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Nur fünf Minuten



Jemand ruft mich. Vielleicht hat sie es schon ein paar Mal versucht. Ich weiß es nicht. Es ist früh. Wie immer.
„Michael!“


Schon wieder. Ich fühle eine Hand auf meinem Haar und Atem, der in mein Ohr haucht.
„Michael. Steh doch auf. Es ist schon acht.“


Ich blinzle. Leicht verschwommen und neblig sehe ich Angie vor mir. Draußen der kristallblaue Himmel. Dann bin ich wach. Das ist mir noch nie passiert! Hosen. Hemd. Nein – andersrum! Aber zuerst aus dem Bett. Pantoffeln. Zwei Schritte zum Bad. Hahn auf. Katzenwäsche. Erkläre den Drei-Tage-Bart in circa zwei Sekunden für geschäftsfähig. Wieder zurück. Strümpfe. Slip. Hemd. Hose. Krawatte. Sakko. Das mit den Hosen hat erst mal nicht so richtig geklappt. Ich hüpfe in die Küche. Nippe am Kaffee. Ein Biß am Marmeladenbrot. Ein halber Blick auf die Zeitung. Ein vorsichtiger Blick auf die tickende Uhr. Begeisterung! Nur fünf Minuten! Die Hose sitzt. Schuhe an. Tasche? Wo ist die Tasche?
„Michael ...“
„Ich kann meine Tasche nicht finden.“
„Michael!“


Angie steht mit der Tasche in der Tür.
„Wenn ich dich nicht hätte.“


Ich ringe mir einen flüchtigen Kuß auf Angies rechte Wange ab. Dann bin ich weg.
Ich werde die Straße entlang getragen. Mit dem Strom. Zum Glück scheinen es alle eilig zu haben. Ein Menschenstrom wälzt sich in Richtung U-Bahn. Und ich mittendrin. Wenn ich diese Bahn nur erwische! Die wie immer. Die wie jeden Tag. Die um 8:15 Uhr. Menschenschlange unter der Erde. Nervös betrachte ich die große Uhr. Direkt vor mir. Dann, ein paar Meter von mir entfernt, fährt die Bahn ein. Menschen strömen raus, und Menschen strömen rein. Austausch von austauschbaren Individuen. Als die Bahn anruckt und wegfährt, fühle ich Wut in mir aufsteigen. Und ich fühle, daß ich alle um mich herum hasse.
Weitere zehn Minuten Warten. Ich drängle. Schiebe. Drücke. Denke kurz an Angie. Dann an Robert. Thomas. Sinclair. David. Sitzen im Büro und warten. Ich hasse es, wenn Leute zu spät kommen. Und jetzt ich! Ich höre ihre Stimmen ganz deutlich. Besonders die von Thomas. Engländer. Aus Yorkshire. Typischer Akzent. Typischer Humor.
Die 8:25er Bahn gleicht der 8:15er Bahn. Die gleichen Leute. Selbe Anzahl. Überall frei schwebende Zeitungen. Stereotype, verschlafene Kaffeeblickgesichter. Puppen. Ferngesteuerte Roboter. Aber bin ich nicht einer von ihnen?
Thomas Street. Endlich! Nur raus hier. Lasse mich wieder tragen und verschwinde mit einem Dutzend Individuen im Fahrstuhl. Beobachte das rote Licht der Zahl, die sich immerfort weiterzählt. Es gibt nichts Interessanteres in einem Fahrstuhl. Stopp im Erdgeschoß. Ich glaube, es ist gut, den Chip hier schon einlesen zu lassen. Ich bin spät. Bis in den 85. Stock dauert es gut drei Minuten. Also raus. Laufe zum Pult und ziehe die Karte durch. Ein Piepsen und auf der Karte leuchtet kurz 8:43 Uhr auf. Na bitte. Nur knappe fünf Minuten später als sonst. Und damit stehe ich wieder vor dem Fahrstuhl und warte.
Langsam schiebt sich die Tür zur Seite. Menschen strömen raus und wir strömen rein. Dann schließt sich die Tür. Der Fahrstuhl ruckt an. Das rote Licht zählt. 1. Stock. 2. Stock. 3. Stock. ... 5. Stock. ... 10. Stock. Plötzlich ein Rucken. Vibrieren. Ich trete einem Mann auf dessen Lackschuhe. Eine Frau im blauen Kostüm rempelt mich von links. Irgend jemand drückt den Stoppknopf. Es schaukelt. Das rote Licht blinkt. 16. Stock. Wir schauen uns betreten an. Die blonde Frau, die hinter mir eingestiegen ist, umklammert meinen rechten Arm.
„Was ist los?“

