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Prolog

Du kennst nicht alle Details, dieses Mantra bete ich mir immer wieder vor, während ich auf das Schild an der Tür starre. Du kannst nicht einfach durch die Tür fallen und ihm den Teufel an den Hals wünschen. Das gehört sich nicht, auch wenn er es verdient hätte.

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Noch vor einem Jahr wäre ich vor Glück geplatzt, diesen Mann hinter der Tür kennenzulernen, und objektiv betrachtet ist er noch immer eine Koryphäe auf seinem Gebiet, doch sämtliche seiner beruflichen Erfolge können den Groll nicht schmälern, den ich gegen ihn hege.

Vor acht Jahren hat er seinen Sohn beinahe zu Tode geprügelt. Meinen Luca. Den beinahe zwei Meter großen Felsen in meiner Brandung. Allein der Gedanke daran, ihn körperlich verletzen zu können, ist beinahe unvorstellbar. Aber der Mann hinter dieser Tür hat nicht nur das geschafft, nein, er hat mit dieser Aktion auch Lucas Schuldgefühle am Tod seiner Schwester in Stein gemeißelt.

Klar, Dmitri Bexton hatte an diesem Tag seine Tochter verloren. Er konnte sich in seiner Trauer nicht kontrollieren, aber das ist keine Entschuldigung. Am liebsten würde ich ihn dafür vierteilen, was er Luca angetan hat. Er hat etwas in ihm kaputtgemacht, das niemand wieder kitten kann. Denn er ist es, der Luca eingeimpft hat, dass dieser Autounfall, bei dem seine Schwester ums Leben kam, seine Schuld war.

Die Türe vor mir öffnet sich und einer unserer Buchhalter schiebt sich mit zwei großen Aktenordnern unter dem Arm ins Vorzimmer, ohne mich weiter zu beachten.

„Kommen Sie rein, Miss Morten.“ In der Stimme liegt etwas, was mich an einen alten Hooligan denken lässt, obgleich das natürlich vollkommen absurd ist. Dmitri Bexton hat nichts übrig für Fußball und im American Football ist mir keine Hooligan-Szene bekannt.

Ich komme in Bewegung und trete durch die dunkle Holztüre in einen hellen Raum, in dem normalerweise Michael aus der Personalabteilung zu finden ist. Doch da ist heute kein Michael mit schütterem Haarkranz und breitem, wohlwollendem Lächeln. Stattdessen steht ein hochgewachsener Mann hinter Michaels Schreibtisch, dessen scharfer, anhaltender Blick mich findet, kaum dass ich über die Türschwelle getreten bin.

Oberflächlich betrachtet hat Dmitri Bexton außer seiner imposanten Erscheinung überhaupt keine Ähnlichkeit mit seinem Sohn. Die grauen Strähnen, die sein dunkelbraunes Haar durchziehen, mehren sich an den Schläfen und sein Gesicht spricht davon, dass Luca weder der Erste noch der Letzte war, den er schon einmal auf die Bretter geschickt hat. Dmitri erinnert an einen Boxer, und ich erwische mich beim Gedanken daran, dass ich ihn mir sehr wohl in der ersten Reihe bei einer Schlägerei vorstellen könnte. Sein markantes Kinn ist kantig, die Nase schon mehr als einmal gebrochen und wieder zusammengeflickt worden und der Bartschatten macht sein hartes Gesicht noch ein wenig finsterer.

„Sie haben sich Zeit gelassen.“ Seine eigensinnig geschwungenen Lippen spiegeln Missfallen wider und ich kann mich des Gefühls des Wiedererkennens nicht erwehren. Auch wenn er seine Farben nicht an seinen Sohn vererbt hat, seine Mimik lässt mich unwillkürlich an Luca denken.

„Mister Bexton“, erwidere ich. „Ich war noch … beschäftigt.“ Ich bringe es nicht über mich, mir eine Ausrede einfallen zu lassen, weshalb ich ihn so lange habe warten lassen. Luca würde es nicht gutheißen, dass ich hier bin, und ich glaube, das wissen wir beide gut genug.

