Norwegisch Blau
Eliza Hill
1
Jemand Kluges hat einmal gesagt, dass Liebesgeschichten nur dann wirklich groß sind, wenn sie unerfüllt bleiben oder tragisch enden.
Mit Blick auf die Hochzeitseinladung meines Ex-Freundes frage ich mich, ob derjenige jemals eine Trennung durchgemacht hat. Ich für meinen Teil hätte darauf verzichten können, betrogen zu werden, genauso wie darauf, auch noch eine verdammte Einladung zu ihrer Vermählung im Briefkasten vorzufinden. Doch die Hochzeitseinladung, die mich am Beginn der letzten Woche erreicht hat, ist nicht der Grund, weshalb sich meine kleine Schwester Charlotte zur Krisensitzung auf dem heimischen Balkon eingefunden hat. Es ist ein zweiter, sehr viel mehr verstörender Brief, der mich zu einer Flasche Wein, zwei Tafeln Schokolade und dem Telefon hat greifen lassen, um meine Mutter aus ihrem Ashram in Indien zu klingeln, in dem sie gerade über das Ende ihrer letzten Beziehung philosophiert. Denn es passiert nicht alle Tage, dass man von seinem gerade verstorbenen norwegischen Vater ein Haus in der Nähe von Bergen erbt, vor allem, wenn einem von der eigenen Mutter stets versichert wurde, dass man von einem trunksüchtigen Dänen abstammt, den sie vor einunddreißig Jahren, über einen Gartenzaun in Aalborg hängend, kennenlernte und mit dem sie eine heftige, aber kurze Affäre gehabt hatte.
Meine Schwester schüttelt nicht zum ersten Mal an diesem Abend den Kopf. »Himmel, wer weiß denn nicht, was für eine Nationalität der Erzeuger des eigenen Kindes hat!«
»Esther. Scheinbar sind Dänen und Norweger in ihren Augen dasselbe.« Ich breche mir noch ein weiteres Rippchen Schokolade ab. In den knapp dreißig Jahren, in denen ich nun schon die Tochter von Esther Hegenbuch bin, die sich vom ersten Tag an geweigert hat, dass Charlotte oder ich sie ›Mama‹ nennen, dachte ich eigentlich, dass ich schon alles mitgemacht habe. Doch einmal mehr bin ich eines Besseren belehrt worden. Auch mit knapp fünfzig Jahren ist meine Mutter noch nicht fertig damit, mein Leben auf den Kopf zu stellen, das ich so sorgfältig im Boden verankern wollte.
»Immerhin gehört dir jetzt ein Haus.« Charlotte, die sich an ihrem Weinglas festhält, lächelt aufmunternd.
»Mitten im Nirgendwo, in der Nähe der regenreichsten Stadt Europas«, entgegne ich ihr trübsinnig und nehme den Rest der Schokoladentafel in die Hand, weil es auf die restlichen Kalorien nun ohnehin nicht mehr ankommt. Mein Arsch von einem Ex heiratet die Frau, mit der er mich betrogen hat und ich bin Halbwaise, ohne dass ich meinen Erzeuger jemals kennengelernt habe.
»Ich bin mir sicher, so schlimm ist es gar nicht. Und die Bezahlung soll dort für Krankenschwestern auch richtig gut sein. Wesentlich besser als hier.«
»Willst du mich loswerden?«
»Alles was ich sage ist, dass es da oben vielleicht regenreich ist, aber du jetzt immerhin weißt, wo du herkommst. Das ist mehr, als ich sagen kann.« Sie klopft mir aufmunternd aufs Knie. »Und wenn du wolltest, dann könntest du einfach morgen losfahren und da oben ein neues Leben anfangen. Fern von deinem ätzenden Ex mit seiner Traumhochzeit und fern von unserer Mutter mit ihren Männerproblemen und all ihren Pseudo-Emanzen-Groupies.«
Vielleicht habe ich eine Überdosis an Endorphinen durch den hemmungslosen Genuss von zu viel Schokolade abbekommen, doch unter diesem Gesichtspunkt erscheint mir die neue Situation beinahe verheißungsvoll. Charlotte hat recht. Ich könnte neu anfangen. Ohne Ex-Freund, dem ich tagtäglich bei der Arbeit im Krankenhaus begegnen muss. Objektiv betrachtet, ist das keine vollkommene Schnapsidee. Und da oben wäre ich vielleicht auch nicht nur die Tochter von Esther Hegenbuch, der Selbsthilfebücher-Göttin, sondern einfach nur Moyo, eine bald dreißigjährige Krankenschwester mit einem miesen Männergeschmack.
»Norwegisch soll auch gar nicht so schwer sein. Vor allem, wenn man bereits fließend Dänisch kann.« Charlotte hat ihr Handy gezückt und ist offenbar schon einen ganzen Schritt weiter als ich selbst, denn sie ist schon dabei, nach einem Sprachkurs zu suchen.
»Lotte, das ist verrückt.«
»Ach. Papperlapp! Du willst es. Du weißt es nur noch nicht!«
2
Der Wunsch, neu anzufangen, kam schleichend. Und der Schritt, es wirklich durchzuziehen war surreal bis zu dem Moment, in dem ich den beiden Möbelpackern Anders und Michail zusehe, wie sie meine Zweisitzercouch den steilen Pfad hinab zu dem kleinen Steinhäuschen tragen, das abgelegen an der Küste vor Bergen liegt und noch zum kleinen Örtchen Os gezählt wird. Der große Möbelwagen blockiert die gesamte Straße, die sich am Atlantik entlang schlängelt, doch es ist kein Auto auszumachen, das sich daran stören könnte, während die Welt um mich herum in dichtem Regen versinkt.
Man könnte beinahe behaupten, es sei erschreckend ruhig. Doch das ist es nicht. Auch zweitausend Kilometer reichen nicht aus, um von Esthers Drama verschont zu bleiben. Denn anders als meine Mutter gehe ich ans Telefon, wenn ich angerufen werde. Und sie gerade davon zu überzeugen, dass die katastrophale Rezension ihres brandneuen Selbsthilfebuches Trennung zum Glück durch ihren seit Jahren verhassten Chefkritiker eigentlich gut ist, versuche ich zumindest halbherzig.
»Es ist ja gar nicht so sehr die impertinente Wortwahl, die mich daran stört. Es ist die Tatsache, dass jemand, der das Buch offensichtlich nicht einmal zu Ende gelesen hat, sich anmaßt, sich darüber ein Urteil zu erlauben!«, ereifert sie sich. »Ich habe doch keine acht Jahre studiert, um mir von so einem dahergelaufenen Facebook-Blogger vorwerfen zu lassen, dass ich einen schlechten Schreibstil hätte!«
»Mh.« Da ich meine, mich daran zu erinnern, dass ihr Lieblingskritiker für eine große Zeitung arbeitet und sie ihn mehr als einmal vor der gesamten versammelten Buchwelt als einen chauvinistischen Scheißkerl verteufelt hat, ziehe ich es vor, den Mund zu halten und den Umzugskarton mit den Tellern schon einmal mit dem Fuß in Richtung Laderampe zu schieben, da sie sich mit jedem weiteren Wort ohnehin nur noch mehr in Rage reden wird. Charlotte nennt diesen Zustand, in dem meine Mutter gerne alles ausspuckt, was ihr gerade durch den Kopf geht, ohne auch nur eine Millisekunde nachzudenken, immer ihre ›wahnsinnigen fünf Minuten‹, aber wenn wir ehrlich sind, kann dieser Zustand schon mal ein oder zwei Stunden anhalten.
»Moyo?«
»Ich bin noch da«, gebe ich pflichtschuldigst zur Antwort und frage mich, ob ich es wagen kann, den Pappkarton die hundert Meter zum Haus hinunter zu tragen, oder ob er sich auf halbem Weg auflösen wird.
Weiter unten kann ich die beiden Männer fluchen hören, die offenbar kurz davor sind, gemeinsam mit meiner Couch in den Abgrund zu stürzen. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass das die Grundessenz dessen ist, was sie da so wortreich bekunden und ich wünschte, ich könnte ihnen irgendwie weiterhelfen, aber leider habe ich keine Planierraupe oder gar einen Betonmischer zur Hand, um den Pfad, der an der steilsten Stelle mit Steinsplitt aufgeschüttet ist und ansonsten aus Granitsteinen und aufgeweichtem Erdreich besteht, irgendwie zu entschärfen. Weshalb mein Vater sich keine anständige Zufahrt zu seinem Haus geleistet hat, weiß wohl nur er. Doch ich vermute, es war eine Frage des Geldes. Das ist es meistens. Zumindest untermauert auch der Zustand der Sprossenfenster mit ihrem abgeplatzten roten Lack diese These, ebenso wie die Tatsache, dass ich außer dem Haus nur knappe zehntausend Kronen von ihm geerbt habe.
