«

Die Tür war nur angelehnt gewesen und Devin drückte sie auf, damit ich hineingehen konnte. Hinter uns gingen Noel, der meine Tasche trug und sie dann nach oben brachte. Und Mom schloss hinter uns die Tür.

»Hunger?«, fragte Devin und ich schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin müde. Ich würde mich einfach etwas ausruhen.«

»Na klar. Soll ich dich nach oben bringen?«, fragte Devin und ich drehte mich zur Treppe. Allein würde ich ein paar Minuten brauchen, bis ich oben ankam. Daher nahm ich sein Angebot nickend an und Devin legte seine Arme unter meine Beine und an meinen Rücken und hob mich hoch. Ich konnte mein eingegipstes Bein kaum bewegen, jedoch schaffte es, Devin mich unversehrt oben abzusetzen.

»Um deine Sachen habe ich mich gekümmert. Du solltest dich erstmal entspannen«, sagte Noel, als er uns aus dem Badezimmer entgegenkam.

»Danke euch.«

Ich humpelte in mein Zimmer und legte mich direkt auf mein Bett. Aufatmend schloss ich die Augen und ließ es zu, dass mich Devin mit meiner Wolldecke zudeckte.

»Bis nachher«, flüsterte er und ich grummelte leise.

Devin

Nachdem Devin die Zimmertür von Khalida geschlossen hatte, wurde ihm bewusst, dass sie Khalida schon sehr bald die Wahrheit ein zweites Mal offenbaren mussten. Die Gedankenmanipulation die Jaden bei seiner Tochter angewandt hatte, würde nicht mehr lange ihre Erinnerungen verbergen. Und dieser Autounfall hatte es nur zu gut bewiesen.

Vermutlich hätte Devin nie eine Gedankenmanipulation in Betracht ziehen sollen. Außerdem machte er sich Sorgen darum, dass ihre Wandlung nun noch schneller kam, denn nur durch das Blut von Jaden hatte sie so schnell heilen können.

Dieser Bastard hatte es einfach ohne darüber nachzudenken getan. Zähneknirschend ging Devin in die Küche. An der Arbeitsfläche machte Irina sich an dem Abendessen heran und schnippelte das Gemüse klein.

»Sie schläft jetzt«, sagte er und setzte sich auf einen Hocker. Er hatte Irina bereits heute Morgen darüber in Kenntnis gesetzt, was Jaden getan hatte. Sie war natürlich alles andere als begeistert gewesen. Es war das erste Blut, das Khalida überhaupt zu sich genommen hatte, und es behagte Devin nicht. Schließlich war es das Blut eines Auftragskillers.

Und weil sie durch das Blut schneller heilte, musste Devin die Gedanken des Arztes und der Schwestern ebenfalls alle manipulieren und die Krankenakte musste geändert werden. Nur weil Jaden aus der Reihe tanzte und viel zu voreilig gehandelt hatte.

»Irina, wir müssen uns unterhalten. Über Khalida«, fing Devin an und Irina hielt in der Bewegung inne. Ihr eiskalter Blick zeigte ihm nur zu gut, dass sie das alles nicht wollte. Dass es ihr gegen den Strich ging, dass ihre Tochter so war wie ihr Ex.

Es schmerzte in seiner Brust, dass Irina scheinbar keine Gefühle mehr für ihn hatte.

»Nein«, sagte sie entschlossen, ging zur Spüle und wusch das Messer ab. Devin stand vom Stuhl auf und ging in Vampirgeschwindigkeit auf sie zu und stellte sich hinter sie. Als sie sich herumdrehte, schreckte sie zusammen und lehnte sich gegen die Spüle.

»Tu so etwas nicht. Ich hätte dich verletzen können«, sagte sie und wedelte mit dem Messer vor seiner Nase herum.

»Ich will unserer Tochter helfen, Irina. Wenn wir ihr die Wahrheit nicht sagen und nichts tun, dann versichere ich dir, dass sie stirbt.«

Sein ernster Blick schien Irina einzuschüchtern, denn sie wich seinen Augen aus. Von Anfang an war Devin immer ehrlich mit Irina und hatte ihr gesagt, was er war. Sie hatte von Anfang gewusst, dass er ein Vampir war. Und als sie schwanger war, hatte Devin panische Angst. Schließlich war es verboten sich, mit Menschen fortzupflanzen. Aber er liebte Irina und er hatte sich nicht erträumt, dass er ein Kind mit ihr haben könnte.

»Das will ich auch«, sagte sie in die Stille und legte das Messer beiseite. Als ihre dunkelblauen Augen ihn dann endlich ansahen, schockte es ihn.

»Sie wird ein Vampir und sie wird mich überleben. Sie wird ihren Bruder überleben. Glaubst du, dass sie das will? Glaubst du, dass Khalida dafür bereit ist? Wenn ich es schon nicht bin, was glaubst du empfindet dann unsere Tochter erst?«

Darüber hatte Devin noch nicht nachgedacht. Ihm war bewusst, dass er Irina irgendwann verlieren würde. Sie würde weiter altern und irgendwann sterben. Das wusste er. Und er kannte Khalida nicht so gut, wie ihre Mutter es tat, deshalb wusste er nicht, was er darauf antworten sollte.

»Rede mit ihr und erkläre es ihr. Aber ich bitte dich, Devin, wenn sie das nicht will, dann lass es gut sein, okay?«

»Ich soll es akzeptieren, wenn sie sterben will?«, fragte er ungläubig und Irina nickte.

Devin musste sich räuspern. Die letzten Jahre konnte er nicht bei Irina und Khalida sein und hatte gehofft, dass sie irgendwann die Wandlung machte. Es war egoistisch von ihm, das wusste er. Aber er wünschte sich einfach gern Zeit mit Khalida. Er wollte sie kennenlernen, sie lehren. Ihr zeigen, dass er ein guter Vater sein konnte.

»Da Jaden ihr sein Blut gegeben hat, wird die Wandlung vermutlich noch näher rücken. Das Blut kurbelt ihren Organismus an. Wir sollten es ihr bald also sagen«, erklärte Devin und nahm ein wenig Abstand zu Irina. Er war sich nicht sicher, ob er so aufopferungsvoll sein konnte wie sie. Ehrlich gesagt hatte er nicht vor, dass Khalida starb. Und beim besten Willen, er konnte es sich nicht vorstellen, dass Khalida schon sterben wollte.

Plötzlich klingelte es an der Tür und riss Devin damit aus seinen Gedanken. Irina nahm sich das Handtuch und wollte zur Tür gehen.

»Ich gehe schon!«, rief Noel, der gerade die Treppe herunterrannte und in den Flur joggte. Und nach einigen Sekunden stand Dilara in der Tür der Küche und hielt eine Tüte nach oben. Es duftete nach frischem Gebäck.

»Hallo, ich hoffe ich störe nicht, aber ich habe etwas mitgebracht für Sie und Khalida«, sagte Dilara und trat in die Küche. Devin nahm ihr die Tüte ab und öffnete sie. Es waren ein paar Muffins und Donuts.

»Hey Dilara, es ist sehr nett von dir Khalida zu besuchen. Leider ist sie ziemlich erschöpft und hat sich schlafen gelegt«, sagte Irina, ging auf Dilara zu und streichelte sachte über ihren Arm.

»Oh, das ist schon in Ordnung. Ich wollte nur eine Kleinigkeit vorbeibringen. Können Sie Khalida ausrichten, dass ich da war, Ms. Blair?«

Kurz huschte ihr Blick zu Devin und er lächelte sie an. In der Schule war ihm aufgefallen, dass sie immer mit Khalida zusammen war. Sie musste die beste Freundin von Khalida sein.

»Natürlich mache ich das.«

»Vielen Dank. Oh, und es war schön Sie zu sehen, Mr. Ravyn. Ich schätze, wir sehen uns in der Schule wieder«, sagte Dilara und wollte sich schon zur Tür umdrehen, doch Devin hielt sie auf.

»Nein. Ich werde nicht mehr unterrichten«, erwähnte er und fand es einen guten Zeitpunkt, noch einen Fehler zu begehen.

»Wirklich? Das ist sehr schade. Ihr Unterricht macht sehr viel Spaß.«

»Danke, aber ich habe meine Gründe, weshalb ich damit aufhöre.«

Devin setzte sich wieder auf seinen Hocker und deutete Dilara an, dass sie sich setzen sollte. Aus dem Augenwinkel sah er Irina, die sich ebenfalls an den Tresen setzte.

»Mom, ich bin bei Marek. Brauchst du noch was aus dem Supermarkt?«, rief Noel aus dem Flur und als er in die Küche blickte, schien er wieder so wachsam zu werden, wie er es immer war, wenn er Devin sah.

»Was ist hier los?«, fragte er direkt und blickte zwischen den dreien hin und her.

»Ich brauche nichts aus dem Supermarkt«, sagte Irina und ging nicht auf seine Frage ein.

Da keiner auf seine Frage antwortete, stöhnte Noel genervt und verschwand aus dem Haus. Es war Devin schon vorher aufgefallen, dass Noel nicht gern in seiner Nähe war. Wie würde er sich Khalida gegenüber verhalten, wenn sie nicht mehr menschlich war?

»Also, meine Gründe weshalb ich aufhöre, haben familiäre Hintergründe. Zum einen hast du bestimmt schon gehört, dass ich Khalidas Onkel bin.« Dilara nickte ihm zu.

»Tja, das ist nicht ganz die Wahrheit.«

Als er einen Seitenblick zu Irina wagte, wirkte sie nicht begeistert von seinem Handeln und wollte ihm wohl Widerworte geben. Doch Devin würde sich nicht aufhalten lassen.

»Ich bin Khalidas leiblicher Vater.«

Dilara klappte wortwörtlich der Mund herunter und sie starrte zwischen ihm und Irina hin und her und deutete dann mit dem Finger zur Treppe.

»Weiß sie das? Sie hat mir nie etwas angedeutet. Ich mein, wir erzählen uns wirklich alles, aber ... hat sie mich vielleicht angelogen? Es geht mich im Grunde auch nichts an«, meinte Dilara und schien sich gar nicht stoppen zu können. Daher hob Devin eine Hand und Dilara beruhigte sich.

Der schwierige Teil kam ja erst noch. Und er war gespannt, wie Dilara auf das Ganze reagieren würde.

»Nun, eigentlich weiß sie es. Wir haben es ihr bereits erzählt. Aber da ihre Herkunft, sprich meine Herkunft eine andere ist, mussten wir ihr die Erinnerung daran wieder nehmen«, sprach Devin und wollte direkt zum nächsten Teil springen, als auf einmal die Haustür auf ging. Devin hatte sich schon gefragt, wann er endlich auftauchen würde.

»Willst du ihr etwa auch die Wahrheit erzählen? Du brichst damit nur noch mehr Gesetze«, sprach Jaden und lehnte sich entspannt gegen den Türrahmen. Sein Blick war wie immer eiskalt und ohne jede Emotion. Alles, was der Kerl kannte, war Tod und Zerstörung. Das Einzige, was Jaden gut konnte, war Unfrieden stiften. Und es gefiel Devin nicht, dass Khalida ausgerechnet sein Blut getrunken hatte. Die grauen seelenlosen Augen folgten Devins Bewegungen, als er sich auf dem Hocker herumdrehte.

»Das geht dich nichts an, Jaden. Und lass Khalida in Ruhe, sie wird von allein heilen. Wir kümmern uns um unsere Tochter.«

Da grinste der Vampir und Devin musste feststellen, dass er kein gutes Bauchgefühl hatte, wenn er Jaden ansah. Verflucht, niemand würde sich wohlfühlen mit einem Serienmörder im Haus. Und es lag auf der Hand, dass der Vampir noch nicht fertig war. Also musste Devin Khalida besser vor Jaden schützen. Aber er durfte Jaden auch nicht zu sehr verärgern. Leider bestand immer noch die Möglichkeit, dass Jaden dem Vampirrat alles berichtete, und dann wären sie alle tot. Denn das würde der Vampirrat nicht verzeihen. Devin befand sich eindeutig in einer Zwickmühle und Jaden wusste das und machte sich das zunutze.

»Du hast mir nichts vorzuschreiben. Nicht mehr. Und deshalb warne ich dich, Devin. Mach keine weiteren Fehler, sonst leidet jeder in deiner Nähe.«

Diese Drohung hatte Devin verstanden, dennoch gab er nicht auf und er würde Dilara die Wahrheit erzählen. Und wenn Jaden auch nur das kleinste Gefühl für Khalida hatte, dann musste Devin genau diesen Teil ansprechen.

»Khalida wird ihre beste Freundin brauchen. Oder glaubst du, dass sie allein glücklich sein wird? Du hast sie kennengelernt und du hast eine Verbindung zu ihr, die sonst keiner hat«, sagte Devin und wollte fluchen, aber er hielt sich zurück. Denn Jaden zog die Augenbrauen zusammen und sah in den Flur zur Treppe. Er wusste, wo Khalidas Zimmer war. Auch jetzt konnte er vermutlich ihre Gedanken hören.

»Ich tue das alles für Khalida. Das verstehst du sicherlich. Sie wird nicht nur ... uns brauchen in der jetzigen Situation.«

Wenn Jaden wirklich nichts für Khalida empfinden würde, dann hätte er weiter gedroht, doch plötzlich war er still. Als er dann seufzte, war sich Devin sicher, dass Jaden nichts tun würde, was Khalida in irgendeiner Art und Weise verletzen würde. Denn Devin kannte dieses Gefühl. Für Irina empfand er schließlich genauso.

Liebe veränderte einen.

»Ich werde herkommen, wann immer ich will. Nur Khalida kann mich aufhalten, aber ich denke das wird sie nicht tun«, sagte Jaden selbstgefällig mit einem Grinsen und Irina stand wütend von ihrem Stuhl auf. Aus eigener Erfahrung wusste Devin, dass Irina es egal war, wer ihr Gegenüber war.

»Halt dich von ihr fern, ansonsten werde ich dir dermaßen eine verpassen, dass du glaubst, du wärst ein Mensch!«, fauchte sie und Jaden wirkte überrascht über ihren Einsatz. Und für einen Moment hatte Devin geglaubt, dass Jaden sie tötete. Schließlich war er es gewohnt Menschen zu töten.

»Ich habe mich bei Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Jaden«, sagte er, als hätte er gerade nicht vor Khalidas Mutter zweideutige Andeutungen von ihrer Tochter gemacht. Der Vampir besaß keinerlei Taktgefühl.

»Raus aus meinem Haus, Dreckskerl. Und ich werde Khalida dazu bringen, dass sie dich hasst, darauf kannst du dich verlassen.«

»Mrs. Ravyn.«

»Ms. Blair für dich!«, zischte sie.

»Oh, Ms. Blair. Ich bewundere Ihren Mut uns gegenüber. Denn das hat Khalida eindeutig von Ihnen und das gefällt mir.«

Völlig überrascht blickte Irina ihn an und verpasste ihm dann doch tatsächlich eine Ohrfeige. Wow, da sollte Devin wohl lieber einschreiten. Als er Irinas Arm nahm, war er allerdings erleichtert, denn Jaden regte sich nicht und betrachtete sie einfach nur überrascht.

»Scheinbar hat dir noch nie eine Frau eine verpasst.«

»Das reicht jetzt, Liebling«, sagte Devin und erwischte sich selbst dabei, sie bei einem Kosenamen genannt zu haben. Aber Irina reagierte nicht darauf und drehte sich auf dem Absatz herum und ging zur Arbeitsfläche.

»Ich geh dann mal. War nett mit Ihnen, Ms. Blair«, provozierte Jaden weiter und verließ dann das Haus endlich. Irina fluchte vor sich hin und schien wohl vollkommen vergessen zu haben, dass Dilara immer noch hier war.

»Vielleicht sollte ich auch gehen«, sagte Dilara auch schon.

»Es tut mir leid«, sagte Devin und seufzte.

»Ich denke, dass mich das alles nichts angeht.«

»Hm, vermutlich nicht. Die Frage ist auch eher, ob du neugierig bist. Schließlich hast du gerade eine sehr seltsame Unterhaltung mitbekommen«, neckte Devin sie und setzte sich wieder auf den Hocker.

Er konnte Dilara ansehen, dass sie mit sich rang.

»Sie sagten, dass sie Khalida die Erinnerungen nehmen mussten. Und Ms. Blair hat wirklich etwas Seltsames zu Jaden gesagt«, sagte sie, blieb allerdings neben dem Tresen stehen.

»Nun, das liegt daran, dass wir nicht menschlich sind. Also Jaden und ich. Wir sind ... Vampire«, meinte Devin dann und wartete auf Dilaras Reaktion. Für gewöhnlich lachten die meisten Menschen darüber. Die Erkenntnis der Wahrheit führte dann meistens zum Schock und dann kam in der Regel die Angst. Die Angst vor dem doch Unbekannten.

»Oh«, sagte Dilara. Das Lachen blieb bei ihr aus. War sie dann bereits im Schock-Modus?

»Ah, Khalida«, murmelte sie und schien sich noch ein wenig sammeln zu müssen. Und Devin gab ihr die Zeit, die sie brauchte.

»Moment Mal. Sie wollen mir erzählen, dass es wirklich und wahrhaftig Vampire gibt?«

»Ja. Ich bin ein Vampir. Und Jaden ist ein Vampir.«

Als Irina sich herumdrehte, schien sie sich etwas beruhigt zu haben.

»Keine Sorge. Ich bin ein Mensch, so wie du. Und Noel und Khalida«, sagte Irina, ihre Arme waren vor der Brust gekreuzt.

»Das ist ähm ... glauben Sie das?«, fragte Dilara nun Irina und sie nickte.

»Ich war einige Monate mit Devin zusammen. Er hat mich bereits nach einigen Tagen aufgeklärt und es hat nicht lange gedauert, bis ich dann schwanger war.«

Den Rest der Geschichte konnte man überspringen. Daher meldete sich Devin wieder zu Wort und Dilara sah ihn an. Aber er sah keine Panik. War sie nicht zumindest ein bisschen geschockt?

»Nun, Khalida ist noch ein Mensch. Aber sie wird ein Vampir werden«, berichtigte Devin.

»Oh mein Gott. Meine beste Freundin ...«, stammelte Dilara und hielt sich eine Hand an den Bauch. War ihr nun doch schlecht? Woran dachte sie wohl?

»Jedenfalls hatten wir Khalida das erzählt und ihre Reaktion kannst du dir vielleicht vorstellen. Wir mussten ihr die Erinnerung daran nehmen, was leider zu diesem Unfall geführt hatte.«

»Der Unfall. Oh mein Gott, jeder andere Mensch wäre gestorben. Das Auto war so schnell gewesen und das ganze Blut.« Der Unfall schien Dilara mehr geschockt zu haben, als die Beichte, dass Devin und Khalida Vampire waren. Aber sie hatte auch fast ihre beste Freundin verloren. Devin sollte zumindest versuchen, ein wenig einfühlsamer zu sein. Das konnte in dieser Situation helfen.
Scheinbar nahm Dilara es trotzdem gar nicht so schlecht auf, wie Devin es erst gedacht hatte. Wenn Khalida sie an ihrer Seite hatte, dann könnte Khalida bestimmt als Mischling weiterleben. Dann würde sie sich nicht einsam fühlen.

»Dank der Hilfe von Jaden hat Khalida überlebt. Und dank der Vorteile eines Vampirs.«

»Vorteile?«

»Wir sind sehr schnell. Haben eine höhere und schnellere Regeneration und leben eigentlich für immer«, erklärte Devin und Dilara nickte abwesend.

»Und sie heilt, weil ...«, stotterte sie, doch Devin schüttelte den Kopf.

»Da sie noch kein Vampir ist, heilt sie nicht von allein so schnell. Aber das Blut eines Vampirs kann die Wunden anderer schneller heilen lassen. Außerdem kann es auch noch eine andere Wirkung haben. Es kann einen Menschen dazu bringen, nicht mehr zu altern. Quasi lebt der Mensch in ewiger Jugend«, erklärte Devin weiter und wagte einen kurzen Blick zu Irina. Das Angebot hatte er ihr auch damals gemacht und er hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie es annehmen würde. Allerdings hatte sie auch immer noch einen Sohn und den konnte sie nicht allein lassen. Und das wollte sie auch nicht. Und das konnte Devin verstehen.

»Khalida ist also ein Mensch, der sich irgendwann in einen Vampir verwandelt. Und ... mein ehemaliger Lehrer ist ein Vampir. Und der Kerl, den Khalida mag, der ist auch ein Vampir«, murmelte Dilara und hielt sich kurz am Tresen fest. Sofort war Irina zu ihr geeilt und legte die Hand auf ihre Schulter.

»Ich weiß, dass alles klingt nach einem furchtbar schlechten Film. Aber es entspricht wirklich der Wahrheit, wenn du nichts mehr mit Khalida zu tun haben möchtest, dann ist das nur allzu verständlich, Dilara. Denk in Ruhe darüber nach.«

»Das werde ich. Ich sollte gehen«, murmelte Dilara und Irina brachte sie zur Haustür. Als Irina zurückkam, seufzte sie und betastete ihre Hand. So wie er sie kannte, bereute sie es jetzt schon, dass sie Jaden eine verpasst hatte. Aber vielleicht rüttelte das den Jungen endlich einmal wach. 

Kapitel 11 - Khalida

Als mein Wecker piepte, lag ich bereits wach. Die Nacht hatte ich nicht sehr gut geschlafen, denn jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass meine Gedanken mir einen Streich spielen wollten, sobald ich die Augen schloss. Erst hatte ich gedacht, dass ich einen Albtraum hatte. Aber als ich das selbst im Wachzustand hatte, dachte ich, dass es eine Vision sei. Aber sie ähnelte meinen Albträumen nicht.

Ich schlug mit der Hand auf den Wecker und setzte mich auf. Mein Bein schmerzte nicht mehr und es verunsicherte mich. Denn ich erinnerte mich an meinen Unfall ganz genau. Mein Becken war geprellt, ich hatte zwei Platzwunden und mein Knie war gesprungen.

Allerdings hieß es dann gestern, dass mein gesprungenes Knie nur noch ein geprelltes Knie war und meine Platzwunden, waren nur noch kleine Schürfwunden.

Stirnrunzelnd betrachtete ich mein Bein und befand, dass ich den Gips abnehmen sollte. Ich hinkte mit ein paar frischen Klamotten ins Badezimmer und ließ die Wanne mit Wasser volllaufen. Dann legte ich das Bein mit dem Gips ins Wasser und wartete, bis sich der Gips löste. Nebenbei versuchte ich, die anderen Wunden zu finden, die der Unfall eigentlich hinterlassen hatte. Allerdings war nichts mehr zu sehen. Was mir allerdings manchmal noch ziemlich wehtat, war mein Rücken. Den musste ich bei Gelegenheit im Spiegel irgendwie anschauen.

Beim Unfall war ich unangenehm über den Betonboden geschlittert.

Und was das Hirngespinst anging, so hatte ich Gedanken darüber, dass Jaden mich verletzen wollte. Jedes Mal, wenn ich in der Nacht meine Augen geschlossen hatte, hatte ich sein wutverzerrtes Gesicht gesehen. Und ich hatte ihn jedes Mal ein Monster genannt.

Als der Gips sich langsam löste, pulte ich alles von meinem Bein und wusch die Reste von meiner Haut. Ich war mehr als nur überrascht, als ich bemerkte, dass mein Bein nicht mehr schmerzte und auch sonst keine weiteren Wunden zu sehen waren.

Es war ... gesprungen gewesen.

Um mich abzulenken, sammelte ich den Gips aus dem Wasser ein und warf ihn in eine Mülltüte, die ich in die Ecke legte. Als die Wanne ausgespült war, stieg ich unter die Dusche und duschte mich fix ab.

Mit schnellen Handgriffen hatte ich mich angezogen, streckte meine Beine in der Hose und konnte es immer noch nicht glauben. Oder hatte ich mir den Unfall nur so schlimm ausgemalt und er war gar nicht so schlimm gewesen?

Als ich aus dem Badezimmer trat, kam mir Noel entgegen und mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er mich von oben bis unten an. Ich kannte diesen Ausdruck. Diesen Ausdruck, mit dem ich mich selbst ebenfalls angeschaut hatte.

»Was ist? Ich kann es selbst nicht fassen«, sagte ich und bemerkte selbst, dass ich etwas zu gereizt reagiert hatte.

»Hm? Nein, alles gut. Es war ja nicht so schlimm gewesen«, sagte Noel und das kaufte ich ihm kein bisschen ab. Nicht schlimm gewesen?

Stirnrunzelnd ging ich an ihm vorbei und nahm mir meine Sachen, die ich für die Schule brauchte und musste wieder einmal feststellen, dass ich nicht wusste, wo ich meine Halskette hingelegt hatte. Sie musste doch hier irgendwo sein. Ich wühlte auf meinem Schreibtisch herum, öffnete die Schubladen und schaute sogar unter dem Bett nach.

Während ich suchte, hatte ich das Gefühl, dass ich ein Déjà-vu erlebte. Als hätte ich schon einmal etwas in meinem Zimmer gesucht. Es war zum verrückt werden!

Dann musste ich eben auch heute ohne meine Halskette das Haus verlassen, auch wenn mir das überhaupt nicht gefiel.
Ich nahm mir meine Lederjacke und stieg dann die Treppen hinunter.

»Ist noch wer da?«, fragte ich und bekam zu meiner Überraschung keine Antwort. Keiner war im Haus, dabei war es noch sehr früh. Glaubte ich.

War Noel etwa so schnell abgehauen?

Ich blickte zur Wanduhr in der Küche und quiekte auf. Es war ja schon fast acht Uhr! Ich hatte mir ja heute viel Zeit gelassen. Wieso hatte Noel mir denn nichts gesagt!

Schnell schnappte ich mir meine Tasche und zog mir meine Schuhe an, als es auf einmal an der Tür klingelte.

Da ich eh im Flur war, öffnete ich sie und zuckte zusammen als Jaden vor der Tür stand. Was zum Teufel!

»Woher weißt du wo ich wohne?«, fragte ich ihn und musste mich dermaßen zusammenreißen. Weshalb hatte ich einen Moment lang solche Angst verspürt? Das war ein sehr mysteriöser Morgen.

»Ich habe Mr. Ravyn gefragt. Er ist doch dein Onkel, richtig?«

Ich nickte zustimmend und hatte dann das unbestimmte Gefühl, dass es nicht richtig war. Devin war doch mein Onkel oder etwa nicht?

»Bist du bereit?«, fragte Jaden und ich sah ihn fragend an.

»Für was?«

»Für die Schule«, antwortete er mir, sah mich von oben bis unten an, bis seine grauen Augen wieder meine erfassten.

»Oder wolltest du blau machen?«

Grinsend beugte er sich zu mir und ich dachte unbewusst an unseren Kuss. An die Nähe, die ich gemocht hatte. Und dass ich ihn mochte. Aber was mochte ich an ihm?

Gefahr.

Sofort zuckte ich zurück und musste mich an der Wand ablehnen. Die Kopfschmerzen kehrten zurück, waren aber glücklicherweise nicht sehr stark. Als ich ihn wieder ansah, wirkte er erstaunt und er verbarg es nicht einmal. Sonst zeigte er doch meistens keine Gefühle.

Allerdings wollte ich nicht ständig unter diesen Kopfschmerzen leiden und überraschte mit meiner nächsten Aktion nicht nur ihn, sondern auch mich. Denn auch wenn mir mein Bauchgefühl riet, ihm nicht zu nahe zu kommen, ging ich auf Jaden zu und packte seine Hand und hielt sie fest.

Er hatte eine wirklich warme Hand. Und sie war immer noch so rau. Ich legte sie sanft an meine Wange und schmiegte mich an sie.

»Geht es dir gut?«, fragte Jaden leise und legte die andere Hand ebenfalls an meine Wange und beugte sich leicht zu mir. Meine Hände packten sein Oberteil und ich zog ihn an mich heran. Sein Brustkorb berührte meine Brust und mein Herzschlag beschleunigte sich bei der Nähe zu ihm.

Etwas in meinen Gedanken blitzte auf wie eine Erinnerung. Hatte ich das wirklich erlebt? Oder hatte ich das vielleicht einmal geträumt?

»Du warst schon mal hier«, murmelte ich und wollte zurückweichen, doch Jaden ließ mich nicht los, eine Hand glitt in meinen Nacken und hielt mich fest.

»Nein, war ich nicht«, erwiderte er sehr leise und kam meinem Gesicht immer näher. Was war das für ein seltsames Gefühl? Er log mich an!

Als er mit seinen Lippen meine berührte, fühlte es sich berauschender an, als ich gedacht hatte. War es beim letzten Kuss auch schon so gewesen? Meine Augen schlossen sich und Jaden drückte mich ins Haus und schloss hinter sich die Tür. Innig küsste er mich, drang mit der Zunge in meinen Mund und ich seufzte, als er sich kurz zurückzog und mich dann wieder küsste.

Auch er genoss diesen leidenschaftlichen Kuss, ich spürte sein Herz in seiner Brust rasen und die Körperwärme stieg in uns und als ich mit der Zungenspitze leicht über seine Unterlippe strich, stöhnte er leise.

Aber etwas fühlte sich seltsam an bei diesem Kuss. Ich fühlte mich benommen von seiner Berührung und wollte ihn etwas von mir drücken. Doch Jaden bewegte sich nicht von mir, er presste mich an sich, seine Hände glitten über meinen Rücken und meiner Hüfte. Seine Umarmung fühlte sich gut an, aber dennoch ... Etwas stimmte nicht. Etwas mit mir.

»Jaden. Lass los«, sagte ich zwischen den Küssen und biss ihm in die Unterlippe, als er mich wieder küsste.

Als er mir dann schweratmend ins Gesicht sah, hatte ich ein mulmiges Bauchgefühl. War er sehr wütend? Würde er mir etwas antun? Das Gefühl der Gefahr verstärkte sich unmittelbar und meine Hände fingen an zu zittern, als ich sie zwischen unsere Körper hob und mir an die Brust drückte.

»Wieso hast du Angst vor mir?«, fragte er atemlos und seine Hände ließen mich augenblicklich los. Sofort hörte das Zittern auf.

»Weiß ich nicht.«

Wenn ich wüsste, weshalb mein Körper und Verstand sich nicht einigen konnten, dann hätte ich nicht so eine Aktion veranstaltet.

»Lass uns gehen. Die Schule hat schon begonnen«, sagte ich und schlich mich an Jaden vorbei, schnappte meine Sachen und öffnete ihm die Tür.

Ein Bild erschien vor meinen Augen, als er durch die Tür ging. Mir war bewusst, dass er schon einmal hier war, aber wann? Und ich hatte ihm schon einmal diese Tür aufgehalten.

Hinter mir zog ich die Tür zu und schloss sie ab. Irgendwie wollte ich mein zu Hause beschützen und konnte mir nicht einmal erklären, weshalb ich das wollte.

Ich folgte Jaden zur Straße und er wartete an seinem Motorrad auf mich. Wollte er mich ernsthaft auf diesem Ding mitnehmen? Da Noel mich eine Zeitlang auf seiner Maschine mitgenommen hatte, wusste ich, dass es ein tolles Gefühl war, mit einem Motorrad zu fahren.

Jaden reichte mir einen Helm und hielt selbst einen in der Hand. Als er sich auf das Motorrad setzte und mich ansah, zögerte ich einen Moment.

»Warum um alles in der Welt holst du mich von zu Hause ab? Ich mein, danke das du mein Leben gerettet hast, aber ...«, mehr viel mir nicht ein, was ich zu ihm sagen sollte.

»Ich will nur auf dich aufpassen. Scheinbar benötigst du einen Babysitter.«

Empört setzte ich mir den Helm auf und hielt mich an dem Motorrad fest und schwang ein Bein drüber. Meine Tasche zog ich fester um meinen Körper und fasste dann Jaden an der Jacke. Ich würde niemals nie und nimmer meine Arme um ihn legen. Das würde sein Selbstwertgefühl nur noch mehr pushen und das hatte er definitiv nicht nötig.

»Wenn ich du wäre, dann würde ich mich richtig festhalten«, sagte er dann jedoch und brachte mich damit ein wenig durcheinander. Hm, scheinbar schien ich heute einen Tag zu erleben, der nur so aus Déjà-vus bestand. Zögerlich legte ich meine Hände um seinen Bauch und verflocht meine Finger ineinander. Das Zittern, dass ich kurzzeitig durch Jadens Körper spürte, überraschte mich. Und plötzlich fühlte ich seine Hand an meinen Händen und er streichelte über meine Haut.

»Keine Angst, ich fahre vorsichtig« sagte er zu mir nach hinten und startete die Maschine. Tatsächlich fuhr er in einem eher gemütlichen Tempo zur Schule. Wenn wir etwas schneller fahren würden, dann würde mich das aber auch nicht stören. Schließlich waren wir eh schon spät dran und ich wollte nicht vor das Klassenzimmer gesetzt werden oder noch schlimmer, eine schlechte Note erhalten. Davon hatte ich in letzter Zeit genug gesammelt.

Auf dem Schülerparkplatz parkte Jaden relativ nah der Eingangstür und ich schwang mich schnell von dem Motorrad und nahm den Helm ab.

»Nimm den mit. Ich fahre dich später wieder nach Hause«, sagte Jaden, als ich ihm den Helm wiedergeben wollte.

»Das brauchst du nicht. Ich habe bereits eine beste Freundin, mit der ich nach der Schule nach Hause gehe. Ich brauche keine zweite beste Freundin.«

»Ich will auch gar nicht deine beste Freundin sein«, erwiderte er und hielt mir die Eingangstür auf. Im Flur war es wie leergefegt und ich sah auf die Uhr. Verdammt. Zwanzig Minuten zu spät. Ob der Lehrer gnädig war? Ob ich vielleicht Devin im Unterricht sehen könnte?