Seine Augen gleiten abwägend über meine verwaschene Röhrenjeans und meine weiße Bluse, auf der seit der Frühstückspause ein Marmeladenfleck prangt, und halb wünschte ich, ich hätte heute Morgen auf meinen Toast verzichtet.

In seinen Augenwinkeln haben sich die ersten feinen Linien in die Haut gegraben, wie mir auffällt, als ihn länger als nötig taxiere. Spätestens jetzt hätte Luca mich gefragt, was los ist. Doch anders als sein Sohn erwidert Dmitri die Musterung stumm. Seine Iriden – ein Mix aus hellem Braun und Blaugrau - ändern ihre Farbzusammensetzung, als seine Pupillen sich verengen und er einen Schritt nach vorne tritt.

Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich etwas geäußert habe, das zu viel preisgegeben hat. Dabei habe ich kein Sterbenswort geäußert.

„Er hat Ihnen davon erzählt, nicht wahr?“

In meinem Kopf tobt ein ganzes italienisches Kabinett. Die Antwort auf diese Frage muss ja lauten, aber darf ich ihm das sagen? Ich bleibe still, während die Debatte darüber weiter in meinem Kopf wütet.

„Das ist gut. Er braucht jemanden auf seiner Seite des Rings.“ Dmitri lässt sich auf den breiten Schreibtischstuhl fallen, ganz so, als hätte ich ihm eine ausreichende Antwort geliefert. Offenbar ist Lucas Vater kein Fan von Geplänkel. „Ich habe Sie nicht einbestellt, um Sie davon zu überzeugen, dass ich kein Monster bin. Ich weiß, was ich getan habe, und damit muss ich leben.“

Ich atme tief ein, halb, um Zeit zu schinden, und halb, weil ich nicht anders kann. Das hätte auch aus Lucas Mund kommen können.

„Ich bin nur hier, um sicherzugehen, dass sein Bruder seine Bewährungsauflagen nicht bereits in den ersten vierundzwanzig Stunden verletzt.“ Dmitri lässt mich noch immer nicht aus den Augen, während ich mich frage, von was zur Hölle er da nur redet. „Und es liegt mir fern, hier in der Firma Aufstände im Nadelstreif loszutreten. Vielleicht können Sie ihm das bei Gelegenheit sagen“, fährt er einfach fort.

„Ich bin nicht hier, um Ihnen eine Führung zu geben, oder?“, entweicht es mir langsam.

Seine Lippen verziehen sich zu einem beinahe entschuldigenden Lächeln. „Ich fürchte, es war die Neugierde eines alten Mannes, die Sie herzitiert hat. Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie wegen dieser Banalitäten von der Arbeit abhalte, aber ich musste Lucas gegenwärtige Abwesenheit einfach nutzen. Er würde mich nicht in Ihre Nähe lassen, wäre er hier.“

Eigentlich bin ich keine sonderlich theatralisch veranlage Person, aber Lucas und Dmitris Vergangenheit bietet Stoff für einen Weltbestseller. Weil, und das ist das Tragische an der Sache, ich ziemlich sicher bin, dass Dmitri ein Herz hat. Ich weiß auch nicht, aber ich sehe ihn an und höre, was er da sagt, und es klingt einfach nicht bösartig. Es klingt müde und es klingt so verdammt unglücklich.

Ich kann diesen Mann nicht anschreien oder über die Maßen unhöflich sein. Und er hat recht, dass Luca ihn mir wahrscheinlich niemals vorstellen würde. Weil er ihn nun einmal nicht mehr in seinem Leben haben möchte. Aber das kann ich ihm nicht sagen und heucheln will ich nicht. Deshalb schaffe ich es irgendwie in Richtung Tür zu deuten. „Wenn das alles war, würde ich jetzt gehen, Mr. Bexton.“

Er presst die Lippen aufeinander. „Ich nehme an, es wird auf sehr lange Zeit das letzte Mal sein, dass wir uns gegenüberstehen, Miss Morten.“

„June.“ Ich werfe ihm ein entschuldigendes Lächeln zu. „Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Dann gehe ich und brauche beinahe ewig bis in mein Büro, um mein schlechtes Gewissen, ihn einfach so stehen gelassen zu haben, wieder unter Kontrolle zu bringen.