»Ich kann nicht fassen, dass die vom Verlag wollen, dass ich die Füße stillhalte!«, regt sich Esther auf und ich muss keine Hellseherin sein, um zu wissen, dass sie gerade nebenbei mit Alexandra, ihrer Literaturagentin schreibt, die ihre wahnsinnigen fünf Minuten noch mehr fürchtet, als es Charlotte und ich je getan haben, denn meine Mutter mag nicht wissen, wie man auf einem PC Ordner anlegt, doch sie weiß, wie man E-Mails schreibt und kennt die Telefonnummern zu vieler wichtiger Leute auswendig.
»Ich bin mir sicher, dass Lexi und die Leute vom Verlag wissen, was sie tun, Esther.«
»Ohne mich wären die schon längst pleite! Meine Bücher sind deren verfluchter Verlag! Die haben doch keine Ahnung von Öffentlichkeitsarbeit!«
Genau solche Aussagen sind der Grund, weshalb man meine Mutter von ihren Gönnern und ihren Kritikern fernhalten sollte, wenn sie mal wieder auf hundertachtzig ist. »Ich denke, du solltest Lexi anrufen. Besprich doch das weitere Vorgehen mit ihr. Ich kenne mich da ohnehin nicht aus.«
»Vielleicht.« Esther klingt nicht im mindestens überzeugt. Doch ich habe nicht die Muße darauf zu warten, dass sie von selbst auflegt, denn ich will endlich meine Sachen ins Haus bringen, bevor der Laster noch im norwegischen Sommerregen ertrinkt.
»Ich melde mich die Tage nochmal, wenn ich fertig ausgepackt habe. Grüße an Lexi.« Damit lege ich auf und schiebe mein Telefon in die Seitentasche meiner alten, regenabweisenden Trainingsjacke von H&M, die ich glücklicherweise obenauf in einem der Klamottenkartons gefunden habe. In der Tasche finden sich noch ein paar alte Kaugummipapiere und die Überreste eines Bustickets, das offenbar einmal mitgewaschen wurde. Ich schiebe beides zurück in die Taschen und springe dann von der Ladefläche des Lasters, um endlich die Teller nach unten zu transportieren.
Das Wasser, das dank der großen Pfütze unter dem Laster in meine Turnschuhe läuft, ist eiskalt und ich frage mich, ob es zu früh ist, um festzustellen, dass ich keine Lust mehr habe, meine Sache einzuräumen, als ich beinahe umgebracht werde. Das Quietschen von Reifen und der mit einem Mal hell erleuchtete Laderaum des LKW sind alles, was ich mitbekomme. Das Auto und ich stehen in Schlagdistanz zueinander. Erst jetzt nehme ich wahr, dass Regenwasser bis auf meine Hose gespritzt ist. Dreck und Wasser. Mein Puls stellt die ominösesten Dinge an.
Mir ist schwindelig, trotzdem bin ich kurz davor, hysterisch loszuschreien, während die beiden Lichtkegel des schwarzen Wagens die Rückseite des LKW ausleuchten. Dann schnappt die Tür auf.
»Was zur Hölle macht der Laster hier?«
Das Norwegisch ist schnell, fies und kaum verständlich. Allein das ›R‹ tief im Rachen klingt wie eine einzige Anklage, in dem zornigen Ausbruch. Und ich kann nicht fassen, dass das das Erste ist, das ich zu hören bekomme, nachdem er mich gerade beinahe umgebracht hätte. »Du hättest mich fast umgefahren!«
»Hast du schon einmal was von einem Warndreieck gehört?«, herrscht er mich an und ich fühle mich ein wenig so, wie ein Kaninchen vor der Schlange, während ich nach einer passenden norwegischen Entgegnung suche.
»Es steht vorn vor der Kurve.«
»Da steht absolut gar nichts!« Er starrt mich böse an, mit den wohl finstersten Augen, die ich je gesehen habe. Ein dunkles Blau, das beinahe so erschreckend ist, wie der tosende Atlantik neben mir. »Und ich muss zur Arbeit!« Der Dialekt ist verschwunden, ganz so als habe er festgestellt, dass er es mit einem leider sprachlich eingeschränkten Gegenüber zu tun hat.
»Ich ziehe ein«, schaffe ich es schließlich über die Lippen zu bringen, glücklich darüber, dass mir das richtige Verb eingefallen ist und ich frage mich, ob dieser Mann eigentlich vorhat, sich für sein waghalsiges Fahrmanöver zu entschuldigen, oder ob nur ich hier die Dumme sein soll. »Zumindest hatte ich das vor, ehe du aufgetaucht bist. Jetzt kann ich wohl froh sein, wenn ich hier nicht im Sarg abtransportiert werde!« Zum ersten Mal wünsche ich mir das Deutsche Sie zurück, auf das im Norwegischen einfach immer verzichtet wird. Einen Fremden zu duzen, den man anschreit, kommt mir einfach vollkommen falsch vor.
Im Gesicht des wütenden Kerls passiert etwas, das meinen Magen krampfen lässt. Kalter Zorn spiegelt sich darin wider. »Mein Auto hat ein Fahrerassistenz-System.« Ich kann ihn kaum verstehen, leise wie es ihm über die Lippen kommt. Ganz so, als hätte ich ihn tödlich beleidigt und zum ersten Mal nehme ich ihn wirklich im Gesamtpaket wahr. Ein schwarzer Anzug, der meinen Ex-Freund vor Neid würde erblassen lassen, ein gut sitzendes blaues Hemd und blank polierte Oxfords, die zu seinem Gürtel passen. Und das Gesicht mit den erschreckenden Augen ist auch auf den zweiten Blick nicht sympathischer. Ein Mann wie ein geschniegelter Holzfäller, dessen Augen sich so intensiv in mich bohren, dass ich beinahe das Gefühl habe, als würden sie mich mit purer Gedankenkraft schütteln.
»Als ob das … du …« Ich ringe um das passende Schimpfwort, doch mir will nichts einfallen. Zumindest nicht auf Norwegisch. Auf Deutsch schon. »Du verdammter Arsch!«
Kein Ahnung, ob er das verstanden hat, aber eigentlich ist es mir auch egal, während er sich auf mich zubewegt. »Mit deiner Familie bin ich schon so lange fertig.«
Trotz meines erhöhten Pulses und meinem dringenden Bedürfnis, diesem ungehobelten Kerl Manieren beizubringen, verwirrt mich die Aussage lange genug, um ganz plötzlich einen Finger vor der Nase zu haben.
»Verschwinde dorthin, wo du hergekommen bist. Die Hütte, in die du ziehst, gehört ohnehin abgerissen.«
Ich habe keine Ahnung, woher dieser Typ das Recht hat, etwas über meine Familie oder mein neues Zuhause zu sagen. Alles, was ich weiß, ist, sollte er so weitermachen, ich einen Mann in die Himbeersträucher hinter mir schubsen werde.
»Erik! Hey! Mensch, entschuldige den Laster!« Neben mir taucht plötzlich einer meiner Möbelpacker auf und grinst meinem Gegenüber entgegen.
»Du bist dafür verantwortlich, Lyrsson?«
»Ich fürchte ja. Die Parkplatzsituation hier ist beschissen und die Möbel von Moyo hier sind ziemlich schwer. Und wir dachten, du bist ohnehin auf der Arbeit.«
Ich sehe verständnislos zwischen meinem Möbelpacker und dem uneinsichtigen Mistkerl hin und her, der bei Anders Worten die Augen zusammenkneift.
»Ich wollte mir nur kurz frische Klamotten holen, dann bin ich auch wieder auf dem Weg ins Krankenhaus.«
»Wenn du kurz wartest, fahr ich das Ding aus dem Weg. Ich muss nur die Ladeklappe wieder hochfahren.«
»Lass stecken! Das dauert mir zu lange. Ich habe in einer Stunde noch eine OP.« Damit lässt er ihn und mich einfach stehen und taucht zurück in sein Auto ab, nur um lauter als nötig die Türe zuzuschlagen und dann mit halsbrecherischer Geschwindigkeit rückwärts zu rasen. Doch trotz des viel zu hohen Tempos gibt sein Wagen keinen Ton von sich. Aber sein seltsames Auto ist mein geringstes Problem.
»Dieses Scheusal ist Arzt?«
»Oh, Erik ist Oberarzt in der Bergener Uniklinik. Er ist ziemlich gut. War in Amerika und so.«
Mir ist ein kleines Bisschen schlecht. Der Kerl arbeitet als Oberarzt bei meiner neuen Arbeitsstelle? Das ist ein Arzt, mit dem ich eventuell zusammenarbeiten muss?
»Erik gehört das große Haus gegenüber von dir. Das mit dem vielen Glas. Kostet sicher Unsummen, das Ding im Winter zu heizen.« Anders Lyrsson kratzt sich am Kopf. »Aber er ist ein Westgaard. Die hatten schon immer das nötige Kleingeld für sowas.«
»Er ist mein Nachbar?«, wiederhole ich, auch auf die Gefahr hin, dass ich ein wenig minderbemittelt klinge.