fragt sie.
Alle horchen. Es scheint nichts passiert zu sein. Der Fahrstuhl ist wieder ganz ruhig. Aber ich fühle mein Herz schlagen.
„Ich drücke jetzt die 16. Dort steigen wir erst mal aus. Vielleicht ist ja was mit dem Fahrstuhl.“


Das war ein älterer Mann mit Schnauzer und Melone. Australischer Akzent. Hat wahrscheinlich schon den Stoppknopf gedrückt. Niemand sagt was. Schweigen bedeutet Zustimmung. Der Fahrstuhl ruckt wieder an und öffnet sich zwei Sekunden später. Leute von draußen wollen in unseren Fahrstuhl. Lassen uns nicht raus. Aber wir lassen sie auch nicht rein. Wir können nicht. Sind schon voll besetzt.
„Lassen Sie uns doch erst mal raus. Was ist denn los?“

ruft der ältere Mann nach draußen.
„Oben hat es eingeschlagen! Wir müssen runter! Machen Sie Platz!“

kreischt eine dicke Frau und schiebt die blonde Frau hinter mir in mein Kreuz.
Ich drehe mich um und sehe in ihr dickes angstverzerrtes Gesicht. Ein schmächtiger Mann hilft ihr beim Drücken. Und ein Mann im Zweireiher. Eine dunkle Frau mit schwarzen Haaren und Blümchenkleid. Eine kleine Frau mit kurzen Haaren und Brille. Ein junger Mann mit Vollbart. Es werden immer mehr. Alle schreien durcheinander. Und wir wissen von nichts. Was, um Gottes Willen, ist eigentlich los?
„Hören Sie auf zu schieben! So kommen wir alle nicht runter! Benutzen Sie einen anderen Fahrstuhl!“

schreit der Australier und drückt E5 für Erdgeschoß.
Ich helfe der blonden Frau. Gemeinsam schieben wir die dicke Frau aus dem Fahrstuhl. Dann schließt sich die Tür. Es ruckt und die roten Zahlen zählen rückwärts. In jedem Stock öffnet sich die Tür. Wir haben Mühe, sie wieder zu schließen. Immer wieder drückt der Australier auf E5. 3. Stock. ... 2. Stock. ... 1. Stock. ... Erdgeschoß. Wir steigen aus. Der Strom nimmt mich sofort gefangen und zieht mich in Richtung Ausgang. Ich verliere die blonde Frau aus den Augen. Und den Australier. Dann werde ich gegen die Drehtür gedrückt. Kurz nach hinten. Wieder an die Drehtür. Mit der Schläfe. Ich spüre, daß etwas passiert ist. Meine Schläfe ist aufgeplatzt. An meiner Hand ist Blut. Ich schaffe es nach draußen. Will mich an die Seite stellen und erst mal ausruhen. Aber ich kann nicht. Die Menschen reißen mich einfach weiter. Im Laufschritt entferne ich mich mit Hunderten von Menschen vom World Trade Center, meinem Arbeitsplatz. Erst ein paar hundert Meter später komme ich an einer Häuserecke zum Stehen. Neben mir ein Mann im mittleren Alter. Seine Aktentasche liegt vor ihm. Seine schwarzen Hosen sind dreckig. Sein Atem geht schwer. Wie meiner.
„Was ist hier los?“

frage ich ihn.
Er sagt nichts. Zeigt nur mit seiner Hand in Richtung der oberen Stockwerke des World Trade Centers. Mein Blick folgt seinem Arm. Schwarzer Rauch umhüllt das obere Drittel des Hochhauses. Schwarzer und grauer Nebel. Schwaden dunklen Qualms steigen in den Himmel. Sind das Menschen, die aus den oberen Stockwerken fallen? Ich schaue. Leute rempeln mich an, aber ich bemerke sie nicht. Aus meiner Schläfe tropft Blut auf mein Hemd, aber das interessiert mich nicht. Irgendwo entfernt höre ich Menschen schreien. Ich weiß nicht was.
„Ein Flugzeug ist da rein. Ein Flugzeug!“


