Auf dem Mesh wirkt das Nike-Zeichen dezent. Total klassisch. Überhaupt nicht so, als wäre es darauf angelegt, einen mittelschweren Nervenzusammenbruch bei einer potenziellen Kundin verursachen zu wollen. Die Macher können nicht wissen, was ihr kleines Logo für Erinnerungen birgt.
Ich reiße mich von den Zweihundertsiebzigern im Schaufenster los, passiere die wartenden Sneaker-Verrückten auf dem Gehweg und bringe Abstand zwischen Nike und mich. Ganz so, als wäre diese Sportmarke der Bösewicht und nicht Adam. Wobei Adam streng genommen nicht mal der Böse ist, es ist nur kompliziert. Es war zu kompliziert. Mein Bauch zieht sich beim Gedanken an ihn zusammen.
Auf dem Weg nach Hause versuche ich nicht weiter über meinen Ex nachzudenken, stattdessen gehe ich im Kopf die Klausurantworten durch und überlege, ob es okay ist, wenn ich morgen die letzte Übung des Semesters ausfallen lasse. Niemand sollte schon um sieben Uhr dreißig an einem Freitag wach sein müssen, nachdem er heute dazu verpflichtet ist, den Abschied seines Bruders ins ferne Boston zu begießen.
Entnervt von den Ungerechtigkeiten meines Lebens achte ich nicht weiter auf meinen Weg, bis ich in die Park Road einbiege. Vor dem alten neogregorianischen Gebäude parkt einer der Fahrer gerade eines der Autos mit Diplomantenkennzeichen um und kaut dabei auf einem langen Miswak-Zweig herum. Ich grüße ihn freundlich, als er darauf wartet, dass ich vor ihm über die Straße komme.
Mittlerweile habe ich mich an vieles gewöhnt, was ich früher nur aus dem Fernsehen kannte. Die Kamera über der Tür filmt mich beim Eintippen des Codes und dabei, dass ich mal wieder vergesse, ob ich drücken oder ziehen muss. Ein bisschen komme ich mir immer noch wie ein Eindringling vor. Der Concierge-Stuhl ist leer, als ich in Richtung Treppe gehe und den Fahrstuhl ignoriere. Wahrscheinlich ist Walter mal wieder eine rauchen.
„Miss Yardley.“
„Noah“, grüße ich meinen Nachbarn im Vorbeigehen, der mir im Treppenhaus mit seiner Tennis-Ausrüstung über der Schulter entgegenkommt. Groß gewachsen und glattrasiert verkörpert er alles, was mich jemals an meiner Stieffamilie abgeschreckt hat, in Vollendung. Deshalb bin ich mir auch nach sieben Monaten hier nicht so ganz sicher, ob ich ihn nur nicht leiden kann, weil er mit meinem Stiefbruder befreundet ist, oder weil er ein arroganter Arsch ist. Aber da meine beste Freundin Beth ihn für den tollsten Tutor der Welt hält, ist es ohnehin egal, ob er mir sympathisch ist. Für Beth ist er ein Gott. Ein Gott mit besten Kontakten in die Hotelbranche, den man sich warmhalten sollte und den man mindestens zwanzig Minuten im Treppenhaus vollquatschen muss, sobald man in ihn rennt. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Noah sich selbst, wenn nicht für einen Gott, zumindest für eine heißere und jüngere Version von Jonathan Pine aus The Night Manager hält. Er dürfte also wenig bis gar nichts auf meine Einschätzung seiner Person geben.
„Hey Beth“, rufe ich in die hellerleuchtete Küche und lasse meine schwere Unitasche neben die letzte einsame Wasserflasche im Flur sinken. „Ich hab das Wasser vergessen. Dafür bringe ich aber Bananenbrot mit“, stelle ich düster fest.
„Bananenbrot, hm?“ Beth rührt in unserem größten Topf, eingehüllt von einer Dampfwolke unseres Dreitage-Currys. Mit ihren zurückgebundenen dunklen Haaren und der beschlagenen Brille auf der Nase wirkt sie ein bisschen verwirrter, als sie es in der weitläufigen Hochglanzküche sollte. „Sah Hemingway heute wenigstens so gut aus, wie du es gehofft hast?“
„Vielleicht.“ Ich lehne mich an die Tür. Hemingway aus dem Hipstercafé am Campus heißt natürlich nicht Hemingway. Aber er hat ihn gelesen, als ich ihn das erste Mal dort entdeckt habe. Seitdem spielen Hemingway und ich donnerstags häufig das ich-lächele-dich-an-und-du-lächelst-zurück-Spiel. Bisher ohne, dass sich jemals etwas ergeben hätte, bis auf dieses kleine verräterische Kribbeln in der Brust, wann immer sich unsere Blicke streifen. In den wenigen Momenten zwischen dem Duft von zerlesenen Büchern und dem Geschnatter furchtbar hipper Menschen bin ich dann wieder fast so weit, einfach mein Herz aus seiner selbstauferlegten Quarantäne zu entlassen, aber dann kneife ich doch jeden Donnerstag auf ein Neues. Du und ich, Kleines. Für immer, hatte Adam gesagt. Und dann hat er jedes seiner dämlichen Versprechen vergessen, das er je ausgesprochen hat. Deshalb verdränge ich Nike, verdränge Hemingway und vor allem verdränge ich das Loch, das in meiner Brust klafft. Noch bin ich eben nicht wieder soweit. „Ist noch eine Portion für mich übrig?“, hake ich, statt eines weiteren Gesprächs über meinen Schwarm, nach.
„Wird knapp“, prophezeit Beth, als ich zu ihr trete. „Aber ich glaube, wir haben noch ein bisschen Feta, mit dem wir es strecken können.“
„Es gibt noch Käse? Halleluja!“ Beglückt von dieser unerwarteten Nachricht, reiße ich den Kühlschrank auf. „Ich habe übrigens gerade wieder deinen Gott von der LSE gesehen.“
„Noah?“
„Hat mich schon wieder Miss Yardley genannt“, schnaube ich und greife mir die kleine weißblaue Packung mit den käsigen Überresten. Die Geruchsprobe verrät mir, dass sie noch genießbar sind, was keine Selbstverständlichkeit ist während der Prüfungszeit.
„Dass du gar nicht so heißt, sondern das nur ein mieser Witz deines Bruders ist, weiß er bestimmt nicht“, verteidigt Beth ihren Helden.
„Klar, bestimmt.“ Ich lasse die Packung sinken, um sie auf die Anrichte zu befördern. Wenn es nach Beth gehen würde, dann ist Noah bereits kurz vor der Seligsprechung durch den Papst. Dabei ist er einfach nur ein gelackter Arsch ohne jeden Anstand oder Verständnis dafür, was es heißt, ständig den Standesdünkel seiner Stiefgeschwister und deren Freunde abzubekommen. „Irgendwann schubse ich ihn noch mal die Treppe runter“, entweicht es mir ein bisschen forscher, als dass es noch als Scherz abgetan werden könnte.
Ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, um an die Schüsseln ganz oben im Schrank zu kommen, während Beth das weiter aufkochende Curry daran hindert am Pfannenboden festzukleben. „Ignoranz ist keine Straftat.“
„Manchmal schon“, muss ich ihr trotzdem widersprechen, während ich die schwarzen Keramikschüsseln auf die Arbeitsplatte stelle, in denen das gelbe Linsencurry schon immer am hübschesten aussah. „Noah ist einfach …“ Ich schiebe mir einen Finger in den Hals, um anzudeuten, wie ich ihn finde.
„Charmant“, kommentiert Beth und meint damit unzweifelhaft meine nonverbale Attacke gegen ihn, nicht Noah selbst. Wobei, sehr wahrscheinlich findet sie ihn sogar charmant, weil ja alles, was er tut, ach so großartig ist.
„Bitte sag mir jetzt einfach nur, dass du dich dazu entschlossen hast, nachher mit mir auf die Party zu kommen“, wechsele ich das Thema, weil ich keine Lust mehr habe, über den Typen zu diskutieren.
„Klar, komm ich mit. Weißt du doch. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass du nur willst, dass ich mitkomme, weil du einen Puffer brauchst.“
„Das eine und das andere müssen sich nicht ausschließen“, lächele ich entschuldigend. Klar, ich gebe zu, es hat riesengroße Vorteile, Beth mit auf diese Party zu schleppen. Dass sie den Jargon der Börsentypen spricht, ist dabei der geringste Vorteil. Die Tatsache, dass sie meine Haare hält, wenn ich einen über den Durst trinke, ist bei weitem der größte. Dass ich eventuell zu viel trinken werde, ist durchaus wahrscheinlich, weil es die Abschiedsparty meines Stiefbruders Daniel ist. „Ist Lou schon unter der Dusche?“
„Lou ist noch nicht einmal hier“, merkt Beth mit einer gewissen Schärfe in der Stimme an. „Madame ist noch beim Praktikum.“
„Schon wieder?“ So sehr ich Louisas Engagement für SoHo Blonde auch bewundere, ich habe keine Ahnung, wann unsere Freundin seit neuestem schläft oder wann sie Zeit für die Uni findet. Ich meine, klar, sicher ist es ganz spannend, Teil eines aufstrebenden Modelabels zu sein und bei allen möglichen Shoots Hand anzulegen, aber in den letzten Monaten habe ich Lou maximal zehn Minuten am Stück gesehen und das, obwohl wir hier zusammenwohnen. „Man, ich hoffe, sie schafft es heute.“
„Ich glaub es erst, wenn sie durch die Tür fällt.“ Beth kratzt das Curry aus dem Topf, um es dann gleichmäßig in beide Schüsseln zu versenken. „Verteil den Käse fair.“
„Klar.“
„Klar“, äfft mich Beth nach. „Als hättest du den Käse jemals fair verteilt seit wir zusammenwohnen.“
Darüber müssen wir beide grinsen. Die Anschuldigung ist durchaus korrekt. Man könnte unsere WG nämlich auch alternativ eine Wohngemeinschaft der Käsebesessenen nennen. Zumindest waren wir das, bevor Lou beschlossen hat, zur Veganerin zu werden und Käse mit Nährhefe zu ersetzen. Mir entweicht ein leises Seufzen. Modemenschen. Wie man geschmolzenen Käse mit etwas anderem als Käse ersetzen kann, aber gleichzeitig nicht müde wird, Leder als Gottesgeschenk an die Shopaholics anzupreisen, wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben.
Ich krümele den Feta unter Beth strengem Blick auf die Portionen, ehe ich nach einem Löffel angele und die letzten Überbleibsel des Dreitage-Currys an die Küchenanrichte gelehnt vernichte.
„Lecker.“
„Ich sag doch, es wird mit der Zeit immer besser“, brummt Beth in ihr Gekochtes. Beth und ich sind die wohl schlechtesten reichen Menschen der Welt. Ich, weil ich es hasse, meinem Stiefvater Rhyce auf der Tasche zu liegen, und Beth, weil sie steigende Zahlen auf ihren Konten liebt. Womit sie einen Lebensstil bevorzugt, der so gar nichts mit dem ihrer Mutter Deborah Passmann zu tun hat, einer Lebedame, die in ihrem Privatjet zu Hause ist und Kunst an sehr reiche Menschen verscherbelt, während sie mit vollen Händen ihr erarbeitetes Geld wieder in Handtaschen, Autos und Männer steckt. Was auch der Grund dafür ist, dass Beth die Miete manchmal auch schon aus eigener Tasche zahlen musste - und eine Aussicht auf den Regent’s Park tut dem Geldbeutel richtig weh.
Deshalb bin ich nicht die Einzige in unserer noblen WG, die es kaum abwarten kann, mit dem Studium fertig zu werden und unabhängig von den Launen und dem Verdienst ihrer Eltern zu werden. Wir sind dabei, die leeren Teller in den Geschirrspüler zu räumen, als mein Handy Lous Namen auf dem Display einblendet und damit unsere WG vervollständigt.
„Hey, Lou. Wo bleibst du?“, begrüße ich unsere Freundin, gleich nachdem ich sie auf Lautsprecher geschalten habe.
„Ich komm‘ nachher direkt ins Alice. Wir haben noch einiges zu tun, aber ich muss euch unbedingt etwas erzählen! Es macht doch nichts aus, wenn ich noch ein paar Kollegen mitbringe?“
„Mehr Kreative tun sicher nicht weh. Hast du ihnen denn verraten, auf was sie sich einlassen, wenn sie mitkommen?“
„Grob. Ich freu mich so, euch zu sehen! Dann machen wir Party!“ Lou macht überschwängliche Handkussgeräusche.
„Glaub ich erst, wenn du vor mir stehst“, stelle ich finster fest, was Beth kichern lässt. „Wir sind die beiden Femme fatale, die lässig an der Bar bei Drink Nummer siebenundzwanzig schlechte Anmachen aushalten und austeilen.“
„Ich kann’s kaum erwarten! Ich bin die Frau in Lackpumps und mit passendem Haarschmuck! Nur falls ihr mich nicht mehr erkennt!“
„Sei ehrlich Lou: Ihr stattet einen neuen Softporno aus, richtig?“, witzelt Beth.
„Du kennst mich einfach zu gut, Elizabeth“, kommentiert Lou gutgelaunt. „Was ziehst du überhaupt an, Femme fatal Nr. Eins?“
„Schwarzes Kleid.“ Beth Löffel kratzt über den Schüsselrand.
„Das Stretchkleid?“ Lou kennt Beth und meinen Kleiderschrank wahrscheinlich besser, als wir selbst.
„Ja, und bevor du sagst, dass es nicht chic genug ist, solltest du bedenken, dass mein Seidenkleid in der Reinigung ist und das rote sich am Saum auflöst. Daher ist es die heißeste Option.“
„Was zieht Charlie an?“, hakt Lou statt einer Antwort nach.
„Irgendeinen Rock. Irgendein Oberteil. Noch nicht wirklich darüber nachgedacht.“ Ich zucke mit den Schultern. Bis vor ein paar Stunden konnte es mir vollkommen egal sein, was ich heute Abend trage. Da musste ich noch die Klausur zu Mechanik II überstehen und hatte noch ganz andere Probleme.
„Zieh das Kleid an, das wir letztens bei Nasty Gal gekauft haben. Das gerippte.“
„Wenn du drauf bestehst“, lasse ich mich von Lou überreden, ohne dass sie es überhaupt versuchen musste. Denn anders als ich hat Lou Ahnung von Mode und praktischen Trends. So ist Lou auch der Grund, weshalb ich zu einer glühenden Anhängerin des Balayage-Looks geworden bin und nur zu gerne meine Lippenfarbe von meinen Nägeln abhängig mache. Außerdem ist sie neben Adam der Hauptgrund, weshalb meine Augenbrauen nicht mehr aussehen, als hätte ich mir zwei Nike-Zeichen ins Gesicht gemalt.
Ich beiße mir auf die Lippen. Adam. Die Erinnerung an ihn wollte ich heute eigentlich direkt im Schaufenster bei den Zweihundertsiebzigern liegen gelassen haben.
„Charlie?“
Ich schrecke aus meinen Gedanken, nur um festzustellen, dass Beth mich fragend anguckt.
„Entschuldigt. Ich bin noch bei Drehmomenten und Nullstäben“, rede ich mich aus der Bredouille. „Was gibt’s?“
„Du sollst ganz in Nude-Tönen gehen“, fasst Beth Lous Tipps zusammen, die ich überhört habe. „Nur die Augen ganz dunkel.“
„Klingt gut. Kann ich mir dann deine Guess Sandalen leihen, Lou?“, will ich wissen.
„Das hat sie gerade gesagt.“ Beth schüttelt den Kopf. „Manchmal bist du sowas von durch den Wind, Charlie.“
Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. „Nur manchmal?“
Beth streckt mir die Zunge raus, während Lou bereits dabei ist, mich zu ermahnen, bloß nicht schon wieder den Lederabsatz ihrer heiß geliebten Treter zu ruinieren, indem ich erstens einmal mehr Lüftungsgitter übersehe oder zweitens mal wieder die Schuhe in einen Barhocker flechte.
„Ich verspreche, ich hüte sie wie meinen Augapfel.“
„Das hoffe ich doch!“ Lou kichert. „Oh man, Mädels, das wird heute Abend so gut! Endlich mal wieder abfeiern!“
Ich stakse neben Beth aus dem Aufzug ins Alice, wo mein Stiefbruder Daniel seine Freunde zu Steak und Männergesprächen eingeladen hat, bevor er mit ihnen zum Clubben ins Suspence weiterziehen will.
Lous Schuhe lassen mich schwanken. Pfennigabsätze werden nicht meine Freunde. Sie sind ein bisschen so wie Daniels furchtbare Freunde, die sich über die Jahre in seinem Dunstkreis abgesetzt haben. Aufgebaut hat er diesen elitären Jungsclub während seiner Internatszeit und seinem Studium. Sie alle sind Teil einer elitären Blase aus Geld und Bildung, die keine Zeit dafür hat, sich längerfristig mit Leuten abzugeben, die ihnen nicht bei ihrem persönlichen Weiterkommen helfen oder aber zumindest hübsch genug sind, um niedere Instinkte anzusprechen.
Das Abendlicht fällt strähnig ins Kuppeldach des Nobelrestaurants und taucht die gut gekleidete Abendgesellschaft in dramatisches Licht. Obwohl ich lange vor dem Spiegel stand, komme ich mir nun underdressed vor. Ganz so wie der amerikanische Vorstadttrampel, den mir Daniel immer vorwirft zu sein. Der Boden ist so glatt, dass ich fürchte bei jedem Schritt wegzurutschen. Trotzdem schaffe ich es an der Bar vorbei, die den offenen Raum in zwei Hälften teilt.
Mein Stiefbruder hockt unter einem schrecklichen Ölgemälde, das eine zerlaufene Uhr über dem Zylinder eines piekfeinen englischen Gentleman zeigt. Ein bisschen sehen er und seine Freunde aus, als wären sie Teil einer sehr teuren Neuinterpretation des letzten Abendmahls.
„Hey Yardley!“ Andrew Searson ist der Erste, der mich entdeckt. Er ist der beste Freund meines Bruders und der Schöpfer diverser Spitznamen. Vor allem aber meines Spitznamens. „Du bist spät, wie immer! Hallo Beth.“
„Drew“, kommt es Beth und mir fast gleichzeitig über die Lippen. Bei mir klingt es genervt, bei Beth erfreut. Schon jetzt fühlt sich dieser Abend an wie immer.
„Charlotte.“ Mein Bruder nickt mir zu, ganz so, als sei er mit meinem Aufzug zwar nicht unbedingt zufrieden, aber immerhin nicht vollkommen entnervt, womit ich mein Soll wohl erfüllt habe. Ich gebe ihm einen höflichen Wangenkuss, ehe ich mich auf einen der letzten freien Stühle am Tisch sinken lasse. Wenn Daniel erst einmal in Boston ist, dann muss ich ihn nur noch zu Weihnachten und vielleicht zu den Geburtstagen unserer Eltern ertragen.
„Ist Marcus noch gar nicht da?“ Ich recke verdutzt den Kopf auf der Suche nach dem einzigen Menschen, über dessen Erscheinen ich mich heute freuen würde, obwohl Marcus Humberstone streng genommen auch Teil meiner Familie ist.
„Daniels Bruder ist noch im Flieger von Shanghai hierher.“ Laura, Drews Freundin des Monats, fixiert mich ganz so, als ob sie den totalen Durchblick hätte, was das Leben des Stiefbruders meines Stiefbruders angeht.
„Jedenfalls wissen wir noch nicht, ob Marcus kommt. Noah kommt aber wohl noch. Den müssen wir dann nur ein bisschen aufpäppeln, weil seine WG aufgelöst wird.“
Noah kommt nach, wiederholt mein Hirn in einem Anfall von Selbstgeißelung. Natürlich kommt Noah auch noch. Wie könnte er nicht. Immerhin ist er fester Bestandteil dieses feinen Haufens voller selbstverliebter Möchtegerngötter. Aber einen von der Sorte mehr oder weniger dabei zu haben, ist eigentlich egal, solange Daniel heute Abend nur die Rechnung meines, durch sie verursachten Suffs und späteren Katers zahlt. Allerdings finde ich den zweiten Teil der Neuigkeiten durchaus interessant.
„Noahs WG löst sich auf?“, hakt Beth da auch schon nach.
„Die Dame, der die Wohnung gehört, hat Eigenbedarf angemeldet“, weiß Laura.
„Och nö“, entweicht es Beth bestürzt. „Das ist ja mal kacke.“
„Wollt ihr etwas trinken?“, fragt uns eine der aktuellen Anhängsel der Jungs am Tischende, ohne dass ich sie einem der Anwesenden zuordnen könnte.
„Immer“, erwidere ich erleichtert. Solange weder Lou noch Marcus hier auftauchen, ist Alkohol mein einziger Freund. Zumindest gleich hinter Beth.
„Yardley, sag mal stimmt es eigentlich, dass es in den naturwissenschaftlichen Studiengängen viel mehr Lesben gibt, als bei den sozialwissenschaftlichen?“, fragt mich Laura einen Moscow Mule und einen sehr schnell hinuntergestürzten Tequila später, als Drew aufgestanden ist, um eine zu rauchen.