»Ja. Eine Menge Frauen würden dich drum beneiden. Erik ist … wie sagt man … ein guter Fang. Gute Familie. Sein Vater war lange der Bürgermeister von Bergen.« Er betont das so, als sei es die größte Auszeichnung, die jemals jemand bekommen kann. Aber während noch immer das Dreckwasser von mir tropft, ist es mir reichlich egal, aus welch gutem Hause er angeblich kommt.
»Mein Fang ist er nicht«, widerspreche ich Anders. »Schon gar nicht mit dem Auto, das er da fährt.«
»Elektroautos sind wohl nicht dein Stil? Ich für meinen Teil finde den Tesla eigentlich ganz schick. Vor allem in schwarz. Sieht richtig giftig aus.«
»Mh. Na ja.« Ich unterdrücke den Kommentar, der mir dazu auf der Zunge liegt und packe meine Kiste, die noch immer darauf wartet, von mir nach unten getragen zu werden. »Lass uns weiter machen, bevor wir noch davonschwimmen.«
3
Nach einem kleinen Absturz am Steilhang in die grünen Himbeersträucher werde ich von Anders und Michail beauftragt, die Kisten im Laster aus dem Weg zu räumen und ihnen Kaffee zu kochen. Eine Herausforderung, da ich es seit Jahren gewohnt bin, Kapseln oder Pads in kleine Maschinen zu legen, und ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wann ich das letzte Mal eine Kaffeemaschine mit Filterpapier gesehen habe. Dementsprechend ungenießbar schmeckt auch mein erster Versuch, den ich nach zwei mutigen Schlucken in den Ausguss kippe. Der zweite Durchlauf schmeckt zwar immer noch etwas fad, aber das ist nichts was ein wenig Zucker und Milch nicht verschleiern könnten, und Michail nimmt sich sogar noch eine zweite Tasse, weshalb ich gewillt bin, die braune Brühe als Erfolg zu verbuchen.
Was ich hingegen nicht als Erfolg verbuchen kann, ist die Tatsache, dass die Küche einfach winzig ist. Es gibt nur drei Herdplatten, von denen zwei auf einem tragbaren Backofen angebracht sind, in den gerade einmal mit viel Glück eine Pizza passt und die dritte ist zwischen Kühlschrank und Mikrowelle gequetscht, während Wasserkocher und Kaffeemaschine sich ein Plätzchen gleich vor dem Fenster teilen, direkt neben der Spüle, aus der nur kaltes Wasser kommt.
Alles in allem juckt es mich in den Fingern, die nächste IKEA- Filiale aufzusuchen, sobald ich wieder genug Geld auf dem Konto habe, um mir etwas anderes wie Tütensuppen und Kartoffeln leisten zu können, denn der Umzug hat nicht nur mein ganzes Erspartes gefressen, sondern auch mein letztes Gehalt. Doch bis dahin muss ich es wohl in der altersschwachen Küche aushalten, deren Küchenschränke knarzen und die nur über den blauen Schemel zu erreichen sind, der vor der Spüle steht.
»Moyo? Wo willst du den Fernseher hinhaben?« Anders der den in Decken geschlagenen Flachbildschirm in Händen hält, schiebt sich mit einem Stöhnen durch die Tür und lässt dabei den Dielenboden singen.
»An die Wand gleich links neben der Tür«, meine ich dankbar. »Ich glaube da gibt es sogar schon eine Halterung. Wahrscheinlich hing da bereits mal ein Fernseher.«
Die alten Möbel meines Vaters wurden laut der Verfügung in seinem Testament an bedürftige Familien gespendet, ohne dass ich sie je zu Gesicht bekommen hätte. Sodass ich keine Ahnung habe, wie es in dem kleinen Steinhäuschen mit dem ausladenden Kamin einmal ausgesehen hat. Alles was geblieben ist, sind die blauen Türen mit den handbemalten Mustern in der Mitte, die eine Variation von Blumen zeigen und ein paar uralte Bilder an den Wänden von Personen, die schon seit gut hundert Jahren tot sein dürften und viel zu viele Plastikblumen in mehr oder minder hässlichen Glasvasen. Noch dazu total verstaubt.
Meine Couch passt gerade zwischen die widerspenstige Holztüre, die nach draußen auf die ebenerdige Steinterrasse führt und unter das große Sprossenfenster, das von Efeu umrankt wird. Die regennassen Blätter bilden einen grünen Vorhang, der das heute ohnehin kaum vorhandene Tageslicht in dem kleinen Häuschen noch weiter dimmt, und mich den Lichtschalter betätigen lässt, obgleich wir erst fünf Uhr mittags haben.
Das Wohnzimmer sieht schon jetzt trotz all der Bilder und der hässlichen Blumen ziemlich gemütlich aus, und ich freue mich schon darauf, wenn ich in dem kleinen Raum Ordnung gemacht habe, der Teppich an der richtigen Stelle liegt und ein Feuer im Kamin lodert. Dieses Wohnzimmer ist nur dafür gemacht, kitschige Romanzen zu lesen und sich einen Mist um die Meinung meiner Mutter dazu zu scheren. Ich bin nun mal niemand, der auf politisch korrekt gegendertes Deutsch besteht oder darauf, alles selbst können zu müssen. Auch wenn das im Hause Hegenbuch beinahe eine Kriegserklärung durch unsere Matriarchin nach sich zieht. Weshalb ich solche Aussagen in Gegenwart meiner Mutter auch tunlichst vermeide. Ganz zu schweigen davon, dass ich nichts gegen einen intelligenten Kerl hätte, der nicht Bücher, sondern Baumstämme wälzt.
Ich amüsiere mich still über die klammheimliche Rebellion, die meine Schwester und ich seit Jahren unter Esthers Nase führen, indem wir uns nicht nur alle Staffeln Sex and the City reingezogen haben, sondern auch sämtliche Bücher von Susan Elizabeth Phillips und Jojo Moyes besitzen.
Andere Kinder verheimlichen seit sie fünfzehn sind vor ihren Eltern, dass sie Kiffen, wir, dass wir uns eine ganz normale Familie und ein wenig schmalzigen Herzschmerz wünschen.
»Was sagst du, Moyo?« Anders, der mit zwei gekonnten Handgriffen den Fernseher angebracht hat, sieht mich erwartungsvoll an.
»Super! Wirkt gut!« Ich recke meinen Daumen nach oben und werde vom Klingeln meines Telefons davon abgehalten, Anders darum zu bitten, den Fernseher gleich ganz anzuschließen. »Entschuldige. Das ist meine Schwester.« Da Charlotte gerade dabei ist, ihre Masterarbeit zu schreiben und Heulkrämpfe und Versagensängste bei ihr mittlerweile in regelmäßigen Abständen hochkochen, und sich mit Blick auf die näherkommende Deadline auch noch steigern werden, gehe ich ohne zu zögern ran.
»Moyo, ich dreh durch! Da steht nur gequirlte Scheiße auf dem Papier! Mein Dozent hält mich doch für total bescheuert! Ich bekomme nicht mal den Focalizer richtig analysiert!«
Da sich meine Begeisterung für englische Dystopien in Grenzen hält und ich auch trotz mehrmaligen Versuchen meiner Schwester, mir die Definition eines Cyborgs näher zu bringen, und was der mit Feminismus zu tun hat, erfolgreich weggehört habe, könnte ich ihr nicht einmal helfen, wenn ich wirklich wollte.
»Ich bin mir sicher, so schlimm ist es gar nicht Lotte.«
»Kirchner wird das anders sehen. Ich kann ihm nicht mehr unter die Augen treten, wenn ich das abgebe. Ich bin sowas von inkompetent! Was haben die mir eigentlich an der Uni beigebracht? Gott, wieso musste ich auch auf unsere Mutter hören und diese Arbeit über Gender Issues schreiben! Ich hätte was über Gothic Fiction oder Jane Austen nehmen sollen!«
»Das ist doch ausgelutscht. Das hast du selbst gesagt. Und ich bin mir sicher, deine Arbeit ist gut, wenn du nur endlich weiterschreiben würdest.«
»Das tu ich ja, aber es geht nicht voran! Drei Stunden saß ich heute vor den Seiten und habe formatiert, die Abstände größer gemacht und die Ränder eingestellt. Aber es sind immer noch nur Zweiunddreißig Seiten. Zweiunddreißig. Das ist nicht mal die Hälfte. Und ich weiß jetzt schon nicht mehr, was ich schreiben soll. Das ist alles so langweilig! Alles was ich tue, ist Dinge zu analysieren, die jemand anderes einmal gesagt hat. Was soll denn das? Esther schreibt wenigstens selbst! Ich kaue nur wieder.« Meine kleine Schwester klingt, als wolle sie sich am liebsten in den Rhein stürzen. »Das ist doch keine Lebensaufgabe. Ich hätte eine Ausbildung machen sollen. So wie du!«
»Du liebst es, über deinen Büchern zu sitzen und Schwule aus Geschichten zu ziehen, Lotte.«
»Homosoziale Tendenzen«, schluchzt Charlotte. »Aber gerade nicht! Gerade ist einfach alles blöd!« Sie muss selbst lachen bei ihrer Schmollattacke und ich weiß, dass das dunkle Loch in dem sie steckt, ein bisschen kleiner geworden ist.