»Devin unterrichtet seit deinem Unfall nicht mehr«, hörte ich Jaden hinter mir sagen und erwartete, dass er mir auch das Warum erklärte. Aber er tat es nicht.

»Wieso?«

»Nun, weil er sich zu große Sorgen um dich macht.«

»Aber ich bin doch wieder gesund«, murmelte ich und blieb stehen. Die Kopfschmerzen verschlimmerten sich etwas, als ich an den Krankenhausaufenthalt dachte.

»Ich bringe dich lieber erst einmal ins Krankenzimmer. Du siehst ein wenig durcheinander aus«, bemerkte Jaden und ich ließ es zu, dass er seinen Arm um meine Taille schlang und mich zum Krankenzimmer führte.

Das Schlimmste war, dass ich mit niemandem darüber reden konnte. Ich konnte nicht einmal erklären, woher diese Kopfschmerzen kamen. Und ich konnte auch nicht erklären, weshalb ich mich so verwirrt fühlte. Es war etwas, dass ich tief in mir drinnen spürte.

Wer sollte so etwas schon verstehen?

Beim Krankenzimmer angekommen, klopfte Jaden an und trat dann ein.

»Guten Morgen, Sir«, begrüßte Jaden den Arzt und legte die Hand an meinen Rücken. Auch er begrüßte uns und sah mich bereits mit diesen wissenden Augen an.

»Mir geht es nicht besonders gut. Ich habe Kopfschmerzen«, sagte ich zum Arzt.

»Ich werde dich mal eben anschauen. Setz dich«, sagte er und ich setzte mich auf einen Hocker. Er nahm mein Kinn in seine Hand, sah mir in die Augen und beleuchtete sie kurz mit seiner kleinen Taschenlampe. Dann betrachtete er mich eingehend und drückte mit dem Daumen über meine Stirn.

»Au, das tut weh«, maulte ich und zuckte zurück. Mein Kopf tat eh schon weh.

»Seit wann hast du die Kopfschmerzen?«

»Seit einer Weile. Ich erinnere mich nicht genau.«

Der Arzt schien mir zumindest zu glauben, dass ich Kopfschmerzen hatte, und deutete auf die Betten, die durch dünne Vorhänge getrennt waren.

»Ruh dich etwas aus. Ich gebe deinen Lehrern Bescheid, dass du hier bist. Sagst du mir einmal deinen Namen?«

»Khalida Blair.«

Der Arzt nickte und sah dann zu Jaden.

»Du solltest in den Unterricht gehen. Khalida kommt nach, sobald sich ihre Kopfschmerzen etwas gebessert haben.«

Jaden nickte, kam aber noch einmal kurz zu mir, als ich mich schon in eines der Betten gelegt hatte. Er zog die Bettdecke etwas höher und legte seine Hand auf meine Stirn.

Ah, nein! Schnell hatte ich seine Hand von meinem Kopf genommen und wusste nicht genau, weshalb er sie nicht dort liegen lassen sollte.

»Etwas stimmt nicht mit mir«, flüsterte ich und fühlte, wie die Verwirrung zunahm. Wenn das so weiterging, dann sollte ich mir ernsthaft Sorgen machen. Dann konnte mir vielleicht Schlimmeres passieren als dieser Autounfall. Vielleicht starb ich.

Ich schloss die Augen, denn die Schmerzen nahmen zu.

»Es wird alles wieder gut. Ich verspreche es dir«, flüsterte Jaden neben mir und hielt meine Hand fest in seiner.

»Weshalb bist du so nett zu mir? Wir kennen uns doch kaum«, nuschelte ich, konnte ihn aber nicht anschauen. Es war mir zu unangenehm.

»Hm, man kann sich ja kennenlernen. Wenn du es willst.«

Ich spürte seine Lippen an meinen Fingerknöcheln und merkte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Manchmal konnte ich seinen Gedanken einfach nicht folgen. Er war mitunter echt schwer zu verstehen.

»Ich bleibe nicht lange.«

Dann ließ Jaden meine Hand los und ich drehte mich auf die Seite. Wenn es doch nur nicht so pochen würde hinter meinen Schläfen.

Ich drehte mich auf die andere Seite und seufzte. Hier war alles so steril und roch nach Desinfektionsmittel. Es war mir nicht möglich, mich hier zu entspannen.

»Ich muss eben in die Apotheke, es dauert nicht lange. Wenn es dir besser geht, kannst du in den Unterricht gehen, wenn ich noch nicht zurück bin«, sagte der Arzt und sah zu mir nach hinten.

»Okay, ist gut«, erwiderte ich und dann war der Arzt auch schon aus dem Krankenzimmer verschwunden.

Als ich die Augen schloss, versuchte ich zumindest mich zu entspannen. Und ich versuchte, an nichts zu denken. Einfach nichts denken. Denn wenn ich dachte, und über die Verwirrung grübelte, ging es mir schlechter.

Das nächste Mal, als ich mich herumdrehte, bemerkte ich, dass ich eingeschlafen sein musste. Sofort setzte ich mich auf und erwartete den wiederkehrenden Kopfschmerz. Doch er blieb aus. So ein kleines Schläfchen konnte also doch Wunder wirken. Ich strich mir eine Haarsträhne zurück und seufzte schon wieder. Ich zog mein Handy hervor. Oh, solange hatte ich gar nicht geschlafen, kein Wunder, dass der Arzt noch nicht zurück war.

»Na, ausgeschlafen?«, fragte plötzlich jemand höhnisch und ich blickte zur Tür. Der Mann war mir nicht aufgefallen und überrascht sah ich ihn an. War er ein Lehrer? Nein, ich kannte alle Lehrer auf dieser Schule. Oder war er neu?

»Wer sind Sie?«, fragte ich und beobachtete, wie er von der Tür wegging und zu mir herüberkam. Und mit jedem Schritt, den er machte, bemerkte ich einen unangenehmen Geruch, der sich verstärkte. Es war, als wäre ein nasser Hund hier im Raum. Mein Gesicht drehte ich automatisch leicht zur Seite und versuchte durchzuatmen.

»Oh, ist dir der Geruch aufgefallen? Keine Sorge, das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich kann dich auch nicht unbedingt gut riechen.«

Was? Unauffällig roch an meinen Haarsträhnen, doch ich hatte sie frisch gewaschen. Und Zähne hatte ich geputzt und ich hatte sogar das süße Parfüm meiner Mom benutzt.

Als der Kerl am Bettende stand, sah er mich wütend an. Sehr wütend. Kannte ich ihn vielleicht von irgendwoher?

»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich und legte die Bettdecke beiseite und stand vom Bett auf. Der Kerl war mit Sicherheit nicht nur hier, um sich mit mir zu unterhalten. Seine Ausstrahlung wirkte bedrohlich. Serienmörder?

Aber doch nicht in einer öffentlichen Schule.

Plötzlich klopfte es an der Tür und meine Hoffnung stieg, dass es der Schularzt war. Doch es betrat jemand anderer den Raum.

»Liam«, sagte ich verwundert und meine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er auf den fremden Mann zuging. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr und der Fremde nickte ab und an.

Dabei sah er die ganze Zeit mich an. Unbewusst glitt meine Hand zu meinem Hals. Keine Kette. Ich fühlte mich unsicher in der Gegenwart dieser Männer.

»Liam. Was ist hier los?«, fragte ich ihn und wollte einen Schritt auf ihn zugehen. Allerdings verhinderte es der Fremde, indem er auf mich zukam und mir den einzigen Weg nach draußen versperrte. Himmel, der war ja riesig der Kerl.

Als er vor mir stand, spürte ich ein Zittern und wollte zurückweichen, doch er packte plötzlich nach meinen Haaren und zog mich an sich.

»Ah!«, schrie ich und hielt seine Hände fest. Was sollte das werden? Wollten sie mich verletzen?

Doch bevor ich noch weiter schreien konnte oder etwas sagen konnte, legte er seine andere Hand über meinen Mund und kam mit seinem Gesicht nah an meines heran. In seinen Augen erkannte ich diesen unbändigen Hass.

»Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie lange wir nach dir gesucht haben«, flüsterte er bedrohlich in mein Ohr und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Mein Körper realisierte die Gefahr schneller als mein Gehirn, ich schlug wild mit meinen Händen um mich und wollte mich von ihm losreißen. Doch der Kerl war einfach zu stark und mit einem Ruck an meinen Haaren, blieb ich reglos. Der Schmerz schoss mir durch den Kopf, in den Nacken und ich wollte schreien.

»Jetzt kann ich dich endlich töten.«

Mit einer einzigen unangenehmen Bewegung hatte er meine Haare losgelassen und nahm mich in den Schwitzkasten. Ein Wimmern glitt über meine Lippen, doch endlich konnte ich atmen.

Liam kam auf uns zu, legte eine Hand an meinen Hals und tastete mich ab.

»Sie ... sie ist nicht da«, sagte er und zog mein Oberteil etwas herunter.

»Nein. Nicht, Liam«, sagte ich panisch und wollte ihn mit meinen Händen abwehren, doch der Mann, der mich immer noch im Schwitzkasten hielt, der verstärkte seinen Griff und japsend legte ich meine Hände an seine Arme.

»Sie hat sie doch sonst immer getragen«, zischte der Mann und meine Sicht verschwamm. Ich würde ohnmächtig werden, wenn er seinen Griff nicht lockerte. Wollte er mich ... tatsächlich töten?

»Ja. Nein. Die letzten Tage hab ich sie nicht gesehen«, stotterte Liam und ich sah benommen, wie er vor mir zurückwich. Meine Halskette. Ich hatte sie verloren und diese Typen wollten sie mir stehlen. Mit einem letzten Versuch wollte ich Liam treten und traf erfolgreich sein Schienbein. Mit den Fäusten fuchtelte ich hinter mich und schlug dem Fremden gegen die Wange.

Mit einem Knall wurde die Tür plötzlich geöffnet und ich zuckte zusammen. Jaden kam in den Raum und schloss hinter sich die Tür.

Auch der Fremde sah nun zu Jaden und lockerte seinen Arm um meinen Hals. Jedoch ließ er mich nicht los, sondern legte eine Hand in meinen Nacken und entblößte meinen Hals, indem er meinen Kopf zurückzog.

»Ich werde ihr die Kehle herausreißen, wenn du dich ihr nährst Vampir«, sagte er und seine Stimme war eine einzige Drohung. Aber, was war hier nur los?

Das war alles zu verwirrend. Dennoch öffnete es mir scheinbar die Augen. Meine Kopfschmerzen lösten sich auf und ich konnte mich erinnern. Vampir. Jaden war ein Vampir. Und ... Devin. Er war ... mein Vater.

Plötzlich spürte ich die Lippen des Fremden an meinem Hals und ich wollte ihn von mir drücken, mich von ihm befreien.

Aus Jadens Richtung ertönte ein Knurren, das keinesfalls menschlich klang und als ich zu ihm herüberschaute, war er von einer Sekunde auf die andere einfach verschwunden.

»Jaden«, flüsterte ich und schloss die Augen.

Grob ließ mich der Fremde auf einmal los und schubste mich zu Liam. Er schlang einen Arm um meinen Körper und zog mich in die Ecke des Raumes. Da sich in meinem Kopf noch alles drehte, konnte ich mich nicht konzentrieren.

Jaden ... er hatte mir meine Erinnerungen genommen. Er war an meinem Bett gewesen. Und er ... er war im Krankenhaus. In der Nacht. Sein Blut.

Mir wurde kurz schwindelig und ich musste mich an Liam lehnen. Nur am Rande bekam ich mit, dass Jaden sich auf den Mann gestürzt hatte und zu Boden riss. Sie schlugen sich, knurrten sich an und rollten sich auf dem Boden herum. Meine Beine hielten mich kaum noch und Liam sackte mit mir zusammen auf den Boden. Ich landete auf meinen Knien, doch Liam ließ seinen Arm immer noch um meinen Körper geschlungen. Wenn ich ... ein Vampir war. Was waren dann Liam und der Fremde? Waren sie auch ... übernatürlich?
Ich blickte über die Schulter zu Liam.

»Was bist du?«, fragte ich ihn.

»Geht dich nichts an. Sag mir lieber, wo deine Halskette ist.«

Ich schüttelte den Kopf und wollte mich herumdrehen, doch Liam ließ es nicht zu.

»Lass mich los, Liam. Ich habe sie nicht hier.«

»Wo ist sie dann?«

Ich schwieg, denn nun, da ich mich erinnern konnte, wusste ich wieder, wo ich sie hingelegt hatte. Und es war kein Wunder, dass sie keiner gefunden hatte. Nicht einmal ich hatte es geschafft sie zu finden. Ich drückte mich mit dem Rücken gegen Liam und schubste ihn zu Boden. Sein Arm lockerte sich etwas und ich drehte mich herum, sprang auf ihn drauf und legte meine Hände auf seine Schultern. Da legte Liam den Kopf gegen die Wand hinter sich und sah mich herausfordernd an.

»Interessant. Glaubst du wirklich, dass du eine Chance gegen mich hast?«

»Nein. Als Mann hast du mehr Körperkraft als ich. Aber ich habe andere Ideen«, sagte ich und drückte mein Knie mit voller Wucht gegen seine Weichteile. Sofort beugte er sich vor und brummte mich an. Seine dunklen braunen Augen sahen mich nun wild an. Als wären es die Augen eines Tieres.

Blitzschnell stand ich auf, nachdem ich mein Knie nochmal ordentlich in seine Weichteile gedrückt hatte, und drehte mich zu den zwei Kämpfenden herum.

»Malik! Pass auf!«, rief Liam, der sich etwas aufrappelte und eine Hand in seinen Schritt legte. Da dort alle Männer empfindlich waren, war es für Frauen ein gefundenes Opfer.

»Versager!«, knurrte dieser Malik, der gerade von Jaden einen Schlag einsteckte. Ich packte Jaden an den Schultern und stoppte ihn somit.

»Hört auf! Ich habe die Kette nicht hier! Und ich werde nicht einmal im Traum daran denken, sie euch zu überlassen«, rief ich und Jaden erhob sich von Malik. Beschützend blieb Jaden vor mir stehen und Liam ging zu Malik, dem er auf die Beine half.

»Wenn ihr nicht noch mehr Ärger wollt, dann solltet ihr jetzt gehen«, sagte ich finster und stellte mich neben Jaden. Die Arme vor der Brust verschränkt, starrte ich die beiden an.

»Du machst uns keine Angst, Mischling. Wir werden einfach zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen.«

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, waren sie zum Fenster gelaufen, öffneten es und sprangen hinaus. Sobald sie verschwunden waren, packte Jaden mich an den Oberarmen und drehte mich zu ihm herum.

»Ist alles in Ordnung? Haben sie dich sehr verletzt?«, fragte er und untersuchte meinen Hals. Aber Malik hatte mich nicht gebissen und auch keinen Kratzer zugefügt. Das Einzige, dass etwas schmerzte, war mein Kopf. Da er so an meinen Haaren gezogen hatte.

»Es geht schon. Aber ... meine Erinnerungen. Sie sind zurück.«

Jaden sagte nichts dazu, denn er war derjenige gewesen, der sie mir erst genommen hatte. Und er hatte mir dreist ins Gesicht gelogen.

»Wieso sind meine Erinnerungen zurück?«

»Deine Erinnerungen schwammen bereits an der Oberfläche, man hätte sie nie komplett verschleiern können. Schließlich wirst du ein Vampir und man kann andere Vampire nicht manipulieren. Daher sind deine Erinnerungen zurück«, erklärte Jaden ruhig und legte seine Hand an meine Wange und betrachtete mich mit einem mir unverständlichen liebevollen Blick. Als hätte er sich tatsächlich Sorgen um mich gemacht.

»Selbst dir werde ich nicht verraten, wo sich meine Halskette befindet«, sagte ich, da ich wusste, dass auch Jaden sie haben wollte. Jetzt ergab es endlich alles wieder einen Sinn. Jedoch ...

»Im Krankenhaus, da hast du mich in der Nacht besucht. Und dort hast du auch versucht mir meine Erinnerungen zu nehmen.« Er nickte und seufzte.

»Das stimmt. Aber deine Wandlung rückt näher und ich habe es bereits gemerkt, dass die Verschleierung bei dir nicht viel bringt.« Ein weiteres Mal wirkte er nachdenklich und es überraschte mich. Etwas musste ihn beschäftigen. Etwas, dass mit mir zu tun hatte. Ging es dabei um meine Halskette?

»Es stimmt, dass mich etwas beschäftigt. Aber das werde ich dir nicht sagen.«

Meine Augen weiteten sich. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Nicht nur, dass Jaden hinter meiner Halskette her war. Er konnte ja auch meine Gedanken hören.

»Hast du das etwa vergessen?«

»Das wundert dich nach den Tagen, in denen meine Erinnerungen nicht vorhanden waren? Hast du eigentlich eine Ahnung, wie ich mich gefühlt habe?!«

Jaden nickte. Natürlich wusste er es. Er hatte ja die ganze Zeit meine Gedanken hören können. Doch statt, dass ich auf einmal Angst vor ihm hatte, hasste ich ihn und verabscheute ihn. Ihn in meiner Nähe zu haben, bedeutete für mich, dass ich keine Privatsphäre mehr genießen konnte.

»Das sind ziemlich bösartige Gedanken, die du da über mich hast. Obwohl wir uns heute Morgen noch so nah waren.«

Tja, das war heute Morgen, als ich mich noch nicht erinnern konnte. Sollte er doch meine verdammten Gedanken hören, dann würde er eine Beleidigung nach der anderen hören.

»Ach ja?«, antwortete er scheinbar auf meine Gedanken.

Jaden packte mein Gesicht, beugte sich zu mir herab und küsste mich. Seine Lippen waren weich und er war sanft. Noch ehe ich zurückweichen konnte, was eh nicht ging, da er mich gegen die Wand drückte, leckte seine Zunge über meine Unterlippe. Es erinnerte mich an unseren ersten Kuss und ich konnte mir ein leises Seufzen nicht verkneifen.

Doch da hörte er auch schon wieder auf und hinterließ nur ein Kribbeln auf meinen Lippen, die sich nach seinen sehnten.

»Dann sag mir, wieso du mich nicht abweist?«

Ich zögerte, als er plötzlich innehielt und mich ansah. Diese hellen Augen sahen unverwandt in meine und er erwartete eine Antwort. In meinem Kopf rief ich mir irgendein Lied ins Gedächtnis, welches ich summte.

Ich ließ eine Hand unter sein Oberteil gleiten und berührte seine schmale Hüfte. Meine Finger strichen über seine Haut, seine Muskeln, er fühlte sich fantastisch an.

»Halte dich von mir fern, Jaden.«

»Du bist diejenige, die mich berührt«, murmelte er, seine Augen waren auf meine Lippen gerichtet.

»Du hast mich zuerst berührt.«

»Dann lass du mich doch zuerst los«, schnurrte er und legte seine Wange an meine. Ich spürte seine Zunge kurz an meinem Ohrläppchen, meine Augen schlossen sich. Ich durfte mir nichts anmerken lassen. Denn selbst jetzt, wo ich meine Erinnerungen zurückhatte, konnte sich mein Körper nicht entscheiden. Alles in mir schrie, dass er gefährlich war. Doch nun, wo ich mich erinnerte, und alles durchdachte, fand ich den Gedanken nicht mehr so schlimm wie vor ein paar Tagen.

Was konnte ich groß an meiner Situation und meiner Herkunft ändern?

Meine Hände ließen ihn widerwillig los und ich drehte den Kopf weg. Das, was ich ändern konnte, war mein Umfeld. Denn wenn Jaden nicht in der Nähe war, dann hatte ich zumindest meinen Kopf und meine Gedanken wieder für mich. Es ging ihn verdammt nochmal nichts an, was ich dachte.

»Es bringt dir übrigens nichts, wenn du AC/DC in deinem Kopf summst. Viele deiner Gedanken kommen trotzdem zu mir durch«, sagte er und ich zuckte die Schultern.

Auch Jaden ließ mich los und ich huschte an ihm vorbei, schnappte meine Sachen und verließ das Krankenzimmer. Selbst wenn es nur ein paar Gedanken waren, so waren es nicht alle meine Gedanken, die er hören konnte.

Dieser Tag entwickelte sich zu einem wahren Horrortag. Mit Dilara konnte ich kein Gespräch anfangen und wenn wir uns über den Weg liefen, dann drehte einer von uns sich prinzipiell weg. Wobei ich nicht genau wusste, weshalb sie mir aus dem Weg ging. Doch ich brauchte Freiraum. Wie würde meine beste Freundin wohl reagieren, wenn sie wusste, dass ihre beste Freundin ein Monster wurde.

Liam war nicht mehr in den Unterricht gekommen und Jaden war ebenfalls nicht mehr zu sehen. Ob er es sich zu Herzen genommen hatte, was ich gedacht hatte? Auf einer Seite tat es mir ja auch leid, schließlich glaubte ich ihm, dass er es nicht kontrollieren konnte.

Beim Schulschluss lief ich durch die Gänge und verließ eilig das Gebäude. Alles, was ich wollte, war zu schauen, ob meine Halskette wirklich noch an dem Ort lag, wo ich sie versteckt hatte. Nur, damit ich mir selbst sicher sein konnte.

Eilig schnappte ich mir meinen Haustürschlüssel und schloss die Haustür auf. Ich war allein zu Hause und ich schloss die Haustür von innen wieder ab. Auch wenn ich nicht glaubte, dass es einen Vampir aufhielt. Dennoch ... ich fühlte mich sicherer.

Ich rannte die Treppe hinauf in mein Zimmer, versicherte mich noch einmal, dass ich allein war, und summte wieder ein Lied. Ich brüllte es schon fast in meinem Kopf und ging dann auf mein Bücherregal zu. Eines der Bücher das weiter oben stand, nahm ich heraus und öffnete es. In der Mitte war ein kastenförmiges Loch und dort lag ein kleiner Samtbeutel. Den nahm ich heraus und öffnete ihn. Seufzend drückte ich den Beutel an mich. Meine Kette war noch da.

Doch sie sollte erst einmal hierbleiben. Daher steckte ich sie zurück und stellte das Buch diesmal an eine andere Stelle in das Regal.

Kein Wunder, dass ich mich nicht erinnern konnte. Ich hatte das Loch schließlich noch an dem Abend in das Buch geschnitten, als ich die Kette versteckte.

Wenn diese Halskette so bedeutend war, weshalb hatte Jaden sie bisher nicht gesucht? Oder hatte er sie gesucht, als ich im Krankenhaus war? Die Erinnerung an diese Nacht kam sofort und mir wurde schwindelig.

Als er ins Krankenzimmer kam, hatte er sich zu mir ins Bett gelegt und mich in den Arm genommen. Ich erinnerte mich ganz genau daran, wie ruhig und liebevoll er mich geweckt hatte, wie er meine Stirn geküsst hatte. Und als er mir dann gesagt hatte, dass er mir helfen konnte, damit ich schneller wieder gesund wurde, hatte ich zugestimmt.

Und dann hatte er mir sein Blut gegeben. Hatte er das auch nach meiner OP gemacht? Meine Hand betastete mein Knie. Es war vollkommen geheilt. Lag es an dem Blut?

Mir kam es die Kehle wieder hoch und ich rannte zur Toilette. Verflucht!

Was hatte Jaden nur getan? Wieso zum Teufel hatte er es getan? Und weshalb hatte er es direkt zwei Mal getan?

Ich riss den Toilettendeckel auf und beugte mich über die Schüssel. Doch mehr als heiße Luft kam nicht heraus. Was hatte ich erwartet. Dass ich sein Blut wieder ausspuckte? Ich lehnte mich gegen die Badewanne und wartete einen Moment, bis ich mir sicher war, dass ich mich nicht doch noch übergeben musste. Vor dem Spiegel betrachtete ich meine Augenringe, meine blasse Haut und meine verheilten Wunden.

Es war nichts mehr von diesem Unfall zu sehen. Vorhin hatte ich noch gedacht, dass mir das nichts ausmachen würde. Diese ganze Vampirgeschichte. Aber ... es ging mir doch ziemlich nahe und das hatte ich irgendwie nicht erwartet.

Ich werde sterben, dachte ich und fand es immer noch besser, als ein Monster zu werden. Und was hatte Devin noch erwähnt? Ich müsste das Blut eines männlichen Vampirs trinken, wenn ich meine Wandlung machte. Da ich Jaden sein Blut ... getrunken hatte, wurde ich da jetzt schon zum Vampir? Verunsicherung stieg in mir.

»Es geht dir gut. Du wirst kein .... Vampir«, murmelte ich mir zu und legte dann die Hand vor mein Gesicht. Es mir selbst zu sagen war mir so peinlich.

Ich wusch mir den Mund aus und verließ das Badezimmer. Wann bemerkte man denn, dass man diese Wandlung machte? Sollte ich auf Devin zugehen und ihn fragen? Herr im Himmel, bitte sag mir, doch was ich tun soll?

Gerade wollte ich die Tür zu meinem Zimmer öffnen, als ich hörte, wie die Haustür geschlossen wurde. Mit schnellen Schritten lief ich die Treppe hinunter und spähte erst ins Wohnzimmer und dann in die Küche.

»Mom«, sagte ich überrascht, während sie ihre Einkaufstüten auf den Tresen stellte und mich lächelnd ansah. Wie konnte sie nur lächeln?

»Mom, ich ... erinnere mich. Und ich weiß nicht, was ich tun soll.« Sofort kam sie zu mir und nahm mich in die Arme.

»Du erinnerst dich? Woran?«

»Daran, dass Devin mein Vater ist und ... ein Vampir ist. Das bedeutet wiederum, dass ich auch ein Vampir werde«, murmelte ich in ihren Armen. Schmerzlich wurde mir wieder bewusst, dass Noel nur mein Halbbruder war und mich früher gehasst hatte. Ich drückte mich an meine Mutter und hoffte so, dem zu entkommen, was mir tödlich im Nacken saß.

»Schatz, es tut mir leid.«

»Was soll ich tun? Ich will das nicht.«

»Ich kann Devin anrufen, wenn du das möchtest. Nur er kann dir alles erklären«, sagte sie und streichelte beruhigend über meine Haare.

»Mom. Liebst du mich?«, fragte ich sie und hob den Kopf, damit ich in ihr Gesicht sehen konnte. »Oder ... verabscheust du mich?«

Ihr Gesichtsausdruck änderte sich sofort und mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete sie mich eingehend.

»Du bist meine Tochter, Khalida. Und ich verabscheue dich nicht. Weder jetzt noch werde ich es in der Zukunft. Ich wusste damals schon vor der Schwangerschaft, dass Devin ein Vampir ist und ihn habe ich auch nicht verabscheut.«

»Aber, du gehst ihm immer aus dem Weg und meidest seine Nähe.«

Sie streichelte behutsam über meine Wangen und sah mich nun zärtlicher an.

»Das hat ganz andere Gründe mein Liebling. Wieso ruhst du dich nicht etwas aus und ich rufe Devin an. Und ich mache dir einen Tee.«

Ich nickte und Mom brachte mich ins Wohnzimmer. Als ich auf dem Sofa saß, ließ ich mich zur Seite plumpsen und machte es mir bequem.

Wenn ich doch nur ein wenig zur Ruhe kommen würde. Vielleicht würde ich mich dann besser fühlen. Nicht mehr so aufgewühlt. Und wenn ich erst einmal Devin sah, wie würde er reagieren, wenn er wusste, dass ich meine Erinnerungen zurückhatte.

Leise hörte ich die Stimme meiner Mutter aus der Küche und wie sie mit Devin sprach. Tatsächlich wollte ich weder sterben noch ein Vampir werden. Blieben mir da keine anderen Möglichkeiten? Vermutlich nicht.

Seufzend drehte ich mich auf den Rücken und legte wieder die Hand über meine Augen, um sie abzudunkeln. Da würde ich mir fast schon wieder wünschen, dass ich von nichts wüsste. Als ich meine Handfläche ansah, fühlte ich etwas Seltsames in ihr. Wärme strahlte von ihr aus auf meine Augen und eine Müdigkeit überkam mich. Meine Augen schlossen sich und ich konnte nichts dagegen tun, dass ich einschlief.

Devin

Sofort hatte Devin sich auf den Weg gemacht, nachdem Irina ihm erzählt hatte, dass Khalida sich wieder erinnerte. Wie war das möglich? Kam es durch die herannahende Wandlung oder hatte Jaden die Manipulation aufgehoben?

Devin öffnete die Haustür und trat ins Haus. Aus dem Wohnzimmer hörte er dann auch schon Irina, die eindringlich auf Khalida einsprach. Gab es einen Streit?

»Khalida, wach auf«, sagte Irina, als Devin ins Wohnzimmer ging. Doch Khalida rührte sich nicht. Devin lief auf sie zu, nahm Irina beiseite und legte eine Hand auf die Stirn seiner Tochter. Wie hatte sie das geschafft? Hatte sie sich selbst in einen Schlaf versetzt?

Devin versuchte, die Trance aufzuheben, jedoch vergeblich. War das die Kraft eines Mischlings? Selbst als Mensch hatte Khalida schon die Macht über die Trance.

»Was ist mit ihr, Devin? Sie macht die Wandlung doch nicht jetzt, oder?«, fragte Irina ängstlich und kniete sich neben ihn.

»Nein, das ist es nicht. Khalida hat sich selbst in einen leichten Schlaf versetzt. Ihre Kraft ist außergewöhnlich, wenn man bedenkt, dass sie ein Mensch ist«, sagte er und wollte Irina damit nicht direkt verletzen. Er wollte nur ehrlich zu ihr sein. Auch wenn die Wahrheit nicht schön oder angenehm war.

»Oh. Also geht es ihr gut.«

»Ja, davon gehe ich aus. Wir brauchen uns für den Moment keine Sorgen machen«, sagte Devin und stand auf. Irina ging ihm hinterher, als er in die Küche ging und hinter Irina dann die Tür zum Wohnzimmer schloss.

Hoffentlich wachte Khalida von allein wieder auf. Andererseits musste er vielleicht auch gar nicht so lange warten, bis sie wieder zu sich kam.

»Ich habe den Sohn von Walther hergerufen, damit er sich um Khalida kümmern kann, wenn sie die Wandlung macht. Er stammt von einer sehr starken Blutlinie ab und Khalida kann dadurch die Wandlung überleben«, erzählte er Irina, damit sie sich darauf vorbereiten konnte. Außerdem wollte Devin es eh nicht akzeptieren, dass Khalida ihr Leben als Vampir aufgab. Eine Ablehnung kam für ihn nicht in die Tüte, so einfach war das.

»Was? Aber du hast mir schon zugehört, als ich dir gestern sagte, dass sie die Entscheidung selber treffen muss.«

»Natürlich habe ich dir zugehört, aber ich bin nicht einverstanden. Khalida kann selbst entscheiden, aber es geht um ihr Leben und ich will sie lebend. Ich will nicht, dass mein einziges Kind stirbt.« Er kreuzte die Arme vor der Brust und beließ es dabei. Irina sah es ein, dass sie ihn nicht umstimmen konnte und seufzte.

»Und was sagt Walther dazu?«

»Weiß ich nicht. Ich habe nur Jet gefragt. Er ist ein äußerst disziplinierter und einfühlsamer Vampir. Außerdem wird er irgendwann im Rat sitzen und kann Khalida somit beschützen, wenn sie eine Vereinigung eingehen.«

Sofort war Irina wieder wütend.

»Devin! Wenn sie erfährt, dass du ihr einfach einen Mann aussuchst, wird sie das niemals akzeptieren. Du kennst sie kein bisschen.«

»Ich hatte auch nie die Chance dazu, sie kennen zu lernen. Irina, ich will bloß helfen«, sagte er energisch und erntete sofort böse Blicke.

»Wenn du ihr helfen willst, dann besprich die Dinge mit ihr. Khalida sollte wissen, was sie erwartet. Du kannst ihr nicht alle lebenswichtigen Entscheidungen einfach abnehmen.«

Und wenn Blicke töten könnten, dann hätte sie Devin nun erfolgreich und mehrfach erstochen. Verdammt, sie konnte aber auch gar nichts Positives in dem sehen, was er versuchte für Khalida zu tun.

Devin hatte sich das eindeutig einfacher vorgestellt, wenn er Khalida erst einmal die Wahrheit gesagt hatte. Aber es schien, dass sich alles nur noch mehr verkomplizierte.

Dann klingelte es an der Tür und Devin ging wie selbstverständlich hin und öffnete sie. Wie nicht anders zu erwarten, war Jet sehr schnell gewesen. Dafür das Devin ihn erst vor zwei Tagen angerufen hatte.

»Hallo, Devin Ravyn«, begrüßte Jet ihn und verbeugte sich kurz. Schon immer war es so gewesen, dass man den Ratsmitgliedern einen gewissen Respekt entgegengebracht hatte, doch Devin war seit fast zwei Jahrzehnten keines mehr. Trotzdem nahm er die Geste an und lächelte den jungen Vampir an.

Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer und Devin deutete ihm an, dass er sich in den Sessel setzen konnte.

»Ist das deine Tochter?«, fragte Jet und blickte zum Sofa. Eher ungläubig, sah Jet wieder zu Devin.

»Ja. Das ist Khalida. Es tut mir leid, dass ihr euch so kennen lernt. Sie hat sich in einen leichten Schlaf versetzt und ich bekomme sie nicht wach«, sagte Devin und stand mit gekreuzten Armen vor der Brust beim Kamin.

»Sie ist sehr hübsch«, bemerkte Jet und auch Devin musste zugeben, dass seine Tochter das Aussehen nicht unbedingt von ihrer Mutter oder von ihm hatte. Sie hatte ziemlich viele Ähnlichkeiten mit Gavin, ihrem Großvater. Was er wohl davon halten würde, dass sein Sohn ein Mischlingskind hatte.

