Blauer, blauer Himmel
Es ist hell da draußen. Ich sitze in meinem Zimmer und versuche, ein geeignetes Fernsehprogramm zu finden. Aber dort ist nichts außer Reden, Reden - Reden. Mir ist langweilig, und ich stehe auf und stelle das Gerät ab. Ich gehe nach draußen. Wir haben hinter unserem Haus einen großen Garten mit einer noch größeren Wiese. Ich lege mich hin und genieße die frische Luft, das duftende Gras und den blauen Himmel. Ich glaube, er war noch nie so blau. Ich meine – schon blau – wenn nicht gerade dunkle Gewitterwolken den Horizont zugezogen haben und alles trostlos aussieht. Nein – so ein richtiges, tiefes Blau, das man auch ganz tief innen fühlt. Es macht ruhig, so ein Blau.
Ich liege auf der Wiese und schaue meinen blauen Himmel an. Dort kommt von Westen eine kleine, weiße Wolke. Sie drückt sich an dem blauen Himmel entlang und sagt frech.
Hallo, du blauer Himmel.
Hallo. - antwortet der Himmel – Hallo, du kleine, weiße, wattige Wolke. Was tust du hier bei mir?
Ich will deine Menschen sehen.
Meine Menschen?
Ja. Deine Menschen. Ich habe viele Menschen gesehen, die nicht lachen, obwohl auch du da warst. Hast du sie nicht gesehen, diese vielen traurigen Menschen, die zu dir aufgeschaut haben – traurig – zu dir, dem blauen, blauen Himmel?
Ich habe nichts gesehen, weder lachende noch traurige Menschen.
Du hast sie nicht gesehen, die traurigen Menschen? Keine traurigen und keine lachenden?
Nein.
Dann siehst du auch nicht den da, den da unten?
Den dort?
Ja, genau, du blauer Himmel. Den dort. Den dort unten. Der dort in dem grünen Gras liegt und dich anschaut. Dich voller Bewunderung anschaut. Und du bemerkst nicht einmal, wie er dich anhimmelt, Himmel, du.
Warum sollte ich? Ich habe mit mir zu tun. Was interessiert mich der dort unten, dieser kleine, winzige Mensch? Was interessiert mich, ob einer lacht oder einer traurig ist? Ich habe mein Blau zu pflegen. Damit habe ich genug zu tun.
Stört es dich nicht. Dieses Leid. Die Kriege. Die vielen traurigen Menschen?
Nein. Ich sehe sie nicht. Ich muß mein Blau pflegen, damit man es bewundern kann.
Dir ist nicht zu helfen, blauer Himmel. Du bist egoistisch und selbstverliebt. Solchen wie dir verdankt die Welt ihre traurigen Menschen. Solche wie du gehören nicht hierher. Solche wie du, blauer Himmel.
Ach, du kleine, weiße Wolke. Dann lös dich doch auf, damit du nichts mehr siehst.
Nein. Ich bin nicht wie du, blauer Himmel. Ich kann nicht wegsehen wie du. Ich kann mich nicht so einfach auflösen. Ich werde weiterziehen und für dich die traurigen Menschen sehen, die allein aus deinem Anblick Hoffnung schöpfen. Und du siehst sie nicht einmal. Du tust mir leid, blauer Himmel.
Ich muß kurz eingeschlafen sein. Die kleine, weiße Wolke zieht jetzt östlich am Zenit an mir vorbei. Es wird langsam dunkler. Aber es ist noch schön warm, und der schöne, blaue Himmel verfärbt sich leicht rot.
Ich liege noch lange draußen. Inzwischen ist der Himmel, der vorhin noch so schön blau war, schwarz. Es ist ein blaues Schwarz, angefüllt mit vielen funkelnden, silbernen Sternen. Ich vergesse den blauen Himmel und suche mir am Zenit ein großes, leuchtendes Licht. Es macht ruhig, genauso ruhig wie der blaue Himmel. Da sehe ich wieder die kleine, weiße Wolke. Der Wind hat wahrscheinlich gedreht und sie zu mir zurückgeblasen. Sie schwebt dem Mond entgegen und scheint dort zu verweilen.
Hallo, du blasser Mond.
Hallo, kleine, weiße, wattige Wolke.
Du siehst traurig aus, blasser Mond.
Ja, kleine Wolke. Ich bin traurig. Hast du sie noch nicht gesehen? Die vielen Tiere und Pflanzen?
Wegen denen bist du traurig?
Die Menschen vernichten sie, mit ihren Kriegen, ihren Häusern, ihrer Chemie. Sie können nicht mehr atmen, können nichts mehr essen, weil ihnen die Menschen alles wegnehmen.
Tun dir denn die Menschen nicht auch leid?
Weswegen?
Sie sind doch auch traurig.
Wegen was sind die denn traurig? Schau dir den mal an. Den dort unten. Ist der traurig? Sag mir – ist der traurig?
Nein. Der liegt nur da und sieht dich an. Aber die andren, die sind traurig.
Die anderen? Die, die Krieg führen? Die bedauern sich doch nur selbst. Die sind traurig wegen sich, weil sie kein Zuhause mehr und Menschen verloren haben. Die sind nur traurig wegen sich selbst. Ich bin dann wütend und traurig wegen den Spinnen, den Würmern, den Käfern, den Vögeln, den Walen, dem Gras, den Bäumen, der Luft und dem Wasser und dem Boden. Alles zerstören sie, diese Barbaren – sogar sich selbst. Und da soll ich Mitleid für sie empfinden?
Du mußt! Das sind doch alles deine Kinder.
Das? Das sind nicht meine Kinder. Das sind Barbaren! Die Sterne – die sind meine Kinder. Sie erzählen mir, was die Barbaren wieder angestellt haben und trösten mich, wenn es zuviel für mich ist.
Du bist anders als der blaue Himmel. Der ist in sich selbst verliebt. Und du gehst fast kaputt vor Sorge um die Natur. Aber keiner von euch denkt an die traurigen Menschen.
Warum denn auch? Die Natur muß dir leid tun, weiße Wolke. Die Natur – die kann nichts für ihr Leid. Die Menschen, diese Barbaren, die sind doch schuld an allem. Die sind auch schuld an ihrem Traurigsein. Wieso sollte ich da mit ihnen fühlen? Siehst du, dort unten, dieser kleine, winzige Mensch. Jetzt steht er auf, weil er das alles nicht mehr hören kann. Dann schließt er sich in seinem Haus ein und versinkt in seinem kuschligen Bett – ohne Gedanken an die Natur.
Ich bin müde und mich friert. In der Nacht ist es draußen doch ganz schön kalt. Ich stehe auf und laufe zu unserem Haus. Da höre ich neben mir ein ängstliches Piepsen. Ich schaue nach unten und entdecke ein Maisenjunges, das hilflos mit seinen Stummelflügelchen flattert. Der kleine Kerl muß aus seinem Nest gestürzt sein. Im Schein des Mondes entdecke ich das Zweigengeflecht gleich. Etwa eine Kopfhöhe über mir liegt es, eingebettet in die Blätter eines Birnbaumes. Behutsam hebe ich das kleine Knäuel zu seinen Geschwistern und Eltern zurück. Glücklich piept es sich in einen ruhigen Schlaf. Zufrieden öffne ich die Tür unseres Hauses. Dort lege ich mich in mein Bett und schlafe ein.
Die kleine, weiße Wolke ist westwärts weitergezogen, und der blasse Mond schaut stumm auf die Erde.
Mach´s gut, kleine, weiße, wattige Wolke. – sagt er plötzlich – Komm mal wieder vorbei und erzähle mir von den Menschen.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2009
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