»Bei mir läufts auch nicht so gut. Bin halb tot gefahren worden von einem Tesla Fahrer, der scheinbar auch an der Uniklinik arbeitet. Wenn da alle so nett sind, bin ich schneller wieder in Freiburg und geh dir auf die Nerven, wie du Selbsthilfe-Groupie sagen kannst.«
Meine kleine Schwester schnäuzt sich lautstark. »Red keinen Quatsch, Moy! Erstens hast du kein Geld dazu und zweitens solltest du’s erst mal auf dich zukommen lassen.«
»Ich weiß, trotzdem war der Kerl wahnsinnig! Bleibt zehn Zentimeter vor mir mit seinem Höllengefährt stehen und beschimpft mich dann, als ob ich nicht alle Latten am Zaun hätte! Hoffentlich bin ich nicht auf seiner Station. Den wünscht man nicht seinem schlimmsten Feind zum Chef.«
»Du kannst mir sagen, was du willst, aber der Beruf zieht Irre einfach an. Und Ärsche. Irre Ärsche. Guck dir deinen Ex an. Das beste Beispiel.«
»Wem sagst du das.« Vor meinem inneren Auge kochen ein paar Bilder hoch, die ich gerne vergessen würde. Daniel im Bett mit Johanna. Knutschflecken von ihm an ihrem Hals, das Geturtel auf dem Gang, kaum eine Woche nach unserer Trennung, die Einladung zu ihrer Hochzeit. Sein selbstgefälliges Lächeln, als er mir alles Gute im Norden gewünscht hat.
»Moy?«
»Ich hasse ihn«, gebe ich geradeheraus zu. »Ich wünschte, ich wäre nie auf sein dummes Lächeln und sein Türaufhalten reingefallen.«
»Vergiss nicht den verdammten Liebesbrief.«
Natürlich musste meine Schwester den Brief erwähnen. Den wohl besten und wirkungsvollsten Move den er hatte und der mich zielsicher in seine Fänge befördert hat. Aber ich kenne keine Frau, die bei dieser schnulzigen Liebeserklärung auf Papier nicht dahingeschmolzen wäre. Konnte ja niemand ahnen, dass er genau den gleichen Brief auch an meine Zweitbesetzung geschrieben hat, das Professorentöchterchen und seine nun baldige Ehefrau.
»Lass uns nicht mehr von ihm reden. Er ist es nicht wert«, bringe ich schließlich raus. »Sag mir lieber, ob du noch mal etwas von unserer Mutter gehört hast.«
»Ach, hat sie dich vorhin auch angerufen.«
»Ja. Sie war mitten in ihren wahnsinnigen fünf Minuten.«
»Bei mir auch. Scheinbar hat Lexi nicht genug getan, um ihren Kritiker zurechtzuweisen.« Charlotte gibt ein tiefes Seufzen von sich. »Sie hat sogar davon geredet, dass sie sich eine neue Agentin sucht.«
»Als ob ein anderer Agent sie auch nur zwei Tage aushalten würde.«
»Bitte kein Mann. Das letzte was wir brauchen können, ist schon wieder ein Skandal, bei dem ich die Presse bei mir an der Bushaltestelle sitzen habe!«
»Und mit einem Schlag bin ich wieder überglücklich hier in Norwegen zu sein.«
»Miststück.«
»Ich habe dich auch lieb.« Ich bemitleide jedes Einzelkind auf dieser Welt, das auf die Erfahrung, eine Schwester zu haben, mit der man seine Sorgen teilen kann, verzichten muss. Auch wenn wir manchmal nicht so nett zueinander sind.
»Du, ich schreibe jetzt mal weiter. Grüß mir die Elche!«
Als Anders und Michail gegen halb acht verschwinden, bin ich zum ersten Mal seit zwei Tagen alleine. Keine Charlotte im Nebenzimmer, auf deren Couch ich die letzten Tage vor dem Abflug übernachtet habe, kein klingelndes Telefon, einfach nur Ruhe. Einsamkeit. Ich atme tief ein und habe für einen Moment das Gefühl, mein unbekannter Vater könnte jeden Moment durch die knarzende Tür kommen und mich willkommen heißen. Eine Vorstellung, die mich während des gesamten Auspackens begleitet. Trotzdem hält es mich nicht davon ab, seine Plastikblumen vom Fensterbrett in den erstbesten Müllbeutel zu werfen und mich zu fragen, ob die ihm mal eine Frau geschenkt hat, oder ob er selbst für diese Geschmacklosigkeit verantwortlich war.
Nachdem ich die nun leeren Fensterbretter abgestaubt und meine Bücher in meine heiß geliebten Billy-Regale gequetscht habe, die vom Transport ein wenig wacklig geworden sind, begebe ich mich auf die Suche nach meinen Schüsseln, um mir eine aus Deutschland mitgebrachte Portion Müsli zu genehmigen, ohne Milch, direkt pur auf den Löffel, auf der Küchenanrichte sitzend. Draußen stürmt es mittlerweile richtig und ich sehe den Regentropfen zu, wie sie gegen die Scheibe prasseln, während der Kühlschrank leise vor sich hin brummt. Von hier am Fenster erscheint mir die kleine Küche gar nicht so übel. Richtig gemütlich. Die vielen Schoko- und Karamellstückchen zwischen den paar gesunden Körnern erinnern mich an Zuhause. Da Esther nicht kochen kann, war Müsli immer das höchste der Gefühle, das nicht aus dem gütigen Korb eines Lieferanten kam und ich frage mich unwillkürlich, ob mein Vater kochen konnte. Hier gibt es sicherlich keinen Lieferdienst. Zumindest keinen, den sich ein Normalsterblicher leisten kann. Ich ziehe meine Füße auf die Küchenanrichte und verflechte sie zum Schneidersitz. Wenn ich mit Esther hier gelebt hätte, dann wären wir verhungert. Zumindest aber hätte ich mir keine Sekunde meiner Teenagerzeit Gedanken um zu dicke Schenkel oder Pölsterchen an den falschen Stellen machen müssen. Ich hätte Supermodelmaße gehabt. Ich kratze mir mit meinem Löffel über den Mundwinkel. Ein Leben ohne Komplexe stelle ich mir doch ziemlich langweilig vor. All die Dramen in Umkleidekabinen und vor Diskobesuchen, Dates oder anderen Anlässen, die einen so richtig panisch vor dem Spiegel stehen lassen, braucht es doch eigentlich, um sich über ein Kompliment richtig freuen zu können.
Ich wische mir eine Schokoflocke von der Jeans und frage mich nicht zum ersten Mal, wie die Schokostückchen es immer auf meine Klamotten schaffen. Es ist, als hätte ich einen Magneten dafür in meiner Hosentasche, während meine Mutter den ganzen Tag weiß tragen kann, ohne dass je ein Fleck auf ihren Sachen auftauchen würde. Andererseits besteht sie auch darauf, Mahlzeiten nur am Tisch einzunehmen. Ich greife neben mich, um mir ein Glas Wasser einzugießen. Manchmal muss man die kleinen Freiheiten genießen, wie die Tatsache, auf der eigenen Küchenanrichte zu sitzen, und keiner kann es einem verbieten. Selbst wenn er wollte. Jetzt muss ich nur noch am Montag meinen ersten Tag in der Klinik überstehen, an dem ich hoffentlich keine Anweisung grundlegend missverstehe und irgendeinen armen Patienten damit drei Meter tiefer befördere. Das wäre nämlich kein guter Start. Genau genommen der Supergau.
4
Wegen den Preisen im Supermarkt einen Heulkrampf zu bekommen, ist wohl kaum der richtige erste Eindruck, der einem die nordischen Herzen zufliegen lässt. Doch auch nach dreimaligem Nachrechnen von Kronen in Euro bleiben die Preise auf der Heulkrampfskala eine glatte Zehn. Ich stelle die Packung Milch in meinen Korb und schiebe meinen ansonst leeren Wagen weiter an der Kühltheke entlang, auf der Suche nach etwas, das mich nicht mein Erstgeborenes kosten wird. Dass ich bei dieser Suche auf etwas stoße, das als Fischpudding ausgezeichnet ist und das in etwa die Konsistenz und Farbe von ungekochtem Fleischkäse aufweist, konnte ich nicht ahnen. Daneben liegt eine Krabbe die mit Dingen gefüllt ist, über die ich nicht weiter nachdenken will und ich frage mich, wer zum Teufel so verrückt ist, das zu essen. Dafür sollte man Schmerzensgeld verlangen. Ich manövriere meinen Wagen vorbei an der Horrorabteilung weiter zu den Eiern und sehe zwei Kunden vor mir davoneilen, die sich bis eben noch in der angrenzenden Regalreihe unterhalten haben.
»Okay«, entweicht es mir verdutzt. »Dann eben nicht.« Die Musik, die aus den Lautsprechern des kleinen Supermarkts kommt, ist ein wenig zu laut eingestellt. Ganz so, als wolle jemand die fehlenden Kunden an diesem Sonntagmorgen durch die mittlerweile gar nicht mehr so furchtbare Musik Justin Bibers ersetzen.