Darüber musste er schmunzeln, denn Gavin hatte nie etwas für die Menschen übrig gehabt. Stattdessen hatte Devins Mutter immer behauptet, dass die Menschen gar nicht so böse waren, wie man sich das immer erzählte.

»Hast du Walther von deinem Ausflug hierher erzählt?«, fragte Devin ihn, denn niemand vom Rat wusste, dass er eine Tochter hatte. Und er wollte es auch nicht noch groß an die Glocke hängen.

Und bei Jet hatte Devin ein gutes Gefühl. Er war nämlich kein bisschen wie sein stoischer Vater und gerade aus diesem Grund hatte er ihn angerufen. Für Khalida wäre kein anderer Vampir besser geeignet als Jet. Auch wenn sie ihn dafür hasste, Jet könnte sich gut um sie kümmern und für sie Sorgen.

»Nein, ich habe ihn nicht eingeweiht. Ich denke nicht, dass er hiervon erfahren muss«, erwiderte Jet wie immer mit seiner gelassenen und doch formellen Ausdrucksweise, die Devin schon immer an ihm bewundert hatte. Jet ließ sich eher selten aus der Ruhe bringen und hatte immer einen Lösungsvorschlag parat.

»Danke, das weiß ich zu schätzen. Ich hoffe, dass dir das nicht zu viel ausmacht«, sagte Devin und war beruhigt darüber. Das Einzige, was er Jet nicht verraten hatte, war, dass Khalida ein Mischling war. Und für ihn selbst spielte es auch überhaupt keine Rolle. Und bei Jet hoffte er, dass es ihm genauso ging.

»Nein, mir macht es nichts aus deiner Tochter zu helfen«, meinte Jet und lächelte leicht. 

Jet

Immer wieder musste Jet zum Sofa sehen. So einen Willkommensgruß hatte er tatsächlich noch nie erlebt und es belustigte ihn, dass Khalida sich selbst in einen leichten Schlaf versetzt hatte. Aber, sie war doch noch menschlich und stand kurz vor ihrer Wandlung, wie hatte sie es da geschafft, die Vampirkräfte freizulassen.

Er stand auf und kniete sich neben das Sofa, obwohl er wusste, dass Devin ihn beobachtete, aber er wollte Khalida vom nahen sehen. Jet musterte ihre zarten Gesichtszüge, ihre hohen Wangenknochen, ihre leicht geschwungenen vollen Lippen, die leicht geöffnet waren, und ihre Eckzähne, die natürlich stumpf waren.

»Jet, ich habe eine Frage an dich«, sagte Devin auf einmal und Jet stand wieder auf.

»Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass du Khalida bei der Wandlung hilfst. Und es ist auch eine unverschämte Frage, aber könntest du ihr dein Blut jetzt auch geben?«, fragte er und trat dann neben das Sofa und sah zu Khalida.

»Wenn du eine Verbindung mit ihr aufbauen könntest, dann könntest du die Trance lösen. Wer weiß, wie stark sie die Trance auf sich gewirkt hat.«

Stille. Die Worte sickerten in Jets Verstand und er versuchte, nicht zu unangebrachte Worte zu sagen. Eine Verbindung mit jemanden einzugehen konnte eine sehr schöne Sache sein, jedoch war man nicht für jeden vorherbestimmt.

Da räusperte sich Jet, ehe er auf diese Bitte antworten konnte.

»Eine Vereinigung geht mir zu schnell. Ich helfe ihr und ich gebe ihr mein Blut, aber einer Vereinigung kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht zustimmen«, sagte er und ging zum Sessel und setzte sich. An Devins Blick erkannte er zuerst Verwirrung, dann Erkenntnis.

»Oh, nein. Keine Vereinigung. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Nur, eine Verbindung, um die Trance zu lösen. Und damit sie dich kennenlernt.«

Auch Devin sah er an, dass so eine Entscheidung nicht leicht fiel. Und Devin hatte so viele gute Kontakte und hatte sich ausgerechnet Jet für sie ausgesucht. Es schmeichelte ihm, dass Devin ihn ausgesucht hatte. Einer der Gründer des Rats. Eine Legende unter den Vampiren.

»Khalida hat erst vor kurzem von unserer Existenz erfahren und braucht jemanden, der ihr das alles ruhig erklären kann. Und vielleicht kannst du ihr nach der Wandlung ein wenig helfen.«

Das überraschte Jet, dass Khalida es nicht von Anfang an wusste, hatte Devin erst später von ihr erfahren? Nun, diese Geschichte ging ihn definitiv nichts an.

»Ich werde tun was ich kann. Dann lass mich deine Tochter aufwecken«, sagte Jet und ging zum Sofa. Devin nickte ihm zu und verließ das Wohnzimmer. Er hob Khalida vom Sofa hoch und legte sie sich auf den Schoß. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter und sie schmiegte sich an ihn. Oh, sie war wirklich ein seltsames Mädchen. Träumte sie in ihrer Trance?

Jet zog aus seiner Hosentasche ein Taschenmesser und legte seinen Arm bequemer um ihren Nacken. Er bemerkte, wie zierlich sie war, und machte einen kleinen Schnitt in sein Handgelenk. Das Handgelenk an ihre Lippen gelegt, wartete er darauf, dass sie irgendwie reagierte. Allerdings geschah nichts und Jet musste sich daran erinnern, dass sie ja noch ein Mensch war. Sie würde noch nicht auf das Vampirblut reagieren, wie es ein Vampir tat.

Sein Blut benetzte ihre Lippen und lief langsam in ihren Mund. Aus Reflex schluckte sie und zeigte endlich eine Reaktion. Ihre Zunge schnellte hervor und leckte über die kleine Wunde und dann drückte sie ihren Mund fester an sein Handgelenk. Als er kurz einen kleinen Biss spürte, zuckte Jet zusammen.

Er fragte sich, wie ihre Augen aussahen und wie sie ihn betrachten würde. Was würde sie wohl als Erstes zu ihm sagen?

Plötzlich drehte sie sich von seinem Handgelenk weg und fing an zu keuchen und zu husten. Schnell drehte er ihren Oberkörper zur Seite, als sie das Blut ausspuckte. Zuerst konnte Jet es gar nicht fassen, dass sie sein Blut ausgespuckt hatte. Und es war auch nicht viel, aber es war eindeutig. Sie hatte ihn abgelehnt. Nun, das war überraschend, sie hatte doch noch nie Vampirblut gekostet. Wie konnte sie ihn da ablehnen? Jet schnappte sich ein Taschentuch und wischte damit das Blut von ihrem Mund. Dann legte er sich ein weiteres Tuch über die kleine Wunde an seinem Handgelenk.

»Khalida? Kannst du mich hören?«, fragte Jet leise und spürte die Trance, in der sie lag. Sie war wirklich stark gewesen und wenn er nicht so einer starken Blutlinie entstammen würde, hätte er sie vermutlich nicht lösen können.

Ihre Augenlider hoben sich langsam und sie blinzelte ein paar Mal, während sie sich mit einer Hand über den Brustkorb rieb. Es brannte ihr wahrscheinlich im Körper, denn es kam bestimmt nicht oft vor, dass sie Blut eines Vampirs trank.

»Oh, was ist passiert? Bin ich eingeschlafen?«, murmelte sie, als wäre sie mit ihrem Geist noch ganz weit weg. Ihre Stimme klang zart und angenehm. Doch dann richteten sich ihre smaragdgrünen Augen auf ihn und sie sah ihn wissend an. Was war das für ein Ausdruck in ihren Augen?

»Jaden«, wisperte sie und Jet wusste nicht, wie er reagieren sollte. Daher schloss er seine Augen und senkte den Kopf. Ihre zierliche und weiche Hand berührte seine Wange und sie seufzte. Er fühlte, dass ihr Geist noch erschöpft war, und sie musste sich von dieser starken Trance erst einmal erholen. Ihre Wandlung rückte ziemlich schnell voran, aber wenn sie sein Blut ablehnte, musste Devin sich einen anderen Vampir suchen. Man konnte keinen Vampir zwingen, das Blut eines anderen zu trinken.

Was Jet jedoch noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass Khalida den Auftragskiller von seinem Vater kannte. Der Mann war nichts weiter als ein Tier und ein Mörder, der sich alles nahm, was er kriegen konnte. Für jemanden, der kein Gewissen hatte, für den war so ein Mädchen doch nichts wert.

Auf einmal viel Jet der Auftrag ein, den Jaden hatte. Die Halskette.

Schnell sah er nach, ob Khalida eine trug. Aber sie hatte keine um. Dennoch, hier konnte etwas nicht stimmen. Soweit Jet wusste, war Devin aus einem bestimmten Grund aus dem Vampirrat verbannt worden. Er hatte eine menschliche Frau.

War Khalida möglicherweise ... ein Mischling?

Sofort legte Jet sie auf das Sofa und wollte zur Tür gehen, da wurde sie auf einmal aufgerissen und ein blonder junger Mann stand vor Jet.

»Hast du ihr etwas angetan?«, fragte er wütend, doch Jet ließ sich von einem Menschen sicherlich nicht einschüchtern.

»Nein. Ich habe ihr versucht zu helfen.«

»Helfen. Wenn ich das schon aus eurem Mund höre, muss ich schon kotzen.«

Der blonde Mann ging an Jet vorbei und nahm Khalida auf seine Arme. Dann ging er, Jet ignorierend, aus dem Wohnzimmer die Treppe nach oben und irgendwo knallte eine Tür zu. Jedoch musste Jet erst einmal mit Devin sprechen und die Wahrheit erfahren. Denn es änderte die Situation gewaltig, wenn Khalida ein Mischling war.

Khalida

Ich wurde von der Sonne geweckt, die mir direkt ins Gesicht schien. Mürrisch zog ich die Decke höher und wachte dann verwundert auf. Wie war ich denn ins Bett gekommen? Ich hatte doch auf Devin gewartet und dann war ich auf dem Sofa eingeschlafen.

Na super. Ich drehte mich auf die andere Seite und blinzelte zu meinem Wecker. Noch fünf Minuten bis er eigentlich klingelte. Mein Blick wanderte weiter zu meinem lila Sitzkissen, auf dem Noel es sich bequem gemacht hatte. Seine Augen waren geschlossen. Hatte er die ganze Zeit in dem Ding geschlafen?

Seufzend setzte ich mich auf und plötzlich öffnete Noel seine Augen und sah mich an. Huch, er hatte ja gar nicht geschlafen.

»Hey, ausgeschlafen?«, fragte er und ich versuchte nicht an die erdrückenden Gefühle zu denken, die er in mir auslöste. Mein Halbbruder.

»Ja. Hast du die ganze Zeit in dem Sitz geschlafen?«

Er schüttelte den Kopf und erleichtert atmete ich aus.

»Wie geht es dir?«, fragte er und ich zuckte die Schultern. Ich war auf jeden Fall ausgeruht und ich hatte keine Kopfschmerzen.

»Mir geht’s sehr gut«, gab ich zu und ignorierte die Tatsache, dass ich bald kein Mensch mehr war. Das blendete ich geflissentlich aus.

Da sprang Noel auf einmal aus dem Sitz und kam zum Bett. Er berührte mit den Fingern meinen Mund und ich zuckte zurück.

»Dieses Gut meinte ich nicht! Ich glaube kaum, dass ich durch Schlaf gleich zum Vampir werde«, gab ich schnippisch von mir und nahm seine Finger von meinem Gesicht. Er sollte sein Medizinstudium nicht so ernst nehmen. Er studierte schließlich keine Vampirmedizin.

»Tut mir leid. Ich dachte nur nach gestern«, murmelte er und lehnte sich dann zurück, damit ich etwas mehr Freiraum hatte. »Ach nichts. Hauptsache dir geht es gut. Und derjenige, dem du das zu verdanken hast, der sitzt im Wohnzimmer.«

An Noels Gesichtsausdruck konnte ich schon erkennen, dass er diese Person definitiv nicht ausstehen konnte. Da er Devin immer auswich und mit den restlichen Vampiren nichts zu tun haben wollte, konnte ich mir nur einen vorstellen, der mir mal wieder geholfen hatte. Aber wobei hatte er mir geholfen?

Ich stand vom Bett auf und bemerkte, dass ich noch die Klamotten vom Vortag trug. Dennoch verließ ich mein Zimmer, ging die Treppe hinunter und spähte ins Wohnzimmer. Devin saß in dem Sessel und las eine Zeitung und er war seltsam entspannt. Zögerlich sah ich zum Sofa und sah die schwarzen kurzen Haare. Jaden?

Allerdings reagierte er nicht und ich ging langsam auf das Sofa zu. Als ich dann vor ihm stand, hob er den Kopf und blickte mich an.

Jedoch waren es blaue Augen, die mich ansahen und keine grauen. Und sie hatten nicht dieses gewisse Etwas. Sie brachten meinen Atem nicht zum Stocken. Sie bescherten mir keine Schmetterlinge und sie brachten auch meine Gedanken nicht durcheinander.

»Wer bist du?«, fragte ich misstrauisch und konnte kaum fassen, dass ich tatsächlich nur auf Jaden eine merkwürdige Reaktion hatte. Diese Gefühle könnte ich mir niemals selbst eingestehen, daher sollte ich sie aus meinem Kopf und meinem Herzen verbannen. Und zwar sofort.

»Jet Crow«, antwortete er mir, stand vom Sofa auf und reichte mir seine Hand. Aus Anstand und aus Reflex nahm ich seine Hand entgegen. Als er mich dann anlächelte, sah ich die kleinen Spitzen seiner Fangzähne und riss meine Hand zurück. Ich hatte mich daran einfach noch nicht gewöhnt. Vampire. Sie waren einfach überall. Und obwohl ich ja damit rechnen sollte, konnte mein Verstand es nicht verstehen.

»Okay. Hat mich gefreut. Ich geh dann mal«, sagte ich kurz angebunden und verließ mit schnellen Schritten das Wohnzimmer, nahm immer zwei Stufen auf einmal und schloss meine Zimmertür hinter mir. Noel hatte sich nicht einen Millimeter bewegt und starrte Löcher in meine Zimmerdecke.

»Du hättest mich ruhig vorwarnen können, dass da ein Fremder in unserem Haus ist«, warf ich Noel an den Kopf und ging zu meinem Kleiderschrank.

»Bist du ihm um den Hals gefallen?« Was sollte diese Frage denn? Ich würde Jaden nicht um den Hals fallen.

»Nein, natürlich nicht!«
»Dann ist es doch egal, wer das ist. Sehen doch eh alle gleich aus. Sind alles Monster«, sagte Noel leise und ich spürte einen Stich in meinem Herzen. Schließlich gehörte ich bald zu ihnen und war ebenfalls ein Monster. Ich schnappte mir frische Klamotten und ging damit direkt ins Badezimmer. Ich musste mich beeilen. Wenn ich noch öfter zu spät kam, dann könnte ich die Stunden bald nicht mehr ausgleichen.

Schnell machte ich mich für die Schule fertig und ging dann wieder in mein Zimmer, damit ich mir die restlichen Sachen schnappen konnte. Gestern hatte ich auch noch vergessen, meine Hausaufgaben zu machen. Was für ein Mist!

Ich fluchte leise vor mich hin, während ich meine Jacke nahm und Noel in dem Sitzsack ansah. »Ich gehe jetzt. Wenn du willst, dann kannst du dich hier solange verstecken wie du willst.«

Er nickte, stand auf und umarmte mich. Das überraschte mich so sehr, dass ich kaum Zeit fand, diese Umarmung zu erwidern. Als Noel sich gerade zurückziehen wollte, drückte ich mich an ihn.

»Du bist und bleibst meine kleine Schwester. Ich habe dich lieb«, sagte er und küsste mich auf meinen Kopf. Das war der Bruder, den ich liebte. Und es war mir egal, ob ich einen anderen Vater hatte oder ob Noel ein Mensch wäre oder nicht.

»Bis nachher, mein Lieblingsgroßerbruder«, sagte ich und ging dann nach unten. Aus dem Wohnzimmer kamen dann auch schon Devin und Jet und ich seufzte. Jet sah Jaden zwar ein wenig ähnlich, durch das schwarze Haar, aber er wirkte nicht so einschüchternd auf mich. Nun, irgendwie schon, aber das Gefühl war anders, als wenn ich bei Jaden war. Bei Jaden fühlte sich alles viel intensiver an. Jeder Blick und jede Berührung.

Als unsere Blicke sich trafen, war ich gerade dabei meine Schuhe anzuziehen und hätte fast meinen Schnürsenkel zerrissen. Was zum Teufel hatten die bitte an sich, dass sie so eine Wirkung auf ihr Umfeld hatten. Oder betraf es nur mich?

Einatmen, ausatmen, einatmen und ausatmen. Immer daran denken, Khali, dann kann dir auch nichts passieren, sprach ich mir selber zu und stand dann auf, als ich fertig war.

»Also, Khalida. Das ist Jet. Ich habe ihn hergebeten, damit ihr euch kennenlernt und er wird derjenige sein, der dir durch die Wandlung hilft. Und vielleicht baut ihr ja eine gute Beziehung zueinander auf«, sagte Devin, während ich meine cremefarbene Lederjacke überzog und meine Haare richtete. Schnell entschied ich mich für einen Zopf, den ich mir band.

»Okay«, sagte ich und wandte mich schon zum Gehen um. Ich hatte kein Interesse an Jet oder an einem Vampirdasein. Wenn Devin mir einen Bären aufbrummen wollte, dann musste er mit den Konsequenzen leben. Denn Mom hätte mir selbst die Entscheidung gelassen.

»Okay? Okay. Und ganz vielleicht klappt es ja zwischen euch. Aber, wir wollen euch ja nicht zwingen zusammen zu sein«, fügte er hinzu und da drehte ich mich zu ihm herum.

»Wenn du glaubst, dass ich mit ihm«, ich zeigte auf Jet, »eine ernsthafte und feste Beziehung führe, dann irrst du dich gewaltig. Du kannst mir doch nicht einfach irgendeinen Typen vorstellen und erwarten, dass ich das hinnehme. Ich bitte dich, du warst die letzten Jahre nicht hier und willst mich nun an jemanden weitergeben, der mich genauso wenig kennt«, giftete ich Devin an und sah dann zu Jet. Erstaunt blickte er zwischen mir und Devin hin und her und grinste dann. Das sollte er sich ganz schnell abgewöhnen, denn ich verspürte den Drang, ihm dieses Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen. Mit einer deftigen Ohrfeige.

»Ich gehe jetzt. Und lass diesen Unsinn Devin. Ich entscheide selbst, mit wem ich zusammen sein will. Nichts für ungut, Jet«, sagte ich und verließ dann das Haus.

Natürlich musste ich zugeben, dass Jet ein gutaussehender Mann war. Er sah attraktiv aus und war sehr nett bisher zu mir gewesen. Auch wenn wir noch nicht viel miteinander gesprochen hatten. Auch sein Klamottenstil war gutaussehend. Seine schwarze Hose saß eng und tief an seinen Hüften, das weiße Shirt zeigte mehr, als es sollte und die moderne schwarze Jacke, die er offen trug, rundete das alles gut ab. Er war attraktiv, mehr wollte ich dazu nicht sagen.

Ich bog gerade um die nächste Ecke, als ein Auto neben mir fuhr und ein Fenster herunter ließ.

»Steig ein«, sagte eine tiefe Stimme und ich hob schon die Hand, als ich bemerkte, dass er nicht der war, für den ich ihn hielt.

»Ich gehe lieber zu Fuß«, meinte ich und ging weiter. Ich wollte nicht in deren Nähe sein. Es fiel mir schon immer schwer bei Jaden, bei ihm war meine Konzentration gleich null.

»Du wolltest nach der Tür greifen, also steig ein«, sagte Jet nachdrücklich und ich blieb stehen. Das Auto hielt und ich musste für zwei Sekunden durchatmen. Er war nicht Jaden. Er konnte meine Gedanken nicht lesen. Mit ihm könnte es weniger unangenehm sein.

Also öffnete ich die Autotür und schwang mich auf den Beifahrersitz. Die Schnalle war schnell festgemacht und Jet fuhr weiter.

»Wieso fährst du mich zu Schule?«, fragte ich und wurde etwas nervös.

»Ich werde als neuer Schüler deine Schule besuchen, damit ich dich im Auge behalten kann«, erwiderte er und ich hatte schon damit gerechnet. Aber Jet sah nicht wirklich aus wie ein Schüler einer High-School. Er sah mehr aus wie ein Student.

Nun ja, Jaden auch. Und weshalb hatte sich Jaden wohl an der Schule als Schüler angemeldet? Nein, die Gedanken an Jaden sollte ich verbannen. Er könnte schließlich meine Gedanken bereits hören und das wollte ich nicht.

»Das klingt so als würdest du auf ein kleines Kind aufpassen müssen«, entfuhr es mir und ich fummelte nervös an meiner Jacke herum. Weshalb war ich nervös?

Mir fiel kein Grund ein. Dann sollte ich aufhören, nervös zu sein.

Ich legte meine Hände in meinen Schoß und lehnte mich in dem Sitz zurück.

»Oh, ich wollte dich nicht beleidigen. Nur ist es sehr gefährlich für dich, wenn du während deiner Wandlung allein bist.« Als sein Blick meinen traf, konnte ich nicht verhindern, dass ich ihn anstarrte.

»Außerdem werde ich mir deinen Stundenplan kopieren, damit ich in jeder Stunde in deiner Nähe bin«, sagte er noch und ich seufzte. Na toll.

Noch ein Vampir, der mir ständig auf die Nerven gehen würde. Das konnte ich derzeit eigentlich gar nicht gebrauchen. Meine Schulnoten waren eh schon verdammt schlecht. Ich sollte mich auf meine Schule konzentrieren.

Als wir den Schülerparkplatz erreichten, spielten meine Finger mit meinen Haarsträhnen und wickelte sie um meinen Finger und wirbelte sie wieder auseinander.

»Keine Sorge, ich werde dich auch nicht beißen. Versprochen«, sagte er und parkte das Auto. Als er mich dann anlächelte, sah ich wieder diese kleinen spitzen Fänge und das erste Mal spürte ich in meinem Inneren, dass sich etwas in mir veränderte.

Ein Schauer glitt über meinen Rücken und ich zuckte zusammen, als Jet mich am Arm berührte. Doch die Berührung hinterließ auf meinem Arm ein Kribbeln und ich seufzte. Was war denn jetzt los? Es fühlte sich so seltsam an.

»Alles in Ordnung?« Mit einem Nicken befreite ich mich von seiner Hand.

Ich nahm meine Tasche, öffnete die Wagentür und stieg aus. An der Luft atmete ich kurz tief ein und wieder aus und betrat vor Jet das Schulgebäude.

»Ich gehe schon Mal voraus«, rief ich nach hinten und wartete keine Antwort ab. Ich musste weg von Jet. Als ich dann das Klassenzimmer betrat und mich auf meinen Platz setzte, legte ich den Kopf in den Nacken. Das seltsame Gefühl, dass sich in meinem Inneren breitmachen wollte, versuchte ich zu unterdrücken. Ich konnte es nicht beschreiben, aber es fühlte sich definitiv unangenehm an und es bereitete mir Bauchschmerzen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis auch Jet den Raum betrat und an meinem Platz vorbeiging. Ha, Gott sein Dank.

Ich seufzte und sah kurz zu ihm nach hinten. Er lächelte mich schon wieder an und ich hatte das Gefühl, dass er wollte, dass ich ihn mochte. Es war ja nicht so, dass ich ihn hasste, aber was dachte sich Devin dabei?

Plötzlich lag eine Hand auf meiner Schulter und unterbrach den Blickkontakt zu Jet. Meine Augen richteten sich auf Jaden und mit seinen sturmgrauen Augen musterte er mich eingehend von oben bis unten. Natürlich blieb es nicht aus, dass meine Gedanken kurz verrückt spielten, und ich versuchte, an ein Lied zu denken. Egal welches.

Als Jaden sich dann neben mich setzte, lächelte er mich an. Er wusste, dass ich in Gedanken gerade smells like teen spirit summte, und versuchte, mir den Text wieder in Erinnerung zu rufen.

»Wie geht’s dir?«, fragte er mich lächelnd und ich blickte nach vorn zur Tafel.

»Gut und dir?«

Eigentlich wollte ich ihn nicht fragen. Und eigentlich ging es mir gerade nicht gut. Vor allem, weil dieses kribbelige Gefühl in meiner Magengegend wieder auftauchte.

»Kannst du nicht woanders sitzen«, raunte ich ihm zu und als ich mich zu ihm beugte, musste ich innehalten. Denn Jaden hatte sich ebenfalls zu mir gebeugt und unsere Gesichter waren zu nah. Ich spürte seinen frischen Atem auf meiner Haut. Als ich kurz zu seinem Mund schaute, hatte er ihn leicht geöffnet und ich sah seine Fänge.

Mein Körper reagierte sofort, was ich nicht wollte und ich zuckte zusammen, als der Schauer über meine Haut kroch. Unangenehm. Es war mir so unfassbar unangenehm.

Als mein Körper aufhörte zu beben, presste ich meine Lippen aufeinander und versuchte Jaden nicht mehr anzusehen.

Er legte einen Arm auf meine Stuhllehne und lehnte sich noch weiter zu mir. Ich hörte, wie er einatmete und die Gänsehaut auf meinem Körper nahm zu. Wenn er das noch einmal machte, dann musste ich definitiv weg von ihm. Und zwar ganz weit weg.

»In den nächsten Tagen ist es so weit. Du solltest lieber zu Hause bleiben und dich nicht überanstrengen«, murmelte Jaden und seine Hand berührte mein Haar. Es kribbelte sofort auf meinem Rücken und ich zuckte zusammen bei dem Gefühl in seiner Nähe.

»Hör auf. Das macht es nicht besser«, zischte ich und Jaden lachte leise neben mir. Es war ganz und gar nicht witzig. Ich war hier diejenige, die sich hier unwohl fühlte.

»Und außerdem kann ich nicht zu Hause bleiben. Ich muss meine Noten verbessern. In letzter Zeit habe ich zu viel Unterrichtsstoff verpasst.« Und du warst daran schuld. Doch das konnte ich ihm nicht sagen. Wobei ich das vermutlich auch nicht brauchte, denn er konnte ja eh meine Gedanken hören.

»Tss, das kannst du dir doch erschleichen. Du manipulierst einfach den Lehrer und schon hast du eine sehr gute Note«, sagte er leise und fing an, mit seiner großen Hand über meinen Rücken zu streicheln. Seltsamerweise beruhigten mich der sanfte Druck seiner Berührungen und das unangenehme Gefühl in meinem Bauch verschwand allmählich.

Seufzend schloss ich die Augen und legte den Kopf auf meinen Händen ab.

Und als die Lehrerin hereinkam, wirkte sie wie immer. Nachdem Devin ihren Platz für einige Tage eingenommen hatte, war es seltsam, sie hier zu sehen. Davon abgesehen war ich froh, dass Penelopé momentan nicht in der Schule war. So hatte Mrs. Bennet keinen Grund, um mich fies anzusehen. Wobei sie das gerade auch tat. Einige Dinge änderten sich eben nie.

Nachdem die Unterrichtsstunde vorbei war, blickte Jaden kurz nach hinten zu Jet, ehe er sich wieder zu mir drehte und seine Hand plötzlich an meiner Wange lag. Seit gestern war er super zärtlich und lieb zu mir, obwohl ich ihm einen eindeutigen Korb gegeben hatte. Zumindest war ich davon überzeugt, dass ich ihm einen Korb gegeben hatte.

»Du solltest dich wirklich ausruhen. Wir Vampire können deine herannahende Wandlung wahrnehmen und einige Vampire reagieren entsprechend auf so etwas«, flüsterte Jaden und ich schluckte meine Fragen herunter. Er war der Letzte, mit dem ich darüber reden wollte. Vermutlich war die Frage in meinem Kopf schneller gewesen und Jaden hatte sie mit Sicherheit schon gehört.

Fragend sah ich ihn an und er nickte. Ja, natürlich hatte er sie gehört.

»Manche werden so reagieren, wie du eben reagiert hast. Und manche können sich nicht zurückhalten und wollen dir dann das geben, was du brauchst.«

»Blut?«, krächzte ich, denn der Gedanke behagte mir gar nicht, dass mich Wildfremde ansprachen oder Schlimmeres.

»Auch«, sagte Jaden und grinste schon wieder schelmisch, dass ich die wildesten Gedanken bezüglich seiner Antwort hatte. Was sollte auch bedeuten?

Das Gespräch wollte ich nicht weiterführen, denn mein Körper erzitterte schon wieder und ich wollte am liebsten in die Knie gehen, in der Hoffnung, dass sich das dann nicht so schlimm anfühlte.

Ich nahm Jadens Hand von meiner Wange und ging zum Ausgang.

Wenigstens konnte ich auf der Mädchentoilette für mich sein. Im Spiegel sah ich mich an. Mein Gesicht war etwas gerötet sowie auch mein Dekolleté. Aber als ich meine Hand auf meine Stirn legte, bemerkte ich, dass ich kein Fieber hatte.

Ich spritzte mir etwas kühles Wasser ins Gesicht und verließ dann wieder das Mädchenklo. Auf dem Flur wusste ich nicht, wo ich nun hingehen sollte. Hunger hatte ich keinen, daher ging ich durch den Flur auf den nächsten Klassenraum zu, in dem mein nächster Kurs stattfand.

Plötzlich wurde ich am Ellbogen gepackt, herumgedreht und in eine Seitennische des Flurs gedrückt.

»Was soll das?«, fragte ich und sah dann in Jets himmelblaue Augen. Sofort verstummte ich und hoffte, dass ich bei ihm nicht dieselben körperlichen Reaktionen hatte, wie ich sie bei Jaden hatte. Das wäre mir nicht nur unangenehm, es war auch noch unfassbar unpassend.

»Was hast du mit diesem Typen zu tun?«, fragte Jet leise und sein Blick wirkte mehr als einschüchternd. Dabei dachte ich, dass er ein netter Vampir war.

In manchen Situationen wollte ich über mich selbst lachen. Ein netter Vampir?

Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich befürchtete, dass schon wieder ein Schauer kam, doch es passierte nichts.

»Ich ...«, stotterte ich und konnte kurz Belustigung in seinen Augen sehen. Meine Augenbrauen zusammengezogen, die Hände zu Fäusten geballt, atmete ich ein und aus.

»Ich habe nichts mit ihm zu tun«, meinte ich dann und nahm mir all die Wut, die ich empfand, und konzentrierte mich einfach darauf. Und nicht auf die Angst, die ich in seiner Nähe empfand.

»Und wenn ich etwas mit ihm zu tun hätte, dann geht dich das nichts an.«

Jet baute sich vor mir auf, seine breiten Schultern versperrten mir den Blick auf den Flur und ich verlor die Hoffnung, dass mich jemand aus dieser Situation rettete.

Dann rückte er noch ein Stück näher, sein Becken berührte meines und meine Brust berührte seine. Verdammt, was hatte er vor? Die Angst nahm etwas zu und doch versuchte ich, mich von ihm zu befreien.

»Du bist ganz schön mutig, schließlich werde ich derjenige sein, dessen Blut du trinken darfst, damit du die Wandlung überlebst«, flüsterte er und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Das ich das durfte? Hatte ich ihn denn gebeten?

Wollte er mich verarschen? Nun siegte tatsächlich die Wut und ich lehnte mich ihm entgegen.

»Spiel dich nicht so auf, ich habe dich nicht gefragt. Und dann erkläre du es Devin doch, dass du mir nicht mehr helfen möchtest.«

Jet lächelte überrascht und nahm einen Schritt Abstand von mir. Scheinbar schuldete er Devin etwas, ansonsten glaubte ich nicht, dass ich mit dieser lahmen Aussage gewonnen hätte.

»Touché«, sagte er, doch ich hatte noch mehr zu sagen.

»Und wenn du mich mit so einer lahmen Aktion einschüchtern willst, dann gib dir keine Mühe. Ich kenne dich nicht und will nichts von dir«, zischte ich und hob eine Hand, die er sofort auffing. Ja, ich hatte vorgehabt ihm für seine Aufdringlichkeit eine zu verpassen. Finster entzog ich ihm mein Handgelenk, atmete genervt und ermüdet aus und hoffte, dass Jet mich dann jetzt in Ruhe ließ.

»Und was hast du mit Jaden zu tun?«, fragte ich Jet, doch er zuckte die Schultern und rückte dann komplett von mir ab. »Nichts was dich angeht.«

Und dann stand ich allein im Flur.

Da ich Mal wieder zu spät zum Unterricht kam, wollte ich mich nicht ins Klassenzimmer setzen, in dem auch Jet saß und ging in die Cafeteria. Auch wenn ich keinen Hunger hatte, ich brauchte irgendwas, damit ich mich ablenken konnte.

Ich bestellte mir einen heißen Kakao und setzte mich an einen der Tische. Wenn es wirklich so weit war und ich die Wandlung in einen Vampir machte, würde Jet mir wirklich helfen? Da ich ihn nicht kannte, machte ich mir Sorgen. Was musste ich tun? Was musste ich beachten? Was bedeutete es für mich, wenn ich sein Blut trank?

Außerdem hatte ich bereits das Blut von Jaden getrunken, auch wenn es unbewusst gewesen war und Jaden es mir einfach eingeflößt hatte. Verträumt blickte ich aus dem Fenster und berührte mit den Fingerspitzen meine Lippen. Während er mich küsste, hatte er mir sein Blut gegeben, das war total widerwärtig und niederschmetternd. Denn ich musste mir eingestehen, dass ich es nicht widerwärtig fand. 