Der Mann steht keuchend neben mir und schaut auf die winzigen Körper, die sich aus dem 85. Stock in die Tiefe stürzen. Ich sage nichts. Ich schaue. Mit dem Mann. Er steht neben mir und zeigt mit der Hand auf das World Trade Center.
„Ein Flugzeug ...“


Plötzlich fängt er an zu weinen. Ich will auch weinen. Aber es geht nicht. Es wollen keine Tränen kommen, die mir den Blick verschleiern. Mein klarer Blick haftet auf den kleinen Menschen am World Trade Center und den großen Menschen, die schreiend an uns vorbei rennen. Sie schreien. Aber ich glaube, sie wissen gar nicht, daß sie schreien. Der Mann hängt schluchzend an meiner Schulter. Ich stehe irgendwie da. Starre einfach nur in eine Richtung. Jegliches Zeitgefühl ist verloren. Wie in Zeitlupe fliegt eine Menschenmasse an mir vorbei. Ein Wirrwarr von Stimmen. Namen. Während ich in der Zeitlupe gefangen bin, fliegt ein zweites Flugzeug in Richtung World Trade Center. Langsam bohrt es sich in den anderen Turm. Es verschwindet. Verwandelt sich in eine Wolke aus Feuer. Noch mehr Rauch. Der Mann an meiner Schulter zuckt zusammen und schreit kurz auf.
„Noch ein Flugzeug.“

höre ich mich sagen.
Ich verliere meine Balance. Die Füße geben nach, und ich sitze Sekunden später im Straßenstaub. Zitternd halte ich meine Hände vor den Mund, um nicht loszuschreien. Mein Kumpel klammert sich an mich. Er sieht über meine Schulter hinweg in die entgegengesetzte Richtung. Sein Schluchzen ist nur noch ein leises Wimmern. Dann schaut er mich an. Vom Weinen sind seine Augen leuchtend blau. Seine zitternden Lippen sind blaß und vom Dreck verschmiert.
„Wir müssen weiter.“

sagt er.
Er schaut mich eindringlich an.
„Wir müssen weg hier. Wenn das alles einstürzt ... Los. Kommen Sie!“


Er hilft mir aufzustehen. Wir stützen uns gegenseitig. Ich stehe wohl unter Schock, denn ich kann noch immer nichts sagen. Kann nicht mal fragen, wie der Kerl heißt. Er ist sehr nett. Er schämt sich nicht zu weinen. Und ich kann es nicht einmal. Er merkt wohl, daß ich ihn anstarre. Er schaut zu mir rüber. Ein flüchtiges Lächeln huscht über sein Gesicht. Aber ich bemerke es wohl nur, weil ich mich noch immer in dieser Zeitlupe befinde.
Als wir stoppen, ist das World Trade Center nur noch ganz klein. Weit weg. Wir sind wohl erst mal sicher. Ich lehne wieder an einer Hausmauer. Langsam rutsche ich ab. Sitze bald wieder im Staub. Ich schaue zu den Wolken, die sich um beide Türme gelegt haben.
„Wie heißen Sie?“

frage ich meinen Freund.
„Franklin Montgomery.“
„Michael Smith.“


Ich reiche ihm die Hand. Wir schauen uns kurz an. Nicken uns zu. Schauen dann wieder auf die brennenden, qualmenden Türme. Glauben an einen Traum.
„Wollen Sie nicht rangehen, Michael?“


Jetzt höre ich es auch. Es klingelt. Aus meinem Sakko. Mein Handy. Ich sitze weiter unbewegt.
„Nein. Ich kann jetzt mit keinem sprechen.“
„Sie sprechen mit mir.“
„Nicht mit jemandem, den ich nicht sehe.“
„Wo ist da der Unterschied?“
„Die Physis fehlt.“
„Stellen Sie es doch ab.“
„Ich will es nicht sehen.“
„Derjenige, der Sie erreichen will, könnte wissen wollen, wie es Ihnen geht.“