Nachdem ich Mehl und die absurd teuren Gewürze, die ich für das Backen der Zimtschnecken brauche, in meinen Wagen gepackt habe, begebe ich mich auf die Suche nach Kaffee. Denn angeblich sind Kaffee und Zimtschnecken der Weg, wenn es darum geht, Freundschaften in Norwegen zu schließen. Zumindest laut meiner Lehrerin Rigmor. Doch nachdem ich vor dem Kaffeeregal stehe, muss ich mir leider eingestehen, dass ich keine Ahnung habe, mit welcher Kaffeemaschine ich es im Krankenhaus zu tun haben werde, weshalb ich beschließe, dass es alleine die Zimtschnecken richten müssen.
Aus den Augenwinkeln heraus nehme ich wahr, wie die beiden älteren Herren vor der Obstauslage zum Stehen gekommen sind, und mein Ringen vor dem Kaffeeregal beobachten. Ich lächele ihnen entgegen, schiebe dann meinen Wagen in Richtung Kasse, nachdem ich mir noch zwei Tütensuppen eingeladen habe.
»Hallo«, begrüße ich die Kassiererin, die nun, da ich die Waren auf das Band lege, ihre Nagelfeile zur Seite legt und die Lippen schürzt.
»Hey«, erwidert sie eisig und ich frage mich, ob ich ein Verbrechen begangen habe, sie bei ihrem Körperpflegeritual zu unterbrechen. Ihre Haut ist ein sattes Karamell, das ohne Zweifel einer Dauerkarte im Sonnenstudio zu verdanken ist. »Willst du eine Tüte?«
»Gern.« Ich lächle sie an, doch sie zieht nur mit Grabesmiene die Waren weiter über den Scanner.
»Ich bin Moyo. Ich bin in das Haus unten in …«
»Ich weiß, wer du bist.« Sie sieht nicht auf. »Du bist Jesper Storgaards Tochter.«
»Ja«, entweicht es mir verdutzt. »Woher –«
»Man kennt sich hier.« Sie schüttelt die Plastiktüte aggressiver als nötig, um diese zu öffnen. »321 Kronen.«
»Klar.« Ich krame in meinem Geldbeutel nach den passenden Scheinen, die sich noch viel zu fremd anfühlen. »Kleinen Moment.«
Sie gibt ein Seufzen von sich, das mir versichert, dass sie ohnehin keine andere Wahl hat, als zu warten und ich beschließe, dass ich es nicht nötig habe, noch einmal zu versuchen, ein Gespräch in Gang zu setzen. Lieber suche ich das Geld passend heraus, lasse mir meinen Kassenzettel in die Hand drücken und beeile mich, vor dem nächsten Schauer zu meinem alten Peugeot zu kommen, da ich vor den winzigen norwegischen Sträßchen auch ohne Regenschauer genügend Respekt habe.
Ich halte den gesamten Verkehr auf, als ich meine alte Karre um die engen Kurven der Küste steuere, und vorsorglich vor jeder unübersichtlichen Stelle auf die Bremse trete, was den hochgebockten Range Rover irgendwann dazu verleitet, mir Lichthupe zu geben und schließlich nach der nächsten Kurve einfach zu überholen, während ich mich ans Lenkrad kralle und mich frage, ob ich von dieser Aktion beeindruckt oder einfach nur schockiert sein soll. Wenn ihm an der Stelle jemand entgegengekommen wäre, dann wäre es das gewesen. Dass ich allerdings wirklich schnecke wird mir klar, als ich im Rückspiegel die alte Dame entdecke, die mir mit ihrem kleinen Seat direkt auf der Stoßstange hängt. Gefahr im Straßenverkehr wird hier offenbar anders wahrgenommen als in Deutschland.
Zwei winzige Kreuzungen und zu viele scharfe Kurven später, vorbei an den beiden Briefkästen von Westgaard und Storgaard, schaffe ich es, mein Auto unter den altersschwachen Carport zu stellen, der fast hundert Meter vom Haus entfernt liegt und hieve meine spärlichen Einkäufe aus dem Auto, nicht ohne mich zu wundern, weshalb mein Vater eigentlich zwei Briefkästen besitzt. Einen direkt neben der Haustür, der überhaupt keinen Schlitz besitzt, und den normalen neben dem von Mr. Scheusal Erik Westgaard.
Meine Sneaker sind vollkommen durchgeweicht, als ich unten ankomme, und ich mache mir eine mentale Notiz, mir Gummistiefel zuzulegen, während ich die Türe aufschließe und die nassen Dinger von den Füßen streife. Selbst meine Socken sind durchgeweicht und ich werde auch sie los, als ich endlich durch die Tür trete und meine Einkäufe in die Küche getragen habe, um endlich mit dem Backen meiner Zimtschnecken anzufangen.
Ein Fehler, wie sich drei Stunden später herausstellen sollte. Denn offenbar hält die Feuerwehr hier oben weder viel von einem unglücklicherweise verursachten Feueralarm, der auf zwei Trugschlüssen beruht, nämlich zum einen den, dass ich in der Lage bin, ein Pinterest-Rezept ohne Rauchentwicklung zu bewältigen, und zum anderen, dass es sich bei dem komischen Metallkasten am Haus um einen Briefkasten handelt, dessen Funktionsweise ich nur nicht verstanden habe. So stehe ich barfuß und mit angekokelten Zimtschnecken in der Hand einem ganzen Löschzug gegenüber, der Rauchmelder über mir noch immer schrill kreischend. »Ich … es brennt nicht. Meine Zimtschnecken sind nur angekokelt«, stelle ich mit einem entschuldigenden Lächeln fest, in Ermangelung einer besseren Begrüßung.
In der Meute kann ich jemanden laut schnauben hören, während die beiden Feuerwehrfrauen die vor mir stehen ein »Fehlalarm, Leute!«, nach hinten zischen.
»Du wirst das bezahlen müssen.« Der Kerl der vortritt hat etwas Ähnlichkeit mit meinem Onkel Frederick, nur dass seine Nase ein wenig kürzer ist und sein Blick alles andere als freundlich.
»Ich weiß«, bringe ich raus und suche nach den richtigen Worten, um zu erklären, wie es zu dem Fehlalarm kam. »Bei uns Zuhause informieren die Dinger nur die Bewohner.«
»Rauchmelder bei uns auch.« Der Verschnitt meines Onkels zieht einen Schlüssel hervor und öffnet den ominösen Silberkasten, der sich als Briefkasten getarnt hat. »Aber dein Vater ist einer der wenigen, die auf eine direkte Weiterleitung zur Brandmeldezentrale bestanden hat. Dafür ist der Kasten.«
»Okay.« Ich stelle meine verbrannten Zimtschnecken auf die Anrichte neben der Tür, weil ich mir schon ohne die Schnecken blöd genug vorkomme. »Ich dachte, ich bin nur zu dumm, um den Rauchmelder zu finden. Mir läuft öfters etwas über.« Ich lächele angestrengt, obwohl mir gar nicht danach ist. Wie hoch die Rechnung sein wird, die ich bekomme, will ich lieber erst gar nicht wissen. »Milch und ich haben zuweilen eine etwas schwierige Beziehung zueinander. Ich bin übrigens Moyo.« Ich mache den Mund zu, weil ich schneller rede, als ich denken kann. Normalerweise ist das kein Problem, weil ich anders als meine Mutter meist darauf gepolt bin, den Leuten mit einem Lächeln und guter Laune ein wenig ihrer Sorgen zu nehmen. Doch die Horde, die vor mir steht, ist weder ein Patient oder dessen Familie in der Krise, sondern eine missgelaunte Schar, denen ich einen Fehlalarm eingebrockt habe, weil ich keine Ahnung hatte. »Entschuldigt bitte, dass ihr herkommen musstet. Vielleicht könnt ihr das Ganze Ding vom Netz nehmen?«
»Du willst die Anbindung weg haben?«
Ich bin mir nicht ganz sicher, was er sagt, doch ich nicke langsam. »Ja. Vielleicht kann ich euch zur Entschuldigung eine Zimtschnecke anbieten? Sie sind nicht alle verbrannt.« Mein Gesicht schmerzt ein wenig von dem Lächeln, das ich ihnen zuwerfe, doch keiner der Anwesenden erwidert es. Deshalb wundert es mich auch nicht, dass sie ablehnen. Tatsächlich bin ich mir ziemlich sicher, dass weder Onkel Frederick hier, noch sonst irgendjemand aus dem Löschzug, mich in nächster Zeit auf der Straße grüßen wird.
»Wenn du es weg haben willst, dann frag einen Techniker. Das ist nicht unsere Aufgabe«, kann ich eine der Frauen sagen hören. »Und wenn es weg ist, dann wirst du einen normalen Rauchmelder brauchen. Das ist Gesetz«, fügt sie an, als würde sie mich für eine komplette Idiotin halten. Und ich fühle mich wie eine, auch ohne ihren Tonfall.