Mich faszinierten die Bäume mit ihren grünen Blättern, die sich im Wind wanden, denn plötzlich befand ich mich auf einer riesigen Wiese. Ein Traum? War das mein Albtraum? Der Schock legte sich, als ich die Blumen sah. Sie blühten in den verschiedensten Farben und ich ging durch das Blumenfeld und atmete die frische Luft ein.

Mit langsamen Schritten ging ich durch das Feld und sah mich um. Auf einmal bemerkte ich, dass es immer weniger Blumen auf dem Feld gab. Umso weiter ich ging, desto weniger Blumen blühten hier. Ich sah auf den Boden und kniete mich hin. Der Boden trocknete langsam aus.

Über mir verdunkelte sich der Himmel und ich richtete mich wieder auf. Der Wind nahm zu und wirbelte meine Haare hin und her. Die Wiese vertrocknete unter meinen Füßen und dann stand ich plötzlich auf dunkler Erde.

Hier war ich schon einmal, schoss es mir durch den Kopf. Und ich fühlte mich beobachtet, ich fühlte mich nicht allein hier. Obwohl ich niemanden sehen konnte.

Ich drehte mich herum, durchsuchte die Gegend mit meinen Augen, doch hier war niemand. Nur ich stand hier. Meine Beine trugen mich von allein weiter. Und mein Körper wusste, wo er hinmusste. Wie immer sah ich diesen Felsen, an dem Moos klebte.

Meine Angst stieg. Jemand verfolgte mich.

Ich streckte die Hand aus und ging auf den Baum neben den Felsen zu und berührte einen seiner Äste. Sofort zerfiel er zu Staub und ich zuckte zurück. Hinter mir vernahm ich das Knacken eines Astes, auf den jemand getreten war, und ich wollte mich herumdrehen. Doch bevor ich sehen konnte, wer mich verfolgte, stieß mich die Person von der Klippe, an der ich stand.

Schreiend blickte ich dem schwarzen Loch entgegen. 

Kapitel 12 - Khalida

Ich erwachte langsam aus meinem Albtraum und versuchte zu blinzeln. Es fiel mir schwer, richtig wach zu werden und grausige Erinnerungen an den Traum kehrten zurück. Nur war es diesmal kein Albtraum der sonstigen Art gewesen. Es war eine Vision gewesen, ansonsten hätte ich es niemals in einem Wachzustand erlebt. Das ängstigte mich.

Als ich meine Augen etwas geöffnet hatte, blickte ich mich in meiner hellen Umgebung um. War ich schon wieder im Krankenzimmer in der Schule? Ich drehte leicht den Kopf und erkannte dann einen dunklen Fleck auf der anderen Seite. Panik durchflutete meinen schwachen Körper und ich drückte sofort die Augen wieder zu. Das letzte Mal hatte mich jemand im Krankenzimmer angegriffen.

Jedoch spürte ich statt eines Schlages eine sanfte Hand an meiner Wange, die mich nur berührte und sich nicht bewegte. Daher öffnete ich meine Augen wieder und versuchte den verschwommenen Schleier wegzublinzeln.

»Was ist passiert?«, fragte ich mit rauer Stimme, während ich mich langsam aufsetzte. Die Hand verschwand von meinem Gesicht und ich rieb mir über meine Augen und meine Wangen. Da bemerkte ich, dass ich geweint haben musste. Nun ja, die Vision hatte mich auch ziemlich mitgenommen.

»Jemand hat dich zitternd und weinend in der Cafeteria gefunden. Du hast dem Küchenchef dort vermutlich einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, erklärte mir eine tiefe und ruhige Stimme, der ich kein Gesicht zuordnen konnte. Selbst der Arzt klang anders. Wo befand ich mich?

»Sind wir noch in der Schule?«

Endlich verbesserte sich meine Sicht und ich erkannte, dass ein dunkler Schatten auf mich zukam. Abwehrend hob ich meine Arme, doch statt, dass ich angegriffen wurde, nahm er meine Hände herunter und legte seine warmen Hände an meine Wangen.

Die Matratze senkte sich ein wenig, als der Mann sich an die Kante setzte. Er hielt mein Gesicht immer noch fest und streichelte mit seinen Daumen sachte über meine Wangen. Es entspannte mich, jedoch fragte ich mich ernsthaft, wer das vor mir war.

Denn wären es Jaden oder Jet, dann hätte ich ihre Stimmen sofort erkannt und mein Körper hätte anders reagiert. Obwohl ich wirklich strikt gegen dieses Vampirding war, wusste ich, dass keiner von den beiden in meiner Nähe war.

»Du bist vorerst in Sicherheit«, sagte er und mein Misstrauen wuchs. In Sicherheit? Was sollte das bedeuten?

»Vorerst?«, fragte ich und ließ es zu, dass eine seiner Hände in meinen Nacken fuhr und mich dort ein wenig massierte.

»Mehr kann ich dir nicht sagen«, murmelte er und seine ruhige Stimme war wie ein Heilmittel gegen meinen derzeitigen Stress. Diese Vision war über mich hinweggefegt und hatte mich komplett außer Gefecht gesetzt. So, wie der Mann sich gerade um mich kümmerte, hatte ich schon fast das Gefühl, dass er ebenfalls ein Vampir war. Allerdings hatte ich bei ihm keine körperlichen Reaktionen, die auf meine Wandlung hindeuteten.

»Aber es wird dir bald jemand hereingeschickt, von dem du Blut trinken kannst«, sagte er weiter leise und ich hob den Kopf und meine Arme und stieß ihn von mir. Meine Alarmglocken schrillten auf einmal ziemlich laut. Was wusste dieser Kerl über mich?

»Wovon redest du da?«, sagte ich angespannt und wollte vom Bett aufstehen. Ich krabbelte unter der Bettdecke hervor und wollte vom Bett springen. Doch mein Fuß war in der Bettdecke noch eingewickelt und ich fiel mit dem Kopf voran auf den Boden.

Wenn der fremde Mann nicht seinen Arm unter meinen Brustkorb gelegt hätte, dann hätte mein Gesicht auf jeden Fall mit dem Fußboden Bekanntschaft gemacht. Geschockt über die Tatsache, dass ich gefangen wurde, ließ ich mir von ihm aufhelfen und stand dann vor dem riesigen Kerl. Sein Arm lag um meine Taille geschlungen und er drückte mich sanft an seinen Körper, als ob meine Beine mich noch nicht halten konnten.

Nun, ich vertraute meinen Beinen auch noch nicht.

»Ich heiße Caleb. Schön dich kennen zu lernen Khalida«, sagte er und lächelte mich freundlich an. Ich blickte von seinen saphirblauen Augen zu seinem Lächeln und musste krampfhaft versuchen, meine Sprache wiederzufinden.

»Hi, Caleb«, bekam ich dann heraus und wollte mich zurück auf das Bett setzen, doch er ließ mich nicht los. Stattdessen legte er seine Hand auf meine Wange und sah mich mit einer Intensität an, die mir eine unangenehme Gänsehaut bescherte.

»Wenn du keine Vampirin wärst, dann hätte ich dich zu meiner Gefährtin gemacht«, sagte er leise und strich sanft mit der Hand zu meinem Hals und streichelte mit dem Daumen über meine Haut. Die Berührung war fast schon zu zärtlich.

»Du ... siehst Malik ähnlich«, sagte ich unüberlegt und Caleb zog leicht die Augenbrauen zusammen.

»Dieser Mistkerl. Ich hätte an seiner Stelle sein sollen. Wenn ich dich aufgesucht hätte, dann hättest du keine schlechte Erfahrung mit uns machen müssen«, sagte er und blickte mich wie gebannt weiter an. Also war er mit Malik befreundet oder verwandt? Das bedeutete, dass ich in deren Gefangenschaft war. Mein Körper fing an zu zittern und ich wollte mich von seinem Arm befreien. Diesmal ließ er mich auch los und ich taumelte zum Bett.

Da blickte ich mich das erste Mal in dem Zimmer um und musste verdutzt feststellen, dass dieser Raum kein einziges Fenster besaß. Nur Lüfter.

Calebs Augen folgten meinen Blicken und er lächelte ein wenig. Dann kniete er sich vor mich, sein Blick war weich. Anscheinend wollte er mir tatsächlich nichts antun. Oder wollte er mich in Sicherheit wiegen und mich dann schnell und schmerzlos töten?

»Man kann es sehr deutlich an dir riechen, dass du in den nächsten Tagen deine Wandlung machst«, murmelte er und ich fragte mich, weshalb er so viel mit mir sprach. Sollte ich ihm darauf etwas antworten? Ich wusste beim besten Willen nicht, was er von mir hören wollte oder was ich dazu sagen sollte.

Ob Jaden oder Jet wussten, dass ich nicht mehr in der Schule war?

»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte ich.

»Seit ein paar Stunden.«

Wenn Jaden es bemerkte, dann musste er doch meine Gedanken hören. Oder etwa nicht? Das konnte doch nur er.

Da stand Caleb auf einmal auf und die Zärtlichkeit wich aus seinem Gesicht. Diese Veränderung kam überraschend schnell.

»Ich muss jetzt gehen.«

Ich hielt ihn nicht auf und Caleb verließ den Raum und dann hörte ich noch, wie die Tür von außen abgeschlossen wurde. Mein Zeitgefühl hatte ich komplett verloren und gedankenverloren blickte ich mich um. Aber bis auf dieses Bett und einen Nachttisch hatte dieses Zimmer nichts zu bieten. Keinen einzigen Anhaltspunkt.

Und selbst die Tür wirkte auf den ersten Moment unscheinbar.

Hm, wenn Malik und Liam mich entführt hatten, was war dann der Grund dafür? Nachdem sie gestern aus der Schule geflüchtet waren, hatte ich ihnen doch deutlich klar gemacht, dass sie meine Halskette nicht bekommen würden.

Was wollten sie mit dieser Aktion erreichen? Schließlich hatte ich meine Kette immer noch in meinem Zimmer versteckt. Ich legte den Zeigefinger an mein Kinn und versuchte, etwas Klarer zu werden. Allerdings wirbelten zu viele Gedanken in meinem Kopf herum und durch diese Vision hatte ich Durst bekommen. Mein Hals fühlte sich trocken an.

Meine Hand legte sich automatisch an meinen Hals. Was würde passieren, wenn ich die Wandlung machte und nicht das Blut eines männlichen Vampirs zu mir nahm? Vermutlich ... erwartete mich dann so oder so der Tod.

Mein Körper schüttelte sich kurz.

Plötzlich klopfte es an der Tür und mit hochgezogenen Augenbrauen wartete ich ab. Allerdings war es ein fremder Mann, er trug eine Wasserflasche bei sich und reichte sie mir.

»Oh, danke«, sagte ich und nahm sie ihm ab.

Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete mich.

Als ich einen kurzen Schluck nahm, schloss ich die Augen und genoss das kühle Wasser. Es war, als hätte man sofort gewusst, was ich brauchte. Unheimlich.

Dann setzte ich die Flasche ab und sah den Mann an. Er wirkte furchterregend. Seine Stirn runzelte er und seine Augen hatten einen gefährlichen Ausdruck.

»Entschuldigung, haben Sie eine Kopfschmerztablette?«, fragte ich zögerlich und hielt ihm die Wasserflasche wieder hin. Ich wusste nicht, ob ich sie behalten durfte, und warum sonst stand er wohl noch im Zimmer. Doch er nahm mir die Flasche nicht ab, stattdessen starrte er mich weiter an und ich wich seinem Blick aus. Es war mir unheimlich, wie er mich ansah.

Und eine Antwort bekam ich auch nicht. Und als hätten wir uns nie unterhalten, was wir irgendwie auch nicht getan hatten, verließ er einfach wieder das Zimmer. Und was hatte das nun für einen Sinn gemacht? Allerdings war ich wirklich dankbar für das Wasser, von dem ich direkt noch einmal einen Schluck trank.

Ich sollte mir überlegen, wie ich von hier entkommen konnte. Vielleicht war ich nicht sehr weit weg von Jaden und Jet. Oder aber ich befand mich irgendwo in der Pampa, wo mich niemand lebendig finden würde.

Und wer hielt mich in der Gefangenschaft? Malik und Liam? Ich traute ihnen viel zu, aber sie wirkten nicht unbedingt wie jemand, der so viel planen konnte. Da ich mich sicherer auf meinen Beinen fühlte, ging ich im Zimmer herum, berührte die Wand und ging dann auf die andere Seite. Es waren Betonwände, also war es auf jeden Fall kein einzelner Raum.

Zumindest konnte ich es mir nicht vorstellen. Ein Haus? Aber es hatte keine Fenster. Oder war der Raum extra so konzipiert? Vielleicht war es ein Raum direkt inmitten des Hauses. Ob es dann direkt nebenan weitere Räume gab?

Argh, ich hatte zu viele Fragen.

Ich ging in die Hocke und legte meine Arme auf meine Knie ab. Wenn ich doch nur die ganze Wahrheit wüsste. Aber es war alles so verwirrend. Mir schwirrte der Kopf und ich legte meine Hände auf meinen Kopf. War es Tag oder Nacht?

Ah! Ich hatte eine Vermutung, was hier gemacht wurde. Sie wollten mich auf irgendeine Art und Weise brechen. Langsam stand ich wieder auf, nahm mir die Wasserflasche und sah mich weiter im Raum um. Irgendwo hatte man bestimmt eine Kamera installiert. Sie warteten vermutlich auf den richtigen Zeitpunkt. Ein Zeitpunkt, in dem ich vielleicht zusammenbrach oder die Nerven verlor. Vielleicht war das ja gar keine schlechte Idee.

Ich nahm den Deckel der Wasserflasche ab und warf die Flasche mit voller Wucht gegen die Tür. Die Flasche polterte laut gegen die Tür und das Wasser spritzte durch die Gegend und als die Flasche am Boden lag, lief das Wasser aus.

Hm, vielleicht reichte das nicht unbedingt aus. Ich riss die Bettwäsche vom Bett, schmiss alles auf den Boden und der Stoff sog sich mit dem Wasser voll. Auf dem Nachttisch stand leider nichts, sonst hätte ich noch mehr zu Boden geschmissen.

Ich setzte mich in die Ecke des Raumes und zog die Knie weit an meinen Körper. Seufzend schloss ich die Augen. Wenn sie mich doch nur schnell töten würden. Aber sie hatten vermutlich Spaß daran, Menschen leiden zu sehen.

»Dreckskerle«, flüsterte ich. Wenn ich nur die Kamera finden könnte, allerdings glaubte ich kaum, dass sie so etwas offensichtlich installierten.

Plötzlich knurrte mein Magen in der Stille und ich drückte meine Beine fester an meinen Körper. Das Einzige, was ich tun konnte, war warten. Aber ich hasste warten, ich war einfach zu ungeduldig. Daher stand ich auf und ging zur Tür. Einmal versuchte ich, es sie zu öffnen, aber sie war tatsächlich abgeschlossen.

Als ich dann an die Tür klopfte, wartete ich. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand dort draußen auf mich aufpasste. Was hätte ich denn auch groß tun sollen. Ich war ein Mensch. Draußen regte sich nichts und ich hörte auch nichts, daher trat ich einen Schritt zurück und drehte mich um. Wenn mir nicht bald ein Plan einfiel, dann war das hier vermutlich sehr schnell vorbei.

Als ich zum Bett ging, knickte ich mit dem Bein ein und fiel auf die Knie. Meine Hand hielt sich gerade noch so an der Matratze fest. Wenn ich hier die Wandlung machte, starb ich.

Dann öffnete ich den Mund und fing an zu schreien. Laut, schrill und hoffentlich markerschütternd.

Ich legte die Arme um meinen Körper und krümmte mich zusammen. Wieder schrie ich und mir kamen die Tränen. Als dann nur noch ein Wimmern und Schluchzen aus meinem Mund kam, hörte ich polternde Schritte im Flur. Sie kamen schnell. Und es waren mehrere.

Als ich hörte, wie das Schloss sich öffnete und die Tür aufgestoßen wurde, drehte ich den Kopf und blickte in ein Augenpaar, das ich vor einigen Tagen bereits schon einmal gesehen hatte.

Bei der Schule hatte ich diesen Mann versehentlich angerempelt.

Meine Augen weiteten sich, als er auf mich zukam. Sofort schreckte ich zurück, warf mich auf den Rücken und versuchte, so weit wie möglich von ihm wegzukriechen.

»Nein!«, schrie ich, als er die Hand nach mir ausstreckte und ich befürchtete, dass er mich an den Haaren packte. Stattdessen aber packte er mein Handgelenk und zog mich vom Boden hoch.

Seine Hand schnappte nach meinem Kinn und brachte mich damit zum Schweigen. Seine hellen braunen Augen waren direkt auf meine gerichtet und es war, als könnte er direkt in meine Seele blicken. Als wüsste er, dass ich das vorhin geschauspielert hatte.

Jedoch als ich ihn sah, war meine Angst real. Mehr als das.

»Ein Nervenzusammenbruch?«, fragte er und die Angst in mir stieg weiter. Seine Stimme war ein dunkles Grollen und er rollte das R stark.

»Für einen Moment dachte ich schon, dass du deine Wandlung machst.«

Ich schluckte krampfhaft und legte dann vorsichtig meine Hand auf seine, die immer noch mein Kinn festhielt. Sobald ich seine Haut berührte, sah er hinunter.

»Sie tun mir weh«, sagte ich leise und mit zitternder Stimme und er ließ zu meiner Überraschung mein Kinn los. Ich blinzelte die Tränen weg und wich seinem Blick nicht aus, als er mich wieder ansah.

»Wo ist der Anhänger?«

»Weiß ich nicht«, sagte ich und der Fremde grinste unheimlich. Es war eindeutig die falsche Antwort und das wusste ich. Aber ich hatte es Malik und Liam gesagt. Niemand würde meine Kette bekommen.

»Du bist unfassbar dumm«, sagte er und stieß mich dann auf den Boden. Ich versuchte, mich mit den Händen abzufangen, doch der Sturz tat trotzdem weh.

»Es ist mir egal, was Sie mit mir vorhaben. Aber Sie werden meine Kette nicht bekommen!«, sagte ich mit fester Stimme. »Und es ist mir auch vollkommen egal, was Sie mir antun werden!«

Da ich meine Zukunft in meiner Vision nicht ändern konnte und auch nicht wusste, was sie bedeutete, konnte ich meine Zukunft hier auch nicht ändern. Ich wusste, dass ich sterben würde, die Frage war nur wann.

Der Fremde bückte sich zu mir herunter, das Grinsen sah immer noch unheimlich und überheblich aus.

»Du bist nicht nur dumm, sondern auch mutig. Sperrt sie wieder ein, sie wird solange bleiben, bis ich mir was anderes überlegt habe«, sagte er und ging auf die Tür zu. Als ich ihm hinterher sah, konnte ich einen Blick auf Liam und Malik erhaschen. Verächtlich grinsten sie mich an. Dann schloss sich die Tür. Vorsichtig tastete ich mein Gesicht ab, doch bis auf den leichten Druckschmerz am Kinn, hatte ich keine Schmerzen.

Einige Sekunden blieb ich noch sitzen, ehe ich mich aufrappelte und mich auf die Matratze setzte. Tja, das war meine letzte Idee gewesen. Was sollte ich tun?

Ich legte mich auf den Bauch und drückte mein Gesicht in das Kissen. Was konnte er außer dieser Kette noch wollen? Und was hatte er eigentlich mit meiner Kette vor?

Wieso hatte er mich noch nicht umgebracht? Malik hatte erwähnt, dass er mich umbringen wollte, aber niemand tat es.

Seufzend drehte ich den Kopf zur Seite und schloss die Augen.

Das einzig Gute an der Situation war, dass ich keinen Vampir in meiner Nähe hatte, der bei mir irgendwelche körperlichen Reaktionen auslöste.

Ich drehte mich hin und her auf der Matratze. Ab und an wechselte ich die Bettseite oder ich legte mich mit dem Kopf zum Fußende und ließ die Arme über der Bettkante baumeln. Alles, was ich wollte, war von hier zu entkommen. Aber wie?

Ich drehte mich herum und starrte an die Tür. Wenn der Mann noch einmal hereinkam, dann musste ich mit ihm ein Gespräch anfangen. Denn ich hatte keine Ahnung, was er war oder wer er war. Und das Wieso wollte ich auch wissen.

Aber auch das Starren half nichts und ich stand vom Bett auf. Um mich abzulenken, dehnte ich ein wenig meinen Oberkörper. Dann setzte ich mich auf den Boden, streckte die Beine und beugte mich nach vorn. Ich machte noch einige andere Übungen, doch das brachte mir auch keinen kühlen Kopf und ich ließ den Kopf kreisen. Mein Nacken war verspannt und es knackte einmal kurz.

Seufzend ging ich dann im Raum auf und ab, lehnte mich gegen eine Wand und trat nebenbei die Bettdecke beiseite. Mittlerweile war die Flasche leer und ich hob sie auf und wedelte sie durch die Luft.

Wenn er mich noch länger warten ließ und sich nichts tat, dann würde ich wütend werden. Der Kerl sollte sich schneller überlegen, was er als Nächstes tun wollte.

Ich griff nach der Bettdecke, knüllte sie zusammen und legte sie auf das Bett.

Als dann endlich die Tür aufgeschlossen wurde und sie sich öffnete, lief ich schnell hin. Allerdings war es nicht der Mann von vorhin, sondern ein Junge in meinem Alter. Zumindest vermutete ich es. Er wurde in das Zimmer geschubst und hinter ihm schloss sich wieder die Tür, wobei ich noch versuchte, an dem Jungen vorbei zu kommen und die Tür aufzuhalten.

Ich musste mit dem Mann von vorhin sprechen.

Doch dann klackte die Tür zu und wurde wieder abgeschlossen.

»Mist!«, fluchte ich leise und drehte dann den Kopf in die Richtung des Jungen. Der Typ sah mich nicht an und lehnte sich stattdessen mit dem Rücken gegen die Wand.

»Ist alles in Ordnung mit dir? Haben die Leute dir was angetan?«, fragte ich ihn, denn als ich ihn betrachtete, wirkte er angeschlagen und erschöpft. Wurde er hier gefoltert?

Statt mir jedoch mit Worten zu antworten, schüttelte er den Kopf. Also wurde ihm hier nichts angetan? Oder war nicht alles in Ordnung. »Also geht es dir gut?«

Er nickte. Hm, dann sollte ich ihn einfach in Ruhe lassen, er machte auf mich nicht den Eindruck, als wäre er freiwillig hier im Zimmer mit mir. Nun, davon abgesehen war ich auch nicht freiwillig hier.

Seufzend lehnte ich mich ebenfalls an die Wand neben den Jungen.

»Ich wurde entführt. Aus der Cafeteria meiner Schule«, begann ich zu erzählen, denn mir brannten die Wort auf der Zunge. Und selbst wenn er mir nicht zuhörte, war es mir irgendwie egal. Ich musste mir das einfach von der Seele reden.

»Sie wollen etwas von mir, dass ich ihnen einfach nicht geben kann. Etwas so Wichtiges für mich, dass ich tatsächlich lieber sterben würde. Das ergibt gar keinen Sinn, oder?«

Mein Blick huschte kurz zu dem Jungen, doch er beachtete mich immer noch nicht. Er konnte mich kein bisschen davon überzeugen, dass es ihm gut ging.

»Sag mal, kannst du vielleicht nicht reden?«, fragte ich mit allem an Feingefühl, was ich gerade aufbringen konnte, und endlich drehte der Junge sein Gesicht zu mir. Seine dunkelbraunen Haare waren etwas länger und durcheinander. Und dann schüttelte er den Kopf. Also war er nicht stumm. »Wurdest du auch entführt?«

„Ja“, antwortete er dann und drehte sich dann wieder weg. Hatte er vielleicht Angst ... vor mir?

Ich nahm Abstand zu dem Jungen und stellte mich auf die andere Seite des Raumes.

»Ich will dir nur sagen, dass ich ein Mensch bin. Auch wenn du das jetzt seltsam findest, ich wollte es dir nur einmal verständlich machen.«

Ich rieb mir über das Gesicht und seufzte erschöpft. Seit wann war ich hier? Und wie viel Zeit war bisher verstrichen? Oh Gott, wenn meine Mom erfuhr, dass ich entführt wurde ... ich wollte nicht in Devins Haut stecken.

»Ich bin auch ein Mensch, aber sie sagten, dass du bald mein Blut trinken würdest«, sagte der Junge ruhig und dennoch mit einer gewissen Distanz in der Stimme. Entsetzt schaute ich ihn an und schüttelte den Kopf. Jeder schrieb mir vor, was ich zu tun hatte, und das ging mir tierisch auf die Nerven.

Und vor allem war ich wütend, weil dieser Fremde sich ebenfalls in mein Leben einmischte.

»Wer hat das gesagt?«, fragte ich und konnte meine Wut kaum zügeln. Wenn ich schon dachte, dass ich wütend auf Devin gewesen war, dann war ich in diesem Moment eine Atombombe, die scharfgestellt wurde.

»Der Anführer«, sagte er und ich schlug mit der Faust gegen die Wand hinter mir. Also der Mann, der auch vorhin im Zimmer war? Der Mann, der mir eine riesige Angst einjagte?

Aber in den meisten Fällen war die Wut stärker in mir und überdeckte meine Furcht und das war gerade in diesem Augenblick überhaupt nicht verkehrt.

»Dann können wir ja eines schonmal klarstellen: Ich werde kein Blut trinken. Vor allem kein Menschenblut.«

Ich musste mich beruhigen, zumindest ein wenig. Sonst konnte ich nicht mehr klardenken und würde etwas Unüberlegtes tun. Das sollte ich vermeiden.

Ich drehte mich herum und starrte die Wand an. Dem Typen wurden vermutlich Unwahrheiten erzählt oder aber sie wussten nicht, was ein Vampir bei der Wandlung brauchte.

Und auch wenn ich nicht alles wusste, war mir klar, dass ich das Blut von Jet brauchte, damit ich die Wandlung überlebte. Als ich Schritte im Zimmer hörte, drehte ich mich zum Jungen wieder um und stellte überrascht fest, dass er auf mich zukam. Konnte ich ihm die Angst vor mir nehmen? Ich war schließlich vollkommen ungefährlich.

Seine hellen grünen Augen fixierten mich auf einmal und erst als er vor mir stand, wurde mir bewusst, dass er plötzlich eine ganz andere Ausstrahlung hatte. Er sah nicht mehr verängstigt oder erschöpft aus. Nein, er sah aus wie ein Badboy und beugte sich leicht zu mir.

»Also wirst du nicht von mir trinken?«, fragte er ernst und fast berührten sich unsere Nasenspitzen. Ging es ihm vielleicht doch nicht so gut? Hatte denn hier niemand irgendeine Art von Schamgefühl?

»Nein«, antwortete ich schlicht, legte eine Hand an seine Brust und drückte ihn ein wenig von mir weg. Er war mir nämlich eindeutig zu nah. Eine seiner Hände packte mein Handgelenk und nahm es von seinem Körper.

»Wenn du aber nicht mein Blut trinkst, dann stirbst du. Das weißt du, oder?«

Ich war dumm. Und zwar so richtig. Der Kerl hatte mich veräppelt. Er hatte mich mit seiner schüchternen Art um den kleinen Finger gewickelt. War er überhaupt ein Mensch? Zumindest war er kein Vampir, das konnte ich mit Sicherheit sagen.

»Das weiß ich«, sagte ich, beließ es aber auch schon dabei. Wenn die Leute hier von meinen Visionen wüssten, dann würden die mich vermutlich für verrückt halten.

Moment. War ich das nicht schon? Blinzelnd wich ich seinen hellen grünen Augen aus, meine Gedanken schweiften zu dem Gespräch, das ich vor ein paar Tagen vergessen hatte. Wie konnte meine Mutter mir das antun? Wieso hatte sie ... mich behalten?

Und weshalb war Devin abgehauen damals?

Meine freie Hand legte sich an meine Schläfe. Obwohl ich keine Kopfschmerzen hatte, schwirrte mir durch die ganzen Fragen der Kopf. Und ich wollte nicht sterben. Aber ... ich wollte auch kein Vampir sein. War es also falsch, wenn ich ein Vampir wurde, nur damit ich nicht starb?

»Lass mich los«, flüsterte ich und wollte ihn von mir drücken. Mir wurde schlecht, in meinem Bauch tat sich ein ganz seltsames Gefühl auf. Und ich wollte schreien und weinen zugleich.

»Lass los«, sagte ich wieder, doch er packte stattdessen auch meine andere Hand und zog mich an sich. Was wollte er tun? Mich zwingen, ihn zu beißen?

Als ich in sein Gesicht sah, blickte er mich überrascht an und ließ meine Handgelenke augenblicklich los. Allerdings legte er seine Hände nun an meine Taille und drückte mich langsam an sich. Er nahm mich vorsichtig in seine Arme.

Da wurde mir erst wahrhaftig bewusst, dass ich getröstet werden wollte.

Weinend drückte ich mich an ihn und hielt mich an seinem weißen Hemd fest. Mehr als das konnte ich gerade nicht tun. Seine Hände streichelten sachte über meinen Rücken und sein Kinn lag auf meinem Kopf.

Und als ich mich ein wenig beruhigte, war mir das ein wenig peinlich. Schließlich kannte ich den Kerl nicht, der mich hier tröstete.

»Ich wollte dir keine Angst einjagen«, murmelte er und ich wischte die Tränen unter meinen Augen weg und schniefte. Dabei hatte er mir keine Angst gemacht. Ich wurde von meinen verschlossenen Gefühlen überrumpelt und er hatte es geschafft, dass sie ausbrachen.

»Es tut mir leid«, murmelte er weiter, seine Berührung war sachte und vorsichtig. Als er bemerkte, dass ich nicht mehr weinte, hob er seinen Kopf von meinem und nahm ein wenig Abstand zu mir, damit er mir ins Gesicht schauen konnte.

»Geht es dir besser?«

»Ich glaube nicht«, antwortete ich leise und löste mich von ihm. Er hielt mich immer noch an den Schultern fest und beobachtete mich eingehend.

»Eine Vampirin die vor einem Menschen weint. Das habe ich tatsächlich noch nie erlebt«, sagte er leise und ließ mich innehalten. Ich war noch kein Vampir. Und dass der Junge aber wusste, dass ich bald einer sein würde, verunsicherte mich. Wo war ich hier gelandet?

»Du bist kein Vampir«, sagte ich und er nickte.

»Ich bin ganz und gar menschlich.«

Aus meinem Mund kam unbeabsichtigt ein sarkastischer Laut.

»Und ich wirke auf dich nicht menschlich?« Unsere Blicke trafen sich und er sah mich mitleidig an. Sah ich so furchtbar aus? Ja, denn ich sah immer ganz schrecklich aus, wenn ich weinte. Wer nicht, war da eher die Frage.

»Aber du bist ein Vampir, richtig?«, fragte er mich und ich dachte, dass er mich nun loslassen würde, aber das tat er immer noch nicht.

»Die anderen scheinen ebenfalls keine Vampire zu sein«, sagte ich, da ich ihm nicht auf seine Frage antworten wollte.

»Natürlich nicht. Sie sind Wölfe«, sagte er und meine Augenbrauen hoben sich. Unglauben breitete sich in mir aus und für einen Moment zuckten meine Mundwinkel. Natürlich waren das Werwölfe. Was sollte ich sonst noch erwarten von dieser Welt?

Hexen und Kobolde?

»Warte, glaubst du mir nicht?«

»Ich glaube dir nicht. Ich glaube an gar nichts!«, sagte ich und musste im nächsten Moment lachen, welches überhaupt nicht echt war und auch nicht so klang. Aber zum Teufel mit dieser Welt. Seit mein Vater aufgetaucht war und Jaden mir die Wahrheit gezeigt hatte, wurde mein Leben auf den Kopf gestellt.

»Du verwirrst mich. Also bist du kein Vampir und sie halten ein ganz normales Mädchen gefangen?«

»Keine Ahnung. Ehrlich. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Offenbarung und mir wurde gesagt, dass ich ein Vampir werde. Seither habe ich die seltsamsten Begegnungen. Und das macht keinen Spaß.«

»Du wusstest es nicht von Geburt an?«

»Nein. Denn meine Mutter ist ein Mensch. Sie ist ganz und gar menschlich«, ahmte ich seine Wortwahl nach und die Verwirrung änderte sich in einen verblüfften Ausdruck.

»Oh mein Gott, du bist ein Mischling.«

Na, da hatte jemand aber ganz schön viel Ahnung, dafür, dass er ein Mensch war. Ich dachte, dass es die Regeln brach, wenn ein Mensch davon wusste.

Zufällig wanderte mein Blick über sein Gesicht, herunter zu seinem Hals und ich betrachtete seinen Körper. Zumindest, soweit ich konnte, denn er rückte immer noch nicht von mir ab.

Und als ich wieder hochsah, fiel mir etwas an seinem Hals auf. Sofort griff meine Hand an seinen Hemdkragen und ich zog ihn beiseite.

Verblasste Bissspuren waren auf seinem Hals zu sehen.

»Oh mein Gott«, hauchte ich und betastete vorsichtig seine Haut.

»Was haben sie dir angetan? Das muss schmerzhaft gewesen sein.«

Der Kerl wollte sich wegdrehen, ihm war es scheinbar unangenehm, dass ich seinen Hals berührte. »Keine Sorge, ich beiße dich nicht. Meine Zähne sind stumpf und ich habe kein Bedürfnis danach, dein Blut zu trinken.«

Denn ich würde nur durch das Blut eines Vampirs leben können, schoss es durch meinen Kopf.