Kapitel 1

Ich studiere Alexejs E-Mail zum siebten Mal, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen. Zu abgelenkt bin ich vom Gedanken daran, Luca von meiner Unterredung mit seinem Vater zu berichten. Sicher wird er erfahren, dass Dmitri hier in der Firma gewesen ist. Es ist nur eine Frage der Zeit. Auch dass Dmitri mich zum Gespräch gebeten hat.

Ich reibe mir über die Schläfe. Ich sollte es ihm sagen, aber ich muss kein Siegmund Freud sein, um mir seine Reaktion vorzustellen. Die letzten drei Wochen haben Luca und ich in einer perfekten kleinen Blase zugebracht, wo es keine Dramen und Streitigkeiten gab. Und kaum ist Luca für vierundzwanzig Stunden aus der Stadt, um sich in Manchester mit einem neuen Start-up-Unternehmen zu treffen, schlägt sein Vater hier auf und bringt die Idylle zum Platzen wie eine Seifenblase.

Gut, wenn ich ehrlich bin, ist Dmitri Bextons Auftauchen nicht das einzige Problem, das sich in den letzten Wochen in meinen Orbit geschoben hat. Aber all die anderen Dramen konnte ich bisher ganz gut ausblenden, weil sie nicht akut sind. Es ist ein bisschen so wie mit meiner Unsportlichkeit. Solange mich keiner zu einem Dauerlauf nötigt, fällt es nicht weiter auf. Und solange ich meiner Familie nicht sage, dass es einen neuen Mann in meinem Leben gibt, kann auch keiner daran Anstoß nehmen.

Ich lasse meinen Kopf in den Nacken fallen und starre an die Decke. Dieses verdammte Gespräch mit meinem Bruder schiebe ich nun schon so lange vor mir her, dass es mir mittlerweile beinahe wie eine Konstante vorkommt.

„Machst du mal bitte das Fenster auf, June?“, unterbricht mein bester Freund meinen stillen Klagesang. Ich folge seiner Bitte dankbar, erleichtert, nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, wie ich Eric Morten Luca Bexton erkläre, denn ein türkischer Vater ist nichts gegen meinen ältesten Bruder.

Und dann ist da noch der Telefonanruf, der dieses andere Problem offenbart, das ich seit nunmehr acht Tagen als kleines Schlagloch auf dem Weg des Traumpaars James und Jody ins Happy-End abzutun versuche. Jedes Klingeln, das ungehört zwischen den Papieren auf James‘ Schreibtisch verhallt, lässt meine Zuversicht ein wenig schmelzen, dass sie das wieder auf die Reihe bekommen.

Seit James herausgefunden hat, dass Jody noch Kontakt zu ihrem Exfreund hat, habe ich die beiden nicht mehr normal miteinander sprechen hören. James‘ wasserstoffblond gefärbter Schopf, den er seit Montag so ausrasiert trägt, als hätte er vor, zur Armee zu gehen, bleibt hinter seinem Bildschirm vergraben. Nur das zu laute Klackern der Tastatur verrät mir, dass er sehr wohl Kenntnis genommen hat.

Aber eines muss ich Jody lassen, sie macht das wirklich gar nicht so schlecht. Sie lässt sich nicht abwimmeln.

Es nieselt und ein strammer Wind weht unter meine Bluse, während das Klingeln durch das offene Fenster auf den Parkplatz hinunterdringt.

Nur ein Schlagloch.

Ich kann James‘ Hand nach dem Handy tasten hören, ehe er es mit einer vehementen Bewegung so dreht, dass das Display auf die Schreibtischplatte zeigt und das Läuten erstirbt. „Hast du schon Alexejs Mail gelesen?“

„Jein“, bringe ich überrascht raus. „Ich war gerade dabei.“

Halb warte ich darauf, dass James mich deshalb anschnauzt, doch er kippt nur seinen Stuhl nach hinten und nickt in Richtung Telefon. „Mann, sie kann es einfach nicht gut sein lassen“, schnappt er, ehe er mich fixiert. „Was ist deine Meinung zu dem Thema?“

„Männer und Frauen können miteinander befreundet sein. Sieh uns an.“ Ich mache eine Geste, die uns beide einschließen soll, doch es grenzt an physische Kapitulation. Es ist eiskalt vor diesem dämlichen Fenster.