»Okay.« Wenn man etwas in meinem Job lernt, dann dass man gewisse Dinge einfach schluckt, ohne dass sie einem unter die Haut gehen, aber nicht Sonntagmittags, wenn man gedanklich eigentlich schon auf dem Weg zur neuen Arbeit am nächsten Tag ist. »Das wusste ich nicht. Könnt ihr wenigstens das Geräusch abstellen?«
»Mh.«
Das zustimmende Brummen erleichtert mich mehr, als ich sagen kann, denn wenn ich noch länger dieses furchtbare, schrille Piepen ertragen muss, werde ich schreiend in den Fjord springen.
»Dankeschön.«
Als sie endlich gegangen sind, muss ich mit einem Biss auf meine Zimtschnecken zugeben, dass es nicht nur verdammt teures Backwerk geworden ist, sondern auch ziemlich bescheiden schmeckt. Der Hefeteig ist viel zu trocken, selbst die der unverbrannten ersten Runde, denen ich bereits einen Zuckerguss verpasst habe. Ich wische mir die klebrigen Finger an einem Tempo ab und betrachte mein Werk unglücklich. Nichts wird es werden mit einem guten ersten Eindruck. Zumindest nicht durch meine Backkünste. Die Arbeit hätte ich mir sparen können. Das Einsauen der Küche, das Abwaschen und das Treffen mit der Feuerwehr. Alles umsonst.
Ich hätte gute Lust, mein ganzes Backwerk im Müll zu versenken, doch schließlich entsorge ich nur das total verkohlte und ringe mich dazu durch, die nicht ganz verunglückten Teile einzufrieren. Mit genug Kaffee werde ich sie zum Frühstück runter bekommen. Vielleicht. Sobald sie mich nicht mehr an den Fehlalarm erinnern. Ich kann immer noch nicht so recht fassen, dass mir das wirklich passiert ist. Und ich schwanke zwischen Wut auf mich selbst und Wut auf meinen Vater, der so etwas Unnötiges eingebaut hat. Jeder weiß doch, dass einem beim Kochen gerne mal etwas überläuft. Ein ganz normaler Rauchmelder hätte ausgereicht. Haufenweise. Dann würde ich jetzt keine Rechnung über wer weiß wie viel Geld bekommen, nur weil der Ofen zu gut heizt und es ein wenig geraucht hat. Weshalb er mit so einer Küche überhaupt auf die Idee kam, sich so etwas Unnützes zuzulegen, ist mir rätselhaft. Es ist ja nicht so, als wäre sein Haus unbezahlbar, auch wenn es sehr gemütlich ist. Ich rege mich noch weiter darüber auf und versuche die Gedanken an Geld und meinen neuen Job zu verdrängen. Immerhin habe ich noch ein paar Stunden frei, ehe der Krankenhausalltag in der Unfallchirurgie mich wieder hat und damit das altbekannte Schichtsystem.
5
Ich kann es mir nicht erlauben, noch sehr viel länger auf die ansprechende weiße Fassade des Krankenhauses zu starren, ohne zu riskieren, dass ich zu spät komme. Doch ich kann mich nicht recht dazu überwinden, in Gang zu kommen, während ich weiter den blauen Schriftzug des Trond Varfjell universitetssjukehus studiere. Tausende Beschäftigte. Unzählige Stationen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet Erik Westgaard auf meiner Station Oberarzt ist, ist äußerst gering. Obwohl seine Persönlichkeit durchaus für die Unfallchirurgie passend erscheint. »Und selbst wenn. Lass es einfach nicht seltsam werden«, rede ich mir selbst gut zu. »Sag ihm einfach, dass du einen Neustart willst. Vielleicht tut ihm seine Reaktion nun auch schon leid. Immerhin sind wir Nachbarn.«
»Kann ich dir helfen?«
Ich zucke zusammen, nicht darauf gefasst, angesprochen zu werden. Zu sehr war ich in meinem Mantra gefangen, das mich davon überzeugen sollte, dass alles gut wird. Neben mir steht ein kolossaler Kerl mit rotbraunen Haaren und einem offen Lächeln, der seinen rechten Arm in einer Schlinge trägt und in der freien Hand ein Telefon hält.
»Ich fürchte nicht.«
»Ich frage nur, weil du schon seit ein paar Minuten da hochstarrst, als würdest du erwarten, dass sich die Hölle vor dir auftut.«
»So etwas Ähnliches. Es ist mein erster Tag und ich bin ich noch auf der Suche nach meinen unerschrockenen Charakterzügen, nur falls du dich wundern solltest.« Ich schenke ihm ein Lächeln.
»Ärztin oder Schwester?«
»Schwester. Schwester in der Unfallchirurgie.«
»Okay.«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass mich der Patient für total wahnsinnig hält, doch er grinst nur übers ganze Gesicht. »Dann kannst du mich ja gleich nach drinnen begleiten. Ich muss nämlich dort in die Ambulanz. Kontrolle meiner Schusswunden.«
»Schusswunden?«
Er steckt sein Telefon weg. »Arbeitsunfall. Nichts Dramatisches. Mein Boss und meine Ärzte machen mehr Tohuwabohu als nötig, mit all den Nachuntersuchungen. Dabei heilt es ganz wunderbar. Und meiner Meinung nach ist die größte Gefahr im Leben ohnehin, dass man zu vorsichtig wird. Ähm, ich bin übrigens Carl.«
»Moyo«, gebe ich zur Antwort und kann ihm dabei zusehen, wie er stutzt. Eine häufige Reaktion auf meinen Namen, den Esther bei einer ihrer Reise irgendwo durch Afrika aufgeschnappt hat. »Du wurdest also angeschossen bei deinem Job?«
»Kugeln sind einer dieser Nachteile, wenn man als Fotograf in den Krisengebieten dieser Welt unterwegs ist.« Er reibt sich über sein kurzes Haar, das in einen beeindruckenden Bart übergeht.
»Du bist also einer von den ganz harten Jungs.« Erstaunt schaue ich ihn an.
»Du hast mich nicht fluchen hören, als das hier passiert ist«, übergeht Carl mein seltsames Kompliment, das immer schlechter wird, je länger ich darüber nachdenke.
»Das hätte wohl jeder.«
»Vielleicht. Trotzdem nicht gerade mein bester Moment.« Carl strafft die Schultern. »Und zurzeit bekomme ich alleine nicht einmal ein Marmeladenglas auf. Kommst du mit rein?«
Ich nicke fasziniert. Wenn alle Patienten hier so sind wie er, dann wird es mir hier gefallen. Ziemlich sicher sogar.
Carl steuert zielsicher, an der Information vorbei und ich folge ihm auf dem Fuße, da ich mich direkt auf der Unfallstation melden soll und mein neuer Bekannter sich hier offenbar bestens auskennt.
»Woher bist du eigentlich?«
Mein leicht verwirrtes Oberstübchen, braucht ein bisschen, ehe es die Frage übersetzt hat. »Aus Deutschland.«
»Das hat dein leises Selbstgespräch schon offenbart. Ich meine viel eher, wie kommst du zu deinem Namen?« Carl studiert mich, als erwarte er irgendein hinreißendes Kunststück. Seine stechend blauen Augen leuchten mir entgegen und ich erwische mich dabei, wie ich nach einer kecken Antwort suche. Doch mir will partout nichts einfallen, außer die blanke, uninteressante Wahrheit.
»Meine Mutter wollte kreativ sein.«
»Verstehe.« Carls Augen verengen sich ein wenig, als ließe er sich von meiner Antwort nicht beirren. Als sei ich noch immer viel zu interessant. »Und jetzt willst du kreativ mit Patienten arbeiten?«
»Das klingt einfach nur falsch.«
»Vielleicht ein wenig.« Carl reibt sich über sein rechtes Ohr. »Aber in eurem Job muss man sich manchmal echt etwas einfallen lassen, um Patienten dazu zu bekommen, zu gehorchen und keine Marathonläufe zu machen oder Fjordbäder zu nehmen, während man noch am Heilen ist.« Carl hält abwehrend die gesunde Hand nach oben. »Nicht, dass ich so einer wäre.«
Mir entweicht ein amüsiertes Schnauben. Ich bin mir sehr sicher, dass Carl genau so einer ist, aber das macht ihn nur sympathischer. »Natürlich nicht.«
Es ist nur eine winzige Bewegung seines Mundwinkels, doch ich fühle mich ein wenig so, als hätte ich unverhofft den Hauptgewinn gezogen, während er lächelt. »Dein Unglaube bricht mir mein Herz.«
»Du wirst darüber hinwegkommen, da bin ich mir sicher. Ich habe heute größere Fische zu frittieren, als einem unvernünftigen Patienten aufs Dach zu steigen.«
Carl zieht eine Augenbraue nach oben. »Hast du?«
»Ich habe dir gesagt, dass heute mein erster Tag ist, oder? Ich habe keine Ahnung von … nun ja, allem.«
»Also sollte ich dich heute eventuell nicht um ein paar extra Pillen bitten.«
»Besser nicht.« Im hellen Gang des Krankenhauses wirkt mein Neuanfang gar nicht mehr so erschreckend. Der Boden hier ist fast der gleiche, wie in meiner alten Klinik und auch das geschäftige Treiben unterscheidet sich nicht im Geringsten von meiner bisherigen Arbeitsstelle. Und dem einen Arzt, der mich wie ein Springteufel angegangen ist, werde ich schon irgendwie ausweichen können.