»Es war schmerzhaft«, sagte er dann leise und ich krempelte seinen Kragen wieder hoch. Wenn diese Wölfe mir das auch antaten ... dann wollte ich lieber hier und sofort sterben. Ich wollte nicht gebissen werden.

»Ich habe mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr mit einem ganz normalen Mädchen unterhalten«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Es ist daher etwas Besonderes für mich, dass ich dich kennen gelernt habe.«

Auf einmal beugte er sein Gesicht zu mir nach unten, seine Arme schlangen sich um mich. Ich spürte seinen Kopf auf meiner Schulter und wie er mich umarmte. Der Arme, er musste sehr gelitten haben. Ich legte eine Hand an seinen Hinterkopf und strich beruhigend über seine Haare. Wie lange war er wohl schon hier bei den Wölfen?

Plötzlich spürte ich seine Nasenspitze an meiner Wange und wie er mir einen Kuss auf die Wange hauchte.

»War....« Ich konnte meinen Satz nicht beenden, denn er legte seine Lippen auf meine und küsste mich. Was war hier los?

Ich starrte ihn an, doch seine Augen waren geschlossen. Seine Hände hielten mich fest an ihn gedrückt.

Als er sich von mir löste, wusste ich gar nicht, was ich jetzt sagen sollte. Ich war einfach zu überrascht.

»Das Einzige, das ich will, ist meine Freiheit. Keine Wölfe, keine Vampire. Aber bei dir würde ich vielleicht eine Ausnahme machen«, flüsterte er und grinste mich an.

»Machst du das immer, wenn du bei Frauen bist? Sie einfach küssen?«, fragte ich leise und räusperte mich, weil meine Stimme etwas kratzig klang. Irgendwie hatte er mich mit diesem Kuss etwas aus der Fassung gebracht.

»Manchmal. Ich küsse sie, bevor sie mein Blut trinken.«

»Hast du vergessen, dass ich ein Mensch bin?«, sagte ich und erkannte, wie der Kerl die Lippen wunderschön zu einem sinnlichen Lächeln kräuselte.

»Ich glaube, dass ich dich gerade deswegen einfach küssen musste.«

Auf einmal ließ er mich los und trat einen Schritt zurück. Und als er mir die Hand reichte, lachte ich. Ja, ich lachte über ihn.

»Ich heiße Dan.«

»Khalida«, erwiderte ich und legte meine Hand in seine. Das war ehrlich gesagt, die absurdeste Situation, wenn man bedachte, dass er mich eben gerade noch geküsst hatte.

Lächelnd sah sich Dan im Zimmer um und entdeckte dann das Chaos auf dem Bett. Als er darauf zeigte, sah er mich fragend an.

»Ich wusste nicht was ich tun sollte und ich bin sehr ungeduldig«, sagte ich und Dan schob die Bettdecke beiseite, damit er sich auf das Bett setzen konnte. Ich setzte mich neben ihn und wartete ab, was nun passieren würde.

»Weshalb hat man dich jetzt zu mir hereingeschickt?«

»Hm, man ging wohl davon aus, dass du deine Wandlung machst. Die Wölfe wissen nicht genau, wie die Wandlung bei den Vampiren ist.«

Das war gut, dachte ich, denn die Wölfe waren mit Sicherheit keine Freunde der Vampire. Und sie mussten nicht unbedingt eines der Vampirgeheimnisse kennen. Kurz ließ ich meinen Blick schweifen und ich war mir sicher, dass die Kamera, die hier mit Sicherheit installiert war, auch den Ton übertrug. Ich konnte Dan hier nicht sagen, dass sein Blut allein nicht reichen würde, damit ich die Wandlung überlebte.

»Welchen Grund hätten die Wölfe, dass ich meine Wandlung überlebe?«

»Woher sollte ich das wissen? Ich bin hier gefangen und bin ein Gelegenheitssnack für die Wölfe. Sie reden nicht viel mit ihren Gefangenen«, entgegnete Dan und zuckte die Schultern.

»Als Mischling kann es sein, dass ich so oder so nicht überlebe. Glaubst du, dass da dein Blut allein ausreicht? Schließlich macht es einen Unterschied, ob man Vampirblut oder Menschenblut trinkt, oder?«, fragte ich und versuchte Dan so aus der Reserve zu locken. Vielleicht kam er ja selber darauf, wenn ich es ihm quasi durch die Blume erzählte.

»Hast du schon einmal Vampirblut getrunken?«, fragte er und ich hob die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. War das nicht etwas zu persönlich?

Zumindest kam es mir so vor. Denn der stille Moment in der Nacht im Krankenhaus hatte mich verlegen gemacht. Jaden hatte mir nicht gesagt, dass es so berauschend und intensiv war, wenn man Vampirblut zu sich nahm.

Schweigend spielte ich an meinen Haarsträhnen und zwirbelte sie um meine Finger.

»Bin ich als einzige Vampirin hier?«, fragte ich und wollte so viele Informationen von meinem Feind, wie ich bekommen konnte.

»Ja. Hier leben nur Wölfe. Sie trinken das Menschenblut, falls du dich wegen der Bissspuren gewundert hast.«

Ich nickte, denn genau das hatte mich auch noch beschäftigt.

»Wieso trinken Werwölfe Menschenblut? Das ergibt keinen Sinn, denn dann unterscheiden sie sich ja kaum von den Vampiren.«

»Du bist ziemlich aufmerksam«, sagte Dan und lächelte. Dann jedoch sah er mich ernst an und beugte sich nach vorn. Seine Arme lagen auf seinen Knien und er starrte auf den Boden.

»Sie trinken Menschenblut damit sie nicht altern. Es gibt ihnen keine besondere Stärke, wie es bei den Vampiren ist und ihr Organismus benötigt es auch nicht. Anatomisch sind Vampire und Werwölfe unterschiedlich wie die Sonne und der Mond. Aber viele Wölfe haben sich ebenfalls an ihr ewiges Leben gewöhnt«, erklärte Dan und es wunderte mich wirklich, wie viel er über Wölfe und Vampire wusste.

»Du bist schon ziemlich lange hier, oder?« Ich konnte nicht verhindern, dass mich das traurig machte. Seine Eltern waren bestimmt verrückt vor Sorge um ihren Sohn gewesen. Und sie gingen bestimmt davon aus, dass er tot war.

Aus Reflex legte ich eine Hand auf seinen Arm und er zuckte kurz zusammen, ehe er mich ansah.

»Es ist schon gut. Du musst nicht antworten«, murmelte ich und drückte kurz seinen Arm. Er war viel bemitleidenswerter als ich, daher sollte ich mir einen guten Deal überlegen, damit ich Dan seine Freiheit zurückgeben konnte. Das Leben hier hatte kein Mensch verdient.

Auf einmal wurde die Tür aufgeschlossen und Malik blickte in den Raum. Als er sah, dass wir uns unterhielten, fing er an, fies zu grinsen.

»Willst du dir nicht nehmen, was wir dir bieten, Mischling?«

Meine Augenbrauen zogen sich zusammen und ich stand vom Bett auf.

»Wo ist dein Anführer? Ich muss dringend mit ihm sprechen!«, sagte ich und ging auf ihn zu. Da ich nicht vorhatte, jetzt in diesem Augenblick zu fliehen, musste er sich keine Sorgen machen. Außerdem war ich eh nicht schnell genug. Körperlich hatte ich mich noch nicht von dieser Vision erholt.

»Das geht dich gar nichts an. Und er wird nicht mit dir sprechen.«

»Ich will nur ein Gespräch und dann kann man verhandeln. Wenn er kein Interesse hat, dann soll er mir das selber sagen. Und nein, ich nehme nicht, was ihr mir bietet, denn zufällig bin ich noch ein Mensch.«

Obwohl ich in meinem Inneren das Fluchtgefühl spürte, war ich auch wütend. Ich war wütend auf Jaden und auf Devin. Sie hatten mich erst aufgeklärt und mich dann manipuliert. Wenn man schon mit offenen Karten spielen wollte, dann sollte man sie komplett offen legen und nichts vertuschen.

Knurrend kam Malik auf mich zu und hob die Hand. Doch bevor sie mein Gesicht traf, stand Dan auf einmal hinter mir. Er fing die Hand von Malik ab und legte einen Arm um mich.

»Sie ist immer noch eine Frau. Und man schlägt keine Frauen«, sagte Dan mit finsterer Stimme und ließ dann Maliks Hand frei.

»Ich werde es dem Anführer ausrichten, aber hab keine Erwartung, dass man dich anhört. Verdammter Mischling!«, knurrte Malik und sah dann wütend zu Dan. »Verabschiede dich von ihr. Ich nehme dich mit.«

Oh nein, wurde Dan jetzt bestraft? Sofort drehte ich mich in seiner Umarmung herum und packte seinen Hemdkragen.

»Es tut mir leid«, sagte ich und wollte ihn nicht loslassen. Denn wenn er diesen Raum verließ, dann wurde er wieder gebissen.

»Wofür entschuldigst du dich Khalida?«, fragte er und sein Blick wurde sanfter.

»Wenn du meinetwegen bestraft wirst, kann ich mir das nie verzeihen.«

»Werde ich nicht. Mach dir keine Sorgen.«

Vor Maliks Augen beugte er sich zu mir, drückte mich mit seinem Arm näher an seinen Körper und drückte seine Lippen ein zweites Mal auf meine.

Ich wollte zurückweichen und machte den Mund auf, um Dan aufzuhalten. Allerdings nutzte er diese Gelegenheit und leckte mit seiner Zunge über meine Lippe, ehe er sie in meinen Mund gleiten ließ und meinen Mund verschloss.

Dieser Kuss war anders von Dan. Weder schüchtern noch zaghaft. Ich spürte seine Zunge an meiner, wie er sie berührte und neckte. Meine Augen schlossen sich, als ich seine andere Hand in meinem Haar spürte. Als er sich zurückzog, musste ich Luft holen und bemerkte, dass ich ihm kaum ins Gesicht schauen konnte.

»Seit über drei Jahren bin ich hier gefangen und seither hat mir keiner dieses Gefühl von Wärme geschenkt, wie du es gerade getan hast Khalida. Und dafür stehe ich für immer in deiner Schuld, egal was passiert«, sagte er leise in mein Ohr und ließ mich dann los.

»Habt ihr euch fertig unterhalten?«, fragte Malik genervt und Dan ging schweigend auf ihn zu. Als er sich ein letztes Mal zu mir herumdrehte, lächelte er mich an und zwinkerte mir zu. Doch auch das half nichts gegen meine Angst, dass ihm etwas Schreckliches zustoßen könnte. Das die Wölfe ihm etwas Schreckliches antun würden.

Ich setzte mich zurück auf das Bett, als Malik die Tür wieder abgeschlossen hatte, und atmete tief durch. Mein Versprechen konnte ich Dan gar nicht mehr mitteilen, aber ich würde es definitiv in die Tat umsetzen. Egal wie. 

Khalida

Ich musste kurz eingeschlafen sein, aber wirklich ausgeruht fühlte ich mich nicht. Mein Zeitgefühl änderte sich rasant, denn mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass ich schon ein paar Tage hier gefangen war. Aber mein Verstand dachte, dass ich vielleicht einen halben Tag hier war, dass es vermutlich Abend war. Seufzend setzte ich mich auf und rieb mir verschlafen über das Gesicht und warf meine Haare zurück. Im Zimmer war es dunkel, aber ich hatte das Licht zuvor nicht ausgemacht. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah ich mich in dem Zimmer um, konnte aber kaum etwas erkennen. Eigentlich fast gar nichts, denn es hatte ja keine Fenster. Nur durch den kleinen Schlitz bei der Tür drang ganz leichtes Licht herein.

Es beunruhigte mich, dass ich nichts sehen konnte, und ich warf die Decke beiseite.

Auf einmal senkte sich die Matratze und ich schrie.

»Sch. Ich bin es. Caleb.«

Er flüsterte und ich spürte seine Hände an meinen Händen. Ich hörte auf zu schreien und versuchte ein paar Mal tief durchzuatmen.

»Was ... was tust du hier?«, fragte ich ebenfalls im Flüsterton. Mein Herz beruhigte sich zumindest ein wenig.

»Ich wollte dich sehen. Wie geht es dir?«

War das gerade tatsächlich eine ernstgemeinte Frage von ihm? Ungläubig versuchte ich, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, aber bis auf einen ganz leichten Umriss von Calebs Körper, konnte ich sonst nichts weiter sehen. Daher versuchte ich, mich vorzutasten, und löste als Erstes meine Hände von seinen. Ich griff nach seinen Handgelenken und strich über seine Arme hoch zu seinen Schultern.

»Caleb, wieso hast du das Licht ausgemacht? Ich habe mich zu Tode erschreckt.«

»Weil du geschlafen hast und ich dachte, dass du besser schläfst, wenn das Licht aus ist.«

Seufzend schloss ich die Augen. Der Kerl war irgendwie zu lieb, da konnte ich nicht einmal böse auf ihn sein, dass er mich so erschreckt hatte.

Auf einmal bewegte sich Caleb und warf mich mit seinem Gewicht in die Matratze zurück und legte sich neben mich. Er zog an der Bettdecke und dann spürte ich seinen Körper an meinem.

»Äh, Caleb, was machst du hier?«

Doch er antwortete mir nicht. Er kuschelte sich an mich und legte den Arm über meinen Bauch und zog mich dichter. Sein Körper war ziemlich warm und ich drehte mein Gesicht in seine Richtung.

»Khalida. Empfindest du etwas für den Menschen?«, fragte er in die Stille. Seine Stimme klang ernster als eben gerade noch.

»Du meinst Dan? Nein, wie kommst du denn darauf?«

»Ihr habt euch geküsst.«

Ich zuckte zusammen, denn es ging nicht von meiner Seite aus. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Caleb verstehen würde, weshalb Dan mich geküsst hatte. Schließlich war er ein Wolf. Vermutlich nahm er sich einfach das, was er wollte, ohne Rücksicht zu nehmen.

Oh, verdammt! Ich öffnete die Augen und wollte mich von ihm abwenden, doch Caleb ließ mich nicht los.

»Wieso hast du auf einmal Angst?«

Weil er ein Wolf war. Aber ich konnte es ihm nicht sagen. Am Anfang hatte ich auch Angst vor Devin und Jaden gehabt. Sie waren Vampire und Caleb war verdammt noch einmal ein Wolf! Ein Werwolf! Selbstverständlich hatte ich da Angst, er könnte mich schließlich beißen und zerfetzen.

»Weil«, fing ich an und kam nicht weit, denn er drehte mich auf den Bauch und setzte sich auf meinen Rücken.

»Khalida. Hast du Angst, weil ich anders bin?«

»Anders?«, fragte ich atemlos und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, nicht in Panik zu verfallen. Caleb würde mich nicht töten, oder? Vampire waren die Feinde der Wölfe, nicht wahr? Aber er würde mich nicht töten. Oder?

Ich presste die Augen zu und betete zu Gott, dass Caleb mich nicht biss.

»Weil ich ein Wolf bin?«

Seine Hände hielten meine Handgelenke fest, ich konnte mich nicht bewegen. Als er eine meiner Hände freigab, strich er sanft mein Haar zur Seite und legte sein Gesicht an meinen Hals.

»Bitte, tu mir nicht weh«, flüsterte ich und legte meine freie Hand vor meinen Mund. Ich hatte nicht vorgehabt etwas zu sagen, aber die Angst war riesig ihm gegenüber.

»Tue ich nicht. Ich verspreche es dir«, flüsterte er und küsste meinen Hals. Ich spürte, dass er sich von meinem Körper erhob, und ich atmete tief ein.

Seine Hand legte sich unter meinen Bauch und er drehte mich herum auf den Rücken. Als er über mir schwebte, erkannte ich seine saphirblauen Augen, die mich beobachteten. Und ich bemerkte, dass er sich sein Oberteil ausgezogen hatte. Dann schloss Caleb seine Augen und beugte sich zu mir herunter. Er legte sich auf meinen Körper und hielt mich fest. Seinen Kopf legte er auf meinen Brustkorb.

»Du kannst nicht verstehen, weshalb das hier gerade passiert, oder?«, fragte er in die Dunkelheit und ich legte vorsichtig meine Hände an seinen Hinterkopf. Ich traute mich nicht, zu atmen oder mich zu bewegen.

»Nein«, sagte ich dann und Caleb seufzte.

»Ich glaube, dass es egal ist, ob du ein Vampir bist oder nicht. Es ist egal was du bist, das Herz täuscht einen nicht«, sagte er, doch ich verstand es immer noch nicht. Worauf wollte er konkret hinaus? Hatte Caleb etwa ... romantische Gefühle für mich?

Das war doch unmöglich. Caleb hob seinen Kopf und sah mich schweigend an. Tja, im Grunde war er ein Mann. Und ich war eine Frau. Wir waren Menschen. Irgendwie.

»Gehöre mir, Khalida«, flüsterte er und drückte seine Lippen auf meine. Er stützte sich mit seinen Händen auf der Matratze ab und setzte sich dann auf seine Knie. Kurz löste er seine Lippen von meinen und brachte mich dazu, mich ebenfalls aufzusetzen. Dann hob er mich auf seinen Schoß, seine Hände lagen an meinen Hüften und ich schlang automatisch die Arme um seinen Hals.

Vor Überraschung quiekte ich auf, denn ich wusste nicht, was Caleb jetzt vorhatte. Die Angst vor ihm war aber Gott sei Dank etwas geschrumpft.

»Was meinst du?«, fragte ich mit leiser Stimme und wich etwas zurück, als er mich schon wieder küssen wollte. Seine Hände fuhren unter mein Shirt und er streichelte meine Haut. Bewusst langsam schob er mein Shirt nach oben, jedoch unterbrach er nicht unseren Blickkontakt in dieser Dunkelheit.

»Ist das nicht offensichtlich? Ich begehre dich Khalida.«

Mir stockte der Atem und mein Herz setzte aus. Wie konnte das passieren?

»Warte. Ich ... ich bin nicht...«, stotterte ich und Caleb hielt inne. Mein Shirt war bereits bis zu meinen Brüsten hochgeschoben.

»Was bist du nicht?«, fragte er und berührte beiläufig mit der Nasenspitze meinen Hals. Als er tief einatmete, lachte er heiser.

»Doch, bist du.«

Was? Hatte er gerade an mir ... gerochen?

Dieses Verhalten kannte ich sonst nur von Jaden. Ich lehnte mich zurück und wollte mich von ihm freikämpfen, allerdings machte Caleb keine Anstalten mich gehen zu lassen. Geschweige denn, mich loszulassen. Damit wäre ich ja schon einverstanden.

Ich drückte ihn mit den Händen an den Schultern von mir und wollte von seinem Schoß herunterrutschen, doch Caleb zog mich einfach wieder zu sich.

Seine Lippen küssten mich auf mein freies Dekolleté, eine warme Hand lag flach und fest an meinem Rücken, die andere streichelte über meinen Oberschenkel nach oben und griff an meine Hüfte.

»Caleb, bitte tue es nicht«, murmelte ich verzweifelt und drückte ihn dann mit vollem Körpereinsatz auf den Rücken. Er zog mich auf sich und für eine Sekunde spürte ich seine Zungenspitze an meinem Hals.

Eine Gänsehaut überzog meinen Körper und ich wusste, dass ich das nicht empfinden sollte, denn es war falsch. Körperliche Anziehung war in diesem Moment mehr als nur fehl am Platz und mein Verstand wusste das. Verdammter Körper!

Als ich mich auf ihn setzte, setzte mein Herz ein weiteres Mal aus, denn ich spürte zwischen meinen Beinen das er mich wirklich wollte. Dieser Wolf hatte mich nicht angelogen, er wollte mich tatsächlich. Aber wie war so etwas möglich? Wie konnte ein Wolf so für einen Mischling empfinden?

Sofort sprang ich zur Seite, vom Bett und setzte die Füße auf den Boden. Jetzt sollte ich definitiv Abstand zwischen uns bringen. Ich richtete mit fahrigen Fingern mein Oberteil und wollte noch einen Schritt zurückgehen, als Caleb seine Hand nach mir ausstreckte und nach meinem Hosenbund griff.

»Geh nicht«, sagte er und ich hatte so schnell nicht reagieren können. Ich stolperte über meinen Fuß und bemerkte nur noch, dass Caleb ebenfalls aus dem Bett sprang und blitzschnell einen Arm um meinen Rücken legte.

»Vorsicht«, mahnte er mich und ich erkannte in dem leichten Lichtschein, der von der Tür kam, dass Caleb mich besorgt ansah.

Ich konnte nicht verhindern, dass mein Blick zu seinem Oberkörper wanderte und ihn musterte. Und er schien meinen Augen zu folgen, denn im nächsten Moment packte er meine Hand und legte sie sich auf seine stahlharte Brust. Seine Haut war seidig weich über seine Muskeln gespannt.

»Caleb«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf.

»Ich tue dir nichts«, wiederholte er seine Worte von vorhin und blieb still stehen. Meine Hand ruhte auf seinem Oberkörper, genau dort, wo sein Herz schlug. Und es schlug schnell.

Das überraschte mich so sehr, dass ich ihm ins Gesicht sah. Seine Augen leuchteten quasi in dieser Dunkelheit. Langsam senkte er den Kopf und ich befürchtete, dass er mich wieder küssen wollte, doch er legte seinen Mund an meine Schulter und küsste mich dort sanft. Dann leckte er mit der Zunge über die Stelle und ich zuckte leicht zurück. Er fing an, an meiner Haut zu knabbern. Und plötzlich biss er mich.

»Ah, Caleb! Du ...«, sagte ich mit lauterer Stimme, doch er presste mit einem Mal eine Hand auf meinen Mund und dann biss er fester in meine Schulter. Ich spürte, wie seine Reißzähne durch meine Haut drangen und er an der Wunde saugte.

Schmerzerfüllt schlug ich mit meiner Hand auf seine Brust, kratzte ihn und wollte ihn treten, aber er stellte ein Bein zwischen meine Beine und ich hatte keine Bewegungsfreiheit mehr.

Wimmernd wollte ich einfach nur, dass er mich losließ. Denn es war letztendlich genau das eingetreten, was ich befürchtet hatte.

War er es, der mich tötete?

Als ich reglos in seinem Arm blieb, löste er sich von meinem Hals und stöhnte wohlwollend, während er sich die Lippen leckte. Und dann nahm er die Hand von meinem Mund und erschrocken blickte ich in sein Gesicht. An seinem Mund lief noch etwas von meinem Blut herunter, doch es schien ihn nicht zu stören.

»Du hast mich gebissen«, sagte ich entsetzt und Caleb blickte auf mich herab. Sofort schwenkte sein wohlwollender Blick zu Sorge um.

»Verdammt. Das wollte ich nicht. Ich hatte nicht vorgehabt dich zu beißen«, sagte er schnell und beugte sich herab.

»Nein! Nicht nochmal!«

Ich wich zurück und wollte meine Hand auf die Wunde drücken, doch Caleb hielt meine Hand fest und leckte mit der Zunge über die Wunde.

»Wir sollten die Wunde verbinden«, sagte er dann und sammelte vom Boden sein Shirt ein. Als er es sich überzog, blickte er noch einmal zu mir.

»Du starrst.«

Ich winkte schnell mit der Hand ab.

»Das täuscht.«

Er hatte mich gebissen. Ein Wolf. Und auf eine seltsame Art und Weise fühlte ich mich beansprucht. Das gefiel mir nicht.

»Wieso hast du es getan, wenn du es nicht vorgehabt hattest?«, fragte ich in die Stille, die folgte. Eine unangenehme Stille.

»Instinkt«, erwiderte er und öffnete die Tür. Als ich auf den Flur trat und in das helle Licht sah, kniff ich die Augen zusammen. Caleb ging auf die Seite, wo er mir in die Schulter gebissen hatte, und legte dann auf einmal einen Arm um meine Taille.

Was sollte das jetzt wieder werden? Ich würde schon nicht flüchten. Schließlich blutete ich immer noch.

»Wohin gehen wir?«

»In mein Zimmer. Da kann ich deine Wunde sauber machen und verbinden.«

Auf dem Flur kamen uns ein paar Männer entgegen, die mich böse anfunkelten. Sofort stieg meine Angst wieder und reflexartig drückte ich mich enger an Calebs Seite.

»Sie werden dir nichts tun, ich beschütze dich Khalida.«

Es beruhigte mich nur geringfügig. Dennoch drückte Caleb mich etwas dichter an seinen Körper. Tatsächlich waren wir relativ schnell bei seinem Zimmer angekommen und überrascht hatte ich feststellen müssen, dass das Gebäude Fenster besaß. Nur eben hatte mein Zimmer keine Fenster.

Caleb öffnete die Tür und ließ mir den Vortritt.

Sein Zimmer war größer und es besaß mehr Möbel. Dennoch war alles sehr schlicht gehalten.

»Lebt ihr hier?«

»Nein. Das ist ein Versteck für uns. Es gibt nur wenige Orte, wo wir, wir selbst sein können. Und in der Umgebung gibt es genügend Wald, wo wir uns austoben können.«

Verständlich. Als Wolf brauchte man mehr Auslauf als ein normaler Hund.

»Komm her«, sagte Caleb sanft und hatte einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten in der Hand.

Ich setzte mich neben ihn auf sein Bett und schob meine Haare beiseite. Als er dann die Bisswunde betrachtete, glänzten seine unnatürlichen saphirblauen Augen dunkel. Es schien ihm zu gefallen, dass er mir sein Mal verpasst hatte.

»Ich hol einen Waschlappen. Warte hier.«

Dieser Raum besaß nicht nur die Tür, die nach draußen führte. Es gab noch eine zweite Tür, die Caleb gerade öffnete. Ich beobachtete ihn und musste feststellen, dass seine Statur groß und gut gebaut war. Er hatte breite Schultern und sein hellbraunes Haar war gerade so lang, dass man mit der Hand hindurchfahren konnte.

Mit einem feuchten Waschlappen kam er zu mir zurück und tupfte vorsichtig das Blut weg. Es brannte ein wenig, doch ich versuchte, mir nicht viel anmerken zu lassen.

»Das wird den Vampiren gar nicht gefallen«, murmelte Caleb und ein Lächeln umspielte seine Lippen.

»Beantwortest du mir meine Frage? Wieso hast du mich gebissen?«

»Weil ich dich für mich will. Seit ich dich das erste Mal gesehen habe, möchte ich, dass du zu mir gehörst. Nenn es meinetwegen Schicksal.«

An so etwas sollte ich nicht glauben. Aber es gab schließlich auch Monster.

Vorsichtig klebte er ein großes Pflaster auf den Biss und strich es glatt.

»So, das wär’s.«

»Danke.«

Ich legte die Haare über meine Schultern und verdeckte das Pflaster.

»Kann ich das Bad benutzen?«

Caleb nickte und ich ging schnell in das Badezimmer. Hinter mir schloss ich die Tür und stand dann vor dem Spiegel.

Ich musste hier raus. Aber wie? Nachdem was Caleb mir sagte, würde er mich nicht freiwillig gehen lassen. Und der Anführer hatte bisher noch nicht entschieden, was er tun wollte. Wie kam ich also hier raus?

Ich ließ den Wasserhahn laufen und spritzte ein wenig von dem kühlen Nass in mein Gesicht. Als ich mein Gesicht abtrocknete und mich wieder im Spiegel ansah, blinzelte ich heftig.

»Was zur Hölle.«

Ich griff blind nach der Tür und versuchte, sie zu öffnen. Wieso war es so stockdunkel? Hatte Caleb das Licht ausgemacht?

Als ich die Tür endlich öffnete, blieb es weiterhin dunkel. Meine Sicht war komplett in Dunkelheit gehüllt.

»Caleb«, hauchte ich. Meine Stimme zitterte und dann berührte er meine Arme.

»Was ist los? Hast du Schmerzen? Geht es dir nicht gut?«

Meine Beine gaben nach, meine Augen schlossen sich und ich unterdrückte die aufkommenden Tränen.

»Ich sehe nichts. Es ist so ... dunkel. Ich bin ... blind.«

Die Vision überrollte meinen Körper und meinen Verstand. Allerdings kam ich nicht auf die Wiese oder zu der üblichen Handlung. Es war, als würde ich bereits das Ende sehen.

Und es fühlte sich kalt an.

»Khalida. Was kann ich tun?«

Verzweifelt trug mich Caleb zum Bett und legte mich dort ab. Seine Hände tasteten meinen Körper ab, doch es fehlte mir körperlich nichts.

Vor meinem geistigen Auge tauchte in all der Schwärze ein silbernes Band auf. Es zwang mich dazu, dem Band etwas zuzuflüstern. Ich musste dem Band etwas sehr Wichtiges mitteilen.

Jaden, hilf mir! 

Jet

Seit einer halben Stunde plagten Jet schon Kopfschmerzen, die er nur mit Mühe ausblenden konnte. Selbst eine Tablette hatte nicht geholfen, obwohl menschliche Medizin im Allgemeinen nicht viel half.

Nach der Schule hatte er Khalida eigentlich nach Hause fahren wollen, doch sie war nicht aufzufinden. Sie war auch bisher noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt. War sie davon gelaufen?

Hatte sie sich nun entschieden, der Vampirwelt den Rücken zuzukehren? So nah vor ihrer Wandlung war das verdammt gefährlich für sie.

Sein Blick wanderte zum Fenster. Es war bereits später Abend. Normalerweise war Khalida vernünftig und ging so spät nicht raus.

Beiläufig schnappte Jet sich sein Handy und wählte die Handynummer von Devin.

Er nahm bereits nach dem ersten Klingeln ab, seine Stimme war ein grobes tiefes Knurren. »Ja.«

»Ist sie bereits zu Hause?«

»Nein.«

»Und wenn sie bei Jaden ist?«

»Ist sie nicht.«

Nachdenklich rieb sich Jet über die schmerzende Stirn.

»Ich komme vorbei.«

Devin brummte nur und legte dann auf. Wenn sie nicht einmal bei Jaden war, wo war sie dann?

Jet griff nach seiner Jacke und packte alles Wichtige in seine Taschen. Eilig verließ er das Hotelzimmer, das er für einige Tage gebucht hatte, und machte sich auf den Weg zu Devin und seiner Frau. Oder Ex.

Er war sich nicht sicher, was sie füreinander waren.

Beim Haus von Devin angekommen, klingelte Jet.

Irina öffnete ihm die Tür. Sie wirkte erschöpft, ausgelaugt und vollkommen fertig mit den Nerven.

»Komm herein«, sagte sie und drückte ein Taschentuch an ihre Nase.

»Danke.«

Im Wohnzimmer traf er auf Devin und zu seiner Überraschung auch auf Jaden. Es war ihm immer noch ein Rätsel, was Khalida an diesem Vampir mochte. Jet fiel nicht ein einziges Wort ein, dass nett gewesen wäre.

»Kannst du sie hören? Ist sie zumindest in der Nähe?«, fragte Devin und mit geschlossenen Augen schüttelte Jaden den Kopf.

»Hören?«

»Ich höre ihre Gedanken nicht. Sie muss außerhalb der Stadt sein«, sagte Jaden und ein Knurren war von Devin zu hören.

»Selbst wenn wir einmal die Stadt umrunden, wird es uns Stunden dauern bis wir sie finden. Und wir wissen ja nicht einmal, ob sie nicht in eine andere Stadt abgehauen ist«, sagte Devin.

Jet setzte sich auf das Sofa und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Das Hämmern hinter seiner Stirn nahm von Sekunde zu Sekunde zu.

In seinem Kopf fing es an zu surren.

Jaden, hilf mir!

Es durchzuckte Jet, als er die Stimme erkannte. Das Blutsband?

Sofort stand Jet wieder auf.

»Sie hat gerufen«, brachte er heraus und unterbrach die Unterhaltung zwischen Devin und Jaden.

»Sie hat nach dir gerufen.«

Jet sah zu Jaden und zog die Stirn kraus. Das Blutsband war mächtig und sehr selten. Die Fähigkeiten von Khalida waren enorm stark. Sie hatte es geschafft, schon wieder eine Vampirfähigkeit zu nutzen, obwohl sie noch immer ein Mensch war.

»Was ist los?«, fragte Devin.

»Sie hat es mir über das Blutsband gesagt. Sie hat darüber nach Hilfe gerufen.«

»Wie konnte sie?«, fragte nun Jaden, aber man konnte sich die Frage bereits selbst beantworten. »Typisch Mischling.«

Wie immer war Jaden kein bisschen mitfühlend oder taktvoll.

»Ich muss gehen. Der Ruf von ihr ist ziemlich stark. Es ist, als ob mich das Blutsband dazu zwingt.« Jet fühlte sich nicht wohl dabei, dass Khalida diese mächtige Gabe hatte. Allgemein konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob es tatsächlich gut war, wenn sie die Wandlung überlebte, denn sie würde noch stärker werden.

»Ich komme mit«, sagten Jaden und Devin gleichzeitig. Doch überraschenderweise hielt Jaden Devin auf.

»Nein, du musst hier bleiben. Was ist, wenn sie doch aus irgendeinem Grund zurückkommen sollte?«

Zähneknirschend setzte Devin sich hin und ballte die Hände zu Fäusten.

»Wenn ihr sie findet, dann kontaktiert mich. Ich werde sonst noch verrückt.«

Aus der Küche hörte man Irina herumwerkeln. Auch ihretwegen sollte Devin hierbleiben, er musste sie beschützen und sie trösten. Hoffentlich war ihm das bewusst.

Dann verließen Jet und Jaden das Haus und Jaden ging auf ein Auto zu.

Jet setzte sich auf den Beifahrersitz und schloss die Augen. Das Blutsband konnte er spüren, der innere Drang, sich an einen unbestimmten Ort zu begeben, war mehr als präsent.

»Ich sage dir, wo du lang musst«, sagte er und Jaden fuhr los.