Manchmal frage ich mich wirklich, was Leute wie Laura eigentlich so den lieben langen Tag denken. Ich meine, warum fragt man so einen Blödsinn? Doch eigentlich nur, um seinem Gegenüber zu verraten, dass man sie so richtig schön scheiße findet, inklusive des zugehörigen Studiums. „Keine Ahnung. Warum, suchst du Eine, die dich endlich richtig durch bumst? Besorgt es dir unser Drew etwa nicht richtig?“
Lauras Lächeln verrutscht ein wenig und ich nehme den Sieg mit, obwohl ich natürlich weiß, dass man besser sein sollte als das fiese Gegenüber. Ganz so wie es Michelle Obama predigt, aber ab und an kann ich einfach nicht anders.
„Das war doch nur ein Scherz, Yardley.“
Das bezweifele ich. In der Tat bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass Laura zu der Art Frauen gehört, die gerne fiese Sprüche raushauen, um sich selbst besser zu fühlen und den anderen zu zeigen, dass man sich nicht mit ihnen anlegen braucht.
„Dito“, lüge ich deshalb in ihre Richtung.
Beth tritt mich unter dem Tisch, ganz so, als sei es meine Schuld, dass Laura eine blöde Kuh ist. Denn das ist sie. Ich werfe Beth einen vorwurfsvollen Seitenblick zu, den sie erwidert. Manchmal glaube ich, dass sie überhaupt keine Ahnung davon hat, wie fies Daniels Freunde wirklich sind. Vor allem aber die Mädchen, die sich in deren Nähe herumtreiben.
In dem Moment beugt sich Leo über den Eichentisch, um mir, Beth und Laura noch einen Schnaps unter die Nase zu stellen. „Immer schön charmant bleiben, Ladies.“ Er zeigt uns ein schiefes Grinsen, bevor er seine Rolex zurechtrückt und seinen Arm dann über die Stuhllehne seiner Begleitung wandern lässt.
„Ich versuch mich zu benehmen. Alkohol hilft dabei“ murmele ich, wofür ich eine hochgezogene Augenbraue von ihm kassiere.
Beth stößt mit mir an. Der scharfe Klare brennt wie Feuer, als ich ihn hinunterstürze. Ich huste ein bisschen, Beth erträgt es wesentlich besser.
„Oh, nichts gewohnt, unsere Miss America“, scherzt Drew, der sich exakt diesen Zeitpunkt aussucht, um von seiner Zigarettenpause auf dem Balkon zurückzukehren. Der beste Freund meines Bruders, der in seinem Anzug aussieht wie die fiese Variante von Le Chiffre, konnte es noch nie lassen, mir einen Seitenhieb zu verpassen, wenn sich die Gelegenheit bot. Vielleicht sollte mich Lauras Spruch deshalb auch nicht weiter wundern.
„Haha“, presse ich trocken hervor. Drew ist nicht witzig. Das findet seine Freundin wohl auch, denn sie guckt ihn beinahe so entnervt an wie mich. Warum allerdings, will ich nur nicht ganz kapieren. Sie müsste bei Drews Spruch doch eigentlich süffisant lächeln.
„Wie du stinkst“, löst Laura das Rätsel, kaum dass ihr Freund neben sie gleitet.
„Reg dich ab. Wir sind hier unter Freunden.“ Drew lächelt so, als wäre es keine Drohung in ihre Richtung die Klappe zu halten. Ich kenne ihn besser. Laura kennt ihren Lover aber offensichtlich überhaupt nicht.
„Das du immer zum Glimmstängel greifen musst, sobald du trinkst, kapier ich einfach nicht. Du …“
„Schenk es dir, Laura. Drew hat noch nie auf irgendjemanden gehört, der nicht Daniel heißt“, unterbreche ich ihr Gemecker, weil ich keine Lust habe, Zeuge eines Beziehungsendes und einer zugehörigen Szene zu werden.
Andrew Searson legt den Kopf schief und ich sehe dabei zu, wie er all seine möglichen Erwiderungen in seinem Kopf ordnet. Drew und ich sind so gut darin, uns zu streiten, wie es Daniel und ich eigentlich sein sollten. Die Sache ist nur die, dass Daniel praktisch gar nicht mit mir redet. Er gibt nur ein paar fiese Anmerkungen von sich. Andrew ist das hauseigene Yardley-Sprachrohr.
„Sei nicht eifersüchtig, Yardley. Wie’s aussieht bin ich demnächst wieder zu haben. Dann kannst du’s ja mal versuchen, mir Manieren beizubringen.“
„Du bist so ein Arsch. So ein Arsch!“ Laura, die in etwa genauso lange braucht wie ich selbst, um sein Gesagtes zu verdauen, wirft ihm die Serviette ins Gesicht. Dann ist sie mit einem letzten Griff zu ihrer Handtasche weg.
Entsetzt sehe ich zu Drew, der das gebrauchte Ding achtlos auf den einstigen Platz seiner Begleitung legt und noch immer mich ansieht.
„Wie’s aussieht, habe ich den Platz an meiner Seite schon wieder zu vergeben.“
Ich schüttele den Kopf. „Du vergibst keine Plätze, sondern Nummern, Drew.“
„Wahr.“ Er wischt sich einen imaginären Fussel vom Jackett. Seine Pupillen deuten einen Knockout-Schlag an, den ich erwidere. Andrew Searson macht mir keine Angst. Hat er nie, wird er nie.
Unser Blickduell wird davon unterbrochen, dass am anderen Ende des Tisches noch mehr Alkohol serviert wird, sehr zur Begeisterung aller Anwesenden.
„Auf Dan!“ Leo und Kasim, die alten Mitbewohner meines Bruders, recken wohlwollend ihre frisch gezapften Pints in die Höhe. „Und darauf, dass Bostons Mädchen heiß und Harvards Studentenwohnheime schalldicht sind.“
„Hört, hört!“, tönt Drew, während die anderen im Hintergrund ebenfalls ihren nicht gerade politisch korrekten Schwachsinn dazu geben. Dann trinken sie.
Ich gucke zu Beth. Wir sind auf einer Klischeeveranstaltung gelandet. Und wenn alles so läuft, wie es sich meine beste Freundin vorstellt, dann wird sie noch Teil vieler solcher Trinkgelage werden. Denn der Finanzsektor, in dem sie landen möchte, funktioniert so. Dort wettet man im Büro darauf, wie teuer das Essen beim nächsten Date wird und darauf, was für ein Jahreseinkommen dein Herzbube oder deine Herzdame hat und vor allem, vor allem trinkt man zu viel und zu häufig mit seinen Kunden und Kollegen einen über den Durst. Wie man sich so etwas wünschen kann, verstehe ich nicht und werde ich auch nie. Was ich aber kapiere ist, dass Alkohol an Abenden wie diesen dein Freund ist.
„Charlie! Beth!“ Lou flattert uns erst zwei Stunden später im Suspence entgegen. Sie hängt am Arm eines sehr schlanken, sehr dunklen Kerls in übergroßen Klamotten, der über und über mit neonfarbenen Ketten behangen ist. Begleitet werden die beiden von einer blonden, ganz in grau gekleideten Dame, die einen Hut trägt, der aussieht, als habe sie vor, zum Angeln zu gehen. Lous Freunde kommen mir trotzdem wie die ersten normalen Menschen vor, die ich an diesem Abend treffe.
„Ich bin Charlie!“, begrüße ich Lous kettentragenden Freund herzlich. „Und du bist?“
„Miles. Das ist Franca“
„Hey“, lächelt die Blondine, bevor ich Lou in eine schwesterliche Umarmung ziehe. „Danke, dass du normale Menschen mitbringst.“
„Immer gerne.“ Lou strahlt. „Gut siehst du aus!“
„Mh. Du auch“, gebe ich das Kompliment zurück, obwohl ich eigentlich gar nicht so genau weiß, was sie anhat. Eigentlich ist es auch ziemlich egal, denn Lou ist normal und weder Teil der Schnöselgruppe meines Bruders, noch bringt sie noch mehr Schnösel in meinen Dunstkreis. Das macht sie zum schönsten Menschen der Welt. Genau wie Miss Grau-in-Grau und Mr. Neonkette. „Lasst uns tanzen!“, schlage ich ihnen deshalb glücklich vor.
„Du bist betrunken, Charlie.“
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das bin, während ich Lou und Beth tiefer ins Gedränge ziehe - weg von Dan, Drew und dem Rest. Im Gehen streifen mich ein paar weitere Hände, die ich zur Seite schiebe. Adams Kultur habe ich nie wirklich verstanden, aber je länger ich mit den Freunden meines Bruders unterwegs bin, desto mehr kapiere ich mal wieder sein Problem mit unserer.
Der Bass hämmert in meinen Ohren, während sich die Achtziger um uns Bahn brechen. Ich flüchte tiefer in die wogende Masse, bis ich nicht mehr weiterkomme, nur um mich der Musik zu ergeben. Es riecht nach Bier und dem Achselschweiß des Typen hinter mir. Kein idealer Spot, aber gut genug um die Welt beim Zappeln zu vergessen.
Ich glaube, das erste Mal dass ich merke, dass ich so richtig betrunken bin, ist als kräftige Hände auf meinen Hüften landen und ich ein halbes Lied lang den dazugehörigen Körper hinter mir erkunde, nur um festzustellen, dass der Kerl hinter mir so rein gar nichts mit dem Mann gemein hat, den ich mir gerade vorstelle. Ich schüttele den Typen ab, indem ich mit Lou Plätze tausche.
„Kommst du mit aufs Klo?“, will Lou ein wenig später durch die Musik wissen und deutet mit zwei Fingern an die Nase.
Ich schüttele den Kopf. Ich habe kein Bedürfnis nach weißem Pulver oder einer anderen illegalen Substanz aus den Tiefen einer fremden Handtasche.
„Deine Entscheidung.“ Louisa Kim zuckt mit den Schultern, ganz das Klischee einer aufstrebenden Designerin, die alles vergessen hat, was ihr strenger koreanischer Vater ihr jemals eingeimpft hat. Sie nimmt Franca anstatt uns mit sich.
Sie kommen ein paar Minuten später wieder, als Lana Del Rey gerade über uns hinwegschwappt und die Laser Anstalten machen, mit ihren Blitzen die Zeit zu stoppen.
Für einen Moment meine ich Adam hinter Lou zu entdecken, doch sein Gesicht ist beinahe ebenso schnell wieder in der Dunkelheit verschwunden, wie es aufgetaucht ist. Nicht viel mehr als ein Hirngespinst.
Es ist kurz nach fünf Uhr morgens, als Lou, Beth und ich uns nach draußen verkrümeln, um ein bisschen frische Luft zu schnappen, während Mr. Neonkette sich die Seele aus dem Leib kotzt. Meine Füße bringen mich mittlerweile um.
„Sollen wir ihm ein Taxi rufen?“ Beth, die an einer Zigarette zieht, die sie von ihrer letzten Kussbekanntschaft bekommen hat, fixiert den wankenden Miles mit zusammengekniffenen Augen.
„Ich denke, er braucht noch ein bisschen, ehe er transportfähig ist.“ Lou lehnt sich gegen das Geländer vor dem Club. „Ich weiß auch nicht, wie er nachher den Flug nach New York überstehen will.“
„Oh, er muss in den Flieger?“ Ich mustere den rettungslos betrunkenen Kerl neben uns.
„Sie erwarten Miles morgen in der Firmenzentrale“, winkt Lou ab, ehe sie den Blick durch die spärlich besuchte Gasse schweifen lässt. Der Himmel über uns verfärbt sich langsam rosa. „Aber eigentlich … eigentlich mache ich mir darüber gerade gar keine Gedanken. Ich … SoHo hat mir da auch ein Jahrespraktikum angeboten.“
Ich brauche ein bisschen, ehe ich eine genaue Ortsbestimmung vornehmen kann. „Die haben dir ein Praktikum in New York angeboten?“
Beth gibt ein Husten von sich, das so klingt, als habe sie sich verschluckt. „Du willst nach New York?“
Hinter uns öffnet sich die Tür zum Club. Ein paar Musikfetzen machen sich breit, ehe sie wieder ins Schloss klatscht und wir in der kühlen Morgenluft weiter auf Lous Antwort warten.
„Es ist eine große Chance“, sagt sie und ein bisschen fühlt es sich so an, als habe man mir zwischen die Rippen getreten.
„Du ziehst es in Betracht?“
Lou zieht die Lippen zwischen die Zähne. „Ja“, gibt sie zu. „Ja, tu ich.“
Fuck.
Beth sagt nichts, aber ich schätze, sie denkt genau dasselbe wie ich.
„Ich hasse es ja auch, dass ich unsere WG kaputt mache, aber ich … das … ihr wisst selbst, wie sehr ich die Arbeit dort liebe. Und die Erfahrungen, die ich da machen kann, die sind nicht mit der Modeschule zu vergleichen.“
„Du hast dich also schon entschieden, dass du’s machst“, knirscht Beth mit den Zähnen und hustet nochmals in ihre Zigarette.
„Seid bitte nicht sauer. Ihr wisst, wie sehr ich unsere WG liebe. Ich … für nichts anderes würde ich das sausen lassen.“ Lous braune Augen füllen sich mit Tränen.
Das Schlimme ist, dass ich es weiß. Und Beth auch, aber die Neuigkeit, dass sie uns verlassen will, wird damit nicht erträglicher.
„Scheiße“, entweicht es mir. „Ach, Scheiße, Lou.“
„Ich weiß!“
Wir fallen uns in die Arme. „Ich werde euch ständig besuchen kommen“, verspricht Lou.
„Du wirst uns ratzfatz vergessen, weil die dich da drüben lieben werden“, murmelt Beth mit ihrem Zigarettenatem.
„Werde ich gar nicht“, stellt Lou aufgelöst fest. Wir ziehen uns in eine noch festere Umarmung.
„Du wirst sie umhauen. Das wird richtig toll“, mache ich den Versuch, mich für sie zu freuen, obwohl es unter Anbetracht der Umstände verdammt schwer ist. Ich will nicht, dass Lou geht. Lou und ich kennen uns mittlerweile schon länger, als wir uns nicht gekannt haben. Sie ist neben Beth meine beste Freundin. London ohne Lou wird nicht mehr das London sein, das ich gekannt habe.
Wir taumeln zu dritt gegen das Geländer. Ich spüre meinen Fuß ins Lüftungsgitter absinken.
„Was geht denn hier ab?“, höre ich jemanden ganz unvermittelt hinter uns sagen.
„Lou verlässt uns! Diese untreue Tomate geht nach New York!“, erklärt ihm Beth schon, noch während ich Noah als Noah identifiziere. Er sieht mal wieder aus, als sei er aus dem neuesten Katalog für Männermode geklettert, während ich gerade wahrscheinlich schon wieder ein Paar Absätze ruiniert habe
„Hm“, brummt er in unvergleichlicher Noah-Manier. „Warum das?“
„Weil ich blöd bin!“, erwidert Lou und ich glaube, es ist ziemlich offensichtlich, dass wir betrunken sind. Aber auf der anderen Seite würde wohl jeder emotional reagieren, wenn er herausfinden würde, dass seine beste Freundin das Land verlässt.
„Soll ich euch einen Uber rufen?“
„Wir kommen klar“, bringe ich deprimiert über meine eigene Tollpatschigkeit raus. Lou bringt mich dafür um, dass ich schon wieder ihre Schuhe geschrottet habe. Doch Beth quakt da schon laut „Ja, bitte!“, während ich noch damit hadere, wie ich ausgerechnet jetzt, wo Lou uns ohnehin verlässt, auch noch ihre Schuhe töten konnte. Ich bin die mieseste beste Freundin der ganzen Welt!
„Kay“, murmelt Noah nur und ich denke, er hält uns für die wohl schrägsten Vögel diesseits der Themse, vielleicht aber auch nur für richtig betrunken.
„Miles müssten wir auch nach Hause bringen.“ Lou, die uns als Stützen austauscht, um sich an Noahs Hals zu hängen, drückt ihm einen Zeigefinger in die Wange. „Dein Gesicht ist wirklich …an deinen Kanten kann man sich schneiden, Noah Bersier, weißt du das?“
Unser Nachbar hält Lous Hand fest und guckt strafend von ihr zu uns.
„Wäre schön, wenn du davon absehen könntest, mich mit deinen Krallen zu piercen, Louisa.“
„Mhm“, macht Lou und Beth gibt ein heiseres Kichern von sich.
„Wenn Lou auszieht, kannst du bei uns einziehen, Noah. Oder Charlie? Ich meine, er braucht doch eine Wohnung!“ Beth, die unter Noahs Killerblick offensichtlich den Verstand verloren hat, schiebt ihren Arm enger um meinen Hals. „Noah kennen wir immerhin schon.“
Die Antwort auf Beth schrecklichen Vorschlag ist Nein. Natürlich ist sie Nein. Das Problem ist nur, dass Noah trotz des Irrsinns dieses Vorschlags beinahe gerührt aussieht. Oder was auch immer dieser Gesichtsausdruck von ihm zu bedeuten hat. Die Sache ist jedenfalls die, dass ich meinen perfekten Zeitpunkt des Widerspruchs verpasse. Und im nächsten Moment höre ich Lou schon „Dann habt ihr ja wenigstens schon einen guten Nachmieter gefunden“ sagen.
„Darüber sollten wir wohl nochmal reden, wenn ihr ausgenüchtert seid.“
„Ach was. Das Angebot steht!“, widerspricht Beth. Und das Schlimme ist, dass es von ihrer Seite aus wohl die Wahrheit ist. Was eine wirklich gottverdammte Scheißidee ist, aber leider fallen mir keine Gegenargumente ein, die nicht so klingen, als sei ich wieder dreizehn und mitten in der Pubertät. Außerdem muss ich ohnehin noch ein paar Schuhe erklären.
Ich verbringe fast den gesamten August in Yardley, weshalb ich die Tatsache, dass Noah unser Mitbewohner geworden ist, bis Anfang September verdrängen kann. Danach leider nicht mehr. Noahs Krempel, der sich seit neuestem in unserem Badezimmer und im Wohnzimmer findet, ist dabei bei weitem nicht so störend wie die Geräusche seiner Gäste, die des Nachts aus seinem Zimmer kommen. Und bereits am Donnerstag, nach den ersten zwei Tagen zusammen, nervt mich unsere neue Wohnsituation schon bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter. Noah hat offenbar noch mehr Frauen als Andrew Searson am Start. Laute Frauen. Das ist auch der Grund, weshalb ich heute Abend, anstatt gemütlich im Wohnzimmer bei einem Tee Bodyguard zum ungefähr dreihundertsten Mal zu gucken, in meinem Zimmer liege und versuche, mit AirPods in den Ohren und einem Buch von Mary Janice Davidson den Sexbesuch nebenan zu verdrängen.
Ich meine, klar, es gibt Schlimmeres, als auf dem Bett zu liegen und zu lesen, aber eigentlich hatte ich mich insgeheim darauf gefreut, Richard Madden auf Noahs abartig großem Mitbringsel aus seiner alten Wohnung anzuschmachten, während Richard sein unvergleichliches „Ma’am“ über die Lippen schiebt. Britische Männer haben einfach einen gewissen Charme, der sich nicht leugnen lässt. Vor allem, wenn sie so schweigsam sind wie mein Schwarm aus Bodyguard. Nur zu reden, wenn man was zu sagen hat, diesen Charakterzug fand ich schon bei Adam heiß. Ein bisschen zu heiß, weil es nämlich eigentlich total anstrengend ist, sich zusammenreimen zu müssen, was der andere denkt.
Ich schüttele mich, genervt davon, dass ich es schaffe, einfach immer irgendeinen blöden Aufhänger zu finden, um mich an den großen Kerl mit den viel zu weichen Lippen zu erinnern, der ständig „Können wir nicht, Charlie“, oder „Geht nicht“, gebrummt hat.
Ich schiebe mir ein Kissen übers Gesicht. Es ist wirklich hoffnungslos mit mir! Wie sehr kann man jemanden vermissen, der aufgehört hat, dich zu lieben, ohne noch als total hoffnungslos zu gelten? Ich klopfe gegen die Daunenfedern. „Bekloppt!“, höre ich mich selbst sagen. „Bekloppt, bekloppt, bekloppt!“
Normalerweise ist Beth irgendwo in der Nähe, wenn ich mal wieder ganz schlimme Mein-Kerl-liebt-mich-nicht-mehr-Anzeichen zeige, und eigentlich dachte ich auch, dass mein Aufenthalt bei Oma geholfen hat, Abstand zu gewinnen. Hat es aber scheinbar gar nicht und jetzt ist Beth noch bis nächste Woche in Singapur, Lou hockt schon im überhitzten New York und Oma ist natürlich zu Hause in Yardley geblieben. Der Einzige, dem ich die Ohren vollweinen könnte mit meinem Liebeskummer, ist Marcus, weil der auch von Adam und mir wusste. Aber das ist keine echte Option, weil Marcus eben Marcus ist. Außerdem habe ich meinen Bruder zweiten Grades schon seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen.
Unglücklich blase ich die Backen auf. Seit ich nicht mehr im Clay trainieren gehe, leben nicht nur Adam und ich wieder in zwei gänzlich unterschiedlichen Welten. Marcus tut es auch. Ich bin mit dem Ende meiner Beziehung nicht nur meinen Freund, sondern auch meinen Bruder losgeworden. Den einen, den ich gar nicht loswerden wollte.