„Wir wollten auch nie etwas voneinander.“ James kneift die Augen zusammen und die blassen Narben auf seiner linken Gesichtshälfte geben ihm für einen Moment eine brutale Ausstrahlung, sodass ich mir nicht sicher bin, ob mein Gerede noch etwas retten kann. Von vorgefassten Meinungen ist James nur schwer wieder abzubringen und diese scheint geradezu festbetoniert zu sein.

„Ich will nicht, dass ihr euch trennt. Nicht wegen ein paar Telefongesprächen.“ Das ist doch dumm, hätte ich am liebsten noch angefügt, doch das lasse ich wohl besser. „Ihr habt so lange gebraucht, um zusammenzukommen“, entweicht es mir stattdessen.

„Hör zu, June. Ich sage nicht, dass mir auch nur irgendetwas daran leichtfällt. Aber ich bin intelligent genug, um mich nicht verarschen zu lassen.“ James steht auf, innerlich so geballt, dass ich mir sicher bin, dass er kurz davor steht zu platzen. „Es ist eine Sache, mir ihre Telefongespräche zu verschweigen, aber es ist etwas anderes, sich hinter meinem Rücken mit ihm zu treffen.“

„Das hat sie nicht gemacht.“ Ich bin baff. „Jody ist nicht der Typ Frau dafür.“

„Ich habe sie am Donnerstag zusammen gesehen.“ Die sonst so natürliche Lässigkeit meines besten Freundes ist verschwunden. „Sie betrügt mich mit diesem Arsch, June, und ich habe sie in den Himmel gehoben wie Colin Firth seine Freundin in diesem gottverdammten Weihnachtsfilm.“

Tatsächlich Liebe“, entweicht es mir nicht gerade hilfreich. James wischt sich über die Stirn. Er wirkt, als wäre kein Blut mehr in seinen Adern zu finden, und ich fühle mich mehr als dämlich. „Zu Jody gibt es nichts mehr zu sagen. Auf solche Psychospiele lasse ich mich nicht mehr ein“, bestätigt James meine späte Erkenntnis. Sein Schmerz und die Enttäuschung lassen seine Gesichtszüge toxisch bleich werden, beinahe so schlimm wie damals bei unserer ersten Begegnung, als er den Entzug noch vor sich hatte.

Er verwandelt sich vor meinen Augen zu Stein und ich hasse diese rothaarige Frau für ihre Charakterschwäche und mich dafür, dass ich der Meinung war, sie wäre die richtige für ihn. Am liebsten würde ich mich bei James entschuldigen. Für alles. Stellvertretend für Jody und den Rest der Frauenwelt - und dafür, dass ich letzte Woche lieber an meinem gelangweiltesten Gesichtsausdruck gearbeitet habe, um mit meinen Mitbewohnerinnen Sam und Mila in den neuen Club zu kommen, der direkt neben dem Queen’s Park aufgemacht hat, anstatt mit ihm über den Fortgang seiner Beziehung zu sprechen. Einfach weil ich diese ganze Sache nur für ein kleines Störfeuer gehalten habe.

„Ich will nicht darüber sprechen. Es ist, wie es ist“, stellt mein bester Freund, dem mein Ringen nach den richtigen Worten nicht entgangen ist, verbittert fest.

„Ja.“ Ich beiße mir auf die Lippen. Wir wissen beide, dass die richtige Übersetzung seiner Aussage eigentlich „ich kann das nicht“ ist. Ich schlucke. Schlucke hart und kann nichts dagegen tun. Ihn zu umarmen, ist ein Zwang, den ich nicht unterdrücken kann.

„June.“

„Tut mir leid.“ Ich presse meinen Kopf gegen seine sehnige, zu breite Brust. James festzuhalten ist wie einen Stein zu umklammern. Ganz tröstlich, aber einseitig. Ich schmuggele einen Arm unter seinen und ziehe ihn enger an mich.

„Mir geht’s gut, June.“

James ist ein furchtbarer Lügner. Die Intensität meiner Umarmung zu erhöhen ist der einzige wortfreie Weg, ihm zu widersprechen und seine Behauptung doch zu akzeptieren. Es dauert, ehe ich die Kraft aufbringe ihn loszulassen. „Wir sollten wohl weitermachen.“ Ich bemühe mich um einen beiläufigen Tonfall, doch es wiegt bleischwer auf meinen Lippen. Trotzdem mache ich einen Schritt zurück.