In der Dunkelheit gab Jet ihm die Anweisungen.

Sie verließen die Stadt im Süden von McMinnville und fuhren lange Zeit schweigend über den Highway.

»Du hörst ihre Gedanken?«, fragte Jet neugierig.

»Ja. Aber nur ihre.«

»Verstehe.«

Jaden sagte nichts weiter dazu. Aber Jet musste reden. Auch wenn er nicht unbedingt die Gesellschaft von Jaden genoss, es war ihm zu ruhig.

»Sie hat mein Blut abgelehnt. Es wundert mich, dass sie trotzdem ein Blutsband nutzen kann.«

»Das muss daran liegen, dass sie ein Mischling ist. Außerdem rückt ihre Wandlung näher.«

Ein kurzer Seitenblick von Jaden ließ Jet die Schultern zucken.

»Wirst du ihr trotzdem helfen?«

»Keine Ahnung. Du weißt, dass man keinen dazu zwingen kann, das Blut von jemandem zu trinken, was einem nicht schmeckt.«

Jaden schwieg. Es war für Jet keine Überraschung, denn im Grunde hatten sie sich nichts zu erzählen. Sie waren nur für einen kurzen Zeitraum Verbündete.

»Hier rechts«, sagte Jet.

Sie fuhren in die Nähe der Wälder und Jet beschlich eine grausame Erkenntnis.

»Wölfe?«, fragte er.

Neben sich fluchte Jaden ausgelassen. Jeder Vampir wusste, dass das Territorium von Wölfen nicht betreten werden sollte. Und einen Moment glaubte Jet, dass Jaden einen Rückzieher machen würde. Doch statt umzudrehen oder zu bremsen, gab Jaden noch mehr Gas. 

Kapitel 14 - Jaden

Am Straßenrand parkte Jaden den Wagen und stieg mit Jet aus. Auf dieser verlassenen Landstraße gab es nicht einen einzigen Anhaltspunkt zu Khalida. Und dennoch waren er und Jet sich sicher, dass sie in der Nähe war. Denn Jaden konnte ihre Gedanken schwach hören. Und Jet fühlte sie durch das Blutsband.

Sie trabten durch den Wald und Jadens Bauch kribbelte, als er bemerkte, dass Khalida nun ganz nah war.

Auf einer Lichtung entdeckten sie dann ein abgelegenes Haus. Groß genug, dass da mit absoluter Sicherheit ein ganzes Rudel Unterschlupf finden konnte.

Aber Jaden spürte auch die Anspannung. Schließlich drangen sie in das Gebiet der Feinde ein, um sich das zurückzuholen, was zu ihnen gehörte. Und obwohl Jaden hoffte, dass sie zumindest für ein paar Momente unentdeckt bleiben könnten, trat bereits der erste Wolf aus dem Haus.

Ungeniert starrte er Jaden und Jet an und kreuzte die Arme vor der Brust. Was sollten sie tun? Jadens erster Impuls war anzugreifen.

Aber es könnte Khalidas Sicherheit gefährden. Dennoch floss in Jaden das pure Adrenalin und er war auf einen Kampf aus. Wollte sich fetzen und schlagen. Wollte etwas zerstören oder auch gern jemanden töten. Es war ihm gleich, was er als Erstes tun konnte.

»Ihr habt jemanden, der zu uns gehört!«, rief Jet und kreuzte ebenfalls die Arme. Der Wolf lachte darüber.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Oh, das weißt du ganz genau.« Jaden ging auf den Wolf zu und blieb vor ihm stehen. Es stank widerwärtig nach nassem Fell.

»Aus dem Weg.« Seine Stimme war nur noch ein Knurren.

»Nein.«

Die Haustür schwang auf und ein weiterer Wolf trat hinaus.

»Tja, das ging schneller als erwartet«, sagte Malik abwertend und trat neben den anderen Wolf.

»So schnell sieht man sich wieder, Köter«, knurrte Jaden ihn an.

Die Spannung erhitzte sich und Jaden spürte, wie es ihn im Inneren juckte. Er sehnte sich danach, sein eigenes Inneres Tier zu sättigen.

»Gib mir Khalida. Oder ich werde das ganze Haus auseinander nehmen.«

Malik grinste, aber es erreichte nicht seine Augen. Denn das Einzige was dieser Wolf ausstrahlte, war purer Hass.

»Ich würde sie eher töten, als sie dir zu überlassen.«

Mit einem Satz sprang Jaden den Wolf an und riss ihn auf der Veranda des Hauses zu Boden. Der Schlag kam schnell und betäubte Jaden für eine Sekunde. Doch in dieser Sekunde wusste er, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab.

Kämpfen.

Seine Faust schlug hart in Maliks Gesicht. Er rammte den Wolf in den Boden, bleckte die Fänge und verlor sich ganz in seiner dunkelsten Seite.

Mit seiner Hand packte er dann den Hals des Wolfs und betrachtete das Blut, dass sein gesamtes Gesicht bedeckte.

»Gib sie mir zurück oder ich töte dich hier und jetzt.«

Malik hustete und grinste. »Lieber sterbe ich.«

Diesen Wunsch hätte Jaden ihm auf der Stelle erfüllt.

Doch leider konnte er ihm nicht den Gnadenstoß geben, denn eine große Pranke umschloss seinen Hals und zog ihn auf die Beine. Der Wolf unter ihm war frei und rollte sich auf den Bauch. Er hustete und spuckte Blut.

»Wenn du auch nur einen aus meinem Rudel tötest, gibt es Krieg.«

Die Stimme des Alphas war dunkel, tief und ein dröhnender Bass. Sein betont rollendes R verlieh ihm eine kultivierte und beherrschte Stimme. Obwohl sein Aussehen zu täuschen vermochte. Die dunkelbraunen Haare waren leicht gelockt und hingen ihm bis auf die Schultern. Er wirkte wild und entschlossen. Die hellen braunen Augen leuchteten in der Dunkelheit und es sah aus, als loderten dort kleine Flammen.

»Der Mischling«, brachte Jaden hervor und augenblicklich ließ der Alpha ihn los.

»Sie ist weder wertvoll für euch noch für mich. Aber ich verhandle gern darüber, wer sie töten darf.«

Der Alpha deutete an, dass Jaden und Jet das Haus betreten dürften, und ging dann voran. Hinter ihnen wurde dann die Tür wieder geschlossen. Es bescherte Jaden eine Gänsehaut, dass er in einem Haus voller Wölfe war.

Schließlich konnte ein Biss von ihnen einen Vampir töten. Natürlich nur, wenn sie in ihrer Wolfsgestalt waren. Dennoch sollte man vorsichtig sein. Etwas, dass Jaden nicht konnte.

»Wir wollen sie nicht töten«, sagte Jet.

Er ging selbstbewusst und doch wachsam durch den Flur, durch den der Alpha sie führte. Und als dieser eine Tür aufmachte, hatte Jaden erwartet, dass dort Khalida sei, aber es war ein Büro.

Misstrauisch blickte der Alpha Jet an.

»Sie wird eines der mächtigsten Wesen auf der Erde sein und ihr wollt sie nicht umbringen? Der Rat der Vampire wird das doch wohl nicht gutheißen.«
Jaden schnaubte.

»Der Rat der Vampire geht dich nichts an.«

»Also hat der Rat Pläne?«

»Du nicht?«, fragte Jaden.

Die Tür wurde aufgerissen und ein weiterer Wolf betrat erschrocken das Büro.

»Nathan!«

Sofort hielt er inne und rümpfte die Nase.

»Was tun die Vampire hier?«

»Geh raus, Caleb.«

Nathan also. Von ihm hatte Jaden bereits gehört. Er hatte nur nicht gedacht, dass er ihm einmal persönlich begegnen würde.

Ein Wolf wie im Bilderbuch. Tötete wild jeden Vampir und jeden Menschen. Jahrelang war er ein Einzelgänger gewesen und der Rat hatte immer gehofft, dass sie ihn irgendwann töten könnten, denn er stellte eine zu große Gefahr da.

»So. Also wie regeln wir das mit dem Mischling?«, fragte Nathan.

»Wieso willst du sie töten?«

»Wolfsangelegenheiten. Nicht für die Ohren eines Vampirs bestimmt.«

»Gut. Wieso hast du sie noch nicht getötet?«, fragte Jaden. Wenn man jemanden tot sehen wollte, dann zögerte man in der Regel nicht. Und Nathan erst recht nicht. So langsam sollten sie zu einer Einigung kommen.

Auf die Frage schwieg Nathan.

»Nehmt sie mit. Ich habe keine Verwendung mehr für sie.«

Was hätte Nathan wohl getan, wenn Jaden und Jet nicht aufgetaucht wären? Hätte er Khalida tatsächlich getötet?

»Ich hole sie«, sagte Jaden und drehte sich zur Tür um. Jet blieb bei Nathan, damit er ihnen nicht in den Rücken fiel und angriff. Jaden ging durch den Flur und die Treppe hoch. Er konnte ihre Gedanken genau hören. Wobei sie verwirrend waren. Fast, als würde sie träumen.

Vor einer Zimmertür hielt er an und öffnete sie mit Schwung. Die anderen Wölfe mischten sich nicht ein, als Jaden dann einfach in das Zimmer ging.

Er verschaffte sich einen kurzen Überblick und war überrascht, als er Caleb auf dem Bett liegen sah. Seine Arme lagen um Khalida geschlungen.

In Jaden entfachte sich ein brennendes Gefühl. Und er wusste, dass Khalida nichts für dieses Gefühl konnte, aber er war sauer. Nein, nicht nur sauer. Er war wild.

»Nimm deine dreckigen Pfoten von ihr.«

Caleb ließ sie nur langsam los, küsste ihre Stirn und stand vom Bett auf. Jaden konnte kaum ein Knurren unterdrücken.

»Sie wird es hier viel besser haben«, sagte Caleb und krümmte sich zusammen. Er ging auf alle viere und Jaden beobachtete, wie er sich langsam in einen Wolf verwandelte. Wenn es ausartete, konnte Khalida verletzt werden. Kurz huschte sein Blick zu ihr. Sie wimmerte und weinte. Was war geschehen? Ein Albtraum?

»Sie gehört mir«, knurrte Caleb und seine Reißzähne wuchsen. Krallen kamen zum Vorschein und das Fell sträubte sich in seinem Nacken. Blitzschnell lief Jaden auf das Bett zu und schnappte sich Khalida.

An der Türschwelle sah er dann Jet, der wie gebannt zum Wolf sah, der da nun stand und knurrte und sabberte.

»Bring sie raus! Ich kümmere mich um den Wolf.«

»Vergiss aber nicht, was Nathan sagte. Ein Krieg ist nicht was wir wollen«, sagte Jaden und rannte auf Jet zu. Der Wolf sprang ihm hinterher, wurde aber von Jet am Fell gepackt und zurückgerissen.

Den Kampf hätte Jaden zu gern selbst ausgetragen, aber es war wichtiger, dass er erst Khalida in Sicherheit brachte.

Jaden rannte an Nathan vorbei, der ihn nur mit einem durchdringenden Blick hinterher sah.

Kaum hatte Jaden das Haus verlassen, blickte er das erste Mal in Khalidas Gesicht. Sie sah blass aus, ihre Stirn glänzte. Aber sie war nicht fiebrig.

Also war es noch nicht ihre Wandlung. Ein Glück.

Jaden trabte durch den Wald zurück zum Auto und unterdrückte das wohlige Gefühl, dass sie ihm bescherte als sie ihren Kopf an seine Schulter legte und ihre Wange und Nase an ihm rieb.

Am Auto angekommen, öffnete er die hintere Wagentür und legte Khalida auf die Rückbank. Es war ein Wunder, dass sie nicht aufgewacht war. War sie ohnmächtig?

Für einen Moment legte Jaden seine flache Hand an ihre Stirn und konzentrierte sich nur auf ihre Gedanken und ihre Stimme in seinem Kopf.

Doch er wurde nicht schlau daraus. 

Khalida

Als ich aufwachte, fühlte mein Körper sich schwer an. Und mein Kopf pochte noch immer von dieser Vision. Ich war kurzzeitig ohnmächtig geworden.

Langsam öffnete ich die Augen und bemerkte, dass ich zwar lag, aber es fühlte sich nicht wie das Bett an, in dem ich vorher gelegen hatte. Wo hatte man mich jetzt wieder hingebracht?

Ein paar Mal blinzelte ich und schaute mich verwirrt um. Ich lag in einem Auto. Aber wie?

Ich drehte den Kopf und sah neben mir Jaden sitzen. Seine sturmgrauen Augen beobachteten mich.

»Jaden«, murmelte ich. Meine Stimme war kratzig und es brannte ein wenig in meiner Kehle vom Weinen. Ich streckte die Hand nach ihm aus, doch er fing sie auf und hielt sie sanft fest. Seufzend schloss ich die Augen. Diese raue Hand war definitiv keine meiner Visionen. Es war real.

Mit einem Ruck zog ich mich an seiner Hand hoch und schlang einen Arm um seinen Hals und drückte mich an ihn. Ich legte den Kopf auf seine Schulter und berührte seine weichen Haare.

»Geht es dir gut?«, fragte er leise.

»Jetzt ja.«

Noch einen Moment genoss ich es, wie er mich festhielt und seine gespreizte Hand auf meinem Rücken lag, und atmete seinen persönlichen Duft ein. Dann spürte ich, wie er meine Haare beiseiteschob und seine Finger über das Pflaster strichen. Oh je, das hatte ich vollkommen vergessen.

»Was wurde dir angetan?«

Der eisige Ton seiner Stimme ließ mich zusammenzucken.

»Es ist nicht so schlimm«, versuchte ich ihn zu beruhigen und blickte in sein schönes Gesicht. Er legte die Finger an das Pflaster und zog es vorsichtig ab.

Als er dann die Bisswunde sah, fluchte er ausgelassen. Seine grauen Augen wirkten kalt und furchteinflößend. Sofort wollte ich abrücken, doch Jaden schlang den Arm um meinen unteren Rücken und ließ mich nicht davonkommen.

»Willst du, dass sie verheilt?«, fragte er und verwirrte mich.

»Wie meinst du das?«

Kurz zögerte Jaden, doch dann wirkte er entschlossen.

»Du kannst mein Blut trinken. Dann wird deine Wunde schneller heilen.«

Die Wärme, die meinen Körper sofort erfüllte, wollte ich verdrängen. Denn durch diese Wärme wurde mir wieder bewusst, dass ich bald ein Vampir sein würde. Jadens Augen beobachteten meine Regungen, meine Haut zog sich zusammen und ich fühlte mich eingeengt in meiner Haut.

Und als ich sein überhebliches Lächeln sah, wollte ich ihm das am liebsten aus seinem Gesicht schlagen. Denn er wusste ganz genau, was in meinem Kopf vor ging und wie ich mich fühlte. Er war ein verdammter Gedankenleser.

Rasch hatte Jaden mich auf den Rücksitz gelegt und machte es sich auf meinem Körper bequem. Er rutschte in die Lücke zwischen meine Beine und ich war vor Schreck ganz starr geworden. Und ich konnte meine Überraschung nur schwer verstecken.

Leider spürte ich auch schon den ersten Schauer über meinen Körper wandern und als ich seufzend die Augen schloss, erzitterte ich.

»Nimm mein Blut Khalida«, flüsterte Jaden. Der Schauer verschlimmerte sich. War das die Wandlung?

»Ich bin ein Mensch. Das bedeutet, keine Fänge.«

Meine Stimme klang zu leicht, als gehörte sie nicht mir.

Davon ließ sich Jaden allerdings nicht abhalten. Er hob sein Handgelenk, legte es sich an die Lippen und biss hinein. Aber er gab mir nicht sein Handgelenk, sondern beugte sich zu mir herab und drückte seinen Mund auf meinen.

Ich schmeckte sofort sein Blut, als er mich küsste. Es floss mir direkt in die Kehle und als Jaden sich kurz von mir löste, schluckte ich es herunter. Dann landeten seine Lippen wieder auf meinen, seine Zunge drang besitzergreifend in meinen Mund und streichelte meine Zunge.

Es gab für mich kein Halten mehr, meine Arme schlangen sich um seinen Hals, eine Hand in seinem Haar vergraben. Mein Körper bäumte sich ihm entgegen.

Seine Hand lag in meinem Haar und packte es. Die andere lag neben meinem Kopf, mit der er sich abstützte.

Die Bewegung war erst ganz leicht, doch ich spürte, wie seine Hüften sich an meine drängten und sein Körper schwerer auf meinem wurde. Leidenschaftlich küsste er mich, lockte mich und seine Fänge ragten immer noch leicht heraus. Es drängte mich, meine Zunge über sie gleiten zu lassen und dann tat ich es. Jaden zuckte überrascht zurück.

»Du musst mehr nehmen«, keuchte er.

Sein Gesicht war leicht gerötet und seine grauen Augen waren dunkler geworden, als wir einander ansahen. Da schwebte dann sein Handgelenk über meinem Gesicht und ich sah die zwei Einstichlöcher, die seine Fänge hinterlassen hatten. Es blutete immer noch.

Mit einer Hand nahm ich sein Handgelenk. Es verunsicherte mich.

Doch als ich Jaden wieder ansah, fühlte ich mich sicher.

Meine Zunge strich über seine Haut und leckte das Blut ab. Dann legte ich meinen Mund auf die Haut und schluckte es.

Nach den ersten Sekunden spürte ich es bereits in meinem Inneren. Ein Feuer entfachte sich in mir, bäumte meinen Körper wieder auf und ich riss die Augen auf.

Und obwohl ich wusste, dass es unnatürlich war, so war es Jaden auch. Und obwohl ich es nicht genießen sollte. Obwohl ich es hassen sollte. Ich hasste weder Jaden noch die Situation.

Jaden nahm langsam das Handgelenk weg und strich behutsam über meine Mundwinkel. Dann leckte er sich über seine Wunde.

Ich legte eine Hand an seine Wange, seine Fänge ragten immer noch leicht heraus. Und trotzdem sah er einfach gut aus. Mit dem Daumen zeichnete ich seine Unterlippe nach. Wie sich seine Fänge wohl an meiner Haut anfühlen würden? Ob sie scharf waren?

Mein Daumen schwebte über seinem Eckzahn und ich wollte ihn wirklich berühren. Doch mit einem Mal fing es in meinem Magen an zu rumoren. Meine Brust fing an zu brennen. Es war, als würde mein Körper in Flammen stehen. Hastig zog ich meine Hand zurück und schnitt mich an seinem Fangzahn. Ich beobachtete wie Jaden den kleinen Blutstropfen ableckte und die Augen schloss.

Seine Hand umschloss meine Schulter und drückte zu. Nicht sehr fest, aber es war eindeutig. Sein Gesicht beugte sich zu meinem Hals.

»Jaden«, stöhnte ich vor Schmerz und wollte ihn aufhalten. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn man gebissen wurde.

Seine Lippen berührten meinen Hals und ich spürte seine Zunge. Er leckte genau über meinen rasenden Puls.

»Du machst mich wahnsinnig, weißt du das?«

Sein heißer Atem strich über meine Haut und mein Atem stockte.

»Ich verliere bei dir fast meine Selbstbeherrschung.«

Seine Fänge drückten sich an meine Haut, doch er biss mich nicht. Schon fast sehnsüchtig seufzte ich und schloss die Augen. Was wäre schlimm daran, wenn er mein Blut trank?

Aber ich hatte Angst. Angst vor dem Schmerz. Und Angst, dass er mich tötete.

Jaden lehnte sich zurück und betrachtete mich.

»Es ist gleich vorbei.«

Mein Atem ging schneller, doch der Schmerz in meinem Bauch ebbte ab und ich entspannte mich etwas.

»Gut gemacht«, flüsterte er und küsste mich. Noch ehe ich diesen intensiven Kuss erwidern konnte, zog Jaden sich zurück, öffnete die Wagentür und stieg aus.

Nur um sicherzugehen, blieb ich noch einen Augenblick liegen. Aber die Schmerzen waren weg und als ich meinen Hals betastete, verschloss sich die Bisswunde.

»Gott sei Dank«, murmelte ich.

Langsam setzte ich mich auf und rieb mir über das Brustbein. Ich öffnete ebenfalls die Wagentür und schwang die Beine nach draußen. Es war dunkel und die kühle Brise tat meiner erhitzten Haut gut. Tief atmete ich ein und streckte meine Arme.

»Wo sind wir eigentlich?«, fragte ich und legte die Arme über das Dach des Autos.

»Außerhalb von McMinnville. Wir bringen dich jetzt aber nach Hause.«

»Wir?«

Jaden blickte zu einem freien Feld und mein Blick folgte seinem. Ein Mann kam von dort auf uns zu. Und als er nah genug war, erkannte ich Jet.

»Wie habt ihr mich gefunden?«

»Eine lange Geschichte.«

»Und wie lange war ich dort?«

Jet kam auf das Auto zu und stellte sich zur Beifahrertür. Er stand nah bei mir, sein Gesicht sah hart und kühl aus. Hatte ich etwas falsch gemacht? Galt dieser Gesichtsausdruck mir?

»Nur diesen einen Tag. Dennoch zu lange. Du riechst nach Wolf«, sagte er und auch seine Stimme zeigte keine Emotion. So hatte ich Jet nie gesehen. Na ja, ich kannte ihn auch nicht sonderlich gut. Dann stieg er ein und ich tat es ihm gleich, als ich mich wieder auf den Rücksitz schwang.

Während der Fahrt in die Stadt schwiegen wir. Es war eine bedrückende Stille. Seufzend lehnte ich meine Stirn an die Scheibe und beobachtete die Straßenlampen, die an mir vorbeirauschten, wie ein unaufhaltsamer Tunnel mit Lichtern.

Was würde mich erwarten, wenn ich die Wandlung machte? Der Tod?

Die letzte Vision war so verwirrend gewesen. Düster und kalt. Und an diesen Ort wollte ich nicht.

Als das Auto am Straßenrand hielt, erkannte ich mein Haus. Mir schmerzte das Herz. Was hatte meine Mutter für Qualen erleiden müssen. Ich öffnete die Autotür und ging mit den zwei Vampiren auf mein Haus zu. Mich fröstelte es und ich legte mir die Arme um den Körper. Da fiel mir zum ersten Mal auf, dass ich keine Sachen bei mir hatte. Ich konnte nicht einmal die Haustür aufschließen.

Allerdings brauchte ich das auch gar nicht, denn Devin riss die Tür auf und kam auf mich zu. Überschwänglich nahm er mich in seine Arme und die Angst, die ich in seinem Gesicht gesehen hatte, verunsicherte mich.

»Khalida. Mein Gott, es tut mir so leid«, sagte er und führte mich ins warme Haus.

Sofort kam auch meine Mom zu mir und drückte mich an sie. Ihre warmen Arme schlossen mich ein und ich legte das Gesicht in ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare.

Sie schluchzte und konnte kaum ein ordentliches Wort sagen, daher rückte ich ein Stück von ihr ab und sah ihr in ihre dunkelblauen Augen.

»Es geht mir gut, Mom«, sagte ich und drückte ihre Oberarme und versuchte, sie zu beruhigen.

»Ich bin okay.«

Sie schaute mich von oben bis unten an und nickte dann.

»Okay. Ich bin nur froh, dass du hier bist.«

»Ich auch, Mom. Bitte beruhige dich.« Sanft nahm ich sie in die Arme und ging dann mit ihr gemeinsam ins Wohnzimmer.

Nach einer kurzen Verschnaufpause musste ich ins Badezimmer. Laut Jet roch ich nach Wolf und so banal es klang, ich wollte mir den Geruch abwaschen. Es machte mich krank, zu wissen, dass der Wolf seinen Geruch an mir gelassen hatte. Auch wenn mir nichts Gravierendes passiert war.

Und nach einer schnellen Dusche würde ich mich mit Sicherheit besser fühlen. Vielleicht auch erholter. Zumindest hoffte ich es.

Tatsächlich fühlte ich mich nach der Dusche ermattet und erschöpft. Meine Energie sank mit jeder Sekunde und als ich die Badezimmertür öffnete, stand vor mir Jaden an der Wand gelehnt.

»Das ist das Blut, das durch deinen Organismus zirkuliert. Dadurch fühlst du dich gerade so«, sagte er und ich rieb erschöpft über mein Gesicht.

»Wann hört das auf?«

»Morgen früh. Wenn du aufwachst, wirst du es nicht mehr spüren.«

Ich nickte und lehnte mich ihm gegenüber an die Wand.

»Wann ... wann wird die Wandlung sein?«

In meiner Stimme schwang Unsicherheit mit. Mein Verstand rang immer noch mit sich und der Realität, aber mittlerweile war mir bewusst, dass ich es nicht aufhalten konnte. Schließlich hatten mir die letzten Tage meine Augen geöffnet und ich konnte mich nicht mehr davor verschließen. Auch wenn ich es zu gern wollte.

Sterben gehörte nicht zu meinem Wunsch.

»Weiß ich nicht. Morgen. Oder Übermorgen.«

Mir wurde kurz schwindelig. Das ging alles so schnell.

»Durch mein Blut hat sich der Prozess beschleunigt.«

»Was?«

Er drückte sich von der Wand ab und stellte sich vor mich. Seine grauen Augen starrten mich an, allerdings konnte ich nicht herauslesen, was er dachte oder was er fühlte. Es drang nichts hindurch und er ließ sich nichts anmerken.

»Wenn du durch die Wandlung gehst, dann werde ich derjenige sein, dessen Blut du nimmst. Schließlich hast du Jet sein Blut abgelehnt. Stimmt’s?«

Mein Kopf schwirrte. Er machte mich schwindelig.

»Ich habe Jets Blut getrunken?«

»Ja. Nachdem du eine Vampirfähigkeit auf dich selbst gewirkt hast. Es ist unglaublich erstaunlich, wie stark du selbst als menschliche bist.«

Er wollte es bestimmt nicht beleidigend sagen. Dennoch fühlte ich einen Stich in meinem Herzen.

»Du hast sogar ein besonderes Band zu Jet aufgebaut. Dadurch haben wir dich finden können. Aber du hast nach mir gerufen.«

Er sagte es in einem kühlen und distanzierten Ton. Und ich wusste nicht, was ich ihm darauf antworten sollte.

»Weil ich nicht wusste, dass es Jet war. Ich wusste nicht, dass ich das getan habe.«

»Es spielt keine Rolle, dass du ein Band zu Jet aufgebaut hast. Er ist schließlich schon vergeben. Aber es spielt eine Rolle das du nach mir gerufen hast.«

»Naja, das ist ..., weil ... ich habe dein Blut im Krankenhaus getrunken.«

Ein kleines Lächeln umspielte seine sinnlichen Lippen. Meine Antworten ergaben kaum einen sinnvollen Zusammenhang und Jaden schien es zu gefallen, dass er mich dermaßen durcheinanderbrachte.

»Und Jet ist wirklich vergeben?«

Das Lächeln verschwand und Jaden zog die Augenbrauen zusammen. »Ja. Zu schade für dich.«

Nein, das hatte er falsch verstanden.

Als er sich abwenden wollte, nahm ich sein Handgelenk und hielt ihn auf.

»Wenn ich Jet sein Blut abgelehnt habe, dann werde ich mir sicherlich nicht wünschen, dass er Single wäre. Ich habe kein Interesse an ihm. Es beruhigt mich, dass er vergeben ist.«

Denn das, was im Auto passiert war, das wollte ich mit keinem anderen erleben. Jaden blieb der Einzige, mit dem ich so etwas genießen würde.

»Deine ... Gedanken.«

Eine leichte Röte schlich sich in sein Gesicht und er legte die Hand an meine Wange. Ich schmiegte mich in sie und zuckte zusammen, als mein Name von unten gerufen wurde.

»Und dich habe ich nicht abgewiesen«, flüsterte ich, die Röte stieg nun auch mir ins Gesicht und schnell drehte ich mich zur Seite und stieg die Treppe nach unten ins Wohnzimmer.

Dort erwartete mich zu meiner Überraschung Dilara.

Eilig ging ich auf sie zu.

»Was machst du denn so spät hier?«, fragte ich und zögerte einen Moment. Ich wusste nicht, ob wir wieder Freundinnen waren oder sie immer noch sauer auf mich war. Jedoch machte sie den ersten Schritt und nahm mich in die Arme und machte damit meine innere Zerrissenheit zunichte. Seufzend drückte ich meine beste Freundin an mich.

»Ich habe mir Sorgen gemacht und Ms. Blair gebeten mir zu simsen, wenn du in Ordnung bist.« Traurig blickte sie mich an.

»Es tut mir leid, dass ich dir aus dem Weg gegangen bin. Ich dachte, dass es mir schwer fallen würde in deiner Nähe zu sein, da du ein Vampir sein wirst. Aber, du fehlst mir.«

Blinzelnd wurde mir klar, dass sie die Wahrheit kannte.

»Wer hat es dir erzählt?«

Mein Blick wanderte zu Jaden, doch er schüttelte leicht den Kopf.

»Mr. Ravyn. Er hat es mir erzählt. Khalida, verzeihst du mir? Ich war eine doofe beste Freundin.« Ich lächelte sie an, denn ich war ihr nie böse gewesen.

»Natürlich verzeihe ich dir. Und ich war auch keine gute beste Freundin.«

Wir setzten uns auf das Sofa und meine Mutter brachte jedem von uns einen Tee. Devin sprach mit Jet abseits von uns. Die Diskussion schien hitzig zu sein, jedoch zeigte Jet immer noch seine kühle Seite. Was war nur geschehen, als ich von den Wölfen entführt wurde?

Ich stellte den Tee auf dem Tisch ab und ging zu den beiden Männern herüber.

Sofort verstummte ihr Gespräch, als ich an sie herantrat.

»Was ist hier los?«

»Nichts, Liebes. Geh zurück«, sagte Devin, aber er sah mich nicht einmal an. Und seit wann nannte er mich Liebes?

Ich stemmte die Hände in die Hüften.

»Nein. Ich finde, dass man mich schon lange genug ausgeschlossen hat. Erst habt ihr in meinem Gehirn gepfuscht und dann erzählt ihr mir nichts von Wölfen! Ich will, dass ihr ehrlich mit mir seid!«

Seufzend sah Jet mich an und sein Gesicht nahm weichere Züge an. Wurde auch langsam mal Zeit.

»Ich kann dir bei deiner Wandlung nicht helfen. Du hast mein Blut abgelehnt und das liegt vermutlich daran, dass ich bereits eine Freundin habe.«

Ich nickte und sah dann zu Devin.

»Auf die schnelle habe ich keinen Ersatz für deine Wandlung. Also habe ich Jet gebeten mir jemanden vom Vampirrat zu bringen, der was von Geheimhaltung versteht.«

Ich zuckte die Schultern und blickte dann zu Jaden.

»Er kommt nicht infrage«, sagte Devin eine Oktave tiefer und meine Augenbrauen schossen hoch.

»Wer kommt dann infrage? Jet, hast du einen Ersatz finden können? Meine Wandlung kommt rasch.«

Jet schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen im Rat, der so schnell hier sein kann. Außerdem stehen die Vampire zum Rat und würden keinen Verrat begehen.«

»So wie du und Devin?«, schoss es aus mir heraus und beide sahen mich entrüstet an. Hinter mir hörte ich Jaden leise Lachen. Es musste immer etwas an mir geben, was ihn zu belustigen schien.

»Ist doch so. Du bist schließlich mein Vater. Und du bist mir zur Hilfe geeilt.«

»Ich wusste nicht, dass du ein Mischling bist.«

Die Abfälligkeit in diesem Wort »Mischling« ignorierte ich.

»Niemand ist hier auch nur ein bisschen ehrlich! Wisst ihr was, ich entscheide selbst. Vielen Dank auch.«

Ich drehte mich auf dem Absatz um, schnappte mir meinen Tee und ging in den Flur. Kurz vorher drehte ich mich noch einmal um.

»Wenn ihr mich entschuldigt, ich bin sehr müde.« Ich sah Dilara an. »Du schläfst bestimmt hier, oder?«

Sie nickte und folgte mir mit ihrem Tee.

In meinem Zimmer schloss ich hinter Dilara die Tür und stellte meine Tasse auf dem Schreibtisch ab. Es wurde Zeit, dass ich mein Schicksal vielleicht doch selbst in die Hand nahm. Aus dem Bücherregal nahm ich das Buch heraus, indem ich meine Halskette versteckt hatte, und legte sie mir wieder um den Hals.

Mit ihr fühlte ich mich schon um einiges besser. Außerdem war ich mir sicher, dass Jaden nicht versuchen würde, sie mir abzunehmen und zu stehlen.

Dilara saß auf dem Bett und nippte an ihrem Tee.

»Morgen ist eigentlich Schule«, murmelte ich, doch ich hatte keine Lust. Ich sollte mir Jadens Rat zu Herzen nehmen und mich ausruhen. Schließlich brachte mich die Wandlung aus dem Konzept und die Visionen wurden von Mal zu Mal schlimmer.

Daher sollte ich es vermeiden, diese in der Schule zu bekommen. Auch wenn ich es nicht kontrollieren konnte. Ich musste bis nach der Wandlung warten und schauen, zu was sich meine Visionen entwickelten.

Meine Wangen erwärmten sich, denn Jaden hatte gesagt, dass er mir bei meiner Wandlung half. Ich konnte nicht anders, als aufgeregt zu sein.

»Ich werde nicht hingehen«, sagte Dilara.

»Denn ich möchte dich beschützen. Das habe ich die letzten Tage nicht geschafft.«

Ich musste einfach lächeln. Meine beste Freundin, ein Mensch, ein schüchternes Mädchen, wollte einen Mischling beschützen.