Missmutig sortiere ich meine Füße neu, aber helfen tut es nicht. Vielleicht sollte ich einfach schlafen gehen, aber es ist erst kurz nach neun Uhr und ich habe keine große Lust, bei mir noch mehr Jetlag zu verursachen. Die letzten beiden Tage waren schlimm genug. Ständig müde zu sein und trotzdem wach, ist einfach kein Leben. So wie das Marcus macht, der ständig um die Welt huscht, das könnte ich gar nicht. Ich bin nicht dazu gemacht, Meilen zu sammeln. Ich bin ein eher sesshafter Mensch. Ich mag es, an einem Ort zu bleiben, und muss nicht ständig auf Achse sein. Meine Mutter sagt, das hätte ich von meinem Vater und mir ist bis jetzt nicht klar, ob das laut ihr etwas Gutes oder etwas Schlechtes ist. Mum und ich reden nicht viel über ihn, dabei weiß ich ganz bestimmt, dass wir mal eine richtig tolle Familie waren. So eine richtige „Blut ist dicker als Wasser“ - Familie, die sonntags immer zusammen gekocht hat.
Seit Dad nicht mehr da ist, ist es ziemlich anders geworden. Mum hat es Zuhause nicht mehr ausgehalten, sagt Oma. Sie sagt das immer so, als wäre das Umziehen in ein anderes Land die einzige Option für Mum gewesen, nachdem mein Vater im Job erschossen worden ist, aber ich glaube, insgeheim hat sie Mum nie so ganz verziehen, dass sie damals eine Stelle in London angenommen und mich mitgenommen hat. Genauso wenig wie ich. Ich mochte Yardley. Ich tu es noch, obwohl Omas Essen einfach immer zu viel Muskatnuss abbekommt und man im Sommer drinnen, ohne Airconditioning schmilzt.
Das Leben hier in London ist einfach ganz anders. Weniger heiß, weniger herzlich. Obwohl es diesen Sommer nicht ganz so nett war wie sonst, wegen der Einbruchsserie, die Yardley erlebt. Alle waren abends immer ziemlich angespannt. Selbst Oma. Ständig hat sie kontrolliert, ob die Alarmanlage auch funktioniert. Ich beiße mir auf die Lippe und betrachte die grässlichen Socken an meinen Füßen, die Oma mir zum letzten Geburtstag bei Walmart gekauft hat. Am Anfang fand ich, die Comic-Figuren darauf würden ein bisschen so wie die Aliens aus der Sesamstraße aussehen, aber langsam denke ich, es sollen eher pinkfarbene Tintenfische sein. Ich studiere ihre gezeichneten Kulleraugen vor der türkisfarbenen Blättertapete, über der ich drei Lichterketten drapiert habe. Entweder liegt es an mir oder die Dinger fangen langsam wirklich an schöner zu werden. Entsetzt über meinen eigenen Gedankengang greife ich zurück nach meinem Buch, als ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel ausmache. Ich fahre mit einem Schrei panisch hoch, um das Taschenbuch gegen meinen Angreifer zu schleudern.
Mein Lesestoff klatscht neben Noah Christoph Bersier auf den Boden, noch bevor ich mich daran erinnern kann, dass ich nicht in Yardley bei meiner Großmutter bin. Das wir hier keine Einbruchserie haben und dass er zumindest das Recht hat, in dieser Wohnung zu sein. Nicht aber in meinem Zimmer.
„Hey, Charlie.“ Mein neuer Mitbewohner ist halbnackt. Mit freiem Oberkörper steht er mitten in meinem Zimmer.
„Himmelherrgott!“, entweicht es mir, während Pop Smoke durch meine Gehörgänge wabert. „Willst du mir einen Herzinfarkt bescheren?“
Noah grinst. Mehr tut er nicht. Er grinst einfach nur. Dann bewegen sich seine Lippen.
Notgedrungen nehme ich meine Musik aus den Ohren. Mein Herz hängt noch immer irgendwo in der Bauchgegend und muss sich erst wieder von dieser spontanen Talfahrt erholen.
„Sorry, dass ich dich störe. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du zufällig ein Kondom für mich hast.“
„Bitte?“
Noah zuckt mit den Schultern, ganz so, als habe er mich nach einem Kugelschreiber gefragt. „Ich dachte, ich hätte noch welche, aber …“
Noah hat den Arsch offen. So und nicht anders erkläre ich mir die Tatsache, dass er mich nach Gummis fragt.
„Sehe ich aus wie vom University Health Service?“, unterbreche ich ihn, ehe er hier weiter halb angefixt in meinem Zimmer steht und Dinge von mir will, die ich weder habe noch brauche.
„Komm schon, Charlie, du kannst mir nicht erzählen, dass ein Mädchen wie du keine Verhütungsmittel…“
„Halt die Klappe, bevor ich noch ein Buch nach dir werfe“, drohe ich ihm. „Ich hab’ nichts hier und jetzt verschwinde!“
„Gar nichts?“ Jetzt klingt er ein bisschen zu perplex für meinen Geschmack.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Nichts, Bersier. Nichts, nada, habe ich hier. Zumindest für dich.“
In Noahs Wange zuckt ein Muskel. „Shit“, brummt er dann und kratzt sich hinter seinem Ohr. Eine Verlegenheitsgeste, die mich leider dazu bringt, nicht mehr in sein Gesicht zu gucken. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, was sich unter seinen geschniegelten Klamotten verbergen würde. Wahrscheinlich ein glattrasierter, instagramwürdiger Body mit einem Markenstempel, der mir versichern würde, dass er, meine Brüder und all ihre Freunde aus einem gemeinsamen Werk kommen. Das einzige Problem ist nur, dass das absolute Gegenteil der Fall ist. Ich meine, klar, er hat all diese Muskeln, die man ebenso alibihalber beim Tennis und beim Gewichte stemmen bekommt. Aber er ist weder glattrasiert, noch makellos. Die gebrochene Haut über seinem Schlüsselbein sieht schlimm aus. Und damit meine ich nicht auf irgendeine verruchte Art und Weise sexy, sondern einfach nur so, wie kaputte Haut nun einmal aussieht. Vernarbt und irgendwie nicht richtig echt. Falsch eben. Und allein der Gedanke, dass sein Schlüsselbein irgendwann einmal Tageslicht gesehen hat, ist einfach nur widerlich.
„Wenn du mich nur auflaufen lassen willst, dann sei dir gesagt, dass das richtig grausam ist, Charlie.“
„Raus, Bersier!“
„Okay, okay.“ Er reibt sich über die breite Brust. „Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe.“
„Geh jetzt einfach!“, unterbreche ich jegliche Erklärung. Alles, was ich wollte, war mein Buch weiter zu lesen, ohne irgendwelchen weiteren Sexabenteuer Noahs beizuwohnen, nachdem ich fast ein Jahr lang zu viele durch die Decke mitbekommen habe. Und jetzt weiß ich nicht nur, dass ihm die Kondome ausgegangen sind, ich muss auch mit dem Wissen leben, dass Noah irgendwann einmal einen richtig blöden Unfall hatte. Das ist nicht wie mein Donnerstag hätte laufen sollen.
„Sorry für die ganzen Eselsohren.“ Noah hebt das Opfer seines Auftritts auf und gibt ein abfälliges Glucksen von sich, kaum dass er den Einband bemerkt. „Vampire, hm?“
„Raus!“
Noah legt das Buch umsichtig auf das Regal neben der Tür. Sein Gesichtsausdruck entgeht mir dabei nicht. Dabei bin ich diejenige, die nach diesem Auftritt von ihm die moralische Überhand haben sollte.
Ich starre die offene Türe an, als er längst gegangen ist. Wenn Noah und ich es jemals auf diese Vertrauensebene geschafft hätten, die es meiner Meinung nach braucht, ehe man jemanden um Kondome bitten kann, dann wüsste er, dass ich zwar die Pille nehme, aber es bisher noch keinerlei Grund gab, Gummis zu besorgen. Ich fahre mir übers Gesicht. Mit knapp zwanzig noch Jungfrau zu sein, ist wohl eher schräg. Andererseits muss ich gestehen, dass mein Bedürfnis, dieses oder letztes Jahr die Freshers’ Flu mitzunehmen, ziemlich gering war und ist. Mein Blick wandert fast mechanisch zur Wand hinüber, hinter der Noah gerade drauf und dran ist, seinen Teil zum Infektionsgeschehen zu leisten. Oder zumindest das feste Ziel hatte, das zu tun. Adam hätte sich eher selbst gegeißelt, ehe er mit mir ohne Ehering ins Bett gegangen wäre.
Ich verziehe das Gesicht und lasse mich zurück aufs Bett fallen. Die Federn quietschen protestierend unter mir. Ich bin nicht mehr in Lesestimmung. Eigentlich bin ich in Stimmung für gar nichts.
Ich schiebe mir meine Musik zurück in die Ohren und lasse Kora Feders I’d be a Maria zum hundertsten Mal über mich hinwegwaschen, während ich meine Knie fixiere. Früher wäre ich in die Tube gestiegen und einfach ins Clay gefahren, wäre all meine Energie an einem Boxsack und auf der alten Tretmühle losgeworden. Aber die Zeiten sind vorbei, in denen ich ins Fitnessstudio flüchten und mit Adam auf der Matte ein bisschen zu intensiv neue Griffe trainieren konnte. Jetzt bleibt mir nur zum Uni-Sport zu gehen und mehr oder minder begeistert durch Londons Parks zu traben.
Ich recke eine Hand über den Kopf und mustere meine weichen Knöchel unglücklich. Seit ich denken kann, ist es das erste Mal, dass ich keine Macken auf den Händen habe und ein Teil von mir hasst es. Hasst es, dass langsam nichts mehr übrig ist von der toughen Charlie, die ich einst war, und der selbstmitleidige Teil von mir wünscht sich, dass ich die letzten vier Jahre meines Lebens zurückhaben kann und all die vielen Male, in denen mein Herz zu oft gehofft und dann doch wieder von Adam gebrochen wurde, weil er seiner Familie einfach nicht sagen konnte, dass er mit mir zusammen sein will. So richtig.
Ich rappele mich auf und versuche, die Tränen tief in mir drin zu vergraben. Mein Zimmer ist zu klein für dieses Unterfangen. Alles ist zu klein, wenn ich daran denke, dass Adams und meine Beziehung von Anfang an keine Chance hatte. Dass er es mir gesagt hat und ich einfach drei Jahre lang weggehört habe.
Meine Sportschuhe liegen noch in meinem Koffer, genau wie meine schwarzen Leggins und mein liebstes Shirt, auf dessen Rücken eine große Wolfstatze prangt. Ein Geschenk aus der Zeit, in der ich noch glauben wollte, dass unsere Liebe ausreichen würde. Aber nun heiratet mein Wolf sicherlich demnächst eine echte Wölfin und mir bleibt nur die Erinnerung. Also bin ich aus der Tür, bevor ich weiter über unsere tschetschenisch-amerikanische Version von Romeo und Julia nachdenken kann.
Ich ziehe die Wohnungstür hinter mir zu. Meine Füße tragen mich die Stufen nach unten, an Walter vorbei nach draußen. Einmal quer durch den Regent’s Park. Immer weiter. Eminem rappt im Takt meiner Schritte. Ich jage meinem Herzschlag hinterher, bis es mir die Luft aus den Lungen drückt und sich mein Körper wieder die Herrschaft über meinen Kopf erkämpft.
Ich bin nicht mehr so fit, wie ich einst war, aber rennen kann ich immer noch länger als viele andere. Und so trete ich sechs Meilen später durch die Tür des Bite auf der Suche nach Bananenbrot und Hemingway.
Wann ich mich dazu entschieden habe, diesen Donnerstag nicht ohne ein Lächeln in Richtung Hemingway zu beenden, weiß ich nicht mehr, aber im kleinen Laden ist es ruhig und es duftet wunderbar nach dem Versprechen nach Kaffee und Unialltag. Genau das, was mein geschundenes Herz jetzt braucht.
Hemingway sitzt an seinem angestammten Platz hinten neben der selbstgezimmerten Bar und dem krumm angepinselten Pelikan auf der Putzwand. Sein Mac Book steht vor ihm, ebenso wie ein angebrochenes Wasser.
Hemingway hat blondes Haar, das aussieht, als würde es sich weigern, sich von einer Bürste bändigen zu lassen und seine Nase ist nicht ganz gerade. Er ist keine Schönheit, aber in seinem Blick liegt etwas, das mich anzieht und mich zurücklächeln lässt, wann auch immer wir uns über den Weg laufen. Heute trägt er ein Hemd unter seinem grauen Pullover und Jogginghosen, die in weiße Socken und Sneaker übergehen.
„Hey“, grüße ich ihn atemlos. Es ist das erste Mal, dass ich es wage, ihn anzusprechen.
„Hey“, antwortet er mir und ich sehe seinen Adamsapfel dabei nach oben wandern. „Semesterferien zu Ende?“
Es ist keine epische Gesprächseröffnung, doch sie lässt mich trotzdem schmunzeln, weil sie zeigt, dass es ihm aufgefallen ist, dass ich nicht da war. „Ja. Hab den Sommer bei meiner Großmutter in den USA verbracht.“
„Und jetzt reden wir“, sagt er langsam, ganz so, als ob er annimmt, der Urlaub habe meine Zunge gelöst.
„Ich dachte, wir haben lange genug nur gelächelt.“
„Ehrlich gesagt, dachte ich nicht, dass du dich dazu breitschlagen lassen würdest, zu reden.“ Hemingway neigt den Kopf. „Du hast einige Kerle hier ziemlich auflaufen lassen.“
Ich beiße mir auf die Lippe. Mir war bisher nicht klar, dass ihm die schlechten Anmachen, die ich hier schon bekommen habe, aufgefallen sind.
„Ich bin nicht gut im Flirten“, gestehe ich ihm.
„Das sind die wenigsten.“ Hemingway zuckt mit den Schultern. „Ich bin John.“
„Charlie.“
Wir lächeln uns an und ich stelle fest, dass er Grübchen bekommt, wenn er strahlt. „Freut mich, Charlie.“
„Mich ebenso.“ Als ich zu Hause losgerannt bin, hatte ich nicht den unbestimmten Drang, Hemingway einen Namen zu verpassen. Zumindest nicht nur. Es war nur Donnerstag und ich viel zu lange nicht mehr hier. Aber jetzt kommt es mir beinahe so vor wie Schicksal. Vielleicht wird es diesen September Zeit für einen liebestechnischen Neuanfang oder zumindest für den Versuch. Ich kann Adam nicht für immer lieben. „Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?“
„Gar nicht.“ Johns helle Augen bestehen aus einer blaugrünen Mischung, die von kräftigen Wimpern in allen möglichen Farben umrundet wird. „Du kommst genau richtig, um mich von den fehlenden Seiten meiner Dissertation abzulenken.“
„Du promovierst?“, hake ich nach. John wirkt noch nicht alt genug, um Doktor zu werden.
„Ja, in englischer Literaturwissenschaft.“ Er rümpft die Nase. „Du erwischt mich gerade in der Phase, in der ich mir überlege, was in meinem Leben eigentlich schiefgelaufen ist, um mir den Dreck anzutun.“
„Wenn du das rausgefunden hast, kannst du direkt bei mir weitermachen“, schüttele ich den Kopf. „Zweifel an seinen eigenen Entscheidungen zu haben kenne ich nur zu gut.“
„Studientechnisch?“
„Lebenstechnisch.“ Ich zucke mit den Schultern, weil ich John aka Hemingway 2.0 nicht schon in den ersten fünf Minuten abschrecken will.
„Tiefgründig.“
„Total.“ Ich lächele.
„Darf ich dir einen schwarzen Kaffee und ein Bananenbrot ausgeben?“
„Beobachtest du mich etwa?“
„Ab und an. Aber nur donnerstags.“ John lehnt sich zurück und ich kann mich seinen Grübchen nicht entziehen.
„Dann waren die letzten vier Donnerstage wohl recht dröge?“
„Und wie.“ Er fährt sich durch seine blonden Locken und mir fällt auf, dass er zwei Ringe trägt. Einen am rechten Daumen und einen am Zeigefinger. „Aber ich habe die Hoffnung, dass der hier besser wird.“
„Komischerweise habe ich das auch.“
Es ist kurz nach eins, als ich in die Lobby komme. Sanjay, Walters nächtliche Vertretung, steht hinter dem Tresen und unterhält sich mit dem Fahrer von vorhin, der mich so freundlich über die Straße gelassen hat. Er kaut noch immer auf seinem Miswak-Zweig.
„Sanjay“, begrüße ich den Concierge. Den Weg vom Bite zurück zu joggen war anstrengender als angenommen und ich habe das Gefühl, dass einfach alles an mir klebt und ich nicht mehr wie eine frische Morgenbrise dufte.
„Guten Abend, Miss Hardley.“ Sanjay lächelt. In seinem schwarzen Anzug und mit der goldenen Brille wirkt er trotzdem viel zu ernst. „Mister Humberstone wartet oben auf Sie. Er kam vor zwei Stunden.“
„Hat er gesagt, was er will?“ Mehr als erstaunt über die Neuigkeit, dass Marcus hier ist, bleibe ich stehen.
Sanjay zuckt mit den Schultern. „Nein. Er sagte nur, er müsse Sie sprechen.“
„Danke.“
Marcus ist niemand, der zu spontanen Besuchen neigt. Wenn doch, dann lässt er es einen vorher in irgendeiner Form wissen.
Irgendetwas muss passiert sein.
Ich zwinge mich dazu weiterzugehen. Sanjay und der Fahrer führen ihr Gespräch in Hindi fort, kaum dass ich ihnen den Rücken zudrehe und den Fahrstuhl rufe, während es in meinem Kopf drunter und drüber geht.
Es kann nichts Gutes sein, was Marcus um diese Uhrzeit herführt. Lass nichts mit meiner Mutter und nichts mit Oma sein, bete ich deshalb still.
Das Rattern des alten Aufzugs beschleunigt meinen Herzschlag. Wenn etwas mit Mama ist, dann würde Rhyce sicher Marcus schicken. Bei Oma wahrscheinlich auch. Mein Stiefvater und ich haben ein absolut nicht vorhandenes Verhältnis zueinander.
Panisch falle ich aus der Kabine in unser Stockwerk und suche fahrig den Schlüssel für die Wohnungstür. Als ich es endlich schaffe und das Licht im Flur anknipse, werde ich von dem ohrenbetäubenden Lärm des Fernsehers begrüßt und in der Luft liegt der untrügliche Gestank von Zigaretten.
„Marcus?“
Neben dem grauen Läufer stehen drei Paar blank polierte Oxfords in unterschiedlichen Ausführungen. Das größte Paar gehört Noah. Die standen schon dort, als ich gegangen bin. Die anderen kenne ich nicht.
Ich bekomme keine Antwort. Also gehe ich in Richtung des lärmenden Fernsehers, der sich daran macht unser Wohnzimmer in ein Kino zu verwandeln. Marcus würde sicherlich keinen Film sehen, wenn etwas richtig Schlimmes passiert wäre. Trotzdem kann ich mir nicht sicher sein.
Im Wohnzimmer explodiert es auf knapp zwei Metern Bildschirmfläche mit Dolby Surround. Durch die helle Filmsequenz erkenne ich im Halbdunkel Noah, Drew und Marcus. Es riecht nach abgestandenem Bier und den Zigaretten. Ich stehe wie vom Donner gerührt auf der Schwelle.
In Drews Mundwinkel hängt, einem Glühwürmchen gleich, eine Zigarette. Auf seinem Knie balanciert er eine meiner heiß geliebten schwarzen Keramikschalen, die er ganz offenbar als Aschenbecher missbraucht.
Ich mache die Wohnzimmerlampe an.
„Yardley, wieso machst du das Licht an?“, mault Drew, doch mir entgeht nicht, dass er seine Hand leicht verschämt hinter die Lehne wandern lässt. Marcus aber kneift nur leicht die Augen zusammen. „Hey, Charlie. Da bist du ja endlich“, sagt er. Dann lächelt er, wie er’s immer tut. Und meine Panik, dass etwas passiert sein könnte, verflüchtigt sich, genau wie mein Ärger, dass Drew hier in unserer Wohnung einfach quarzt. Immerhin hat er den Rauchmelder abgestellt und das Fenster geöffnet.
„Ich war noch Laufen. Ist etwas passiert?“ Ich kann nicht anders, als auch zu lächeln. Marcus habe ich so lange nicht mehr gesehen.
Marcus mustert mich mit genau diesem Blick, den Brüder halt so haben, wenn ihre Schwester des Nachts in Laufklamotten, durchgeschwitzt und in dem einstmals geschenkten Shirt ihres Exfreunds ins Wohnzimmer trabt. „Nicht wirklich. Ich wollte dir was vorbeibringen. Dann hat Drew mich eingeladen hier zu bleiben.“ Marcus reibt sich übers Kinn.
Ich entspanne mich unwillkürlich. So ist das also. Drew richtet sich hier häuslich ein.
„Kannst du das Licht wieder ausmachen?“ Noah mustert mich, als erwarte er, dass ich ihn nochmal mit meinem Vampirbuch bewerfe. Wenn ich jünger wäre, hätte ich das vielleicht, denn er hat ohne Zweifel Drew zu verantworten. Daniels bester Freund war noch nie zuvor hier.