Ich schweige. Dann hört es auf zu klingeln.
„Es war wohl nicht wichtig.“

sage ich und sehe wieder auf die rauchenden Türme. Franklin folgt meinem Blick.
„Wer tut so etwas, Michael?“
„Wer?“
„Ja.“
„Wieso wer? Denken Sie nicht, daß ein Unfall war?“
„Nein. Ich glaube nicht.“
„Sie sind kein Amerikaner?“
„Nein, und ehrlich gesagt – verzeihen Sie – auch stolz darauf.“
„Ich bin Amerikaner. Aber ich habe es mir nicht ausgesucht.“


Wir sitzen nebeneinander. Schauen auf die beiden brennenden Hochhäuser des World Trade Centers. Viele Menschen rennen an uns vorbei. Sie schreien. Doch das wird übertönt, als das erste Gebäude in sich zusammenfällt. Der Rauch hüllt die Straßen ein. Er bedeckt Autos und Menschen. Sogar bis zu uns kommt er. Ich reiche Franklin die Hand. Wir gehen weiter.
Da kommen Journalisten angerannt. Mit Mikrophonen. Mit Kameras. Sie kommen zu uns. Einer mit Nickelbrille und schütterem Haar reißt Franklin von mir weg. Ein anderer mit einem blonden Pferdeschwanz dreht mich so, daß das World Trade Center in meinem Rücken ist. Die Kamera ist direkt auf mich gerichtet. Der Blonde hält mir das Mikrophon ins Gesicht. Ich schaue mich nach Franklin um. Aber der ist nicht mehr zu sehen.
„Waren Sie im World Trade Center?“


An der Kamera leuchtet die rote Aufnahmelampe.
„Ja. Im 16. Stock. Aber ich wollte in den 85. Ich war fünf Minuten zu spät.“
„Wo haben Sie sich verletzt?“


Ich schaue den Blonden fragend an.
„Ihre Schläfe blutet ...“


Ich befühle meine Schläfe. An meiner rechten Hand klebt Blut.
„Ich bin sonst nie zu spät.“
„Wie haben Sie den Einschlag erlebt?“
„Ich war im Fahrstuhl. Es gab einen Knall. Wir wußten nicht was los ist, und wir hatten Angst. Wenn ich nicht fünf Minuten zu spät gewesen wäre, wäre ich im 85. Stock bei meinen Kollegen gewesen.“
„Da hatten Sie ja Glück.“
„Ja. Ich hatte Glück! Aber was ist mit Dave, Tommy, Sinclair und Robbie? Mit all den anderen? Sie haben auf mich gewartet. Im 85. Stock. Ich war fünf Minuten zu spät. ... Was erwarten Sie von mir?“


Ich lasse sie einfach stehen. Drehe mich nach einigen Schritten nochmals um. Sehe, daß die beiden schon jemand anderem das Mikrophon ins Gesicht halten.
Ich bin gar nicht mehr weit von zu Hause entfernt. Wie durch einen Tunnel laufe ich mit den Menschen die Straße weiter. Bin von Arbeit noch nie nach Hause gelaufen. Immer nur mit der U-Bahn gefahren. Überall sind Polizisten, die durcheinander schreien. Aber ich höre nicht hin. Nach wenigen Metern stehe ich im Hausflur. Ich muß mich am Geländer festhalten. Dann gehe ich langsam die Treppe hoch. Es sind nicht einmal zwei Stunden her, als ich hier runter gelaufen bin. Ein kurzer Arbeitstag. Ich wühle nach dem Schlüssel. Ich will ihn ins Schloß stecken. Da erst merke ich, daß meine Hand zittert. Ich nehme die zweite Hand zu Hilfe. Mein Blick trübt sich. Ein Schleier hat sich vor meine Augen gelegt. Da wird die Tür von innen geöffnet. Meine beiden Hände halten den Schlüssel. Ich stehe da wie ein Betrunkener. Sekundenlang. Für mich sind das jetzt Minuten. So etwas wie Tränen tropfen aus meinen Augen. Angie steht vor mir. Wir sehen uns an. Ich lasse den Schlüssel fallen und mich auf die Knie.
„Ich war nur fünf Minuten zu spät.“

sage ich.
Angie kommt zu mir runter. Nimmt mich in den Arm. Hält mich fest. Und ich fühle, wie ihre Tränen in meinen Nacken fließen.


finis.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.06.2011

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