»An einem anderen Tag schon?« Carl macht mit mir einen eleganten Schwenk um die Kurve und wir kommen in den bereits gut besetzten Wartebereich der Notfallaufnahme.
»Keine Ahnung. Kommt auf die Pillen an, schätze ich«, gebe ich etwas überrumpelt von mir und Carl bleibt stehen. Wir stehen vor der Tür der Anmeldung der Unfallstation, und ich entdecke den großen Knopf, mit dem man um Einlass bitten kann. Doch Carl versperrt mir den Zugang.
»Und wenn es Kaffee wäre, um den ich dich bäte?«
»Kaffee?«
»Ja. Ganz ohne Chichi. Nur wir beide. Irgendwann, wenn du Zeit hast.«
Ich sehe zu ihm hoch. Noch hatte ich gar keine Zeit, meinen Gesprächspartner wirklich anzusehen und mehr zu bemerken, als sein faszinierendes rotbraunes Haar und seine beeindruckende Körpergröße. Und wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob er unter dem Bart attraktiv ist, oder nicht. Ich weiß nur, dass er wahnsinnig faszinierende Augen hat. Eine Mischung aus flaschengrün und atlantikblau, die von sehr dichten Wimpern umrahmt werden. Und dass er mich beinahe um zwei Köpfe überragt.
»Ich kann dir nicht versprechen, dass ich diese Woche Zeit finden werde. Neuer Job und so.«
»Ich hänge hier wahrscheinlich noch eine Weile ab. Krankschreibung und so. Ich habe es nicht eilig.«
»Gut zu wissen.«
»Hast du eine Nummer für mich?«
Carl legt den Kopf schief, ganz so, als habe er mit mehr Widerstand gerechnet. »Ich denke, ich möchte lieber deine. Du wirkst wie eine Frau auf mich, die Nummern gerne mal absichtlich verliert.« Er grinst noch ein bisschen breiter und schlägt mit der Hand auf den Rufknopf.
Wir werden ohne Wartezeit eingelassen, und mich umfängt das vertraute Umfeld eines geschäftigen Anmeldebereichs, hinter dem sich der Alltag eines Krankenhauses abspielt. Eine Frau am Empfang, eine Schwester mit Kaffeetasse in der Hand, und ein Pfleger im Kampf mit einem Drucker.
»Hey hey. Ich bin für meinen Kontrolltermin da. Und ich bringe euch Unterstützung im Kampf mit dem Bürogerät«, begrüßt Carl die Runde.
»Carl Hegle Moen pünktlich. Dass ich das noch erleben darf.« Die Schwester schwenkt ihre Tasse in Richtung meiner Begleitung. Ich schätze sie in etwa so alt wie mich. Vielleicht ein bisschen jünger. »Wen hast du uns da mitgebracht?«
»Moyo Hegenbuch. Ich fange heute hier an«, begrüße ich sie. »Ich hoffe, ich bin richtig.«
»Ah, die deutsche Krankenschwester.« Sie strahlt. »Wir hatten uns schon gefragt, ob du herfindest. Erste Tage sind ja immer ein bisschen chaotisch.«
»Sind sie«, stimme ich ihr zu.
»Ich bin Liv. US-Amerikanerin und unkompliziert, wie alle hier. Nur wenn du mich wirklich ärgern willst, nennst du mich Olivia. Der Typ am Kopierer ist Laurin. Hinter dem Bildschirm sitzt Airin.« Sie streckt mir die Hand entgegen und ich schüttele sie dankbar.
»Freut mich.«
»Uns auch.« Liv grinst. »Dann lass uns doch mal sehen, welche Uniformgröße wir dir aufbrummen können. Und du Carl, du wartest bitte noch einen Moment draußen.«
»Vorher bräuchte Moyo noch einen Kugelschreiber. Kurz.«
»Braucht sie das?«
»Ich fürchte ja«, gebe ich zu und kann Livs Augen schmal werden sehen, bevor sie mir den Kugelschreiber aus ihrer Brusttasche reicht. »Und jetzt bräuchte ich mal ein Stück Papier oder Haut, mein Lieber, wenn du diese Nummer wirklich willst.«
Carl grinst. Und ich erwarte, dass er den Ärmel seines Pullovers nach oben schiebt, oder dergleichen. Nicht, dass er seinen Hoodie nach oben zieht und mir einen perfekten Hollywood-Sixpack präsentiert, der selbst Hugh Jackman neidisch machen könnte. »Unterschreiben, bitte.«
Ich habe keine Ahnung, ob es okay ist, von dieser Aussicht überfordert zu sein. Noch nicht einmal ob es okay ist, dass ich einem Patienten meine Nummer gebe. Aber die von den letzten Wochen gegängelte Frau in mir lässt den Kugelschreiber klicken und tut wie ihr geheißen.
Im Nachhinein betrachtet hätte ich vielleicht bedenken sollen, dass ich eventuell von nun an als die Krankenschwester vorgestellt werden könnte, die bereits innerhalb ihrer ersten zwei Minuten ein Date mit dem wohl heißesten Sixpack Bergens klar gemacht hat. Andererseits gibt es schlechtere Einstiegsgeschichten. Und so sitze ich bereits zur Mittagspause inmitten einer fröhlich tratschenden Meute, die meine Geschichte vom mich betrügenden Ex-Freund nicht glauben kann, wo ich doch ohne zu zögern auf Carl meine Nummer hinterlassen habe. Etwas, das sich offenbar mehr als eine der Anwesenden gewünscht hat, wenn man ihren Erzählungen Glauben schenken mag. Und so bin ich mir nicht ganz sicher, ob Carl ein echter Casanova ist, oder einfach nur viel zu gut bei der Frauenwelt ankommt, während Liv an einem grünen Apfel nagt und gleichzeitig versucht, Inspirationen für ihren Kleiderschrank auf Instagram zu finden. »Manchmal wünschte ich, Kuchen hätte genauso wenig Kalorien wie Gemüse«, höre ich sie murmeln und entdecke auf ihrem Feed die Bilder von zu vielen opulenten Torten. »Dann wären alle glücklich.«
»Stelle ich mir anstrengend vor.« Da ich in den letzten Monaten vornehmlich auf Theobromin funktioniert habe, der chemischen Verbindung von Schokolade, die gegen Liebeskummer und einen fehlenden Erzeuger hilft, stelle ich mir eine Diät, die auf Kuchen basiert, mehr als anstrengend vor. »Wer soll das alles backen?«
»Der ökologische Fußabdruck wäre fatal, stimmt.« Liv lässt den Apfel knacken. »Wo wohnst du eigentlich?«
»In Os. In einem kleinen Steinhäuschen an der Küste.«
»Mh«, macht sie und ich kann ihr dabei zusehen, wie sie ihren Snack sinken lässt. »Sag bloß du bist die Erbin vom Storgaard Haus?«
Von ihrer Reaktion erstaunt sehe ich von meinem Stapel an Unterlagen auf, die ich noch ausfüllen muss. »Ja?«
»Krass.« Liv räuspert sich. »Das … man hört ja die schrägsten Gerüchte.«
»Tut man?«, hake ich reichlich verdutzt nach und ich kann Liv ein wenig belämmert ihren Apfel zur Seite legen sehen.
»O ja.«
»Inwiefern?«
»Du … wie genau bist du mit den Storgaards verwandt?«, drückt sich Liv um eine Antwort herum.
»Ich bin Jesper Storgaards Tochter.«
Liv atmet scharf ein und Airin, die bis eben die Spülmaschine ausgeräumt hat, dreht sich bei meiner Entgegnung um. »Oi«, ächzt sie. »Oi, das … o man, Moyo.« Sie drückt sich gegen die Anrichte in unserem Pausenraum. »Das ist schlimm. Schlimm, schlimm, schlimm«, entweicht es ihr dann.
»Was Airin sagen will ist, du hast eine ganz schöne Familiengeschichte zu verdauen.«
»Habe ich?«
Liv schiebt ihr Handy zur Seite und mustert mich mit schief gelegtem Kopf. »Weißt du es etwa nicht?«
»Ich schätze nicht?«, sage ich planlos und etwas alarmiert.
Sie presst die Lippen zusammen. »Dann weißt du gar nichts? Nicht ein Stück?«
»Gar nichts«, gebe ich zu und ein wenig fühle ich mich, als sei ich unverhofft auf eine Planke gewandert, von der aus es ein paar hundert Meter in die Tiefe geht. Blind.