Aber nun kann ich nicht anders, als Noah einfach nur genervt zu mustern. Mir war nicht klar, das Drew und er so dicke miteinander sind. Dass sie Freunde sind, ja. Aber nicht, dass ich Drew zuhause aushalten muss.
Während ich Noah ansehe, fällt mir zum ersten Mal auf, dass er kein perfekt symmetrisches Gesicht hat. Nicht so schlimm wie bei Tyler Posey, aber krass genug, um mir ins Auge zu fallen.
„In der Küche ist noch Bier, wenn du willst“, schlägt er mir vor.
„Danke, nein.“ Wenn mein neuer Mitbewohner mich auch nur ein bisschen kennen würde, dann wüsste er, dass ich kein Bier trinke. Maximal Guinness. Seine Augen fixieren mich noch immer. Sie haben die Farbe von Schlamm. Ganz und gar nicht so beeindruckend wie die von John. Oder wenn wir schon dabei sind - Marcus.
Marcus hat die krassesten blauen Augen der Welt. Sie haben die Farbe von Eis. Eisaugen, die mich immer noch ansehen. Irgendwie sieht mein Gast besorgt aus. Halb erwarte ich gar, dass er und ich gleich unseren Snape-Dumbledore-Moment haben werden und ich so etwas sagen muss, wie: Ja, ich habe dieses Shirt immer noch. Nach all der Zeit. Also entscheide ich mich dafür, das Licht auszuknipsen, bevor es soweit ist. Nicht, weil Noah mich darum gebeten hat.
„Ich geh ins Bett“, informiere ich die drei. Eigentlich würde ich gerne bleiben und mit Marcus reden, aber mit Adams Shirt neben ihm zu hocken, das ist einfach zu schräg.
Ich zupfe an meinem Shirt, das vom Sport immer noch an mir klebt. Eigentlich wollte ich duschen gehen, sobald ich nach Hause komme, doch nun kann ich das wohl vergessen. Ohne Make-up und halb nackt vor Drew und Noah herumzuspazieren kommt nicht in die Tüte.
Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss rumsen.
Bei Diskussionen mit Drew und Daniel habe ich immer das Gefühl, meinem geistigen Alter beim Schrumpfen zusehen zu können. Aber die Zeiten, in denen ich zornig Screw you, Drew! gerufen habe, sind lange vorbei.
Trotzdem fühle ich mich nicht sonderlich fortschrittlich, als ich aufs Bett kippe und mit klopfendem Herzen den Deckenfleck anstarre. Ich wünschte, Marcus hätte mich nicht in Adams geschenktem Shirt gesehen. Jetzt wird er denken, ich liebe ihn immer noch. Dass seine dumme, kleine Schwester immer noch in den Kerl verliebt ist, der ihr von Anfang an gesagt hat, dass es nichts werden kann.
Ich starre die Decke an. Die blaue Tapete, die ich ausgesucht habe, weil sie ein ziemlich perfektes Haintblau darstellt, löst sich an zwei Stellen ein wenig von der darunterliegenden Blümchentapete. Meine Geister der Vergangenheit konnte dieses Blau, das angeblich in den Südstaaten böse Geister davon abhält sich ins Haus zu schleichen, noch nie vertreiben. Vielleicht sollte ich sie einfach überstreichen.
Es klopft. „Charlie?“
Marcus. Ich schließe die Augen.
„Kann ich reinkommen?“
„Klar“, lüge ich.
Ich bewege mich nicht von meinem Platz auf dem Bett. Ich höre Marcus leise die Tür schließen. „Du hast gar nichts zu Drews Qualm gesagt.“
„Ich war nicht in der Stimmung. Außerdem raucht Beth hier manchmal auch.“ Ich zucke mit den Schultern, was liegend nicht so ganz funktioniert.
„Hm“, macht es von irgendwo weiter hinten im Raum. Als Marcus danach still bleibt, raffe ich mich auf.
„Sag was los ist. Ich nehme nicht an, dass du mir beim Schlafen zusehen willst.“
In der Wange meines Bruders zuckt ein Muskel und verpasst ihm damit noch ein wenig mehr den Anschein, als käme er direkt aus dem Ring und nicht aus dem Büro oder irgendeinem Flieger. Dabei trägt er heute Abend sogar noch Anzug.
Dann greift er in die Innentasche seines Anzugs. „Ich soll dir was von Nezh geben.“ Er zieht eine Karte hervor in Schwarz und Weiß.
Mir wird heiß. Nezh ist Adams Vater. Marcus alter Trainer. „Was ist das?“
Marcus Augen pinnen mich fest, als ich das frage. „Eine Einladung. Ich habe Nezh versprochen, ich bringe sie dir.“
Ich habe eine Vermutung, was es ist, noch bevor ich die Goldschrift sehe. Noch bevor Marcus irgendetwas erklären muss.
Ich schlucke die Ohnmacht hinunter.
„Es tut mir leid, Charlie.“
„Ja.“ Ich nehme die Hochzeitseinladung entgegen, ohne dass ich etwas dabei fühle. Kurz blättere ich sie auf, um meine Vermutung endgültig zu bestätigen. Dann schließe ich sie wieder. „Und ich sitz immer noch da, in seinem Shirt“, entweicht es mir.
„Du musst nicht hingehen. Du weißt, wie groß solche Feiern sind und wen sie da alles einladen.“
„Ja.“ Ich reibe mir über meine Schenkel. Adam heiratet. Mein Adam heiratet eine andere. Ich atme aus. Tue es nochmal und versuche zu verstehen, wie … wie es so weit kommen konnte. Aber eigentlich gibt’s da nichts zu verstehen. Er heiratet niemanden, den er liebt. Er heiratet einfach. So wie es seine Eltern immer wollten. Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen.
Marcus Hand findet mein Haar. „Tut mir wirklich leid, Kitt.“
Mir entweicht ein leises Grunzen. Es ist ewig her, seit Marcus mich das letzte Mal Kitt genannt hat. Dabei mochte ich meinen Spitznamen, den er mir gegeben hatte, immer so gerne. Kitt wie das Auto aus Knight Rider, weil ich ihn von der Rückbank aus immer genervt habe mit meinem Herumgezicke, wenn wir auf dem Weg zum Training waren. Dabei dachte einfach jeder, er würde mich Kid nennen. Kitt war mal unser Insider. Jetzt ist es nur eine Erinnerung daran, dass die Zeit von damals nie mehr wiederkommen kann. Meine Augen brennen wie Feuer. Ich will nicht weinen. Ich will nicht, dass Marcus sich Vorwürfe macht. Ich weiß, er tut es auch ohne meine Tränen.
„Ich geh duschen. Warte nicht auf mich“, höre ich mich sagen und springe auf. Ich bin im Bad, noch bevor die Tränen kommen und drehe das Wasser voll auf, ehe ich die Tür verbarrikadiere.
Ich spüre Marcus besorgten Blick praktisch noch durch zwei massive Wände. Das Gefühl, kaum Luft zu bekommen wird schlimmer, während die bittere Gewissheit, dass es richtig vorbei ist, sich in mir breitmacht. Es ist total bescheuert, dass ein kleiner, ganz winziger Teil von mir immer noch gehofft hat, dass … Ich traue mich noch nicht einmal den Gedanken zu Ende zu denken. Stattdessen klatsche ich mir eine Ladung Wasser ins Gesicht. So energisch und unkoordiniert, dass es sogar noch auf dem Spiegel landet. Dann werde ich meine Klamotten los. Adams Shirt zuerst. Dann alles andere. Als ich unter dem prasselnden Wasserstrahl stehe, sind die Tränen längst da. Sie sind nicht mehr zu stoppen.
Nach der Dusche bin ich total verquollen. Ein bisschen erinnere ich mich selbst an meine pinkfarbenen Tintenfischsocken, als ich das Kondenswasser vom Spiegel wische. Meine Finger quietschen noch ein bisschen auf der beschlagenen Oberfläche, dann lasse ich sie sinken. Ich sehe übel aus. So sollte man nach über einem Jahr Trennung nicht aussehen. Es sollte einfach nur noch blasse Erinnerung sein. Es fühlt sich aber nicht so an.
Als ich mich aus dem Badezimmer wage, ist es ganz still auf dem Flur. Es brennt zwar noch Licht und dank Drews Qualm riecht es auch noch ein wenig nach Pub, aber offenbar ist in diesem Pub bereits Sperrstunde. Erleichtert will ich mich zu meinem Zimmer schleichen, als Noah aus dem Wohnzimmer tritt. In der Hand hält er zwei leere Bierflaschen.
„Marcus und Drew sind schon los.“
„Okay.“ Ich presse mein Handtuch ein bisschen fester an mich, weil ich für meinen Geschmack ein bisschen zu nackt bei dieser Begegnung bin. Noah ist so groß, dass ich ihm kaum bis zur Schulter reiche. Wie riesig er ist, ist mir noch nie so richtig aufgefallen. Aber mir ist eine Menge nicht aufgefallen. „Wird Drew jetzt häufiger hier abhängen?“
„Wir sind befreundet. Wahrscheinlich schon.“ Noah zuckt mit den Schultern, während er mich aus finsteren Augen mustert. „Sag mal, du und Marcus, ihr habt doch nichts miteinander, oder?“
Ich runzele die Stirn. Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Sie kommt aus heiterem Himmel. „Nein, Noah. Marcus und ich haben nichts miteinander. Er ist Daniels Bruder, falls du’s vergessen hast.“ Am liebsten würde ich sagen, er ist mein Bruder, du Idiot! Aber streng genommen sind wir das nicht. Er ist nur Daniels Stiefbruder. Wir beide sind so weitläufig miteinander verbandelt, dass unsere Verwandtschaft eher ein Gefühl ist. „Er ist Familie“, sage ich deshalb nur wahrheitsgemäß.
„Dann hast du also nicht wegen ihm geweint.“
Ich spüre, dass Wassertropfen über die Innenseite meiner Schenkel laufen, als er das sagt. Dabei hatte ich mich eigentlich gut abgetrocknet. Das Wasser stammt aus meinem nassen Haar, das ich mal wieder nicht aus dem Handtuch gezogen habe. „Nein“, fühle ich mich genötigt zu sagen, weil Noah mich immer noch ansieht. „Nicht wegen ihm.“
„Ich habe dich noch nie mit einem Kerl hier gesehen. Deshalb frag ich. Kann ja sein, dass ihr so ein Eiskalte Engel Ding am Laufen habt. Man weiß nie.“
„Bestimmt nicht.“
Vielleicht lag ich vorhin falsch. Noahs finstere Augen scheinen mich fast zu verschlingen, bis ich so schlimm Gänsehaut habe, dass es schmerzt.
„Wenn das alles ist, dann würde ich jetzt gern ins Bett.“
Anders als Beth und er haben wir absolut nichts, über was wir reden könnten, selbst wenn ich nicht halbnackt im Flur stehen würde und einfach nur darauf warten würde, dass er weiter in die Küche geht und unsere Unterredung damit beendet.
„Wenn was ist, meine Tür ist offen, Yardley.“
Erstaunt von seinem Angebot presse ich die Arme noch etwas fester an mich. „Danke, ich denke aber nicht, dass du mir bei dieser Sache helfen kannst.“
„Wahrscheinlich nicht.“ Noah zuckt mit den Schultern. „Ich sag’s ja nur.“
Bei Drew würde ich dieses Angebot für nichts weiter als eine schlechte Anmache halten, die er ohnehin nicht ernst meint. Bei Noah würde ich das auch unterschreiben wollen, wäre da nicht dieser Blick, der mich wie ein Reh an Ort und Stelle verharren lässt.
Kurz bin ich versucht es ihm vor die Füße zu werfen. Dass die Liebe meines Lebens heiratet. Stattdessen sage ich nur: „Ich heiß Hardley.“
„Aber…“
„Yardley ist nur Drews Spitzname für mich. Ich komme ursprünglich aus Yardley. Daher der Name.“
„Mh.“ Macht Noah und es klingt ein bisschen so wie eine Erkenntnis. Kann es wirklich sein, dass er nichts davon weiß?
„Nenn mich einfach Charlie.“ Durch das offene Wohnzimmerfenster ist es einfach zu kalt, um weiter zu plauschen, auch wenn ich Noah eventuell doch noch eine Chance gebe.
„Ich muss jetzt wirklich. Ich werde sonst noch zum Eiszapfen. Wir reden morgen.“
„Cool“, murmelt er, während ich mit Frostfüßen in Richtung meines Zimmers tappe. „Lass dich heute Nacht nicht beißen.“
Ich drehe mich steif zu ihm um. Noah lächelt ein breites, schiefes Lächeln, das ihn noch ein bisschen finsterer aussehen lässt. Leider auf eine gute Art und Weise.
„Ich versuch mein Bestes“, erwidere ich und hoffe, dass mein Blick, das: Fall doch tot um!, eindrücklich rüber bringt. Nur für den Fall, dass er’s nicht tut, schenke ich ihm noch ein entnervtes Seufzen.
Als ich die Tür hinter mir ins Schloss drücke und mich die Heizungswärme umfängt, lasse ich den Kopf in den Nacken sinken. Dann muss ich leider lächeln. Ich weiß, es war ein Scherz. Trotzdem frage ich mich kurz, wie das Noahs Meinung nach aussehen sollte. Soll das Buch mich mit seinen Ecken heute Nacht in den Hals pieken? Oder mich gar, a là Harry Potters Monsterbuch, zerfleischen?
Dann höre ich auf zu lächeln. Die schwarze Karte liegt noch immer auf meinem Bett und der heftige Stich in meiner Brust ist wieder da. Ich drehe den Schlüssel um und lasse das feuchte Handtuch zu Boden klatschen. Nezh hätte mich niemals einladen dürfen. Er hätte Marcus nie um so etwas Grausames bitten dürfen. Ich lösche das Licht, schiebe die Karte vom Bett und tauche unter die Decke. Mein Herz ist beinahe so kalt wie meine Füße. Ich traue mich nicht einmal die Zehen zu bewegen. Für eine ganze Weile liege ich einfach nur da.
Du und ich, Kleines. Für immer.
Ich presse die Augen zusammen. Mein Kinn zittert.
Das erste Mal, als ich mit ihm und seinem besten Freund im Kino war, habe ich die Dunkelheit um uns rum praktisch gefühlt. Ich habe gewusst, gleich nimmt er meine Hand. Ich habe den Stromschlag praktisch schon gefühlt, bevor es soweit war. Und dann später, als wir den langen Weg zur Tube Station genommen haben, da habe ich ihn angesehen und es einfach gewusst. Dass ich, egal was ist, diesen Kerl immer lieben würde. Von meiner viel zu kalten Nase bis zu meinen eiskalten Zehen habe ich es gewusst, als er sich vorgebeugt hat und mich so geküsst hat, wie man nur beim ersten Mal küsst.
Jetzt kann ich nie wieder John Wick sehen, ebenso wenig wie ich noch ins Clay kann. Und jetzt, jetzt kann ich wahrscheinlich nicht mal mehr Hochzeitsfilme ansehen, ohne ganz verbittert und seltsam dabei zu werden.
Dabei habe ich heute mit Hemingway geredet. Ich korrigiere mich. John. John mit den schönen Augen.
Aus irgendeinem Grund macht mich das noch trauriger. So traurig, dass ich mir mein Kissen schnappen muss, um meine Tränen darin zu ersticken. Irgendwann, das schwöre ich mir selbst, soll mir das nicht wieder passieren. Dass ich nie wieder so lieben werde. Dass ich mir mein Herz nie wieder brechen lasse. Weder von John noch von sonst wem.
„Und morgen früh, morgen früh werde ich mir Waffeln machen. Einen ganzen Berg davon“, flüstere ich beinahe trotzig in die Leere meines Zimmers, ganz so, als müsste ich mir selbst beweisen, dass es morgen früh schon besser wird.
Das Waffeleisen ist noch in der Aufheizphase, als Noah in die Küche kommt und ich dabei bin, Erdbeeren zu schneiden. Die Menge an Früchten in meiner Schale ist dabei kleiner als das Häufchen Abfall, das sich daneben auftürmt. Ein kläglicher Ertrag, der noch nicht einmal für eine einzige Portion Waffeln á la Oma reichen wird. Dabei sind die Früchte dabei das Wichtigste.
„Eine recht deprimierende Ausbeute“, stellt mein Mitbewohner fest, als er zur Kaffeemaschine schlendert.
„Morgen, Noah.“
„Hm.“ Mehr bekomme ich nicht. Nur ein Hm. Hinter mir knackt die Kaffeemaschine, die ich erst vor fünf Minuten ausgemacht habe. Der Vollautomat brummt und beginnt mit dem Spülvorgang. „Trinkst du auch Kaffee?“, fragt er dann, bevor er die Hängeschränke aufreißt, auf der Suche nach einer Tasse.
„Hab schon zwei intus.“ Ich deute auf den rechten Schrank neben der Spüle. „Sieh mal da nach.“
Noah, der sich bei meinen Worten umdreht, bleibt wie festgewurzelt stehen. Wahrscheinlich fallen ihm meine schwarzen Lippen auf, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls erwische ich ihn dabei, wie er ein Grinsen unterdrückt.
In seinem weißen Shirt und der schwarzen Trainingshose macht er nicht einmal den Versuch so auszusehen, als hätte er normale Ausmaße. Er ist ein echter Turm, der sich auch noch etwas darauf einbildet.
Trotzdem deute ich ein letztes Mal in Richtung unseres Tassenverstecks. „Linke Tür.“
Ich habe beschlossen, Noah Bersier eine zweite Chance für einen ersten Eindruck zu geben. Ob er die nutzen kann, ist bisher allerdings noch offen. Diesmal reagiert er immerhin auf meinen Hinweis und wird fündig, weshalb ich mich wieder in Richtung Schneidebrettchen wende. Vielleicht wusste er das mit meinem Spitznamen wirklich nicht und ist kein kompletter Idiot.
Keine fünf Sekunden später beginnt der Vollautomat auch schon seinen Mahlvorgang und in der Küche breitet sich der Duft von Kaffee aus.
Normalerweise würde ich ihn bitten, auch noch einen für mich zu machen. Doch irgendetwas hält mich davon ab, während ich mich der nächsten angematschten Frucht zuwende.
Dass Noah kaum zwei Meter von mir entfernt steht, ist mir sehr bewusst. Gleich wird irgendjemand etwas sagen müssen, wenn er sich dazu entschließt, in der Küche zu bleiben, und mir ist so gar nicht nach reden. Eigentlich.
Ich linse hoch, als das Lärmen der Kaffeemaschine verklingt und er an mir vorbei zum Kühlschrank geht. Man kann die Muskeln seines breiten Kreuzes erahnen, als er die Tür öffnet, doch er nimmt nichts heraus. Stattdessen schließt er ihn wieder mit einem tiefen Seufzen.
„Keine Milch, hm?“
„Doch. Hier.“ Ich halte den Karton hoch, den ich wegen der Teigzubereitung neben mir gebunkert habe.
„Kann ich mir einen Schluck nehmen?“
Ich sehe ihm hoch ins Gesicht. Aus unerfindlichen Gründen sieht er mindestens so zerknautscht aus, wie ich mich fühle. Richtig übernächtigt.
„Wenn du sie leer machst, kaufst du eine neue Packung.“
Seine Finger finden sein unordentliches Haar, ehe er misstrauisch nach dem Karton greift und ihn schüttelt.
„Da ist ja sogar noch was drin.“
„Klar.“ Ich zucke mit den Schultern. Hat er wirklich geglaubt, ich würde ihm eine leere Packung anbieten? So bin ich nicht.
Noah schraubt die Packung auf und für einen Moment erwische ich mich dabei, wie ich ihn dabei mustere. Eigentlich weiß ich so rein gar nichts über den Typen in meiner Küche, der mit nackten Füßen auf den Fliesen steht, außer dass sein Haar die Farbe von schwarzem, frisch gebrühtem Kaffee hat und er genau die Art von Gesicht hat, das mich von Anfang an dazu verleitet hat, eine Packung Ohrenstöpsel einzukaufen, kaum dass klar war, dass er unser Nachbar sein würde.
Noah gießt großzügig Milch ein. So viel, dass man kaum mehr von Kaffee sprechen kann. Eher von Milch mit Kaffeegeschmack. Ich verziehe das Gesicht.
„Was ist?“
„Nichts. Hätte dich nur nicht für einen Mit-Milch-Trinker gehalten.“
Noahs Grinsen ist schief. „Autsch. Sag bloß, du bist eine dieser militanten Schwarztrinkerinnen, für die wir eine andere Gattung Mensch sind.“
„Ich mag meinen Kaffee einfach ohne irgendwas.“
„Ja, schätze alles andere würde sich auch nicht mit deinem Lippenstift vertragen.“ Er nimmt einen großen Schluck seines Gebräus.
„Ich trag ihn nicht wegen meiner Kaffeesorte.“
Noah zuckt mit den Schultern. „Was machst du heute noch, außer Martha Stewart zu geben?“
„Nicht viel. Du?“ Ich weiche seinem Blick aus. Die ehrliche Antwort ist, dass ich heute nichts tun wollte. Also nicht viel, außer mich in meinem Leid zu suhlen, Waffeln zu essen und heute Abend eventuell mit Lou und Beth zu telefonieren.