»Deswegen bist du meine beste Freundin.«

»Ich weiß«, grinste sie. »Und daher bin ich neugierig.«

Sie zögerte, nahm noch einen Schluck vom Tee und stellte die Tasse dann ab. Ich setzte mich mit auf das Bett und drückte eines meiner kuscheligen Kissen an meine Brust.

»Wie sind die Wölfe? Waren sie nett zu dir? Haben sie dir etwas angetan?«

Nun zögerte ich. Es war nicht so, dass ich mich dort wohlgefühlt hatte. Und ich hatte Angst, sogar sehr große. Aber im Endeffekt wusste ich nicht, ob ich wirklich in Gefahr war.

Ich seufzte.

»Jeder möchte mich töten«, sagte ich und blickte meiner allerbesten Freundin in ihre karamellfarbenen Augen.

»Die Wölfe konnten mich aus einem bestimmten Grund nicht töten, aber ich kenne ihn nicht. Und ein Wolf hat sich sehr nett um mich gekümmert. Er hätte mir nie etwas getan, das weiß ich.« Ich schüttelte den Kopf, denn die Gedanken an die Entführung wollte ich derzeit nicht haben.

»Und dann habe ich da noch jemanden kennengelernt. Er ...«, ich stockte. »Scheiße!«

Sofort sprang ich vom Bett und lief die Treppe nach unten. Im Wohnzimmer war es erstaunlich ruhig. Es war niemand zu sehen. Alle waren weg. Und ich hatte es nicht mitbekommen.

Ich ging in die Küche und sah mich um. Irgendjemand musste doch hier sein.

Panisch drehte ich mich herum und stieß direkt mit meinem Gesicht gegen eine stahlharte Brust.

»Was schleichst du hier herum? Wolltest du nicht schlafen?«, fragte Jaden und schaute mich aus verengten Augen an.

Er wusste, dass ich nicht geschlafen hatte. Schließlich konnte er meine Gedanken hören. Daher rollte ich mit den Augen, ehe ich ihn ansah.

»Ich muss unbedingt in das Versteck der Wölfe zurück«, sagte ich.

Jaden verschränkte die Arme vor der Brust und starrte mich lange schweigend an.

»Du wirst es in meinen Gedanken nicht finden. Das wieso.« Zähneknirschend sah er weg und ich betrachtete ihn aus dem Profil. Er war einzigartig perfekt, hatte schöne markante Gesichtszüge und eine gerade Nase. Seine Lippen waren sinnlich geschwungen.

»Denk nicht so an mich.«

Sofort schoss mir die Hitze ins Gesicht. Dieser Arsch.

Ich sah konkret in die andere Richtung und legte die Hände auf dem Tresen ab.

»Wirst du mich dorthin bringen?«

»Nein.«

Seufzend setzte ich mich auf den Hocker und drehte mich zu ihm herum.

»Jaden, ich würde dich nicht darum bitten, wenn es mir nicht wichtig wäre.«

»Dann sag mir das warum. Ist es wegen deiner Sachen? Ich gehe gern mit dir eine neue Tasche kaufen oder ein neues Handy. Verdammt, es ist egal was du willst, ich würde dir alles kaufen.«

Oh, mit so einer heftigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet und es schmeichelte mir zu sehr. Jaden seufzte und kam dann auf mich zu. Er drückte meine Beine mit seinen auseinander und kam mir ganz nah. Mein Herz stockte bei dieser Nähe und ich wich automatisch mit dem Oberkörper etwas zurück.

Seine Hände stützte er neben mir am Tresen ab.

»Sag mir, warum du an diesen schrecklichen Ort zurück willst.« Seine Stimme war ein Flüstern. Sein Atem streifte mein Gesicht und sein ganz eigener Geruch stieg mir in die Nase.

Er war zu nah. Berauschend nah. Meine Hand legte ich an seinen Hals und strich in seinen Nacken. Meine Finger glitten in sein Haar.

»Khalida.«

Seine Stimme war ruhig und weich und es brachte mein Herz zum Rasen. Wie konnte er das schaffen? Warum ausgerechnet er? Und wieso dachte ich jetzt gerade daran, wenn er unmittelbar vor mir stand.

»Es ist nicht fair«, murmelte ich. »Du kannst meine Gedanken hören. Wort für Wort. Und ich blamiere mich jedes Mal aufs Neue.«

Ich seufzte und nahm die Hand von ihm.

»Manchmal will ich auch deine Gedanken hören. Aber dann doch lieber nicht.« Aus Angst vor der Enttäuschung. Ich flüchtete unter seinem Arm hindurch und verließ die Küche. Auf dem Treppenabsatz blieb ich nur kurz stehen.

»Das Warum wirst du nicht erfahren. Dazu musst du mich mitnehmen.«

Damit stieg ich die Treppe hinauf und verschwand wieder in meinem Zimmer. Natürlich wusste ich, dass Jaden keine tieferen Gefühle für mich hegte. Ich wusste ja selbst nicht einmal, was ich genau fühlte. Für ihn. Oder für uns.

Aber ich wollte nicht, dass er mich benutzte oder seinen Spaß daran hatte, mich leiden zu sehen, denn das tat ich. Dabei sollte es nicht so sein. Ich kannte ihn nicht. Dafür kannte er mich in- und auswendig. Wie gesagt: Nicht fair.

»Ist dir noch etwas eingefallen wegen der Wölfe?«, fragte Dilara besorgt und schlug die Bettdecke beiseite. Das warme kuschelige Bett ließ mich wohlig seufzen. Das hier fühlte sich richtig an. Das eigene Bett.

»Ja. Aber ich kann darüber gerade nicht reden. Morgen erzähle ich dir alles. Das ist ein Versprechen.«

Zumindest war ich mir nun sicher, dass Jaden das Haus nicht verlassen würde. Denn wenn er morgen nicht rechtzeitig hier wäre, würde ich mich allein zu diesem Versteck begeben. Komme, was wolle.

Khalida

»Wenn du dich nicht beeilst, dann fahre ich ohne dich«, sagte ich. Meine Hände in die Hüften gestemmt, blickte ich auf Dilara hinab, die immer noch im Bett lag. Obwohl wir uns noch eine Weile unterhalten hatten, klingelte mein Wecker wie immer sehr früh. Denn normalerweise hatten wir Schule.

»Ich stehe gleich auf«, grummelte sie und vergrub das Gesicht in den Kissen. Sie war genau wie ich ein Morgenmuffel.

Aus dem Schrank schnappte ich mir ein paar frische Klamotten und verließ mein Zimmer. Nach meiner kurzen Dusche sollte sie definitiv aufstehen. Da kam mir die Idee. Ich legte die Klamotten ab und lief in die Küche hinunter.

Die Milch und der Kakao waren schnell in einem Glas zusammengemischt. Mit dem Glas lief ich zurück in mein Zimmer und stellte ihn auf den Nachttisch. Um Dilara wachzubekommen und dann auch sicherzugehen, dass sie aufstand, half nur ihr Kryptonit. Und das war ein kühles Glas Kakao.

»Ich bringe dir etwas sehr leckeres.«

Dann ging ich ins Badezimmer und zog mir das Oberteil über den Kopf. Im Spiegel betrachtete ich meinen Körper eingehend. Nach dem Unfall war so gut wie alles verheilt. Es war beängstigend, welche Wirkung Vampirblut auf einen hatte. Man könnte so viele Menschen damit retten. Dennoch durfte dieses Geheimnis nie ans Licht kommen.

Auf der linken Seite meines Rückens bemerkte ich eine riesige fast verheilte Schürfwunde, die sich vom Schulterblatt bis zur Hüfte streckte.

Verdammt! Die hatte ich noch gar nicht bemerkt. Schmerzen hatte ich keine. Sie sah einfach nur hässlich aus.

Vorsichtig strich ich mit meinem Finger über die zerfurchte Haut. Wie konnte mir diese Wunde entgehen? Und weshalb war ausgerechnet diese noch nicht verheilt?

Die Tür wurde aufgerissen und ich rechnete damit, dass Dilara endlich aus dem Bett gekrabbelt war. Doch etwas zwischen einem Husten und einem Räuspern ließ mich zusammenzucken und ich griff automatisch nach meinem Oberteil, welches ich zuvor ausgezogen hatte.

»Kannst du nicht anklopfen?«

Allerdings gab mir Jaden keine Antwort, er trat ins Badezimmer ein und schloss hinter sich die Tür. Er drehte mich an der Schulter herum und ich stand mit dem Rücken zu ihm. Mit sanften Fingern fuhr er die lange zerfurchte Linie nach und eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Körper.

»Ich hab dir doch gesagt, dass es unfair ist«, wisperte ich, denn mir gingen tausend Gedanken und Fragen durch den Kopf. Wie sollte ich in seiner Nähe je einen klaren Kopf behalten. Ich konnte mich kaum konzentrieren.

»Beachte mich nicht«, flüsterte er zurück und legte seine warmen rauen Hände an meine nackte Taille.

»Das ist nicht so leicht.«

Durch den Spiegel betrachtete ich ihn und kam nicht drum herum mir einzugestehen, dass er fantastisch aussah. Das schwarze Haar war gerade lang genug und wild durcheinander, dass ich mit den Fingern hindurchfahren könnte und es greifen könnte. Und seine sturmgrauen Augen waren klar und durchdringend, in ihnen war ein eiskaltes und dennoch feuriges Lodern zu sehen. Seine markanten und doch hinreißend schönen Gesichtszüge waren hart und ernst. Das gehörte definitiv verboten.

Ich seufzte und entzog mich seinen Händen.

»Du solltest raus gehen.«

Jaden sagte nichts, nur seine Fingerspitzen strichen über meinen nackten Rücken hinauf bis in meinen Nacken. Er legte meine Haare beiseite und beugte sich hinunter. Seine weichen Lippen drückten sich in meinen Nacken, sein Kuss war sanft und federleicht.

Meine Augen schlossen sich bei seinen Berührungen. Als ich seine Hände nicht mehr spürte, öffnete ich meine Augen und fand mich allein vor dem Spiegel.

Ich duschte mich in Rekordgeschwindigkeit und wrang gerade meine Haare aus, als es an der Tür klopfte.

»Kleinen Moment!«

Ich hatte zwar ein Handtuch um meinen Körper geschwungen, dennoch reichte es mir nicht. Daher legte ich mir noch ein Handtuch um die Schultern. Als ich die Tür öffnete, stand Dilara verschlafen vor mir.

»Wie lange noch?«

Verwirrt blickte ich sie an, ihre Augen wirkten immer noch müde und klein.

»Wie lange brauchst du noch?«

»Oh, gib mir fünf Minuten zum Anziehen. Dann kannst du rein.«
Sie nickte, drehte sich herum und schlurfte ins Zimmer zurück.

Wenn ich auch nur einen Gedanken an das Warum verschwendete, würde Jaden mit Sicherheit ohne mich fahren. Aber ich musste mit.
Mit einer lockeren Hüfthose und einem weißen Shirt ging ich aus dem Badezimmer und direkt in mein Zimmer. Von dem Kleiderhaken an der Tür nahm ich mir meine schwarze Strickjacke.

»Du kannst ins Bad.«

Dilara nickte und rieb sich über das Gesicht. Hatte sie so schlecht geschlafen die Nacht? Bei dem Gedanken sie mitzunehmen fühlte ich mich mehr als unwohl. Sie war schließlich das schwächste Mitglied in unserem kleinen außergewöhnlichen Kreis. Abgesehen von meiner Mom und Noel. Wie stark ich war, konnte ich nicht einschätzen. Laut Jadens Aussage, dass ich bemerkenswerte Fähigkeiten hatte, die man normalerweise erst als Vampir erlangte, könnte ich gleichwertig sein. Jedoch nicht aus körperlicher Sicht. Und eigentlich auch nicht von den Fähigkeiten her. Schließlich wusste ich nicht, wie ich das geschafft hatte mit den Vampirfähigkeiten. Schnell lief ich die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer saßen Jaden und Jet weit auseinander und Devin stand am Fenster. Und als ich in die Küche spähte, sah ich Mom und Noel am Tresen sitzen. Alle schwiegen.

»Wow. Jetzt wird hier schon getrennt«, murmelte ich und ging in die Küche. Für mein Frühstück nahm ich mir eine Schüssel, schüttelte Cornflakes hinein und goss Milch hinzu.

»Noch jemand ein Frühstück?«

Keiner antwortete mir.

Es war erdrückend in diesem Haus. Viele mochten sich untereinander nicht und wollten sich vermutlich am liebsten tot sehen. Da ich aber mit ihren kleinen Streitereien nichts zu tun hatte, musste ich das irgendwie ausblenden.

Schweigend aß ich also mein Frühstück. Irgendwann kam dann Dilara die Treppe hinunter und blickte genauso zwischen den Räumen hin und her wie ich.

Bevor sie allerdings etwas zu der eisigen Stimmung sagen konnte, ging Jaden an ihr vorbei und kam auf mich zu. Seinem Blick nach zu urteilen, hatten sie sich endlich lang genug angeschwiegen.

»Wir werden wieder dorthin fahren.« Die Worte sickerten langsam durch meinen Kopf und ich legte die Löffel beiseite.

»Na endlich.«

»Aber nur Jet und ich«, fügte er hinzu.

»Nein!«, war das erste Wort, an das ich dachte und auch laut aussprach. Ich rutschte vom Stuhl herunter.

»Nein! Ich komme mit. Ohne mich könnt ihr mein Versprechen nicht halten.«

»Es kommt darauf an, weshalb du dorthin willst.« Jadens Augen durchbohrten meine, starrten mich an und suchten vermutlich die Antwort in meinem Kopf. Allerdings schüttelte ich den Kopf und starrte ihn genauso an.

Plötzlich drehte er sich um und sah Dilara an. »Hat sie dir etwas erzählt?«

»Nein. Leider gar nichts.«

Schulterzuckend sah Dilara ihn an und dann zu mir. Doch ich war nicht dumm. Wenn ich es Dilara erzählt hätte, dann würde sie mich mit aller Kraft daran hindern zu den Wölfen zurückzukehren. Ich machte es ja nicht mit Vergnügen.

Selbstsicher ging ich in den Flur. Jaden hatte keine andere Wahl als mich mitzunehmen. Schnell hatte ich mir die Schuhe angezogen und wartete auf die anderen beiden.

»Wieso wollt ihr mich nicht mitnehmen?«

»Weil wir es uns nicht leisten können dich ein zweites Mal zu verlieren. Denn dann wirst du da nicht lebend herauskommen. Deine Wandlung naht. Und zwar extrem schnell«, sagte Jaden.

Mit verschränkten Armen stand er vor mir.

Wenn meine Wandlung tatsächlich eintrat, wenn wir bei den Wölfen waren, dann wäre es ... unvorteilhaft. Dennoch hatte ich Vertrauen darin, dass sich mein Versprechen schnell klären würde und wir alle das bekamen, was wir wollten.

Meine Augen schlossen sich. Wenn ich wenigstens in Ruhe nachdenken könnte, doch vermutlich wartete Jaden nur darauf, dass ich mich verriet.

»Jaden, ich wiederhole mich, aber ... ich würde dich nicht darum bitten, wenn es mir nicht so verdammt wichtig wäre.«

Seufzend kam er in den Flur und lehnte sich an die Holzkommode.

»Wenn du dir sicher bist, dass du das schaffst, bevor deine Wandlung eintritt, dann verspreche ich dir, dass ich dich bis zum Ende beschützen werde.«

»Und ich werde dich auch beschützen«, sagte Jet und lehnte sich an die Wand im Flur.

»Ich will auch mit! Ich habe Khali gestern versprochen, dass ich sie für immer beschützen werde!«, rief Dilara und kam aus der Küche gelaufen. Ihr ernster Gesichtsausdruck brachte mich zum Schmunzeln. Dennoch konnte sie nicht mit.

»Du wärst eine zu leichte Zielscheibe für die Wölfe. Es wird uns schon einiges abverlangen, nur um Khalida zu beschützen. Wenn wir uns auch noch um deine Sicherheit kümmern müssen, dann können wir nicht dafür garantieren«, sagte Jet und Dilaras Schultern sackten herunter.

»Wir sind schnell zurück.«

Devin trat nun ebenfalls mit meiner Mom in den Flur.

»Oh, ich schwöre, dass ich nichts Falsches tue Mom. Ich begebe mich nicht mit Absicht in diese Gefahr, wenn ich nicht gute Gründe dafür hätte.«

Sie nickte mir zu und kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu. Ihre Umarmung war warm und weich. Sie roch nach frisch gewaschener Wäsche und einem leichten Parfüm.

»Wenn die zwei Vampire dich nicht gesund wieder hier absetzen, dann werde ich ihnen zeigen, dass eine Mutter sehr gewalttätig sein kann«, raunte sie und ließ mich schmunzeln.

Das war meine taffe Mom, die nicht einmal vor zwei bedrohlichen und durchaus starken Vampiren zurückschreckte. Einen hatte sie damals ja sogar geliebt.

»Ms. Blair. Ich gebe mein Leben für Khalida«, hörte ich Jaden sagen. Mein verblüfftes Gesicht versteckte ich im Haar von Mom.

»Das will ich dir auch geraten haben.«

Meine Mom mochte Jaden nicht. Weshalb? Dieser durchaus wütende Klang in ihrer Stimme war nur sehr selten herauszuhören. Hatte Jaden sich bei meiner Mom etwa unbeliebt gemacht?

Ich ließ sie los und öffnete die Tür.

Jaden ging an mir vorbei und auf ein Auto zu. Es war das Auto, in dem die zwei mich bereits gestern Abend hergefahren hatten.

Schnell lief ich auf die hintere Wagentür zu und öffnete sie, als Jaden den Wagen mit seiner Autofernbedienung aufschloss. Der Rücksitz war weich und meine Gedanken schweiften etwas ab. Aber ich riss mich zusammen und betrachtete die Garnitur vor mir. Ich musste mich konzentrieren.

Jet und Jaden stiegen nun ebenfalls ein und Jaden startete den Wagen.

Als wir bereits über den Highway fuhren, fühlte ich mich sicherer. Denn sie konnten mich nicht einfach hier sitzen lassen.

»Wie verhandelt man am besten mit einem Wolf?«

»Was willst du denn von einem Wolf haben?«, fragte Jet.

»Darum geht es nicht. Was könnte ein Wolf begehren? Abgesehen von meiner Kette, könnte ich ihm andere Dinge anbieten.« Glaubte ich. Doch ich besaß nicht sehr viel Geld. Mein restlicher Schmuck hatte vermutlich auch nur einen geringen Wert und andere Wertgegenstände hatte ich nicht. Es könnte schwierig werden, ihn mit irgendwas zu locken.

»Droh ihm«, warf Jaden ein und ich zog die Augenbrauen zusammen.

»Drohen? Ich bin ein Mensch. Er hat mit absoluter Sicherheit keine Angst vor mir.«

»Aber du bist auch ein Mischling. Und du kannst dich durchaus mächtig geben. Er wird schon einknicken. Je nachdem, was du von ihm willst.«

Sie würden wohl nie aufhören, das zu sagen. Aber es musste bis zum Ende ein Geheimnis bleiben, damit sie mich auch wirklich mitnahmen.

Den Wagen parkte Jaden am Rande der Straße einer Landstraße und drehte sich auf dem Fahrersitz zu mir herum. Schade, dass ich ihn bisher noch nicht beim Autofahren beobachten konnte. Obwohl mir die Fahrt auf seinem Motorrad auch sehr gefallen hatte.

Ah, die Gedanken gehörten jetzt definitiv nicht an diesen Ort!

»Sag es mir.«

»Nein.« Trotzig blickte ich ihn an.

»Wir nehmen dich trotzdem mit. Aber ich muss Bescheid wissen, worauf wir uns einlassen. Damit ich dich richtig beschützen kann. Das ist verdammt wichtig Khalida. Denn hier ist das Territorium der Wölfe. Im Grunde haben wir hier nichts zu suchen.«

Seufzend ergab ich mich.

»Es gibt in dem Haus einen Gefangenen. Sein Name ist Dan. Er wird dort als Gelegenheitssnack missbraucht. Alles was er will ist seine Freiheit. Und ich will ihm diese Freiheit geben.«

»Wegen eines Menschen?«

Die Ungläubigkeit in seinen grauen Augen traf mich schmerzhaft direkt in meine Brust.

»Zufälligerweise bin ich auch menschlich. Zwar ist es nur die eine Hälfte von mir, aber ich bin es. Wenn du das jetzt nicht mehr durchziehen willst, dann bitte. Geh. Aber ich steige aus.«

Mit einem Satz schwang ich mich zur Tür und stieg aus dem Auto aus.

Ein frischer Windzug streifte mich und ich legte fröstelnd die Arme um meinen Körper. Vielleicht konnte ich den Weg zum Haus der Wölfe selber finden. Oder vielleicht fanden die Wölfe mich.

Jedenfalls konnte mich keiner aufhalten. Nicht einmal die Vampire hinter mir.

»Wir begleiten dich. Das hatten wir dir doch schon gesagt.«

Jet schnalzte mit der Zunge und betrachtete mich aus verengten Augen.

»Ich habe noch nie so oft gegen den Willen des Rats gehandelt. Aber du hast diese seltsame Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen kann.«

»Das nehme ich als etwas Positives an«, meinte ich und deutete den beiden an, dass sie vorgehen sollten. Ich folgte ihnen durch den Wald und musste immer wieder darauf aufpassen, dass ich den Sträuchern und den Ästen auswich.

Das Holz knarzte unter meinen Füßen. Der Wind wehte nicht mehr so stark durch die Bäume. Es war eine angenehme Stille in der Natur und ich genoss diesen kurzen Moment des Friedens, den ich in mir spürte.

Nach einem fünfzehnminütigen Spaziergang kamen wir auf einer Lichtung an und das Haus, das dort stand, wirkte unwirklich in diesem Wald.

Die Tür öffnete sich und Caleb stand plötzlich auf der Veranda des Hauses. Seine Augen fixierten mich und augenblicklich fühlte ich mich unwohl. Es war, als hätte er mich sofort gespürt, als ich in seine Nähe kam.

»Khalida«, wisperte er, als wir ihm näher kamen und unten an der Treppe stehen blieben. Jet und Jaden waren meine Schilde, an denen Caleb unmöglich vorbeikommen würde.

»Hallo Caleb.«

»Du ... du hast mich verlassen.«

Seine Augen ließen mich nicht einen Augenblick lang los und eine unbehagliche Gänsehaut schlich sich über meinen Körper. Meine Hand schnellte sofort an meinen Hals, wo er mich gebissen hatte.

Jadens Hand legte sich in mein Kreuz, seine Finger spreizten sich und ich fühlte die Wärme, die von ihm ausging. Selbst diese kleine Berührung verursachte einen sanften Schauer, der langsam über meinen Körper lief.

Mir kam mit Entsetzen die Erkenntnis, dass Jaden der Einzige war, worauf mein Körper so reagierte. Und nicht nur das, seinetwegen wollte mein Körper scheinbar schneller durch die Wandlung, wollte so sein wie er.

»Sie hat geschlafen. Außerdem hat sie nie dir gehört«, sagte Jaden grollend.

»Doch, denn ich habe sie für mich beansprucht. Ich wollte sie zu der meinen machen. Zu meiner Gefährtin.«

Ich sah betrübt weg, denn ich hatte nie auch nur dasselbe empfunden für ihn, wie er für mich. Und selbst wenn ich hiergeblieben wäre und Caleb das alles mit mir getan hätte, wäre es immer noch nicht dasselbe, als wenn man jemanden wahrhaftig liebte. Das Herz war nun einmal nicht immer im Einklang mit dem eines anderen. Egal wie sehr man auch versuchte, diese Person davon zu überzeugen.

»Ich will mit Nathan sprechen. Ich möchte mit ihm verhandeln. Aber sag ihm ausdrücklich, dass es hierbei nicht um den Anhänger geht«, sagte ich und versuchte, meine Stimme stärker klingen zu lassen.

Caleb ging zurück ins Haus und in dem Moment, wo wir alleine waren, spürte ich auch schon den bitterbösen Blick von Jaden auf mir ruhen.

»Er war es? Er hat dich gestern gebissen?«

»Ja.«

»Er hat dich als seine Gefährtin bereits markiert. So leicht wird er es nicht aufgeben, dich zu bekommen. Ist dir klar, was er dir angetan hat?«

Ich nickte, denn ich hatte den Schmerz ja unmissverständlich gespürt. Das Durchdringen seiner Reißzähne in meiner Haut. Das Saugen seines Mundes an meinem Hals. Es ließ mich zusammenzucken. Ich hatte gedacht, dass er mich töten würde. Mich zerfetzen würde, wenn er genug hatte. Ich dachte, dass er mein Sensenmann gewesen wäre.

»Khalida. Er wird dich für immer lieben, solange wie ihr zwei lebt.« Seine geknurrten Worte machten mir keine Angst. Ich hatte keine Schuld. Er hatte es getan und mich dabei gewaltsam festgehalten. Meine Versuche mich zu wehren waren schließlich erfolglos geblieben. Was hätte ich denn tun sollen?

»Dann muss er eben sterben«, sagte nun Jet und so eine Aussage hatte ich nicht von ihm erwartet. Eher dachte ich, dass Jaden so etwas sagen würde.

»Vielen Dank auch.« Das diabolische Grinsen von Jaden zeigte mir nur wieder zu deutlich, wie laut er meine Gedanken hören konnte. Ich rollte mit den Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Wenn ich jetzt nicht ablieferte vor Nathan und ihn von meiner Meinung überzeugen konnte, dann könnte ich mein Versprechen nicht halten. Egal, was er wollte, ich würde versuchen, es ihm zu geben.

Nathan trat aus dem Haus heraus und sah nicht einmal überrascht aus.

»Weißt du, Mischling, ich habe dich für dumm gehalten. Aber mir fällt auf, dass du mehr als das bist. Du bist lebensmüde. Dein Drang zu sterben scheint sehr groß zu sein. Das ist mehr als dämlich.«

Seine Stimme grollte und durchdrang jede Zelle meines Körpers.

»Es gibt da etwas, dass ich für mich haben will. Einen Menschen, den du gefangen hältst.«
Nathan lachte ironisch und ging die Treppen herunter. Als er vor mir stand, sah er mir in die Augen und zog die Augenbrauen zusammen.

»Nein. Verschwinde. Oder ich töte euch alle. Und dann fange ich einen Krieg an.«

»Das wirst du nicht. Sonst hättest du es schon getan.«

Sein Blick fiel auf meinen Hals. Und als er den Anhänger sah, wirkte er aufgebracht und wütend.

»Du tauchst damit bei mir auf? Ich könnte dich auf der Stelle töten.«

»Du hast es nicht getan. Und du wirst es auch nicht tun.«

Weshalb er es nicht tat, war mir tatsächlich ein Rätsel.

Er grinste verächtlich, drehte sich zur Seite und betrachtete die Natur um uns herum.

»Was bietest du an?«

Nun kam der Moment, in dem ich ihn überzeugen musste. Und ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was ich ihm anbieten könnte. Da fiel mir nur eines ein, was ich tun konnte.

»Was begehrst du am meisten? Was willst du haben? Ich gehe einen Deal mit dir ein, Nathan.«

Sofort sah er mich wieder an. Die lodernden hellen braunen Augen aufgerissen, als hätte ich ihm ein Angebot gemacht, was mehr Wert war als ein Leben.

»Aktuell? Deinen Tod.«

»Wieso?«

»Wolfsgeheimnis.« Ich schüttelte den Kopf und zeigte auf den Anhänger.

»Wenn es darum geht, dann musst du es mir erklären. Aber ich kann dir diesen nicht aushändigen. Er gehört mir.«

Jaden und Jet standen schweigend neben uns und achteten auf alles, was um uns herum geschah. Jede noch so kleine Bewegung wurde sofort bedacht. Selbst wenn Nathan versuchen sollte, mich umzubringen, könnte es auch böse für ihn ausgehen.

»Ich wollte dich samt diesem Anhänger von dieser Welt auslöschen, damit der Fluch der Wölfe erträglicher wird. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Schließlich wissen wir auch nicht jedes Vampirgeheimnis.«

»Das verstehe ich. Also, was gibt es noch was du möchtest.«

»Dann will ich den Tod eines bestimmten Vampirs. Walther.«

»Unmöglich«, sagte Jaden neben mir.

»Es muss realistisch sein. Ich will schließlich auch etwas Realistisches.«

»Was willst du denn, Mischling?«

»Dan. Ich will Dan.«

Nun war Nathan erstaunt. Dann fing er an zu lachen.

»Du willst wirklich diesen Menschen?«

Zähneknirschend versuchte ich, meine aufkommende Wut zurückzuhalten.

»Wenn es darum geht, dass er nur ein Mensch ist, dann ist das sicherlich kein großer Verlust für dich, Nathan«, sagte ich gepresst.

»Er ist aber eine sehr ... leckere Mahlzeit. Du wolltest ja nicht kosten.«

Mir reichte es. Ich ging auf den großgewachsenen Mann zu und stellte mich direkt vor ihn. Und es war mir egal, dass er mich mit ca. 30cm überragte. Es war mir auch egal, dass er ein verdammter Wolf war.

»Hör mir gut zu, ich bin gerade wirklich nicht in Stimmung, um über dieses Thema zu reden. Aber wenn du Dan noch einmal so abwertend bezeichnest, wirst du der erste sein den ich töte, wenn ich ein Vampir bin.«

In meiner Rage vollkommen verloren, bemerkte ich nicht, dass Nathan vor mir einen Schritt zurückgetreten war.

»Bring mir Dan. Er gehört dir nicht. Und dann hast du einen Gefallen bei mir offen. Und ich verspreche dir, dass ich dir deinen Gefallen später mit Vergnügen erfüllen werde.«

Nathan hob die Hand und deutete seinen Wölfen etwas an. Einer von ihnen verschwand im Haus. Keiner von uns beiden unterbrach den Augenkontakt, bis einer mit Dan im Schlepptau herauskam. Völlig überrascht sah sich Dan um. Sein Blick brach mir das Herz. Wie lange war er schon nicht mehr an der frischen Luft gewesen.

»Hier hast du deinen Menschen, Mischling. Und der Gefallen, den du mir erweisen musst, wird sehr bald sein. Das verspreche ich dir.«

»Keine Sorge. Ich werde dir dafür ewig dankbar sein.«

Ich sah Dan an, der zwischen Jaden, Jet und mir hin und her blickte. Es musste für ihn mehr als eine Überraschung gewesen sein, dass er nun seine Freiheit wieder hatte.

Schnell streckte ich den Arm aus, packte Dans Hand und zog ihn hinter mir in Sicherheit. Kurz sah er Jaden an, dann Jet.

»Nathan. Eines noch: Wenn ich ein Vampir bin, werde ich die Grenze zwischen den Wölfen und Vampiren brechen. Keiner muss sich vor dem anderen mehr fürchten und keiner wird vom anderen getötet. Man kann durchaus in Frieden leben. Das ist mein Ziel.«

Ich reichte ihm die Hand und wartete auf seine Reaktion.

Zu meiner Verwunderung nahm er sie entgegen und drückte angenehm zu.

»Wenn du das sagst.«

»Ja. Und außerdem«, ich ließ seine Hand los und drehte mich bereits herum, »mein Name ist Khalida. Nicht Mischling.«

Nathan neigte seinen Kopf und ließ uns gehen.

Ich legte eine Hand auf den Unterarm von Dan und brachte ihn dazu, mich anzusehen.

»Ich schenke dir deine Freiheit. Alles, was du dir je gewünscht hast, kannst du wieder tun. Aber lass dich nicht noch einmal einfangen«, sagte ich und versuchte mich an einem Lächeln.

In seinen Augen sah ich ein verdächtiges Glitzern. Mit einem Ruck hatte er mich in die Arme geschlossen und drückte mich fest an seinen Körper. Sein Gesicht ruhte auf meiner Schulter. Ich spürte, wie sein Körper für einen Moment bebte. Aber er unterdrückte die Tränen.

»Ich danke dir so sehr, Khalida«, flüsterte er mir ins Ohr und ich fühlte seine Lippen an einer empfindlichen Stelle unter meinem Ohr. Mein Atem blieb stehen und ich legte eine Hand an seinen Hinterkopf und streichelte sein Haar.

Es tat mir so leid. Was er durchleben musste, wie er behandelt wurde. Welche Schmerzen er ertragen musste.

»Ist okay. Keine große Sache«, flüsterte ich zurück und Dan ließ mich langsam los. Seine Lippen streiften meine Wange und er sah mich lächelnd an.

»Wir sollten jetzt endlich hier verschwinden«, meldete sich Jaden zu Wort und legte eine Hand wieder in mein Kreuz. Diese Empfindung war viel intensiver auf meinem Körper. Als hätte mein Körper genau auf diese Berührung von ihm gewartet. Sofort war meine Konzentration auf ihn gelenkt, mein Kopf war wie leergefegt.

Seine rauen Hände würden sich auf meiner Haut jetzt unfassbar gut anfühlen. Ich hätte mir am liebsten die Jacke und das Shirt ausgezogen, nur damit ich seine raue Hand auf meiner weichen Haut gespürt hätte.

Sofort verschwand seine Hand und ich war mir bewusst, dass er meine Gedanken kannte. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Es war, als ob mein Körper sich von meinem Gehirn abkapselte und nicht mehr auf mich hören wollte.

»Khalida!«

Calebs Stimme riss mich aus meiner eigenen Welt und ich drehte mich zum Haus herum. Mit schnellen Schritten kam er zu uns, doch nur mich sah er an.

»Khalida. Bitte bleib. Ich brauche dich.«

»Das kann ich nicht, Caleb. Du weißt, dass ich nicht dasselbe empfinde.«

Er kam noch näher und wollte seine Hand auf meine Schulter legen, doch Jaden schlug seine Hand weg und drückte mich hinter sich.