Airin gibt ein Stöhnen von sich. »Das … man, das sollte dir jemand aus deiner Familie erzählen.«
»Wer denn?«, seufzt Liv. »Mir wäre hier kein Storgaard mehr bekannt.« Liv kratzt sich am Kopf. »Gut. Also … aaah … also die Geschichte dreht sich weniger um deinen Vater. Sondern um deinen Onkel Hakon.«
»Ich hatte –«
»Jesper ist erst nach dessen Tod in das Haus gezogen, das du jetzt geerbt hast.« Airin ergreift ganz unvermittelt das Wort und kommt zu uns an den Tisch. »Ich kann dir gerne die ganze Geschichte erzählen. Aber es ist keine gute Geschichte.«
Sie wartet gar nicht erst darauf, dass ich sie bitte. Ich glaube sie weiß auch so, dass sie weiterreden muss, jetzt wo die beiden angefangen haben. »Also ähm … kennst du denn schon Erik? Deinen Nachbarn?«
»Ja.« Die Richtung, die diese Erzählung einschlägt, passt mir schon jetzt ganz und gar nicht.
»Also Erik ist ein Einzelkind. Aber er hatte eine beste Freundin. Evers. Ein unglaublich hübsches Mädchen. Hat allen Jungs den Kopf verdreht, kaum dass sie sechszehn war. Ein paar Modelagenturen waren auch an ihr interessiert, aber für sie gab es immer nur Erik. Erik, Wasserski und das Surfen. Sie haben sich Stundenlang am Bootshaus der Westgaards unten am Fjord herumgedrückt. Neben eurem, deinem Haus. Da muss sie dein Onkel wohl gesehen haben.«
Ich weiß jetzt schon, dass mir diese Geschichte gar nicht gefallen wird. Das verrät mir bereits mein nervöses Magenkribbeln, das immer dann auftritt, wenn mir Übles schwant.
»Sie hatten eine Affäre. Ein fünfunddreißigjähriger Mann mit einer sechszehnjährigen. Und sie wurde schwanger.« Airins Augen bohren sich in meine. »Und dann hat …« Sie stockt. »Er hat sie umgebracht. Unten am Steg. Erik hat sie gefunden.«
Ich fühle mich so, als hätte sich jemand auf meinen Brustkorb gesetzt. »Was?«
»Die Geschichte geht noch weiter. Sie haben versucht, es ihm zu beweisen. Aber es waren nur Indizien. Und ihr Vater … kannst du dir vorstellen, wie es ist, sein Kind zu verlieren?« Airin greift nach meiner Hand, ganz so, als habe sie vor, mich mit körperlicher Gewalt dazu zu bringen, ihr weiter zuzuhören. »Es war ein echtes Drama. Er hat es selbst in die Hand genommen. Hat ihn und sich erlöst, und den ganzen Schuppen angezündet.«
»Er hat –«
»Es ist eine furchtbare Geschichte.« Airin zerquetscht meine Hand. »So viel Leid.«
»Mein Onkel hat jemanden umgebracht und wurde dafür –«
»Dein Vater hat deinen Onkel immer verteidigt. Gesagt, dass er seinem Bruder glaubt, dass er es nicht war. Hat ihm nicht viele Freunde beschert.« Sie schüttelt den Kopf. »Klar war er Familie, aber Hakon, der war ein Monster«, fügt sie grimmig an. »Mehr als einer von uns hat Evers Vater damals verstanden. Wenn so etwas passiert.«
Mir ist schlecht. Richtig schlecht, als sie ihre Finger löst.
»Jedenfalls hat Erik alles abgerissen vor ein paar Jahren, was noch vom Schuppen übrig war und dann weiter hinten sein Haus gebaut, wie ein Wachturm über der Bucht. Und eigentlich dachte ich, dachten wir alle, dass er das Grundstück deines Vaters kaufen würde, als er …«
»Ein Mörder war Teil meiner Familie? Ein Mörder der …« Ich habe keine Ahnung, was das norwegische Wort für gelyncht ist, deshalb sage ich »umgebracht wurde?«
»Nichts davon war rechtens. Weder das Verbrechen, noch die Sühne.« Airin klopft auf den Tisch und holt tief Luft. »Aber es ist wie es ist. Kinder sind gut dafür, die Fehler und Ungeheuerlichkeiten der Alten wieder auszubügeln.«
»Immerhin weiß ich jetzt, warum Erik mich hasst.«
»Es liegt nicht an dir.« Liv schenkt mir ein schmales Lächeln. »Verzeih ihm das.«
»Ich … ich hatte keine Ahnung. Von nichts.« Kein Wunder, dass meine Mutter meinen Vater damals über einen Gartenzaun baumelnd – wobei, nein, das war vorher. Wenn Eriks Freundin damals sechszehn war, dann muss ich zu dem Zeitpunkt auch schon auf der Welt gewesen sein. So viel älter als ich, kann er nicht sein.
»Tut mir leid, dass wir dich damit überfallen haben.« Liv angelt wieder nach ihrem Apfel.
»Wenn ich … ich glaube nicht, dass ich hierher gekommen wäre, wenn ich das gewusst hätte.«
»Dann ist es gut, dass du von nichts wusstest«, sagt Airin forsch. »Jesper war schon okay. Und du kannst nichts dafür.«
Mein Schädel bildet nur lose zusammenhängende Gedankenfetzen. Norwegisch und Deutsch formen einen Ballen aus Empfindungen, für die ich keine Worte habe. Gerade eben habe ich mich mit Liv noch über kalorienfreien Kuchen unterhalten. Und jetzt, jetzt bin ich mit den Abgründen menschlichen Tuns konfrontiert und nicht mehr Moyo mit der Nummer des heißen Typen, sondern Moyo mit dem Batzen Familiengeschichte, der sich gut für einen Thriller in Leinwandformat eignen würde.
Liv taucht unter dem Tisch ab und ich frage mich schon, was sie sucht, als sie mit einem Schokoladenriegel in der Hand wieder auftaucht. »Den habe ich immer für Notfälle in der Tasche.«
Ich nehme ihn dankbar entgegen und sie schenkt mir ein tröstendes Lächeln. Eines dieser Krankenschwesterlächeln, das sie, wie ich auch, über Jahre erprobt hat. Als Empfängerin dieses Trosts kann ich nun feststellen, dass er leider nicht hilft. Die Schokolade ein bisschen.
Sie würde sogar noch ein bisschen mehr nützen, wenn keine Erdnüsse darin wären. »Danke.« Ich kaue trotzdem schlapp »Ist schon besser.«
»Sorry, die ganze Geschichte ist zum Kotzen.« Liv scheint sich meiner Unversehrtheit noch immer nicht ganz gewiss. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich das auch noch nicht. Ich brauche Luft. Platz zum Nachdenken. »Ich glaube, ich gebe jetzt mal den ganzen Papierkram ab.«
»Mo…«
»Ich … ich brauche ein bisschen … ich …« Ich winke ab und schiebe den Stapel Papier in meine Arme, der noch gar nicht fertig ausgefüllt ist. Trotzdem presse ich ihn an mich, wie ein Neugeborenes, während ich noch ein Stück Schokolade abbeiße.
Ich nehme den Weg, den ich gekommen bin, den Gang entlang, am Empfang und an den Wartenden vorbei. Nehme ihren Kummer und ihre teilweise schmerzverzerrten Gesichter wahr und kann nicht fassen, dass mein mir unbekannter Onkel für den Tod eines Mädchens verantwortlich sein soll.
Dass jemand sterben musste, weil er scheinbar nicht damit klarkam, Vater zu werden.
Ich haste den Gang entlang, weil mir plötzlich der Gestank von Desinfektionsmittel und der Geschmack von Schokolade wie eine teuflische Mischung erscheint. Trotzdem kann ich nichts dagegen tun, noch einen Bissen hinunterzuwürgen. Ein Druckverband auf mein armes Herz. Wieso nur habe ich in letzter Zeit den Newsletter für alles Schreckliche abonniert?
Als ich es nach draußen vor das Krankenhaus schaffe, spuckt der Himmel Regentropfen. Klirrend kalt jagen sie auf mich nieder und ich mache kehrt, um unters Vordach zurückzukehren und von dort aus vorwurfsvoll nach oben in den grausamen Himmel zu starren. Eigentlich will ich nichts als weg. Rein in die vertraute Umgebung meines Autos, um von dort aus meine Schwester anzurufen. Ihr alles zu erzählen und eventuell sehr laut zu schreien, doch der Papierstapel hält dieses Unterfangen nicht aus.
Und so stehe ich da. Stehe da und bemerke, dass mein Telefon noch im Pausenraum auf dem Tisch liegt. Genau wie der Rest meiner Habseligkeiten und so lasse ich die Schultern hängen. Scheiße. Ich sacke auf die traurige Ausrede einer Parkbank, die wohl für Patienten gedacht ist, die nicht mehr so gut zu Fuß unterwegs sind.
Für ein paar Minuten beobachte ich still das Gehen und Kommen ins Krankenhaus. Mal gehetzt, mal gemächlich, mal fröhlich schwatzend, mal still und ernst. Es beruhigt mein tobendes
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Eliza Hill
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Cover: Casandra Krammer - www.casandrakrammer.de
Lektorat: Bettina Dworatzek – www.lektoratdworatzek.com/ André Piotrowski
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2020
ISBN: 978-3-96714-080-4
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