„Ich werde meine Mutter besuchen.“ Noah klingt alles andere als begeistert, als er das sagt, nimmt noch einen großen Schluck Kaffee und schüttelt dann den Kopf. Er sieht so ernst aus, als hätte er mir soeben verkündet, dass er nachher versuchen wird, eine Kernfusion durchzuführen.
„Kommt ihr nicht klar miteinander?“
Noahs Blick findet meine Lippen, während sich sein Gesichtsausdruck glättet. „Doch.“
„Aber?“, spreche ich die Frage laut aus, die praktisch nur darauf wartet, gestellt zu werden. So sieht man nicht aus, wenn man einen netten Familienplausch erwartet.
„Es ist schwer, sie zu sehen.“ Er räuspert sich. „Sie ist nicht mehr meine Mum, aber manchmal sieht sie noch ein bisschen so aus.“
Ich spüre das Messer in meiner Hand innehalten. Was erzählt er denn da?
„Geht’s deiner Mum nicht gut?“
„Tut mir leid. Ich …normalerweise red ich gar nicht erst über diesen Scheiß.“ Er schüttelt den Kopf.
„Du siehst nicht so aus, als hättest du viel geschlafen.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du unter der ganzen Kriegsbemalung auch nicht besser aussiehst“, antwortet er mir trocken, aber nicht fies genug, um dieses ungute Gefühl aus meiner Magengegend zu vertreiben. Vielleicht springe ich deshalb über meinen Schatten. Vielleicht aber auch nur, weil er und ich jetzt Mitbewohner sind und er ohnehin früher oder später den Grund meines Kummers erfahren wird.
„Mein Exfreund heiratet. Marcus hat mir gestern die Hochzeitseinladung vorbeigebracht. Das ist der Grund für meine Laune.“
Das Lämpchen des Waffeleisens springt auf Grün und ich nehme die Ausrede dankbar an, um ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Ich bin nicht bereit, über Adam zu diskutieren, wenngleich ein gewisser Teil in mir am liebsten seinen ganzen Kummer in die Welt hinausschreien würde. Also kümmere ich mich um den Teig, ein wenig enttäuscht darüber, dass ich ihn mit dem Kundtun meines schlimmen Geheimnisses nicht dazu gebracht habe, mir auch seins zu verraten. Irgendwie war ich mir sicher, dass Noah den Mund aufmachen würde, wenn ich nur auch etwas von mir preisgeben würde.
In seinen Augen liegt ein harter Glanz und ich weiß, dass es schlimm ist, noch bevor er den Mund aufmacht.
„Meine Mutter hat Alzheimer“, sagt er irgendwann. Er steht vollkommen regungslos da und ich wünschte, ich hätte bloß nicht gefragt. Meiner Kehle entweicht ein unglücklicher Seufzer. Manche Geheimnisse bleiben besser verborgen.
„Bis auf Brooks und Drew weiß keiner davon. Wäre schön, wenn es so bleibt. Ich hasse dieses mitleidige Getue.“
„Klar.“ Ich rühre ein paar Mal meinen Teig um, ohne mich wirklich darum zu kümmern. „Ist sie … ich meine … man Noah.“ Ich schlucke. „Das ist übel.“
„Ja“, stimmt er mir trüb zu. „Sie ist nicht mehr sie selbst. Und das mit Mitte vierzig.“
„Das ist früh.“
„Gendefekt.“ Noah zuckt mit den Schultern, als ich aufsehe. „Der Krankheit kann man seit ein paar Jahren im Zeitraffer zusehen.“
„Willst du auch ein paar Waffeln?“, biete ich ihm ohnmächtig ob dieser Neuigkeiten an.
„Nein, danke. Deine paar Krümel Erdbeeren darfst du alleine essen.“
„Von denen habe ich nicht gesprochen, oder?“
Er reibt sich über die Stirn. „Streng genommen wohl nicht.“ Ich muss lächeln bei seinem lakonischen Gesichtsausdruck, den er dabei macht.
„Dann sind wir uns da ja einig. Denn für die hättest du wirklich noch etwas draufsetzen müssen“, versuche ich mich an einem schlechten Scherz.
Noah schenkt mir ein bitteres Lächeln. „Du meinst so was wie: es steht fifty-fifty, dass sie dieses fatale Gen an mich weitervererbt hat?“
Ich stocke. Für einen Moment weiß ich nicht, was ich darauf sagen soll, außer Tut mir so leid! Aber das will er sicher nicht hören. „So was in der Art, ja“, schlucke ich deshalb meinen Schock hinunter. „Ist das denn wirklich so?“
„Ich lüge nicht.“
Ich beiße mir auf die Lippe. „Schöner Mist.“
„Ja.“ Er reibt sich übers Ohrläppchen. „Trotzdem kannst du deine Erdbeeren behalten. Bin allergisch dagegen.“
„Kann man das irgendwie herausfinden? Ich meine, ob du …“
„Ja. Aber eher würde ich mich erschießen, ehe ich mir meine Zukunft vorhersagen lasse.“
Mir ist richtig schlecht. Noah Bersier war bis gestern Abend noch ein dämlicher Playboy, dessen Frauenbekanntschaften meinen Schlaf empfindlich gestört haben. Jetzt wünsche ich mir beinahe für ihn, dass Frauen alles wären, was ihn umtreibt. „Tut mir leid.“
„Ist nicht deine Schuld.“ Er nimmt einen weiteren Schluck Kaffee.
„Nein, das nicht, aber …
„Du ruinierst dir noch deinen Lippenstift, wenn du weiter auf deine Unterlippe beißt.“
„Ich habe dich für einen ziemlich oberflächlichen Arsch gehalten, weißt du das?“, teile ich ihm mit. Seine Mum verschwindet langsam und er wird es vielleicht auch tun. Allein beim Gedanken daran läuft es mir eiskalt den Rücken runter.
„Wenn es dich tröstet, kann ich dir verraten, dass ich total oberflächlich bin.“
„Hm.“ Ich kippe den ersten Löffel Teig ins Eisen, obwohl ich gar keinen Hunger mehr habe. Ich glaube Noah kein Wort, aber zumindest hilft der Vanilleduft der Waffeln gegen den schlimmsten Rauchgestank. Also lasse ich den Deckel des gusseisernen Geräts zufallen und bemühe mich so zu tun, als sei Frühstück mein einziger Gedanke.
Noah lehnt sich unterdessen gegen die Küchenzeile. „Sorry für Drews Quarzen gestern. Im Wohnzimmer riecht es immer noch ein bisschen danach.“
„Schon gut. Beth raucht hier auch ab und an.“
„Ja, das sagte sie.“
Ich versuche meine Ruhelosigkeit vor ihm zu verbergen. „Rauchst du denn?“ Ich kann es kaum erwarten, endlich von dem furchtbaren Thema wegzukommen, über das wir so unachtsam gefallen sind.
„Ich bin Sportler.“
„Das hat noch keinen aufgehalten.“
„Mich schon. Ich mag mein Lungenvolumen.“
„Du spielst Tennis, oder?“
„Tennis, Volleyball, Polo. Gib mir einen Ball und ich bin glücklich.“
Ich drehe mich zu ihm um. Wenn er noch irgendetwas vom Fechten, Reiten oder Golf erzählt hätte, könnte man einen dicken Haken hinter sämtliche Vorurteile machen, die man hat, wenn man an die Hobbys der Oberschicht denkt. Trotzdem bin ich nicht versucht, ihm wegen seiner Zugehörigkeit zur Silberlöffelfraktion eins auszuwischen. Er hat sein Päckchen zu tragen und ich meines.
„Ich kann nichts davon“, gestehe ich ihm. „Bisher fühle ich mich aber auch nicht so, als hätte ich dadurch etwas versäumt.“ Ich fische die nächste Waffel vom Eisen und befülle es wieder. „Kannst du mir mal einen zweiten Teller von dort aus dem Schrank geben?“
Noah muss die Hand gerade mal ein bisschen über Schulterhöhe heben, um meiner Bitte nachzukommen und mir das schwarze Geschirr zu reichen.
„Danke.“
Er nimmt seine Tasse wieder in die Hand und überkreuzt die Füße. „Für wie viele Personen ist dieses Mahl eigentlich ausgerichtet?“
„Jetzt zwei.“
„Ich mag keinen Süßkram.“
„Dann hättest du den Mund halten müssen.“ Ich stelle das Porzellan neben mich.
„Charlie.“ Mein Name klingt auf seinen Lippen wie ein Fluch und ich muss zugeben, dass ich nichts dagegen habe, wenn er mich so nennt, und in genau diesem Tonfall.
„Probier einfach.“
„Ich …“
„So süß sind die nicht. Du wirst sehen“, widerspreche ich ihm und backe die nächste in der Form goldbraun aus.
Noah schüttelt den Kopf, als ich ihm nach zwei weiteren Runden den vollen Teller reiche. „Deine Nägel sind ja auch schwarz.“
„Sind sie und wenn ich könnte, hätte ich heute am liebsten noch mehr von mir in Schwarz getaucht.“ Ich ziehe das Waffeleisen aus der Steckdose, ehe ich mir eine Gabel aus der Schublade fische und die Sprühsahne aus dem Kühlschrank nehme.
Mein neuer Mitbewohner runzelt die Stirn, als ich mit meiner Ausrüstung zurück zur Kücheninsel komme. Offensichtlich hat der gute Noah keine Ahnung vom wahren Leben, aber das soll nicht mein Problem sein. Stattdessen baue ich konzentriert meinen Turm aus Erdbeeren und Sprühsahne und dekoriere ihn mit einem letzten Häubchen aus Erdbeeren und Sahne, ehe ich mich auf die Kücheninsel setze und mir den letzten Rest aus der Flasche direkt in den Mund sprühe.
„Meinst du das ernst?“, hakt Noah nach. „Du trägst vierunddreißig und stopfst das in dich rein?“
„Sechsunddreißig und jepp, die Gilmores sind nichts gegen mich. Außerdem bin ich gestern fast einen Halbmarathon gelaufen.“ Es ist erstaunlich, wie einfach es heute Morgen ist, mit Noah zu reden. Einfach nur, weil er mich nicht mehr ständig Yardley nennt. Ich kämpfe die fluffigen Waffeln mit der Gabel nieder. Sie sind köstlich. Ein bisschen künstlich und viel zu lecker.
Noah hat seinen Teller noch immer nicht angerührt, weshalb ich mahnend in seine Richtung deute. „Du solltest sie essen, solange sie noch warm sind.“
Er schüttelt den Kopf, wenngleich er genau das tut, was ich ihm geheißen habe. Er reißt ein Stück ab und schiebt es sich in den Mund, kaut und spült den Bissen mit Kaffee herunter.
„Hm", macht er nur.
„Hm ja oder hm nein?“ Ich kratze mich am Knöchel, an dem ich mir gestern eine Druckstelle gelaufen habe.
„Süß.“ Noah bläst die Backen auf, während sein Blick über mich gleitet und schließlich in meinem Gesicht hängen bleibt. Sein schiefes Lächeln verschwindet, als er mir in die Augen sieht. „Sie sind nicht schlecht.“
Es tut beinahe weh, ihn bei diesen Worten anzusehen, viel zu ernst sagt er sie, also wende ich hastig den Blick ab. Noah ist so viel tiefer, als ich dachte und ich bin noch nicht dazu bereit, mich dieser Tatsache zu stellen. „Wir haben auch noch irgendwo eine Anti-Tabakkerze, nur falls es nachher immer noch schlecht riechen sollte.“
„Ein Hoch auf die Chemiker.“ Seine Hand wandert erneut zu meinem Backwerk und ich grinse. Omas Waffeln haben schon härtere Hunde klein bekommen.
„Was?“, hakt Noah nach.
„Nichts.“ Ich lächele in mich hinein und nehme noch einen Bissen. Vielleicht wird diese neue WG-Gemeinschaft nicht halb so schrecklich, wie ich angenommen hatte.
Bevor Noah die Bombe mit der Krankheit seiner Mutter platzen ließ, hatte ich einen nahezu perfekten Plan, um über die Neuigkeiten von Adams bevorstehender Hochzeit hinwegzukommen. Waffeln, ein bisschen im Elend suhlen bei Netflix und später eine kleine Shoppingtour, um auf andere Gedanken zu kommen. Jetzt hänge ich vor dem Laptop und google >Alzheimer<, genetische Dispositionen und Krankheitsanzeichen. Es ist leider genau so, wie ich befürchtet habe. Noah hat jedes Recht dazu, sich ins Hier und Jetzt zu stürzen.
Ich rücke näher an den Bildschirm, während ich die Suchmaschine dafür verfluche, dass sie mir „Ähnliche Fragen“ wie die meine auflistet und beantwortet.
Noah, der kaum, dass er den Teller geleert hatte, damit begonnen hat, sich fertig zu machen, dreht im Bad das Wasser auf. Während ich gerade dabei bin, mich durch die schrecklichsten Fragen zu klicken, die so in meinem Kopf herumspuken. Nur leider kann ich sie nicht meinem Mitbewohner stellen, weil sie total sensationsgeil klingen. Dabei ist es gar nicht so, dass ich mich am Leid seiner Mutter und seinem eigenen weiden will.
Ich brauche nur ein bisschen mehr Informationen, wenn ich je wieder etwas anderes in seiner Nähe tun will, als bedröppelt zu nicken und ihm ungelenk Waffeln anzubieten. Um die Situation besser beurteilen zu können, brauche ich ein gewisses Hintergrundwissen. Also klicke ich mich durchs Netz, auf der Suche nach hilfreichen Grundkenntnissen zu Noahs Aussichten und dem Schicksal seiner Mutter.
Mein Cursor findet gerade die nächste vielversprechende Überschrift, als mein Telefon zu klingeln beginnt. Wenngleich ich kein gesteigertes Interesse an einem Telefongespräch habe, rutsche ich vom Bett und gehe zu meinem Schreibtisch hinüber, wo ich mein iPhone abgelegt habe. Auf dem Display erkenne ich Marcus Name.
„Morgen Kitt. Ich dachte, ich melde mich mal nach der Hiobsbotschaft von gestern“, werde ich von ihm begrüßt.
„Hey, Marcus.“
„Wie geht’s dir?“
„Gut“, behaupte ich, obwohl ich dieses Gespräch am liebsten schon jetzt beenden würde. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich mit meinem Mimimi auseinanderzusetzen. Zuerst muss ich Noahs Informationen verarbeiten, bevor ich mich selbst sortieren kann.
„Charlie, sei ehrlich.“
Ich fasse mir an den Kopf, während ich im Hintergrund die untrüglichen Verkehrsgeräusche an einem Regentag ausmache. Ich linse zum Fenster. Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass es zu regnen begonnen hat.
„Wenn du es genau wissen willst. Ich habe mir gerade in etwa so knapp viertausend Kalorien in Sahne- und Waffelform zugeführt“, springe ich über meinen Schatten, obwohl alles in mir danach ruft, das Thema Adam nicht anzurühren. „Bist du auf dem Weg zur Arbeit?“
„Nein. Mum braucht ein neues Auto und ich habe mich breit schlagen lassen, sie heute zu ein paar Händlern zu begleiten. Hab mir extra frei genommen. Jetzt bin ich auf dem Weg, sie abzuholen.“ Ich lausche dem Rauschen des Regens und dem regelmäßigen Säuseln seiner Scheibenwischer. „Weißt du, ich hatte mir überlegt, dir die Einladung nicht zu geben.“
Ich umfasse mein Telefon unwillkürlich etwas fester. „Du hast das Richtige getan.“
Als ich das sage, presse ich die Zähne aufeinander. „Es… Es ist ja nicht so, dass ich immer noch in ihn verliebt bin“, lüge ich. „Es ist nur … es ist nur, dass ich an ihm hänge wegen all dem, was war.“
Es ist die Untertreibung des Jahrhunderts, aber die Wahrheit werde ich Marcus nicht zumuten. Heute Morgen möchte ich sie noch nicht einmal selbst wahrhaben.
„Sicher.“ Er glaubt mir kein Wort. Ich höre es in seiner Stimme, bevor er für den K.O.-Schlag ausholt. „Du bist nicht in der Verfassung für Gespräche, oder?“
Mir entweicht ein stilles Seufzen. Mal wieder liegt er goldrichtig, aber ich bin zu stur, um einfach ja zu sagen. „Ich komme klar.“
„Ja.“ Mir entgeht sein Widerwille in diesem Wort nicht, aber er sagt nichts. Er hält für eine ziemlich lange Weile den Mund und ich auch. Irgendjemand drückt in seiner Nähe auf die Hupe. „Was hältst du davon, wenn wir dieses Wochenende mal wieder was zusammen machen? Muss ja kein Sport sein, aber vielleicht mal was zusammen essen gehen?“
Wenn es kein Angebot zum an-seiner-Schulter-Ausweinen wäre, dann würde ich ja sagen. Er schuldet mir nichts wegen Adam. Und wenn er etwas mit mir machen will, weil er es vermisst, Zeit mit mir zu verbringen, dann haben wir auch noch einundfünfzig andere Wochenenden im Jahr Zeit dafür. „Ich bin bereits fürs Wochenende verplant.“
„Muss ja nicht lange sein.“
„Ich hab `ne Art Date am Samstag. Und Sonntag bin ich bei Rhyce und Mum zum Essen eingeladen.“
„Bist du sauer auf mich?“
„Nein.“ Ich schlucke. „Ich bin einfach nur beschäftigt.“
„Okay.“
„Wirklich. Es hat nichts mit dir zu tun“, schwindele ich und hoffe, dass er mich nicht weiter löchern wird oder dass er mir meine Weigerung, ihn zu sehen, krumm nimmt.
„Dann frag ich Rhyce einfach, ob ich Sonntag auch vorbeikommen kann. Ich hatte schon seit Jahren kein Familienessen mehr mit euch.“
Am liebsten würde ich laut protestieren, aber das kann ich nicht und das weiß er genau.
„Fein“, knirsche ich deshalb.
„Oder wir machen was vor deinem Date, Samstag. Mit wem triffst du dich überhaupt?“, will Marcus wissen. Dass er mir nicht abnimmt, dass ich wirklich eine Verabredung habe, schwingt praktisch zwischen jedem seiner Worte mit. Aber das habe ich. Und bevor ich gestern Nacht von Marcus diese blöde Einladung erhalten habe, war ich auch noch voll des Glücks deswegen.
„Sein Name ist John. Er hat ein nettes Lächeln und schreibt gerade an seiner Dissertation.“
Ich höre Marcus Schnauben. „Wie alt ist der Typ? Vierzig?“
„Er sieht nicht aus wie vierzig. Eher so Mitte zwanzig.“
„Du weißt also noch nicht einmal, wie alt er ist?“
Ich muss, ob der Anklage in seiner Stimme, lachen. „Entschuldige, dass wir beim >ich-lächele-und-er-lächelt-zurück< Spielchen keinen Steckbrief ausgefüllt haben.“
„Du hast also wirklich ein Date.“ Aus unerfindlichen Gründen scheint ihm das noch weniger zuzusagen, als die Aussicht, dass ich ihn einfach nur auf Abstand halten will. „Du solltest aber wirklich eher mal mit Jungs in deinem Alter ausgehen“, fügt er an.
„Marcus!“
„Tut mir leid. Dein Bier“, wehrt er ab. „Ist ja eigentlich schön, wenn du einen neuen Schwarm hast“, brummt er.
„Ich glaub dir kein Wort.“
„Dein gutes Recht.“ Im Hintergrund springt No Church In The Wild an, offenbar erfordert unser Gespräch nicht mehr Marcus ganze Aufmerksamkeit. „Also Sonntag?“
„Meinetwegen.“
Marcus seufzt tief. „Bist du sicher, dass du nicht sauer bist?“
Klar bin ich ein wenig sauer, widerspreche ich ihm im Stillen. Du hast mich in dem Augenblick verlassen, als Adam und ich nicht mehr ein Paar waren. Dabei hätte ich meinen großen Bruder damals gebraucht. „Es ist alles bestens, wirklich.“
Marcus bleibt still. Stattdessen höre ich Kanye West dabei zu, wie er Fahrt aufnimmt.
„Dass Drew gestern hier war, kann dir nicht gepasst haben.“
„Das hat nun nichts mit den Neuigkeiten zu tun, die du mir überbracht hast.“
„Ich versuche nur auszuloten, was meine kleine Schwester zurzeit bewegt.“
„Drew bewegt mich schon lange nicht mehr.“
„Hm“, macht Marcus.
„Ist so. Ich bin praktisch immun gegen seine Sticheleien.“
„Und dieser Noah ist okay?“
„Ich kenn’ ihn noch nicht so wirklich. Bis gestern fand ich ihn noch furchtbar, aber ich hatte einige Vorurteile, weil er mit Andrew und Daniel befreundet ist. Jetzt haben wir ein paar Sachen geklärt und ich denke, wir werden klarkommen."
„Er ist ein ganz schöner Aufreißer, nach dem, was man hört.“
„Ist er“, bestätige ich Marcus. „Aber das ist schon okay. Von mir aus kann er so viele Frauen haben, wie er will.“
Das Schlimme ist, dass ich es ernst meine, als ich das sage. Wenn Noah aus den Vollen schöpfen will, ist das okay. Ich gönne es ihm sogar. Trotzdem flüstere ich, weil ich nicht will, dass er mitbekommt, dass wir über ihn reden.