»Wenn du sie noch einmal anfasst, werde ich dir sämtliche Knochen brechen. Angefangen mit deinen Fingern«, knurrte Jaden und verdeckte mit seinem Körper komplett meine Sicht auf Caleb.

»Lass mich vorbei. Sie ist meine Gefährtin. Du kannst mich nicht von ihr fernhalten. Irgendwann wird sie mich lieben.«

Die Gewissheit in seiner Stimme ließ mich frösteln. Er war sich dieser Sache so sicher wie das Amen in der Kirche. Dabei konnte ich mir ein Leben hier bei den Wölfen nicht vorstellen.

Außerdem gehörte ich nicht zu ihnen. Ich war ein Mischling und gehörte damit auch noch nicht einmal zu den Vampiren. Vermutlich duldete man mich nur. Wenn überhaupt.

»Khalida gehört zu niemandem. Sie wird selbst entscheiden, zu wem sie geht. Und sie hat sich nun einmal gegen dich entschieden.«

Caleb gab dennoch nicht auf. Sein Knurren war der Beweis, dass er sogar um mich kämpfen würde. Aber damit würde er auch nichts erreichen.

Ich schaute an Jaden vorbei zu Caleb, der sich bereits nach vorne krümmte. Ich sah seine Reißzähne, die mich zusammenzucken ließen.

»Caleb! Lass es. Du könntest sterben!«

Denn weder Jaden noch Jet würden zimperlich sein. Sie würden ihn direkt töten. Und was würde dann geschehen? Doch ein Krieg?
Nathan würde es uns nicht verzeihen, wenn wir einen seiner Leute umbrachten.

»Khalida. Komm zu mir. Ich verspreche dir, dass ich mich sehr gut um dich kümmere. Es wird dir an nichts fehlen. Du wirst alles bekommen, was du willst. Mich. Das Rudel. Und vieles mehr.«

»Das möchte ich nicht. Ich möchte gehen, Caleb.«

Doch er schüttelte den Kopf, seine Fingernägel entwickelten sich zu Krallen, seine saphirblauen Augen brannten förmlich in meinen und auf seinem Körper sah man das erste Fell.

»Wenn du nicht freiwillig herkommst, nehme ich was mir gehört!«

Mit einem Sprung auf mich verwandelte er sich komplett in einen Wolf. Er war riesig. So groß wie ein Bär. Sein Fell war hellbraun, sein Gesicht war etwas heller. Auf dem Rücken hatte er einen langen dunkelbraunen Streifen. Seine Augen jedoch waren immer noch blau.

Jaden reagierte sofort und packte Caleb am Nacken und riss ihn zu Boden. Jet nahm mich an die Hand und rannte los. Dan lief uns hinterher.

»Das ist gefährlich. Und ein Wolf, der seine Gefährtin beschützen will, ist noch gefährlicher. Ich bringe euch zum Wagen«, sagte Jet und zog mich hinter sich her.

»Aber ... Jaden!«, rief ich und schaute über die Schulter.

Er kämpfte mit dem Wolf, der versuchte nach ihm zu schnappen. Doch Jaden konnte ihn problemlos auf den Rücken werfen. Einen Moment strauchelte ich mit den Beinen, fiel beinahe hin und ließ mich dann doch auf dem Waldboden fallen.

Und als ich dann hinter mich sah, konnte ich erkennen, wie Jaden das Maul des Wolfs aufriss und dann mit einer schnellen Bewegung in verschiedene Richtungen drückte.

Das Knacken ertönte bis zu mir und wie erstarrt schaute ich die beiden an. Caleb fiel reglos zu Boden. Jaden starrte ihn für einen Moment an. Dann verwandelte sich Caleb wieder in einen Menschen und lag nackt auf dem Boden.

»Wir müssen gehen, Khalida. Steh auf«, sagte Jet und zog an meinem Arm. Doch ich stand unter Schock. Vor meinen Augen wurde gerade jemand getötet. Caleb!

Jaden drehte sich zu mir herum und lief los.

Kaum war er bei mir angekommen, legte er die Arme unter meine Achseln und hob mich hoch. Das waren die Hände, die Caleb getötet hatten. Ich fühlte keine Angst. Nicht vor Jaden. Dennoch war ich wie erstarrt.

Mit einer schnellen Bewegung hatte Jaden mich auf die Arme genommen und meine Arme legten sich automatisch um seinen Hals.

»Ich wollte nicht, dass du das siehst«, wisperte er emotionslos. Das war die Stimme eines Killers. Und ich konnte nichts sagen. Mein Hals war ausgetrocknet.

Alles, was ich sah, war der Tod von Caleb. Wie er leblos auf dem Boden lag.

Mein Atem beschleunigte sich und ich spürte meinen Puls rasen. Das war zu viel. Auch wenn ich Nathan gedroht hatte und auch wenn mir bewusst war, dass Vampire stark waren.

Mein Gott. Jaden hätte mit mir jederzeit dasselbe tun können.

»Khalida«, sagte Jaden auf einmal, sah mich aber nicht an. Er war auf das Laufen konzentriert und trug mich weiterhin durch den Wald.

Als wir endlich den Waldrand erreichten, verlangsamten sie ihren Schritt und gingen auf das Auto zu. Jet öffnete die hintere Wagentür und Jaden setzte mich auf dem Boden ab. Sofort krabbelte ich auf den Rücksitz und atmete langsam ein und wieder aus.

Auf der anderen Seite schwang sich Dan auf den Rücksitz und schaute sich weiter um. Er schnallte sich an und zog dann an meinem Sicherheitsgurt, den er einrasten ließ.

Jaden saß auf dem Beifahrersitz und schaute zu Dan und dann zu mir.

»Versuch dich auszuruhen. Es war heute viel auf einmal.«

Ich nickte und lehnte mich zurück. Seufzend schloss ich die Augen und versuchte, an nichts Bestimmtes zu denken. Auch nicht an Caleb.

Jet fuhr den Wagen von der Landstraße und unterhielt sich nebenbei mit Dan.

»Weißt du, wo du früher gewohnt hast?«, fragte Jet und drückte auf dem Highway das Gaspedal durch.

Das Gespräch bekam ich nur am Rande mit. Dan erzählte von seiner Heimatstadt, welche einige Kilometer von hier entfernt war. Daher hatte Jet ihm angeboten, ihn morgen dorthin zu fahren. Das weitere Gespräch ging in meinen Gedanken unter. Sie sprachen über Football. Eine Sportart, die Dan früher sehr gerne gespielt hatte. In der High-School. Auf dem Weg von der Schule nach Hause wurde er dann überfallen. So hatten ihn die Wölfe mitgenommen.

Den Kopf in den Nacken gelegt, versuchte ich mich zu entspannen. Ein plötzliches brennendes Gefühl stieg mir in der Kehle hoch und ich hüstelte. Krampfhaft versuchte ich, es zu unterdrücken, und schluckte ein paar Mal. Doch es verschwand einfach nicht.

Das leichte Schaukeln des Autos machte mich müde, die Gespräche verstummten und die Stille lud mich dazu ein, den Kopf komplett abzuschalten.

Kapitel 15 - Khalida

Ein lautes Knacken weckte mich aus meinem leichten Schlummer. Doch ich hatte nur geträumt. Langsam kam ich zu Bewusstsein und spürte sanft etwas über meinen Hals streicheln. Es fühlte sich unglaublich warm an und ich seufzte. Den Kopf zur Seite gedreht, ließ ich es weiter meinen Hals auf und ab streicheln. Das Brennen jedoch wurde von Sekunde zu Sekunde stärker, genauso wie das Verlangen, etwas wirklich Außergewöhnliches zu trinken.

»Mhm«, murmelte ich und seufzte wieder. Meine Hand wanderte zu meinem Hals und berührte eine andere Hand. Groß, warm und schwer. Ich schmiegte mich an sie und atmete tief den Duft von dunkler Schönheit ein. Dunkel und sexy.

Dann war die Hand weg und ich legte meine Hand an meinen Hals, wo das Brennen nun unerträglich wurde und ich nicht schlucken konnte. Es fühlte sich an, als hätte ich Schmirgelpapier in meinem Hals.

Meine Hand wurde heruntergenommen und dann lagen weiche Lippen auf meiner Haut. Ein Schauer wanderte über meinen Körper und ließ mich erbeben. Nicht schon wieder.

Langsam öffnete ich die Augen und blinzelte gegen das Licht an. Schwarzes Haar kitzelte mich und ich griff mit einer Hand hinein. In meinem Körper flammte ein kleines Feuer auf.

War ich schon wieder vor Ermüdung eingeschlafen?

Jaden hob den Kopf und küsste mein Kinn. Als seine grauen Augen meine trafen, erkannte ich das lodernde Feuer darin. Die ungezügelte Leidenschaft, die er in seinem Inneren versteckte.

Er erhob sich und setzte sich hin. Seine Hände packten meine Taille und ich hielt mich an seinen Oberarmen fest. Dann hob er mich hoch und zog mich auf seinen Schoß. Meine Beine lagen rechts und links von ihm.

Mein Körper fühlte sich matt und schwach an. Und doch brannte meine Haut bei jeder seiner Berührungen.

»Ich glaube deine Wandlung tritt ein. Trink einfach«, wisperte Jaden, meine Stirn ruhte auf seiner Schulter und mein Atem beschleunigte sich bei dem Gedanken daran.

»Nein. Kein ... Vampir«, brachte ich hervor, doch es schmerzte in meiner Lunge.

Alles war anstrengend in diesem Moment.

»Bitte. Trink einfach Khalida.«

Er schnitt sich auf der anderen Seite seines Halses die Haut auf und packte mein Gesicht mit beiden Händen. Als er seine Lippen auf meine drückte, spürte ich seine Fänge an meinem Mund. Es war wie ein Schlag in die Magengrube, denn mein Verlangen steigerte sich. Mein Hunger wuchs.

Meine Finger gruben sich in seine Schultern und ich hielt mich an ihm fest. Seine Zunge drang in meinen Mund, liebkoste meine und streichelte sie. Er leckte über meine Zunge, strich mit seinen Lippen über meine und knabberte dann kurz an der Unterlippe. Stöhnend drückte ich mich an ihn, wollte Jaden noch näher sein.

»Trink. Khalida«, sagte er gepresst an meinen geöffneten Lippen und wieder spürte ich kurz seine Fänge. Der nächste Schauer brachte mich zum Keuchen und Jaden legte mein Gesicht an seinen Hals. Kaum berührten meine Lippen die offene Wunde, leckte meine Zunge über das Blut.

Meine Hand griff in sein pechschwarzes Haar und ich presste meinen Mund fester auf seinen Hals. Meine Zunge glitt immer wieder über die Wunde, leckte das Blut ab und saugend hielt ich mich daran fest wie eine Ertrinkende.

Es brachte mich um den Verstand. Nur mein Körper reagierte. Mir wurde schlagartig wärmer und die Erregung brach über mich ein. Ein solch intensives Gefühl hatte ich noch nie erlebt und ich presste die Schenkel um Jadens Hüfte zusammen. Jadens Hände packten meine Hüfte und er schob mich immer wieder gegen sein Becken.

Ich ließ mich von ihm leiten, bewegte mich in seinem Rhythmus und hörte sein leises Stöhnen in meinem Ohr, was mich noch wilder machte.

Sein Blut in meinem Mund war wie ein unfassbares Aphrodisiakum, von dem ich niemals genug bekommen könnte. Nur sein Blut hielt mich am Leben. Nur er konnte dieses Gefühl in mir auslösen und nur auf seinen Körper reagierte meiner so extrem. Ich konnte nichts dergleichen kontrollieren.

Es war, als hätte er die Macht über mich und meinen Körper.

Und es gefiel mir. Mehr als das. Ich liebte dieses Gefühl in seiner Nähe. Liebte seine Berührungen. Liebte seine Küsse.

»Khalida«, wisperte er stöhnend.

Ich spürte Jadens Hände über meinen Körper streicheln. Er drückte mich an sich und ich genoss es, wie er mich festhielt. Sein Gesicht lag an meinem Hals, sein heißer Atem strich sanft über meine erhitzte Haut.

Als ich seine Zunge an meinem Hals spürte, legte ich den Kopf in den Nacken. Er küsste die Stelle, knabberte vorsichtig an der empfindlichsten Stelle unter meinem Ohr.

»Jaden.«

Plötzlich waren seine Hände unter meinem Shirt, heiß und rau. Meine Haut war übersensibel und seine Berührungen waren besitzergreifend und bestimmend, als er meinen Körper streichelte.

Seine offene Wunde blutete immer noch und es lief ihm unter sein Shirt. Mit halbgeöffneten Augen beobachtete ich, wie das Blut floss, sein Puls wild pochte. Es war hypnotisierend zu wissen, dass genau das, das war, was ich zum Leben brauchte. Ihn brauchte.

Denn mir wurde bewusst, dass diese Ebene, auf der wir uns befanden, um einiges tiefgründiger war, als ich bisher angenommen hatte.

»Trink.« Das Wort verließ schneller meinen Mund, als ich geplant hatte. Mein Verstand hatte den Gedanken daran, was es bedeutete, noch nicht einmal zu Ende gedacht. Aber ihm zu helfen, den Hunger zu stillen. Ihm genau das Gleiche zu geben, was er mir gab. Das war eine andere Art der Befriedung.

»Nein. Das geht nicht.« Seine Stimme war leise und obwohl er es mit Sicherheit nicht wollte, so hatte ich seine Schwäche herausgehört. Mit einer Hand an seinem Hinterkopf drückte ich ihn an meinen Hals und ließ auch nicht locker.

Sein Griff um meinen Körper verstärkte sich, verwandelte sich in einen Schraubstock, der mich nie wieder loslassen wollte.

Doch dann lockerte sich sein Griff etwas und die Spitzen seiner Fänge glitten über meine Haut. Es entlockte mir ein Keuchen und ich stieß mein Becken gegen seines, spürte seine Erektion und hielt mich eisern an seinen Schultern fest.

Nur die Spitzen seiner Fangzähne durchstießen meine Haut am Hals. Zu meiner Überraschung tat es nicht weh. Und als Jaden mit der Zunge direkt darüber glitt, wollte ich ihm gehören. Und zwar für immer.

Das hier, das war meine Bestimmung.

»Du schmeckst unglaublich süß«, hauchte er und ich fühlte sein Lächeln an meiner Haut. Seine sanften Küsse bescherten mir eine angenehme Gänsehaut.

»Khalida. Nimm mehr.«

»Ich bin ... satt«, sagte ich und konnte kaum mehr meine Augen offen halten. Mein Körper fühlte sich warm und gesättigt an.

»Werde ich jetzt ein Vampir?«

Mit einem einzigen Handgriff hatte Jaden mich von seinem Schoß gehoben und auf die Rückbank zurückgelegt.

Vorsichtig strich er mit den Fingern meine Haare aus meinem Gesicht.

»Ich denke ja. Es könnte schmerzhaft werden.«

Ausatmend nahm ich seine Hand in meine und legte sie mir an die Lippen. Doch es schmerzte noch nirgendwo. Immer wieder fühlte ich Jaden seine Hand, die meinen Körper abtastete.

»Und? Wie fühlst du dich?«, fragte er und ich zuckte die Schultern.

»Immer noch satt und immer noch menschlich.«

»Das verstehe ich nicht.«

Ich öffnete die Augen und begegnete seinen grauen durchdringenden Augen. Er hatte sich über mich gebeugt und betrachtete mich eingehend.

»Also keine Wandlung?«

Kurz blickte Jaden auf, nachdenklich sah er aus dem Autofenster. Dann zuckte er die Schultern.

»Du bist anders. Und du weißt sicherlich noch, als ich erwähnt habe, dass Mischlinge in der Regel nicht überleben.«

Ich nickte. Seine Hand ließ ich nicht ein einziges Mal los. Es war mir egal, was er sagte. Auch wenn es mich verletzte.

»Vermutlich braucht dein Körper mehr Blut als ein normaler Vampir. Dein Körper bereitet sich so auf die Wandlung vor. Wenn du nicht genügend Vampirblut im Organismus hast, wirst du nicht überleben. Das, was du momentan erlebst, ist reine Lebenserhaltung deines Körpers.«

Ein wenig verstand ich davon, was er mir versuchte zu erklären. Dennoch machte es mich nicht glücklich.

»Das bedeutet, wenn deine Wandlung dann tatsächlich eintritt, könnte es unglaublich schmerzhaft werden. Du wirst dir wünschen zu sterben.«
Einen Moment zögerte ich.

»Wirst du mich retten?«

Das sanfte Lächeln, das er mir schenkte, ließ mein Herz kurz aussetzen.

»Ja. Ich werde da sein, wenn du mich brauchst. Ich werde dich retten.«

Seufzend schmiegte ich meine Wange in seine Handfläche und küsste sie dann.

Einen Moment blieben wir noch in der Position, ehe Jaden ein Taschentuch von vorne holte und mir damit über den Mund und die Wange strich. Als ich im Gesicht zumindest wieder sauber war, reichte er mir die Wasserflasche und ich trank einen ausgiebigen Schluck.

Die Hitze war aus meinem Körper verschwunden und auch das kratzige Gefühl in meinem Hals war nicht mehr vorhanden. Ich fühlte mich seit dem Blut von Jaden um einiges besser. Als wäre es ein Allheilmittel. Im Grunde sollte es mich eigentlich ängstigen. Aber ich war überzeugt davon, dass ich es mit Jaden und Devin an meiner Seite schaffen könnte, dieses andere Leben auch wirklich leben zu können.

»Lass mich dir helfen.«

Mit einem Tuch versuchte er die Wunde am Hals zu säubern und reichte es dann mir. Jaden drehte seinen Kopf leicht zur Seite, damit ich besser herankam, und schüttete dann ein wenig Wasser auf das Tuch. Dann tupfte ich die Wunde ab und legte ein trockenes Tuch drüber.

»Können wir es verbinden?«

Ich sah mich im Auto um, doch fand ich weder Pflaster noch Verbandszeug.

»Ist im Kofferraum.«

»Du hast es nicht mit hierher geholt?«

»Ich hatte keine Zeit dafür«, sagte er schulterzuckend und ich schüttelte leicht den Kopf. Ich versuchte, die Wunde so gut es ging, mit den Tüchern zu säubern.

Als wir beide zumindest ein wenig sauberer waren und kaum mehr Blut zu sehen war, stieg Jaden als erstes aus. Er hielt mir die Hand hin und zog mich dann aus dem Auto.

Meine Beine fühlten sich noch ein wenig wackelig an. Vorsichtig streckte ich mich und lehnte mich dann gegen den Wagen.
Ein leichter Wind wehte mir ins Gesicht und kühlte mich etwas ab. Weiter hinten auf der Straße sah ich Dan und Jet. Sie saßen am Straßenrand und unterhielten sich.

Jaden war zu den beiden hingegangen und zu dritt kamen sie wieder zurück. Von Jet bekam ich einen merkwürdig kühlen Blick zugeworfen.

»Scheinbar keine Wandlung.«

Ich schüttelte den Kopf. Verunsichert blieb ich noch einen Moment stehen. Mir war bewusst, dass Jet zum Rat gehörte. Und ich wusste auch, dass im Grunde keine Mischlinge überleben sollten. Aber wollte er dadurch jetzt etwa meinen Tod?

Hasste Jet mich, weil ich ein Mischling war?

»Steig wieder ein.«

Jadens Hand legte sich auf meine Schulter und er strich sanft über meinen Rücken. Ich hatte das Gefühl, dass sich etwas Grundlegendes zwischen Jaden und mir verändert hatte. Obwohl auch er am Anfang nicht davon begeistert war, dass ich ein Mischling war, konnte er damit umgehen.

Was würde nur geschehen, wenn ich ein Vampir war? Hatte ich dann Nachteile? Würde mir das Sonnenlicht schaden?

Oder war ich immer noch so menschlich, dass ich eigentlich gar nicht als Vampir galt? Was bedeutete es wirklich, ein Mischling zu sein?

So viele Fragen und keiner kannte die Antworten. Aber bei einer Sache war ich mir sicher. Ich wollte nicht sterben.

Ich rutschte wieder auf den Rücksitz und schnallte mich an.

»Wie geht’s dir?«, fragte Dan.

»Sehr viel besser.«

Meine ehrliche Antwort schien Dan abzuschrecken. Er wandte sich von mir ab. Keiner beachtete mich mehr. War es also so furchtbar schlimm, ein Mischling zu sein?
Wurden so etwa auch früher die anderen Mischlinge behandelt? Mit Abscheu und mit Feindseligkeit?

Seufzend legte ich den Kopf zurück und starrte an die Autodecke. Diese armen Wesen taten mir leid. Sie konnten doch nichts dafür, dass sie in dieses Schicksal hineingeboren wurden. Und jedes Wesen hatte das Recht auf ein Leben.

Natürlich war ich dieser Meinung, weil ich selbst betroffen war. Wer würde nicht so denken.

Eine Hand legte sich auf meine und ich sah zu Dan. Er lächelte mich an.

»Das freut mich sehr. Ich hatte Angst, das du sterben könntest.«

»Es ist alles in Ordnung. Ich wollte euch keine Sorgen bereiten.«

Dan drückte meine Hand und streichelte mit dem Daumen über meine Haut.

»Fährst du morgen nach Hause?«

»Nein. Jet fährt mich heute nach Hause, sobald wir dich und Jaden abgesetzt haben.«

Ich nickte und sah dann zu Jet nach vorne.

»Danke Jet. Das du das für Dan machst.«

Er zuckte die Schultern und beachtete mich nicht weiter. Eigentlich wunderte es mich, dass Jet das tat. Schließlich war es nicht seine Aufgabe. Ich hatte Dan von den Wölfen befreien wollen, also sollte ich mich eigentlich auch darum kümmern, ihn nach Hause zu bringen.

Aber in meiner Verfassung war das für die nächsten Tage nicht möglich. Da war Jet eindeutig die bessere Alternative.

Als wir die Stadt erreichten, war es bereits dunkel und die Müdigkeit setzte ein. Beim letzten Mal, als ich Jadens Blut trinken musste. Was übrigens erst gestern war. War ich ebenfalls so erschöpft gewesen.

Den Wagen parkte Jet am Straßenrand vor meinem Haus. Dan und Jet blieben im Auto sitzen und mir wurde bewusst, dass es nun zum Abschied kam.

Ich schnallte mich ab und rutschte zu Dan herüber.

»Ich habe mich sehr darüber gefreut dich kennen zu lernen, Dan. Und ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen. Bis dahin pass bitte gut auf dich auf.«

Er legte die Arme um mich und drückte mich an sich. Seine Hand strich ein paar Mal durch mein Haar.

»Danke nochmal, Khalida. Das du mir die Freiheit schenkst, damit habe ich nie gerechnet. Ich werde immer in deiner Schuld stehen.«

Ich nickte und drückte ihn noch einmal kurz. Dann löste ich mich von ihm und sah nur für einen Moment zu Jet nach vorne.

»Falls wir uns nicht mehr sehen sollten, danke für alles. Ich bin dir etwas schuldig, Jet.«

Da er mir keine Antwort gab, stieg ich aus dem Auto und ging mit Jaden zum Haus. Ich hörte das Auto wegfahren und drehte mich erst dann noch einmal um.

Hoffentlich machte Dan keine Dummheiten. Und ich hoffte, dass die Wölfe ihn in Ruhe ließen und ihn nicht aufsuchten.

Jetzt, da Caleb tot war, konnte es vielleicht tatsächlich Krieg zwischen den Wölfen und Vampiren geben.

»Gehen wir erst einmal rein«, sagte Jaden. Seine Hand lag wie immer auf meinem Rücken und gemeinsam gingen wir ins Haus.

Ich schloss die Haustür auf und zog im Flur meine Schuhe aus. Seufzend rieb ich mir über das Gesicht und sah dann hoch zu Jaden.

»Werde ich jeden Tag Blut trinken müssen?« Mit hochgezogenen Augenbrauen zuckte er die Schultern.

»Das weiß ich nicht. Aber dein Bedarf an Blut ist aktuell hoch, da deine Wandlung bevorsteht. Du solltest dich definitiv nicht überanstrengen.«

Die Fürsorge, die er für mich zeigte, brachte mich um den Verstand. Noch vor einigen Tagen wollte er nichts weiter als meine Halskette. Und nun war er der Einzige, der mir mein Leben retten konnte.

Im Wohnzimmer saßen Devin, Mom und Dilara und betrachteten uns mit fragenden Blicken.

»Ich habe mein Versprechen halten können und habe einem Menschen seine Freiheit geschenkt. Jet fährt ihn aktuell nach Hause.«

Ich schleppte mich auf das Sofa und ließ mich einfach drauf fallen. Es fühlte sich an, als hätte ich einen monstermäßigen Muskelkater. Seltsamerweise stand Jaden hinter mir und legte seine Hände an meine Schultern und fing an, mich sanft zu massieren.

»Du bist nur dorthin zurück, weil du einen Menschen gerettet hast?«, fragte Devin schockiert und es brachte mich zum Kochen.

»Das du es nicht verstehen kannst, das wundert mich am meisten. Schließlich ist Mom auch ein Mensch und ich bin auch noch ein Mensch. Würdest du uns nicht retten?«

»Selbstverständlich. Was für eine Frage. Aber du hast doch keine Gefühle für diese Person gehabt, oder?«

Mein Herz setzte aus, denn Jaden hielt in seiner Bewegung inne. Seine Finger hatten aufgehört, mich zu massieren.

»Nein. Ich habe keine Gefühle für Dan. Aber kein Mensch hat ein Leben als Gelegenheitssnack verdient. Und daher habe ich mit Nathan einen Deal geschlossen.«
Devin sprang vom Sofa und starrte überraschenderweise Jaden voller Wut an.

»Du hast es zugelassen, dass sie mit einem der mächtigsten Wölfe einen Deal schließt? Wieso hast du sie nicht aufgehalten?«

»Beruhige dich, Devin!«, mischte sich Mom auf einmal ein.

Jaden fing mit dem Massieren wieder an und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Das machte mich noch schläfriger.

»Khalida. Es war nicht richtig, dass du das geheim gehalten hast. Wir hätten bestimmt eine andere Lösung gefunden.«

Ich nickte und versuchte, sie anzuschauen. Doch meine Augen schlossen sich bereits wieder.

»Und Devin, sei stolz darauf. Sie hat einem Menschen das Leben gerettet. Sei stolz darauf, dass unsere Tochter so rechtschaffen ist. Auch wenn sie sich in Gefahr begeben hat. Sie ist stark und mutig.«

»Nein. Laut Nathan bin ich sehr dämlich«, warf ich in die Unterhaltung und seufzte als Jadens Hand einen verspannten Punkt erwischte und ihn sofort löste.

Als meine Schultern dann butterweich waren, ließ Jaden mich los und beugte sich zu meinem Ohr herunter.

»Ich werde dann jetzt gehen. Meine Nummer ist in deinem Handy eingespeichert«, flüsterte er und meine Härchen im Nacken stellten sich bei seiner dunklen Stimme auf.

»Oh, und außerdem hast du das sehr raffiniert gemacht. Mit dem Deal.«

War das tatsächlich einmal ein Kompliment? Lächelnd beobachtete ich, wie Jaden das Wohnzimmer verließ.

Mein Blick huschte zu Dilara, die sich aus der Unterhaltung heraushielt. Verunsicherung spiegelte sich in ihrem Gesicht und ich setzte mich direkt neben sie.

»Hey, wir wär’s, wenn wir uns einen Kakao machen und in mein Zimmer gehen. Und dann erzähle ich dir alles, was du wissen möchtest.«

Ich zögerte und legte die Hand auf ihre Hand. »Sofern ich die Antwort kenne. Alles weiß ich leider noch nicht, glaube ich.«

Endlich lächelte sie und drückte meine Hand.

»Ja, lass uns einen Kakao trinken und reden.«

Wir standen auf und ich nahm noch meine Mom in den Arm und auch Devin. So langsam sollte ich mich an ihn gewöhnen. Er war mein Vater und er war einer der wenigen, die mich unterstützten. Wenn der Rat herausfand, dass ich lebte und vermutlich wirklich zum Vampir wurde, was würden sie im schlimmsten Falle tun? Mich töten? Und wer würde mich töten?

»Khalida, ich muss ein wichtiges Gespräch mit dir führen«, sagte Devin, als ich ihn umarmte und seufzte.

»Kann das bis morgen warten? Ich bin wirklich erschöpft.«

»Du hast auch heute wieder sein Blut getrunken, nicht wahr?«

»Devin!«, rief ich empört und ließ ihn los. Dabei dachte ich, dass wir uns endlich näherkommen würden.

»Er ist nicht der Richtige für dich. Du musst mir vertrauen!«

Ich schüttelte den Kopf und ließ ihn los. Dilara wartete bereits in der Küche auf mich und ich drehte mich herum, um das Wohnzimmer zu verlassen. Wer für mich der Richtige war, das entschied ich immer noch für mich selbst. Und in dieser Situation war Jaden scheinbar der Einzige, der mir helfen konnte. Er war der Richtige. Das hatte ich heute gespürt.

»Er arbeitet für den Vampirrat.«

»Das weiß ich schon.«

»Er ist ein Auftragskiller. Ein Mörder. Er tut Dinge für den Rat, die jenseits von Gut und Böse sind. Und er würde, ohne mit der Wimper zu zucken auch dich töten.«

Blitzschnell drehte ich mich zu Devin um. Meine Nerven waren komplett überstrapaziert und Devin machte das alles nicht besser.

»Es ist deine Schuld, dass ich in dieser Situation bin, Devin. Du bist mein Vater und du warst nicht da! Du hättest für mich da sein sollen. Und du hättest dich um mich kümmern müssen. Aber du hast dich dagegen entschieden! Jaden ist derjenige, der mich bisher immer und immer wieder vor den Bösen Dingen beschützt hat. Er hat mich vor dem Tod bereits einmal gerettet!«

Ich holte tief Luft und zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Wenn du erreichen willst, dass ich Jaden hasse ... dann ist es zu spät. Er wird der Einzige sein, dessen Blut ich trinke. Selbst wenn er mich nicht will!«

»Khalida. Das ist Schwachsinn. Du kannst nicht hungern, wenn er dich abweist! Und das solltest du dir ganz schnell aus dem Kopf schlagen.«

Ich schüttelte den Kopf und ging in die Küche. Dilara hatte die zwei Gläser Kakao bereits fertig vorbereitet und reichte mir eines. Dann gingen wir gemeinsam die Treppe nach oben. Ich ignorierte Devins Rufe nach mir und schloss hinter uns meine Zimmertür.

Schweigend setzte sich Dilara auf das Bett und trank einen Schluck. Ich tat es ihr gleich und schloss genüsslich die Augen.

»Mhm, das schmeckt super.«

»Glaubst du das, was dein Vater gesagt hat? Das Jaden ein Auftragskiller ist?«, fragte Dilara und schwang ihr Glas ein wenig hin und her.

»Tja, da man mir meist nicht die Wahrheit erzählt hat, gehe ich davon aus, dass es diesmal wahr ist.« Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass Jaden mich tatsächlich einfach so töten würde.

Meine Finger strichen gedankenverloren über den Anhänger. Er war wie immer sehr kühl und schwer. Und mit einem Mal wusste ich, dass dieser Anhänger etwas unglaublich Besonderes war. Ich wusste vorher schon, dass er mir gehörte. Aber dieses Gefühl war anders. Als hätte der Anhänger es mich bewusst spüren lassen.

»Wie stehst du zu Jaden? Bist du in ihn verliebt?«

Das war eine ziemlich gute Frage und ich war mir nicht sicher.

»Ich weiß es nicht. In seiner Nähe fühle ich mich nicht unbehaglich. Auch nicht, wenn er meine Gedanken hört. Aber ich weiß nicht, was er über mich denkt.«

»Und er kann immer deine Gedanken hören? Jeden einzelnen?«

»Ja«, seufzte ich und schloss die Augen. Es war unfair. Jedes Mal konnte er genau so reagieren, wie ich es mir in meinen Gedanken vorstellte oder wünschte. Und das machte mich verrückt.

»Wenn du ihn liebst, dann ist das doch okay«, sagte Dilara und als ich sie überrascht anschaute, zuckte sie die Schultern.

»Noch bevor du und Jaden wussten, dass du ein Mischling bist, war da was zwischen euch. Nicht wahr?« Es stimmte. Aber reichte das aus für ihn?

Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass da noch etwas mehr hinter steckte. Und nicht allein diese unfassbare Anziehungskraft, die ich für ihn fühlte.

Als ich mein Glas leerte, stellte ich es auf dem Schreibtisch ab und Dilara reichte mir ihr leeres Glas, welches ich ebenfalls abstellte.

»Es macht mir ein wenig Angst, wenn du ein Vampir wirst. Was ist, wenn du stirbst?«

Die Furcht in Dilaras Gesicht war nur zu deutlich. Meine Hände griffen nach ihren und ich lächelte sie an.

»Keine Sorge. Jaden hat gesagt, dass er mich retten wird. Und ich vertraue ihm.«

»Aber was ist, wenn er dich nicht retten kann? Ich möchte meine beste Freundin nicht verlieren.« Sie schniefte einmal und versuchte, es dann zu unterdrücken. Sofort nahm ich sie in meine Arme. Auch ich hatte Angst, aber es war nun einmal nicht aufzuhalten. Und mehr als Vertrauen zu haben, konnte ich aktuell nicht. Daher vertraute ich Jaden bedingungslos und hatte die Hoffnung, dass ich als Vampir wieder aufwachen würde.

»Lass uns nicht jetzt darüber nachdenken. Wir sollten uns ausruhen.«

Dilara nickte und schniefte noch einmal. 

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Tag der Veröffentlichung: 05.02.2022

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