„Ich hätte drauf wetten können, dass du den Typen verachtest.“
„Ich verachte ziemlich wenige Menschen.“
„Oh, Kitt.“
„Ist so.“ Ich zucke mit den Schultern. Es ist die schlichte Wahrheit. Bis auf Daniel und seine Freunde hatte ich nie Probleme mit irgendwem und folglich auch keine sonderlich lange Liste an Leuten, die ich zum Teufel wünschen möchte.
„Noah hat seine Gründe dafür, warum er so tickt, wie er’s tut. Ich habe meine.“ In der Luft liegt noch immer der Duft von Vanille, als ich das sage.
„Mir war nicht klar, dass es sich bei euch um Seelenverwandte handelt“, neckt mich Marcus.
„Tja, nun, mir auch nicht, aber danke für den Hinweis.“ Ich lasse mich zurück aufs Bett sinken. Auf dem Bildschirm prangt noch immer der letzte Artikel, den ich aufgerufen habe. Alzheimer: Anzeichen, Ursachen und Therapiemöglichkeiten. Nur dass es eben keine Heilung gibt. Wenn Marcus nur wüsste, weshalb ich gewillt bin, Noah Narrenfreiheit zu gewähren, wüsste er, dass es keinen Grund gibt, mich zu necken.
„Charlie, ich bin schon fast da. Wir sehen uns beim Essen, ja?“
„Alles klar.“
„Mach’s gut“, würgt mich Marcus ab.
Mit diesem schnellen Ende unserer Konversation habe ich nun nicht gerechnet. Deshalb brauche ich ein wenig, ehe ich mein Smartphone neben mir auf die Matratze sinken lasse und mich wieder meinem vorigen Tun widme.
Es ist ein wenig komisch, bereits mit Marcus und Noah über mein Gefühlsleben gesprochen zu haben, noch bevor ich die Chance hatte, alles kleinschrittig mit Lou und Beth durchzugehen. Und meine Retail Therapy hatte ich auch noch nicht.
Es klopft an der Tür und ein wenig überfordert davon, klappe ich panisch meinen Laptop zu. Wahrscheinlich fühlt man sich so, wenn man beim Porno gucken erwischt wird. Nur dass es in meinem Fall eben eine Krankheit ist. „Ja?“
Noah trägt eine graue Hose zu derben Schuhen und einen Sweater mit Sägezahnmuster in verschiedenen Abstufungen von sandfarben bis karamell. Jeder Zoll an dem knapp eins-neunzig Kerl ist perfekt gestylt. Keinerlei Anzeichen für was auch immer ich gerade google.
„Ich geh danach mit Brooks zum Trainieren und dann auf `ne Party. Denk ich komm erst morgen wieder.“
„Viel Spaß.“
„Du kommst damit klar, oder?“
Ich linse in Richtung meines PCs. Er kann nicht gesehen haben, was auf meinem Computer zu finden ist. Immerhin steht er zu ihm abgewandt. „Mit was jetzt genau?“, hake ich deshalb nach.
„Deinem Ex.“
„Ah, ja, ja klar.“ Ich schüttele den Kopf. „Natürlich komme ich damit klar.“
Noah runzelt die Stirn. Vielleicht hätte ich nicht so enthusiastisch klingen sollen, aber jetzt ist es ohnehin zu spät. „Wir sehen uns morgen.“
Noahs Augenbrauen sehen nicht überzeugt aus, allerdings zuckt er mit den Schultern. „Was hältst du davon, wenn wir vorher mal noch Nummern austauschen?“
Irgendwie habe ich das blöde Gefühl, dass er das nur vorschlägt, weil ich mich gerade so blöd bei seiner Nachfrage angestellt habe.
„Wenn du drauf bestehst.“ Ich stehe auf und nehme mein Telefon mit, um ihn nicht dazu zu verleiten, weiter in mein Zimmer zu kommen und das Alzheimer auf meinen Bildschirm tapeziert vorzufinden.
In vorauseilendem Gehorsam öffne ich deshalb auch meine Kontakte und tippe seinen Namen ein, ehe ich ihm mein iPhone reiche. „Bitte schön.“
Er tippt die Nummer ein und mir fällt auf, dass ein roter Faden am Saum seines Pullis hängt.
Trotzdem sage ich nichts, als er mir mein Telefon zurückgibt. Stattdessen klingele ich ihn an und stelle fest, dass er nach Rasierschaum und einem würzigen Deo riecht, das mich an Wald und Leder erinnert. Ein guter Duft. Vielleicht ein wenig zu herb nach all der Vanille. Aber es passt irgendwie zu ihm. Er ist ein dunkler Wald.
Noah zieht sein schwarzes Smartphone aus seiner Hosentasche, als es zu lärmen beginnt und ich beende den Anruf.
„Zu Brooks Party kommen nachher eine Menge Leute. Wenn dir nachher, wider Erwarten, doch die Decke auf den Kopf fallen sollte, dann gib Bescheid, ja?“
„Ich kenne den doch gar nicht.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du ihn hier schon das ein oder andere Mal gesehen hast. Wir hängen eigentlich ständig zusammen ab. Netter Typ. So groß, dunkle Haare, guter Style.“ Noah macht eine Handbewegung zu seiner Stirn. Offenbar ist sein Kumpel ein paar Zentimeter kleiner als er, aber mit der Beschreibung ist ansonsten überhaupt nichts anzufangen. „Jedenfalls die Einladung steht.“
„Danke. Ich denke, ich verzichte. Ich habe morgen ein Date, für das ich nicht total übernächtigt aussehen will, aber du kannst mir ja später einfach mal die Adresse schicken.“
Schon zum zweiten Mal fühlt sich mein Date mit John wie eine billige Ausrede an, als ich nun in Noahs Gesicht gucke. Dass dieser Kerl, der mich fast um zwei Köpfe überragt, irgendwann einmal verschwinden könnte, kann ich mir nicht vorstellen und will es auch nicht.
Mich durchläuft ein leichtes Unwohlsein bei dem Gedanken. „Wir sehen uns, Noah.“
„Müssen wir wohl.“ Er schiebt sein Telefon zurück in die Jeans und grinst noch ein bisschen breiter. „Man gewöhnt sich übrigens an das Schwarz.“
„Depp.“ Ich strecke ihm die Zunge raus, erleichtert darüber, dass er mir eine Möglichkeit bietet, Abstand zwischen uns zu bringen. „Mach dich einfach vom Acker.“
Er sieht so selbstzufrieden mit meiner Reaktion aus, dass ich ihm nicht böse sein kann. Trotzdem werfe ich schwungvoll die Tür ins Schloss. Ich habe Dinge zu recherchieren und zu netflixen.
Mit Blick aus dem Fenster verwerfe ich die Idee einer Einkaufstherapie, ebenso wie jeden anderen Grund, heute nochmal die Wohnung zu verlassen. Was für ein Sauwetter.
Das Problem ist nur, dass ich nicht zur Stubenhockerin geboren bin. Gegen halb neun habe ich Hummeln im Hintern, weil ich den ganzen Tag vertrödelt und niemanden habe, mit dem ich sie freilassen kann. Die meisten meiner Freunde sind noch irgendwo um den Erdball verteilt, angefangen bei Beth und Lou, die beide so weit von mir entfernt sind, dass die eine noch mitten in einer Zeitzone steckt, in der noch gearbeitet wird, und die andere bereits tief und fest schlafen dürfte.
Ich schaue in meine Nachrichten und studiere die Adresse, die mein Mitbewohner mir vorhin geschickt hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass Andrew Searson sich auf dieser Party herumdrückt, dürfte recht hoch sein. Aber eigentlich stimmt es auch, was ich Marcus vorhin vorgebetet habe. Mit Drew kann ich umgehen.
Ich blase unglücklich die Luft aus. Die letzten beiden Tage fühlen sich wie eine einzige Achterbahnfahrt an.
Inzwischen habe ich in den letzten Stunden alles gelesen, was man zum Thema Demenz und Alzheimer online lesen kann. Klüger bin ich dadurch nicht wirklich geworden. Nur dass sich mein erster Gedanke verfestigt hat, dass Noah jedes Recht hat, so weit über die Strenge zu schlagen, wie er will. Es ist besser, als grimmig abzuwarten und Antidepressiva schlucken.
Glücklich machende Tabletten zu geben scheint überhaupt die einzige Möglichkeit der Ärzte zu sein, um Leute mit einer autosomal dominant vererbten Alzheimer-Krankheit zu behandeln.
Ich schließe die Nachricht, die mir mein neuer Mitbewohner hinterlassen hat. Eigentlich sollte ich endlich aufhören, mir Sorgen über das Übermorgen von anderen zu machen. Schließlich habe ich meine eigenen Baustellen und ich sollte mich bewegen, wenn ich nicht weiterhin will, dass mein Leben nur im Rückspiegel stattfindet.
Also wandere ich ins Bad, wische mir meinen schwarzen Lippenstift ab und kämme mir meine Haare aus dem Gesicht. Die goldenen Sprenkel in meinen Augen empfand ich früher immer als das hübscheste Merkmal an mir. Aber egal, wie sehr ich früher auch meine Augenpartie betont habe, keiner hat mir je gesagt, dass sie etwas Besonderes wären. Dann hat Adam angefangen über meine Augenbrauenbogen zu lästern und seitdem habe ich mich nie wieder sonderlich für meine Augen interessiert. Für den Schwung meiner Brauen ja, aber nicht mehr so sehr für den genauen Braunton meiner Iriden. Komisch, wie sich manchmal der Fokus verschiebt, nur weil so viele Erinnerungen daran hängen.
Jetzt bin ich allerdings ernsthaft am überlegen, ob meine graue Seidenbluse oder ein schlichtes schwarzes Schlauchkleid mehr Wirkung im Betonen meiner Augen erzielt. Ich sehe teuer aus in dem einen Outfit. Und wie eine echte Partymaus in dem anderen.
Ich beiße mir auf die Lippen. Vielleicht sollte ich die Armanibluse morgen tragen. Die und den weißen Bleistiftrock mit dem hohen Schlitz. Heute Abend sollte ich aber wohl ein bisschen weniger zugeknöpft herumlaufen. Immerhin ist es eine Party. Ich mustere meinen noch immer perfekt sitzenden Lidstrich und denke zum ersten Mal nicht mehr an Nike, sobald ich meine Augenpartie betrachte. Stattdessen tusche ich meine Wimpern noch ein paar Mal, bis sie richtig unecht wirken, weil sie so lang sind. Dann nehme ich meinen Lippenstift und tupfe ein bisschen was von dem schimmernden Pastellton auf meinen Mund.
Die Farbe meiner Nägel passt nicht mehr zu meinem weichen Mund, aber irgendwie mag ich den Kontrast. Also lasse ich es so, bevor ich in mein Kleid steige und mich nach einigem Hin und Her doch für eine Strumpfhose darunter entscheide und für ein weiteres Paar High Heels, das nur darauf wartet, dass ich ihren Absatz ruiniere. Gestern bin ich ein paar Meilen zu viel ins Bite gerannt, heute muss ich mich eben mit einer englischen Partygesellschaft herumschlagen.
Das Leben könnte grausamer sein und vielleicht wird es langsam Zeit, endlich wieder daran teilzuhaben.
Ich studiere die Adresse von Noahs Freund noch im Taxi, erstaunt über mich selbst, dass ich mich freiwillig in Drews Hoheitsgebiet begebe und das nur, weil mein neuer Mitbewohner sich als einigermaßen nett entpuppt hat. Entweder ist das total verrückt oder es liegt insgeheim daran, dass ich hoffe, heute würde sich ebenfalls herausstellen, dass Drew auch kein absoluter Mistkerl ist. Immerhin sind wir praktisch miteinander aufgewachsen. Sich zu wünschen, dass er mich nicht absolut ätzend findet, ist wahrscheinlich irgendwie natürlich. Wenn ich ehrlich bin, ist er über die Jahre so was wie ein dritter angeheirateter Bruder geworden. Zwar der fieseste von ihnen, aber ohne Zweifel gehört er zu unserer Patchwork-Familie.
Ich rutsche tiefer in den Fond des Wagens, während ich Noah darüber informiere, dass ich auf dem Weg zu ihnen bin. Mitten ins Herz der reichsten Stadtteile Londons, wenn nicht vielleicht dem teuersten Stückchen der englischen Metropole. Mulberry Walk. Eine Straße, die mehr über den Inhalt des Kontos aussagt, als eine schwarze AmEx es je könnte. Doch obwohl der Weg ins beinahe künstlich wirkende Chelsea von unserer Wohnung nicht weit ist, werde ich mich wohl nie daran gewöhnen, dass manche Leute mit Leichtigkeit achtstellige Beträge für Häuser ausgeben.
Noahs Antwort kommt prompt.
Super! Brooks freut sich schon darauf, dich kennenzulernen. Allerdings müssen wir umswitchen. Sein Onkel ist doch schon wieder zu Hause, deshalb müssen wir die Party in Brooks WG ausrichten! Chancery Lane 125.
Mir entkommt ein tiefes, vielleicht zu erleichtertes Seufzen, ehe ich den Fahrer über die Planänderung informiere und dann Spotify öffne.
Brooks wohnt über einem Restaurant mit dem klangvollen Namen Gaucho, dessen schwarz gewandete Fassade im krassen Gegenteil zum restlichen Haus steht. Die Hauswand ist in weichem Rosa gehalten und reich mit Stuck verziert. Dadurch hebt sie sich von dem ansonsten klassischen Straßenbild faszinierend klar ab.
„Wenn das nicht unsere Yardley ist. Sag bloß, Noah hat dich eingeladen“, ertönt es, während ich noch dabei bin, mich auf etwaige Aufeinandertreffen dieser Art zu wappnen.
„Wüsste nicht, was dich das angeht.“
Der beste Freund meines Bruders hat eine Kippe in der Hand und eine Wodkaflasche in der inneren Jackentasche. Er mustert mich langsam. Genauso, dass ich mir sicher sein kann, dass ihm jede Kalorie zu viel auffällt, die heute Morgen in mich gewandert ist.
Trotzdem sehe ich davon ab, meine Jacke enger um mich zu schlingen. „Keine Freundin dabei heute?“, wehre ich mich stattdessen gegen seine stille Begutachtung.
Er nimmt einen Zug von seinem Glimmstängel. „Hast du vor, dir Bersier zu angeln oder wie kann ich dein Auftauchen hier verstehen?“
Ich balle meine Hände. Natürlich muss ich in seinem Verständnis hinter jemandem her sein, nur weil ich Noahs Einladung folge. „Du kannst es so verstehen, wie du willst, Drew.“
„Er ist nicht deine Kragenweite, Yardley.“
„Vorsicht, wenn du mir weiter so viele wertvolle Tipps gibst, dann werd’ ich noch glauben, dass du dich um mich sorgst.“
„Ich denke, da besteht keine Gefahr.“ Andrew legt den Kopf schief und nebelt mich weiter ein. „Du kümmerst dich nicht um uns und wir scheren uns nicht um dich.“
Es ist ein Schlag, den ich nicht habe komme sehen. Drew deutet Gemeinheiten meist nur an. Er spricht sie nicht direkt aus.
„Danke für die Erinnerung.“
„Immer wieder gern.“ Mit seiner geraden Nase und dem fiesen Gesichtsausdruck, der durch seine schmalen Lippen noch eindrücklicher erscheint, zementiert er einmal mehr das Standing, das ich in seinen Augen genieße. Für eine Millisekunde würde ich ihn gerne fragen, warum er mich immer so drangsalieren muss.
Ich schüttele den deprimierenden Gedanken ab und bewege mich dann in Richtung Eingang. Es war bescheuert zu hoffen, dass Drew sich plötzlich in einen netten Menschen verwandeln würde. In jemanden, der sich kümmert.
„Warte wenigstens bis ich fertig bin, Yardley.“
Ich drehe mich zu ihm um, nur kurz. Drew mustert mich noch immer wie der Bösewicht aus einem alten Schwarzweißfilm. Nur die Flasche in seiner Lederjacke passt nicht recht ins Bild. Sie macht ihn eher zu einem kleinen Southwalk Gangster, der sich ins falsche Viertel verirrt hat. Aber den kleinen Seitenhieb verkneife ich mir. Stattdessen wende ich mich wieder der Konsole neben der Tür zu. Das Klingelschild mit Arun+ Brooks+ Song finde ich auf den zweiten Blick. Dann läute ich.
Der Summer ertönt, ohne dass jemand sich meldet, und ich höre Drew hinter mir fluchen.
„Verdammt nochmal, Yardley. Halt wenigstens kurz die Tür auf!“
Notgedrungen bleibe ich auf der Schwelle stehen, doch Drew beeilt sich nicht damit fertig zu werden. Es ist ein gemeines, kleines Machtspiel und eigentlich dürfte ich es ihm nicht durchgehen lassen. Ich tue es aber. Volle zwei Züge lässt er vergehen, ehe er die Zigarette austritt und an mir vorbei nach drinnen schreitet. „Was hattet Marcus und du eigentlich gestern zu besprechen?“, will er dann urplötzlich wissen, kaum dass wir nebeneinander vor dem Aufzug stehen.
„Weißt du in welches Stockwerk wir müssen?“, übergehe ich seine Frage, als die Kabinentür aufgleitet und wir eintreten.
„Trainiert ihr wieder zusammen?“ Drew rammt seinen Finger gegen die Konsole mit der Aufschrift „DREI“.
„Nein“, sage ich ehrlich. „Es ging um etwas anderes“, gestehe ich, als wir gemeinsam nach oben rumpeln.
„Er sah wütend aus, als er wieder ins Wohnzimmer kam.“
„Bin mir ziemlich sicher, dass es nicht an mir lag. Wahrscheinlich war er nur von deinem Gequarze genervt.“ Die Türen öffnen sich. Bereits im Flur stehen die ersten Gäste.
„Marcus zieht ab und an selbst gern eine durch.“
„Dann kann ich dir nicht weiterhelfen.“ Ich trete durch die offene Wohnungstür zu meiner Linken und muss feststellen, dass ich von den Anwesenden keine Menschenseele kenne, während Drew bereits vor dem Wohnzimmer von zwei Mädchen abgefangen wird.
In der Luft liegt der schwere Duft von Gras, während Musik aus den Boxen aus einem der Zimmer dröhnt. Jemand raucht E-Zigarette auf dem Bett, während ich mich weiter in Richtung Küche vorwage, wo ich die Alkoholquelle vermute.
Ich liege richtig und zum Glück gibt es nicht nur Wodka und andere harte Sachen, sondern auch was von dem billigen Cider, der einem zwar die Kehle zuklebt, dem man das aber für den Schnäppchenpreis von zwei Pfund pro drei Liter gern verzeiht. Ich kippe mir etwas von der Red Berry Variante in einen der bereitgestellten Pappbecher.
„Wie ich sehe, hast du immer noch nicht genug Zucker intus.“
Noahs trockener Kommentar lässt mich erstaunt innehalten. Ich muss mich umdrehen, weil ich so erleichtert bin, ein freundliches Gesicht zu sehen. Er ist seinen Sweater losgeworden. Stattdessen trägt er ein weißes Hemd unter einer dunklen Lederjacke und wirkt weltgewandt und lässig. In der Hand hält er ein Pint Bier.
„Ich kann den Zucker weiß Gott brauchen, nachdem ich schon wieder in Drew gerannt bin.“ Ich verdrehe gespielt entnervt die Augen. „Sieht übrigens nicht so aus, als hätte es eurer Party geschadet, dass sie umziehen musste.“
„Man tut, was man kann.“ Noah deutet hinter sich. „Brooks, die anderen und ich sind auf der Dachterrasse, wenn du dich zu uns gesellen willst.“ Er nimmt einen Schluck von seinem Bier und mir fällt nicht zum ersten Mal auf, dass Noah einfach eine Nummer größer als die anderen Jungs ist.
Doch nun, da wir alleine an der Kücheninsel stehen, durchzuckt mich noch ein ganz anderer Gedanke. „Wie war’s vorhin bei deiner Mutter?“
„Deprimierend“, brummt er und zuckt mit den Schultern, ehe er mir ein nicht minder deprimiertes Lächeln zeigt. „Was soll ich schon dazu sagen, Charlie?“
„Ja.“ Ich schütte ein bisschen Cider neben den Becher, als ich mich nochmal dazu entschließe, ein wenig mehr einzuschenken. „Danke jedenfalls für die Einladung.“
„Kein Ding.“ Noah greift nach dem Spültuch, als wäre es das Normalste der Welt und wischt meine Spuren fort.
„Danke.“
„Ich würde ja sagen, nicht der Rede wert, das mach ich gern, aber das wäre gelogen. Brooks indischer Mitbewohner killt uns, wenn er morgen heimkommt und die Küche klebt.“
„Gut zu wissen.“
„Ansonsten ist Lokesh echt unkompliziert. Nur bei seiner Küche versteht er keinen Spaß.“ Noah grinst, ehe er den Kühlschrank öffnet und uns zwei Dosen Kilkenny herausnimmt. „Kommst du mit?“
„Warum nicht.“
Ich folge ihm nach draußen, wo eine ganze Partygruppe gelbe Notizzettel auf der Stirn kleben hat und bei Noahs Näherkommen ein paar verzückte Ausrufe von „Yeah, Nachschub!“ ausstößt.
„Charlie. Darf ich dir Harry Brooks vorstellen? Und das sind Kim, Viola und Anne, Jo und Henderson“, arbeitet Noah die Reihe ab.
Ich nicke Brooks zu, auf dessen Stirn in breiten Lettern „Jillian Anderson“ steht und dessen Hautton beinahe derselbe ist wie der des Kilkenny vor sich.
„Ah, die legendäre Charlotte Hardley.“ Brooks dunkle Augen fixieren mich fest, bevor er aufsteht und mir die Hand reicht. „Wird Zeit, dass wir uns endlich kennenlernen.“
Ich sehe zu Noah. Ich bin legendär?
„Was genau hat Noah über mich erzählt?“
„Der nichts.“ Brooks bedeutet mir, mich zu setzten. „Aber ich weiß auch so, dass du Daniels kleine Ziehschwester bist. Eine Schwester, über die man gar nichts weiß. Ein weißes Kaninchen mitten in London.“
„Über dich weiß ich auch nichts“, stelle ich fest und frage mich unwillkürlich, ob es an dem Zettel auf seiner Stirn liegt, dass ich lächeln muss, oder an dem spitzbübischen Funkeln in seinem Blick.
„Das sollten wir ändern.“ Brooks deutet auf seine Stirn. „Und jetzt sag mir bitte, ob ich hübsch bin. Noah ist gegangen, nachdem er nur dämlich vor sich hin gegrinst hat und Jo kennt mich nicht mal!“
Ich räuspere mich. „Du bist hübsch.“
Brooks nimmt einen weiteren Schluck Bier und lässt dann seinen Fokus zum Nächsten wandern. „Bin ich über fünfzig?“
Er fixiert den Typen, den Noah gerade eben als Henderson vorgestellt hat. „Man Alter, das weiß ich nicht!“
„Keine Ahnung, Harry!“ Eines der Mädchen, das neben ihm sitzt, gibt ein Kichern von sich, welches ein wenig in den Ohren schmerzt.
„Bist du“, unterbricht Noah sie und lässt sich Brooks gegenüber auf die Bierbank sinken.
„Okay.“ Brooks nimmt einen weiteren Schluck. Offenbar spielen sie das Spiel hier mit verkehrten Regeln. „Bin ich die Queen?“
„Definitiv nicht“, kichert es neben ihm und ich muss einen großen Schluck von meinem Cider nehmen, um ihr Lachen zu ertragen.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeder weiß, dass die Queen weit über neunzig ist, du Ratekönig“, schüttelt Noah den Kopf.
„Sie ist aus Frankreich. Was weiß ich, was Viola weiß und was nicht?“
„Du bist furchtbar, Harry Brooks!“ Das Mädchen mit dem anstrengenden Kicherlachen knufft ihn in die Seite. Dann macht sie weiter mit ihren Rateversuchen.
Sie muss zwei Mal trinken, bevor ihre französische Freundin an der Reihe ist und ein paar grammatikalisch falsche Fragen stellt, die von keinem der Anwesenden korrigiert werden. Wahrscheinlich weil sie ausgesprochen schön ist. So richtig supermodelmäßig schön. Nicht nur hübsch. Und ich glaube, sie findet Noah auch nicht gerade hässlich. Zumindest wandert ihr Blick immer wieder zu ihm, als sie auf eine Antwort wartet und ich spüre mein Selbstbewusstsein mit jeder weiteren Sekunde ein wenig schmelzen. Die Art von lockerem Flirten, die habe ich nicht drauf und auch nie gelernt.
Also halte ich mich an meinem Cider fest und nehme ein paar Schlucke. Schon jetzt kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ich heute Nacht einer weiteren Episode von Noah Bersiers Sexgeschichten beiwohnen werde. Nur jetzt muss ich ihm die wohl leider großmütig verzeihen.
„Also, Charlie. Sei ehrlich. Warum hat Dan dich die letzten Jahre versteckt gehalten?“, hakt Brooks plötzlich nach. „Daniel hält normalerweise nicht hinterm Berg, wenn er Grund zum Angeben hat.“
„Wir haben einfach einen ganz unterschiedlichen Freundeskreis.“ Ich zucke mit den Schultern und stoße dabei mit dem Ellbogen aus Versehen gegen Noah. „Keine Überschneidungen.“
„Na ja, Andrew kennst du auch“, brummt mein Mitbewohner.
Leider, würde ich am liebsten sagen, aber ich verkneife es mir. Stattdessen reibe ich mir über den Arm und werfe Noahs heutigem Flirt einen gedankenverlorenen Blick zu. Drew hätte sicherlich auch Interesse an ihr.
„Mensch, ich hätte darauf wetten können, dass du irgendetwas Gemeines über mich zu sagen weißt, Yardley.“
Wenn man vom Teufel spricht. Andrew Searson hat seine Freunde gefunden und damit leider auch mich.
Am liebsten würde ich aufspringen und gehen. Andrew kann so ein gottverfluchter Arsch sein.
„Wieso musst du Charlie eigentlich immer so komisch von der Seite anmachen? Das hast du gestern schon. Und jetzt wieder.“ Es ist Noah, der das sagt. Und ich verkrampfe mich unwillkürlich bei seiner Verteidigung.
Drews Augenbraue wandert nach oben. „Keine Sorge, Noah. Sie weiß schon, wie sie das zu verstehen hat.“
Nein, will ich am liebsten sagen. Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Du ärgerst mich seit Jahren ohne Grund. Aber stattdessen sage ich einfach „Ja.“
„Jedenfalls hörst du auf, sie Yardley zu nennen.“ Noah mustert seinen Kumpel ernst. „Wir sind nicht im Kindergarten.“
Noah strahlt eine ungeheure Hitze neben mir ab, als er das sagt. Aber vielleicht ist das auch nur mein Magen, der sich ein Loch durch die Sitzbank unter mir brennt. Das hat Noah gerade nicht wirklich gesagt.
„Misch dich da nicht ein, Noah. Das meine ich ernst.“
„Du bist einer meiner besten Freunde und sie ist meine Mitbewohnerin“, murmelt Noah ernst. „Außerdem ist Charlie die Schwester deines besten Freundes.“
„Das ist sie verdammt nochmal nicht“, presst Drew raus. „War sie nie und wird sie nie sein. Das hat sie schon immer bombenklar gestellt. Sie braucht uns nicht und Daniel und ich können verdammt nochmal auch gut auf sie verzichten.“
„Wow“, bremst Brooks ihn aus. „Drew, komm runter, Alter.“
Drew funkelt mich von oben herab an, ganz so, als erwarte er, dass ich den Mund aufmache. Aber das kann ich nicht. Es ist wahr, was er sagt. Ich habe gesagt, dass ich Daniel nicht brauche. Dass ich niemanden brauche. Ich habe es gefühlt eine Million Mal gebrüllt, als Mum mir das erste Mal eröffnet hat, dass sie wieder heiraten wird. Dass ich einen neuen Vater bekommen würde. Einen neuen Bruder. Brüder. Aber damals war ich elf und krank vor Heimweh nach meinem alten Zuhause. Ich habe das nie so gemeint.
Mein Mund ist ganz trocken.
„Ich war elf, Drew.“
„Daran hat sich nie etwas geändert und das wissen wir beide. Für dich gab’s immer nur Marcus. Der war irgendwie genehm.“
„Was ist denn die Problem?“ Die schöne Französin sieht uns perplex an.
„Andrew ist ein nachtragender Idiot“, bequemt sich Noah zu der nonchalanten Aussage und reibt sich übers Ohr.
„Ja“, sagt er bitter. „Vielleicht bin ich das.“ Damit geht Andrew Searson davon und zum ersten Mal fühle ich mich so, als müsste ich ihm hinterhergehen.
Es ist ganz still am Tisch, als ich auf die Füße komme, doch er ist längst verschwunden. Also lasse ich mich zurück an Ort und Stelle sinken. Mein geheimer Wunsch, dass Andrew Searson mich nicht komplett ätzend findet, hat sich nicht erfüllt. Doch immerhin kann ich jetzt mit Bestimmtheit sagen, dass es immerhin einen Grund dafür gibt, warum er mich nicht leiden kann. Dass er es mir gerne schwer macht, weil ich es ihm damals auch schwer gemacht habe.
Der Cider klebt widerlich, als ich den Rest hinunterstürze, doch ich stehe trotzdem auf, um mir noch etwas davon zu nehmen. Mehr Alkohol ist heute Abend definitiv eine Lösung.
Zwischen Cider-Nachschub holen und schlechten Date-Geschichten sind Noah und die Französin irgendwann verschwunden. Das fällt mir aber erst auf, als das Kichermädchen anfängt, von ihrem furchtbaren Exfreund zu erzählen und ich Noah fragen will, ob er auch noch etwas trinken möchte. Ich finde, Gespräche über Exfreunde sollten auf Partys verboten werden. Leicht betrunken fremden Leuten das Herz auszuschütten ist viel zu einfach. Vor allem, wenn schon jemand damit angefangen hat und man ohnehin schon im Männer-sind-Mistkerle-Modus ist und eine Hochzeitseinladung zu Hause wartet.
Trotzdem bleibe ich mit meinem noch vollen Getränk sitzen und beschränke mich darauf, ab und an zustimmend zu seufzen. Noahs Freunde sind zu nett, um einfach aufzustehen und zu gehen.
„Ich war mir so sicher, dass er mich seinen Eltern vorstellen würde, aber er sagte nur, dass sie sehr konservativ sind und dass sie genaue Vorstellungen für ihn haben. Das sei wirklich nichts gegen mich, wenn er zu mir sagen würde … dass wir nur inoffiziell ein Paar sein könnten.“ Das Kichermädchen schluchzt auf und ich wünschte, ich könnte mich einfach auflösen.
„Er ist so ein feiger Arsch. Nur weil er Angst davor hat, was Mummy und Daddy von dir halten. Das ist doch wirklich das Letzte“, ereifert sich ihre Freundin, die ein bisschen Ähnlichkeit mit Beth hat. Vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil die mir das auch ständig gepredigt hat.
„Ich weiß doch selbst, dass ich total anstrengend bin und dass meine Stimme ganz vielen zu schrill ist“, weint das Kichermädchen und ich fühle mich ehrlich schlecht dafür, dass ich sie genau deshalb auch schon abgestempelt habe. Sie kann ja nichts für ihre Stimme.
„Er ist eine Flachzange. War er schon immer und wird er auch immer sein.“ Brooks mustert sie mit einem milden Lächeln. „Es gibt keine zweite Josephine Tartan. Wenn er nicht weiß, was er an dir hatte, dann Pech für ihn. Nicht Pech für dich.“
„Genau, Jo“, pflichtet ihm ihre Freundin bei. Jo weint noch immer in ihren Wein. Ihre Freundin tätschelt ihre Schulter.
„Ich weiß, aber ich liebe ihn halt immer noch! Und ich bin so kurz davor, ihn anzurufen …“
Ich wollte nicht über Adam reden. Ich kann nicht über ihn reden und nun jammert jemand anderes über seine kaputte Beziehung und ich fühle mich, als ob sie mir aus der Seele sprechen würde.
Jo zieht die Nase hoch. „Ich meine, er hat ja recht. Ich bin so ein Trampel. Ständig kichere ich und bin viel zu laut, während immer alle total huldvoll die Klappe halten.“
„Jo, nur weil du Pfeffer im Hintern hast, musst du dich nicht schlecht fühlen. Du bist der Kracher auf jeder Party.“ Brooks sieht sie ernst an. „Ich meine, was ich sagen wollte, ist, Champagner vergleicht sich doch auch nicht mit einem abgestandenen Weißwein und sagt dann, Mensch wäre ich doch nur ein bisschen langweiliger geworden.“
„Ich mag überhaupt keinen Champagner“, macht Jo Brooks zweiten Versuch zunichte, sie aufzumuntern.
„Das macht nichts. Außer dir liebt den praktisch jeder“, springt ihm ihre Nebensitzerin bei.
„Ich brauch noch was zu trinken“, murmelt Brooks, als die beiden sich in die Arme nehmen. „Charlie, du auch?“
„Ähm … nein danke. Ich hab’ noch“, gebe ich bedröppelt zur Antwort. „Aber wenn du mir zeigen könntest, wo ich das Badezimmer finde, wäre das super.“
„Klar.“ Brooks lächelt mir entgegen, als ich mich beeile, auf die Füße zu kommen. Scheinbar bin ich nicht die Einzige, der das Gesprächsthema unangenehm ist.
Brooks ist bei weitem nicht so groß wie Noah. Er hat fast normale Ausmaße, wie ich feststelle, als ich hinter ihm ins Wohnzimmer trete.
„Das war nett, was du über Jo gesagt hast.“
„Ich denke nicht, dass es ankam. Jo hört nur, was sie hören will. Und im Augenblick ist das Mimimi.“ Er zuckt mit den Schultern. „Toilette ist die zweite Tür links.“
„Danke.“
Ich bin schon fast durchs Wohnzimmer und im Bad, als Noah aus einem der Zimmer fällt, aus dem vorhin noch die viel zu laute Musik dröhnte. Der Kragen seines weißen Hemdes steht offen und auch sonst gibt es wenig Zweifel daran, was er soeben getan hat. Er schiebt die Tür hinter sich ins Schloss, als er mich entdeckt.
Wenn er nackt wäre, dann wäre es nicht weniger offensichtlich, was er getrieben hat. Ich kann die Ausläufer seiner Narbe erkennen. Doch sein Haar sitzt perfekt, ebenso wie seine Unschuldsmine. „Charlie.“
„Noah.“ Ich kann nichts dazu. Mein Blick wandert ganz automatisch zur Tür hinter ihm. Ist sie noch da drin? Oder ist sie schon vom Ort des Geschehens geflohen?
„Alles klar?“, hakt er nach.
„Ich bin auf dem Weg zur Toilette.“
„Das Bad ist noch eine Tür weiter. Aber da kotzt sich jemand die Seele aus dem Leib. Oder hat es zumindest noch vor zehn Minuten.“
Zehn Minuten, wiederholt mein Kopf fasziniert. Soso.
Noah neigt den Kopf. „Wie betrunken bist du?“
„Nicht sehr.“ Ich zucke mit den Schultern. „Jo redet da draußen von ihrem Exfreund. Und ich will nicht über meinen reden oder nachdenken. Also steh ich hier. Das Bad ist eigentlich nur eine Ausrede.“
Noah bedenkt mich mit einem Lächeln. „Drew ist schon los, nur falls du dich fragst, wo der abgeblieben ist.“
„Hab ich nicht, ehrlich gesagt.“
„Er ist wütend auf mich.“
„Das wundert mich nicht im Geringsten.“
Noah reibt sich über den Hals. Die Uhr an seinem Handgelenk zeigt halb vier, als seine Hand auf seinem Trapezmuskel zum Liegen kommt. „Ja. Mann, ich glaube, ich habe mir was gezerrt“, sagt er dann.
„Gerade?“, entweicht es mir perplex.
„Nein. Nicht gerade.“ Noahs Blick ist eisig. „Beim Sport, Charlie.“
„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Ich nicke in Richtung Zimmer. „Und nur fürs Protokoll. Wenn du jemals in meinem Zimmer Sex haben solltest, dann sind wir geschiedene Leute.“
Noah gibt mir keine ironische Erwiderung auf meine Ansage. Stattdessen grinst er nur ein feines, schiefes Lächeln. „Gut zu wissen.“
„Hat sich die Sportverletzung wenigstens gelohnt?“ Es ist lange her, seit ich Spaß daran hatte, jemanden zu necken und zu wissen, dass er den Witz auch versteht.
„Naja. Ich hab’ den Ball noch bekommen“, erwidert er trocken.
„Ich habe nichts anderes von dir erwartet.“
„Ich auch nicht.“ Er lächelt und ich erwidere es. Noah ist auf eine angenehme Art arrogant. Selbstsicher, nennt man es glaube ich. „Willst du noch etwas trinken?“
„Ich habe draußen noch Cider auf dem Tisch.“
„Charlie, sag mir bitte, dass dir jemand beigebracht hat, auf Partys nichts zu trinken, das du nicht im Auge hattest.“
„Der Cider steht bei deinen Freunden.“
„Brooks rennt hier durchs Wohnzimmer.“
„Du weißt schon. Beim Rest.“
„Mh“, macht Noah nicht überzeugt. „Ich denke, du solltest dir trotzdem was Neues holen.“
„Ach, ich sollte ohnehin demnächst nach Hause“, wehre ich seinen Vorschlag ab. „Halb vier, oder?“
Noahs Blick wandert zu seiner Uhr. „Ja. Ist doch aber noch recht früh.“
Es ist spät, will ich ihm widersprechen, doch ich lasse es sein. Mit Briten die korrekte Länge einer Partynacht zu diskutieren ist schwachsinnig. „Ich ruf mir ein Uber. Währenddessen kannst du mir noch einen Drink ausgeben.“ Nur für den Fall, dass er nicht mehr zählen kann, halte ich meinen Daumen nach oben.
Noah grinst. „Okay, Miss Hardley. Ein Drink. Dann darfst du nach Hause.“
„Sehr freundlich.“
Ich zuckele neben ihm ins Wohnzimmer und stelle fest, dass er ein wenig ungelenk seine Schulter bewegt. Vielleicht hat er sich doch etwas beim Sport getan.
Ich muss einem großen Typen ausweichen, der nicht mehr ganz nüchtern ist und sich schlangenlinienförmig auf uns zu bewegt. Deshalb dauert es etwas, ehe ich kapiere, dass die Frage „Gin Tonic?“ an mich gerichtet war.
„Warum nicht.“ Brooks hat keinerlei Botanicals herumstehen und das Eis in der Spüle hat auch schon einmal bessere Tage gesehen. Trotzdem ist der Gin Tonic, den Noah mir schließlich reicht, der beste, den ich je getrunken habe. Allerdings habe ich auch keine große Expertise auf dem Gebiet.
„Also. Wie lautet dein Urteil?“
„Welches Urteil?“
„Das Mitbewohnerurteil.“
„Ach, das.“ Ich nehme noch einen Schluck, der so viel besser ist, als der billige Cider. Es ist sicher ein wenig unhöflich, nicht auf ihn mit dem Trinken zu warten, während er noch mit dem Kredenzen beschäftigt ist, aber leider ist sein Werk zu delikat. Die Bitterkeit des Tonic Water vertreibt den klebrigen Geschmack in meinem Mund. „Die ersten zwei Tage sah’s wirklich nicht gut für dich aus. Heute war okay.“
„Fand ich auch.“ Noah schüttet bei sich wesentlich mehr Tonic Water ins Glas als bei mir. „Allerdings musst du mir mal bitte verraten, wie’s kommt, dass du schwarzen Lippenstift besitzt. Du siehst nämlich überhaupt nicht so aus, als würdest du aus dieser Szene kommen.“
„Dieser Szene?“ Ich drehe mich zu ihm. „Was genau verstehst du unter dieser Szene?“
„Du weißt schon. Wie jemand, der seine dunkle Seite betonen will.“
„Wenn du wirklich genau wissen willst, woher der Lippenstift kommt, kann ich dir das sagen. Von einem kleinen Stand auf dem Camden Lock Market und gekauft habe ich ihn mir, weil wir mal vom Clay aus Kinderschminken an einem Tag der offenen Tür angeboten haben.“ Ich atme tief durch. Außer Noah ist niemand in der Nähe, der mich gerade hören kann. „Mit genau dem Lippenstift musste Adam mir damals die Augenbrauen nachziehen, weil unsere schwarze Theaterschminke leer war. Es war der hässlichste Schmetterling der Welt, den er mir damals in mein Gesicht gemalt hat, aber so hat alles angefangen. “
Karma is a bitch, hat er damals vor sich hin gegrummelt, während ich grinsend vor ihm auf dem Stuhl gehockt habe. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht mehr, warum ich mir damals in den Kopf gesetzt hatte, Adam als Kundin am Stand heimzusuchen. Wahrscheinlich, weil er mich mal wieder wegen meiner Brauen aufgezogen hatte. Vielleicht aber auch nur, weil mein Magen ganz schlimm in seiner Gegenwart gekribbelt hat.
„Normalerweise bin ich nicht so furchtbar sentimental.“ Ich nehme noch einen Schluck. Es ist einfach, mit ihm zu reden. Zu einfach. Deshalb ertränke ich all meine weiteren Worte in Gin Tonic. „Der ist echt gut.“
„Was war eigentlich das Problem zwischen euch?“
„Hm?“
„Es ist offensichtlich, dass du ihn noch liebst. Also, was war das Problem? Weshalb …“
Ich sehe hoch zu meinem so ahnungslosen Mitbewohner mit dem magischen Gin Tonic. „Es war zu kompliziert. Wir hatten nie wirklich eine Chance und manchmal glaube ich, dass ich über ihn nie hinwegkommen werde. Was in Anbetracht der Umstände echt bescheiden ist.“
Noah begegnet meinem Blick und zum ersten Mal fällt mir auf, dass Noahs Augen von einem kräftigen, dunklen Grün durchzogen sind, das um die Pupillen herum in finsterstes Braun übergeht. Wir stoßen an.
Eine halbe Stunde später bin ich zu Hause und versuche meinen Karussell fahrenden Magen damit zu beruhigen, dass ich einen Fuß aus dem Bett hängen lasse. Noahs letzter Gin war der eine Drink zu viel. Trotzdem kann ich nicht recht sauer auf ihn sein. Er hat geschafft, was weder Lou noch Beth bisher vermocht haben. Ich habe über Adam geredet, ohne in Tränen auszubrechen und ich habe ihm sogar gestanden, dass ich nicht über Adam hinweg bin.
Es war ein fast gesundes Gespräch über meine alte Beziehung.
Der nächste Morgen bringt einen Ciderkater allererster Güte mit sich und ich bereue meine Getränkewahl des gestrigen Abends schon, noch bevor ich in die Senkrechte komme. Es ist übel. Zu übel, um ohne Paracetamol auf den Füßen zu bleiben. Also vermeide ich es bis kurz vor zwei nochmal aus dem Bett zu klettern. Dann setze ich mich erst einmal unter Wasser und danach inhaliere ich eine sehr große Tasse Kaffee. Gerade schnell genug, um Noah abzupassen, als der um kurz nach drei in die Küche schlendert. Anders als ich sieht er vollkommen akzeptabel aus. Ich wage sogar zu behaupten, dass er gut aussieht. Keine finsteren Augenringe. Noch nicht einmal Falten in den Klamotten.
„Wie kann es eigentlich sein, dass du frischer aussiehst als ich, wo du doch gerade erst nach Hause kommst?“, klage ich ihn an.
„Weniger Alkohol. Mehr Aufräumpflichten.“ Noah lässt die Schultern kreisen, bevor er nach einer Tasse angelt und sich einen Kaffee rauslässt. „Das nächste Mal teilen wir dich gerne auch ein.“
„Danke, nein.“
Er mustert mich schräg von der Seite. „Gehst du so zu deinem Date?“
„Ja. Hatte ich vor. Minus die Hausschuhe.“ Ich gehe zum Kühlschrank hinüber, um ihm die Milch zu reichen.
Noah legt den Kopf schief, als ich die Milchtüte aufschraube und ihm eingieße. Er guckt mich an, aber er sagt nichts. Etwas, das mich nicht gerade optimistisch stimmt. Irgendwas könnte er schon sagen. Ich meine, klar. Ich bin nicht so atemberaubend schön wie die Französin von gestern Abend, aber ich habe mir Mühe gegeben.
„Du wirkst älter“, sagt er ganz diplomatisch. Dabei hatte ich mir mit meinem weißen Bleistiftrock und der grauen Seidenbluse eine ganz andere Wirkung erhofft. Also nicht unbedingt bei Noah, aber ich hatte zumindest gehofft, den Leuten würde es auffallen, dass ich durchaus Überlegung in mein Outfit gesteckt habe.
Er tritt mit seinem Milchkaffee auf mich zu und ich frage mich, ob es vielleicht nur daran liegt, dass ich noch nicht die richtigen Schuhe trage. Die FlipFlops schreien nicht gerade sexy hexy.
„Sag mal, Charlie, wie groß bist du eigentlich?“
„Warum?“ Ich meine, mir ist schon klar, warum er mich das fragt. Jetzt so neben ihm reiche ich ihm noch nicht einmal bis zur Schulter. Genauer gesagt noch nicht einmal bis zur Achsel. Was irgendwie schon gruselig ist. „Eins sechzig.“
Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu gucken, das gestern auf meinen hohen Hacken wirklich ein Stück näher war.
„Verrückt“, brummt er und ich fühle mich ein ganz kleines bisschen gemobbt.
„Eigentlich nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sehr viel mehr Menschen in meiner Größe gibt als in deiner.“
„Die Behauptung kann ich jetzt weder bestätigen noch widerlegen.“
„Blöd für dich.“ Ich recke meine Nase ein bisschen weiter nach oben. „Wie groß bist du eigentlich?“
„Eins achtundneunzig.“
Mir entweicht ein verächtliches Schnauben. „Das ist abartig, mein Lieber. Und nichts anderes.“
„Ich hoffe für dein Date wirklich, dass er so ein laufender Meter ist, wie du es bist“, amüsiert sich Noah. „Ansonsten hat er wohl keine Chancen bei dir.“
„John kommt schon klar.“
„Holt er dich ab?“
„Nein. Wir treffen uns im Bite. Dort, wo wir uns kennengelernt haben. Was machst du denn heute noch?“
„Polo. Heute Abend muss ich noch in den Club mit meinem Vater und meiner Stiefmutter.“
„Wie britisch von dir.“ Ich klopfe ihm gegen die Brust, nur um mit einem bestürzten Blick hinter ihn auf die Uhr festzustellen, dass ich heillos zu spät kommen werde. „Versuch dich nicht wieder beim Sport kaputt zu machen.“
„Ich hab’ mir wirklich beim Sport was gezerrt.“
„Ja, ja“, wehre ich seine empörte Verteidigung ab. Als ob. „Sorry. Ich muss los!“
Hemingway wartet an unserem angestammten Platz und ein bisschen fühlt sich der Samstag an wie ein Donnerstag. Ich lächele und er lächelt zurück.
„Hey.“
„Hey Charlie.“ Er steht auf und ich muss feststellen, dass er noch immer die gleichen tollen Augen hat wie bei unserem letzten Treffen. Meerblau. „Du siehst aus, als hättest du noch etwas vor.“
„Nicht wirklich.“
Auf seinem Platz neben der Holzbar wirkt John so vertraut und doch vollkommen fremd. Er trägt ein weißes Shirt unter einem grauen Hemd und eine löchrige Jeans, die beide Knie zeigt. Eines davon ist bunt. „Du hast ja ein Tattoo.“
„Mehr als eines.“ John fährt sich durch sein widerspenstiges Haar. „Großflächig.“
„Liebst du die Nadel oder die Kunst dahinter?“, möchte ich von ihm wissen, als ich mich setze.
„Gute Frage. An manchen Tagen das eine, an manchen das andere“, gibt er relaxt zur Antwort. „Und du?“
„Ich habe Angst vor Nadeln.“ Ich schiebe eine Hand unter mein Kinn. „Das schließt Tattoos irgendwie aus, es sei denn, ich probiere mich mal an Henna, aber das ist nicht so ganz das Gleiche. Außerdem würde meine Mutter mich umbringen. Du siehst also, ich bin vollkommen langweilig.“
Er begegnet meinem Blick und viel mehr braucht es nicht, um ihn den Kopf schütteln zu lassen. „Eine schreckliche Spießerin.“
„In der Tat.“ Ich kann nicht wegsehen. Er ist wie ein Magnet, den man ansehen muss. „Ich kann auch wirklich nicht fassen, dass du mir nicht wenigstens einen Anstandswauwau mitgebracht hast“, lasse ich verlauten, weil sein Kommentar bezüglich meines Spießertums praktisch danach verlangt.
„Ich fürchte, dafür wärst du zuständig gewesen. Aber wenn du willst, kann ich meine Granny ans Telefon holen. Die kaut dir auch ungesehen ein Ohr ab.“
„Vor Bananenbrot und Kaffee lerne ich hier überhaupt niemanden kennen.“
„Man könnte beinahe meinen, du wärst Mitglied irgendeiner Sekte. Keine Tattoos und immer dieses Bananenbrot, von dem du da redest.“ Er schüttelt gespielt bestürzt den Kopf.
„Weißt du, das hättest du aber auch wissen können. Immerhin komme ich einmal wöchentlich hierher. Normale Menschen tun sowas nicht.“
„Nein. Tun sie nicht.“ John hält meinen Blick und ich habe das Gefühl, ein bisschen zu schmelzen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auf dieser Insel nicht viele erste Dates gibt, die besser gelaufen sind. John hat genau die richtige Mischung aus Sarkasmus und trockenem Witz. Ein Typ, wie man ihn nicht erfinden kann, und ich strahle Sanjay entgegen, als ich sehr viel später zu Hause durch die Tür falle. Wer hätte gedacht, dass ein einziger Nachmittag ausreichen würde, um mein auf Erbsengröße zusammengeschrumpeltes Kummerherz aufgeregt flattern zu lassen?
Klar bin ich immer noch unglücklich wegen Adam, aber gleichzeitig fühle ich mich auch beschwipst, weil John ein unglaublich toller Kerl ist. Noch nicht einmal Noahs Frauenbesuch lässt die kleine Blase platzen, in der ich in die Wohnung schwebe, oder die Aussicht, dass ich morgen mit Rhyce und Mum heile Familie spielen darf. Die Welt ist einfach okay und sie ist auch noch Sonntagmittag okay, als Marcus mich während des Joggens anruft, um zu fragen, ob er mich mit zum Essen nehmen soll.
Erst als wir im Foyer von Rhyces Haus ankommen und mir die durchdringende Duftnote von Tobacco Vanille des Hausherrn in die Nase steigt, werde ich wieder daran erinnert, dass mein Leben nicht so angegossen sitzt, wie ich es gerne hätte.
„Ich habe dich eine ganze Weile nicht gesehen, Charlotte. Gut siehst du aus.“
„Danke.“ Ich frage mich, warum ich mich in Rhyce Gegenwart eigentlich immer so ungelenk und falschabgebogen fühlen muss. Mum liebt ihn und ich glaube sogar, dass sie recht glücklich mit ihm geworden ist.
„Rhyce.“ Marcus schüttelt seinem ehemaligen Stiefvater freundschaftlich die Hand.
„Schön dich zu sehen, Junge.“ Rhyce klopft Marcus väterlich gegen die Schulter. „Wirklich schön, dich zu sehen.“
Dass Rhyce sich wesentlich mehr darüber freut, den Sohn seiner ersten Exfrau hier zu haben als meine Wenigkeit, ist überdeutlich, doch ich kann es ihm nicht verhehlen. Immerhin teilen die beiden ein paar Gesprächsthemen, wohingegen er und ich überhaupt keine haben. „Eigentlich dachte ich, nun da Daniel in Boston studiert, noch weniger von dir zu sehen.“
„Ach, ich dachte, zur Feier von Charlies Rückkehr kann ich ruhig mal eine Ausnahme machen.“ Marcus folgt unserem Gastgeber ins Esszimmer, wo Mum mit einem Hausmädchen dabei ist, den Tisch zu richten.
„Charlie!“, freut sie sich und kommt auf mich zu, um mich in eine feste Umarmung zu ziehen, wie sie es schon vor ein paar Tagen am Flughafen getan hat. „Wie hübsch du aussiehst. Oh, und Marcus. Meine Güte, bist du erwachsen geworden!“
„Man tut, was man kann“, lächelt mein Begleiter. „Ich hoffe, ich falle euch nicht zu sehr auf die Nerven.“
„Ach was, du störst doch nicht.“ Mum winkt ab. „Wollen wir einen Sekt? Oder einen anderen Drink? Ich weiß auch nicht, zwei von dreien mal wieder hier zu haben, fühlt sich nach einem Grund zum Feiern an.“
„Melinda. Marcus muss noch fahren“, tadelt Rhyce sie und erinnert mich einmal wieder daran, warum es hier immer so hölzern ist. Er ist eine ganz furchtbare Spaßbremse.
„Ich trink’ sehr gern einen mit dir, Mel. Charlie bestimmt auch.“ Marcus, der im Auto noch vollkommen vertieft in ein Gespräch mit seinem Arbeitskollegen war und nur ein kurzes „Hey“ in meine Richtung während seines sonntäglichen Verkaufsgespräch hervorgebracht hat, bedenkt meine Mutter mit einem warmen Lächeln.
Nach meinem gestrigen Kater habe ich eigentlich kein großes Bedürfnis nach Alkohol, doch Mum guckt so hoffnungsfroh, dass ich kaum nein sagen kann.
„Wunderbar! Ich hol’ Gläser und sag Java, sie kann den Braten noch warm stellen“, damit flattert Mum davon. „Geht doch schon mal in den Wintergarten!“
„Sekt“, murmelt Rhyce leise. „Sekt, vor dem Abendessen.“ Und ich gebe zu, dass ich ein kleines bisschen Spaß daran habe, meinen piekfeinen Stiefvater entsetzt zu sehen. In diesem Haushalt wurde wahrscheinlich noch nie Sekt getrunken. Champagner ja, aber keinen popeligen Sekt. Dabei ist Sekt so viel besser und ich liebe es, dass Mum hier klammheimlich eine Flasche in Rhyces heilige Hallen geschmuggelt hat.
„Wenn du noch breiter grinst, könnte man fast meinen, dass du gute Laune hast“, murmelt Marcus leise.
„Vielleicht habe ich das.“
Marcus wirft mir einen langen Blick zu, während wir die beachtliche Kameliensammlung meiner Mutter passieren. Der erdig-süße Geruch der bonbonfarbenen Kanjiroblüten mischt sich im Wintergarten mit dem Geruch von Bergamotte.
„Dein Date muss gut gewesen sein.“
„Es war nicht schlecht“, weiche ich ihm aus. Vor meinem Stiefvater möchte ich mein Date mit John nicht ausbreiten. Und die Sache mit Adam erst recht nicht. Stattdessen lasse ich mich auf die luftige Rattancouch sinken und kreuze artig die Füße vor den Knöcheln. „Wie war es Zuhause, Charlotte?“
„Schön. Oma lässt dich grüßen“, antworte ich höflich. Die Sache mit dem Smalltalk habe ich auch nach all der Zeit noch nicht gemeistert, weshalb ich hilfesuchend zu Marcus schaue. Ich kann Rhyce wohl kaum von der Einbruchserie erzählen oder davon, dass ich fast täglich Papas Grab besucht habe. Oder davon, dass ich meiner Cousine im Hundesalon ausgeholfen habe und drei Tage lang rosa Finger hatte, weil ich vergessen hatte, Handschuhe beim Färben von Mr. Mylo zu tragen.
„Ich habe Daniel schon aufgetragen, ihr mal einen Besuch abzustatten“, sagt Rhyce und ich sehe Marcus Wangenmuskel zucken. Daniel ist ebenso wenig für Yardley gemacht wie ich dafür, hier zwischen den Kamelien in zeitlosen Twinsets auszuharren.
„Vielleicht kann deine Granny ihn ja zu Thanksgiving einladen“, stellt Marcus fest, ohne das Gesicht zu verziehen.
„Eine schöne Idee“, stimmt Rhyce zu und ich frage mich nicht zum ersten Mal, ob er seinen Sohn auch nur ein winziges bisschen kennt. Der würde sich doch eher die Hand abhacken, als in Omas Esszimmer bei Truthahn und zu laut gestelltem Fernseher Thanksgiving zu feiern.
„Wie läuft es auf der Arbeit, Marcus?“, wechselt mein Stiefvater das Thema, während ich noch mit dem Gedanken kämpfe, dass Daniel mir im November in Yardley gegenübersitzen könnte.
„Ich habe ein neues Büro.“ Marcus öffnet sein Jackett. „Es ist viel zu tun. Von einem Abschwung merken wir bei uns nichts.“
„Gut zu hören.“ Rhyce lächelt ihn väterlich an. „Dein Vater muss stolz sein, dass sein Sohn sich so gut abseits des Familienunternehmens macht.“
„Ich denke, es hält sich in Grenzen.“ Marcus hat dabei ein so heiteres Gesicht, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass sein alter Herr und er keine großen Probleme miteinander haben. „Wie läuft es bei dir? Die Fusion mit Belsey kann dir nicht geschmeckt haben.“
„Reit da bitte nicht weiter drauf herum. Melinda musste meine schlechte Laune den ganzen Juni über ertragen.“
„Auf was darf Marcus herumreiten?“ Mum, die mit einem beladenen Tablett auftaucht, legt neugierig den Kopf schief.
„Der Fusion.“
„Oh, bitte.“ Mum gibt ein entnervtes Seufzen von sich. „Nicht schon wieder dieses Thema. Zeitweise dachte ich schon, er würde mit diesem grimmigen Gesichtsausdruck zur Salzsäule erstarren.“ Sie drückt mir und Marcus eine volle Sektflöte in die Hand und für einen Moment glaube ich, dass es gar kein so weiter Weg von Yardley bis in diesen gepflegten Londoner Vorort ist. „Verrat mir lieber, wie die ersten Tage mit deinem neuen Mitbewohner waren, Charlie.“
„Nett.“
„Wer ist dein neuer Mitbewohner, Charlotte?“, hakt mein Stiefvater nach, als Mum ihm den Sekt aufdrängt.
„Noah Bersier. Du kennst ihn wahrscheinlich, immerhin ist er auch ein Bekannter von Daniel.“
„Das hast du mir gar nicht gesagt, Melinda.“ Rhyce Augen werden schmal. „Ich habe seinen Vater erst diese Woche beim Mittagessen getroffen.“
„Ich wusste nicht, dass er ein Freund von Daniel ist.“ Mum nimmt ihr eigenes Glas in die Hand und mustert mich mit einem viel zu perplexen Ausdruck. Die Hoffnung, dass Daniel und ich uns jemals grün werden, hat sie schon vor langer Zeit begraben.
„Seinem Vater gehören ein paar ganz ausgezeichnete Häuser. Eigentlich sollte Noah ihm nachfolgen. Sofern ich mich erinnere, war er sogar für ein oder zwei Semester in Lausanne an einer Hotelfachschule. Dann hat er aber doch das Fach gewechselt. Naja, ich schätze, das ist kein Grund für Klagen. Immerhin hat sein Vater beste Kontakte und seine Stiefmutter ja ohnehin.“
„Haben die Bersiers nicht dieses zauberhafte Chalet in Davos? Du weißt schon, wo wir vor zwei Jahren über Neujahr waren.“
„Unter anderem. Seine Familie kommt ja aus Zürich.“ Rhyce guckt mich bei den Worten an, als erwarte er, dass ich gleich eine Epiphanie habe oder wie auch immer, das heißt, wenn man wegen einer Offenbarung vor Ehrfurcht im Boden versinken soll.
„Noah ist Schweizer?“
„Ja. Zumindest zur Hälfte.“ Mein Stiefvater hebt sein Glas an den Mund, ehe ihm wohl einfällt, dass wir noch gar keinen Toast ausgesprochen haben und er auch nichts von dem Getränk hält, das Mum ihm überreicht hat.
„Solange Noah zu Hause nicht in dieser ulkigen Uniform herumläuft, die die Schweizer Jungs im Vatikan tragen, ist mir recht gleich, wo er herkommt. Ich meine wie farbenblind kann man sein?“, kann ich es mir nicht verkneifen.
„Die Schweizer Garde ist eine Eliteeinheit“, belehrt mich Rhyce. „Und diese ulkigen Farben gehen auf die Familie der Medici zurück.“
„Nur weil die Uniform Tradition hat, ist sie nicht unbedingt schön. Auf was stoßen wir eigentlich an, Mum?“
„Na darauf, dass ihr hier seid. Zusammen. Das habe ich doch gesagt.“ Mum hält ihr Glas in die Höhe. „Wirklich schade, dass euer Bruder nicht hier ist!“
Wir heben die Sektflöten und ich wünschte, wie würden anstoßen, aber natürlich tun wir das nicht. Hier prostet man sich nur zu. Marcus tut es trotzdem. Ganz so, als hätte er meine Gedanken gelesen und ich starre ihn erstaunt an.
„Cheers, Kitt.“
„Cheers.“
Marcus ist gerade auf der Rückfahrt dabei, mich sehr dezent zu löchern, wie mein Date gestern lief, als mein Telefon anspringt. Es ist die Conciergenummer und ich gehe perplex ran. „Hallo?“
„Miss Hardley, Sanjay Navado am Apparat, Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ich wollte nur nachfragen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist? Ihre Nachbarin von oben meldete sich gerade bei mir. Sie würde sehr laute Geräusche aus ihrer Wohnung hören.“
„Geräusche? Was für Geräusche?“ Ich stelle mein Telefon auf laut, während mein Magen schmerzt.
„So, als würde was kaputtgeschlagen werden, sagt sie. Wir überlegen gerade, ob wir die Polizei rufen sollen.“
„Ist Noah denn zu Hause?“
„Ja, M’am.“
Ich linse zu Marcus hinüber. „Meine Schwester und ich sind in fünf Minuten da. Bis dahin rufen Sie bitte gar niemanden an.“
„Mr. Humberstone?“
„Fünf Minuten, Sanjay. Warten Sie einfach vor der Wohnung auf uns.“ Marcus drückt aufs Gas und ich kann die Männer, die gerade in ihren Kente-Gewändern und den Musikinstrumenten aus der Tube Station kommen, den Kopf schütteln sehen, als Marcus an ihnen vorbeibrettert.
„In Ordnung, Sir.“ Damit legt er auf und ich presse meine Knie zusammen. Es ist das erste Mal, dass ich wegen etwas dieser Art angerufen werde.
„Hast du Noahs Nummer?“ Marcus schaltet einen Gang höher. Er war schon immer gut darin, in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren, während ich einfach nur dahocke wie ein Kaninchen vor der Schlange, hinausgeworfen aus meiner schönen Komfortzone.
„Ja.“ Ich wische durch meine Kontaktliste und versuche, ruhig zu bleiben. Es klingelt, aber keiner geht ran. „Wahrscheinlich hat Noah einfach nur zu lauten Sex“, schlucke ich meine Unruhe hinunter.
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Y & A
Liebe ist nicht blind
und sie ist nicht unzerstörbar,
aber falsch ist sie nie.