Es ist mittlerweile so kalt in unserem Büro, dass ich mir am liebsten meine Lederjacke überziehen würde, doch ich begnüge mich damit, das Fenster energisch in seinen Rahmen zu drücken und zurück an meinen Platz zu sinken.

Es ist, als wären meiner Welt seit meinem Stelldichein bei Lucas Vater alle positiven Eigenschaften abhandengekommen. Ganz so, als hätte jemand den Zuckerguss abgekratzt, bis nur noch die unschönen, rostigen Antriebsfedern aus Kummer und fehlender Zuneigung übriggeblieben sind. Dabei sind philosophisch deprimierende Gedankengänge wie diese nicht meine Art. Zumindest hoffe ich, dass ich mir diese Denke noch nicht angeeignet habe. „Ich brauche einen Kaffee.“

Mein Hintern bleibt auf meinem Stuhl. Sosehr ich auch einen seelenschmeichelnden Becher Koffein gebrauchen könnte, so sehr würde ich es heute Abend bereuen. Und so hocke ich vor einem mittlerweile schlafenden Computerbildschirm, der erst erwacht, als mein Knöchel aus Versehen gegen den Schreibtischfuß stößt. Das leise Rauschen, das der PC dabei von sich gibt, zieht mich zurück in die Realität.

Ich muss endlich diese blöde Mail beantworten und dann muss ich Eric endlich von Luca berichten. Und Luca, Luca muss ich stecken, dass sein Vater hier ist. Gleich nachdem ich Johanna Anderson-Smith umgebracht habe.

 

Kapitel 2

Luca und ich sind in jener komfortablen Phase angekommen, in der jeder einen Schlüssel zum Reich des jeweils anderen hat. Was für mich heißt, dass ich mir mittlerweile den Griff zum Smartphone sparen kann, wann immer ich vor seiner Tür stehe, da sein Haus keine Klingel besitzt. Die Tatsache, dass er als CEO eines Computerunternehmens auf eine einfache Transistorschaltung an seiner eigenen Haustür verzichtet, verwundert nur Leute, die Luca nicht kennen. Denn eine Klingel zu haben bedeutet gleichermaßen anderen die Möglichkeit zu geben ungewollt bei ihm vorstellig zu werden. Eine kleine subtile Geste des Trotzes gegen die Welt, die ihn wie einen dunklen Turm fest in ihrer Mitte verankert hat.

Auf der anderen Seite der Tür wartet Velvet. Die freundliche Begeisterung des Dobermanns bei meinem Auftauchen lässt meine schlechte Laune abfallen. Die weichen Bewegungen und seine warmen braunen Augen sprechen von überschwänglichem Glück, mich zu sehen. In diesen Hund habe ich mich kopfüber verliebt. Knall auf Fall sozusagen, und entgegen jeder Beteuerung Luca gegenüber bin ich mir längst im Klaren darüber, dass Velvet mindestens genauso sehr mein Hund ist wie seiner.

Velvet knickt ein, als ich ihn hinter den Ohren kraule. Wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat, lässt er sich auf den Boden fallen und sieht mich mit jenem glücklichen Hundelächeln an, das von totaler Zufriedenheit spricht.

„Wie war Manchester?“, will ich von Velvet wissen, den Luca meist nur als „Monster“ bezeichnet. Weshalb, das ist mir mittlerweile absolut schleierhaft, denn der Dobermann ist nur auf den ersten Blick ein bisschen furchterregend.

„June?“ Lucas dunkler Bass weht zu mir in den Gang, der ein wenig zu breit ist, um bei einem Engländer das Gefühl einer heimeligen Atmosphäre zu erwecken.

„Hey.“ Ich lasse von Velvet ab und steige aus meinen Schuhen, die mich bereits seit heute früh drangsaliert haben, ehe ich ins Wohnzimmer abbiege. „Ich dachte, du bist noch gar nicht zurück.“

Als ich eintrete, weilt mein Freund auf der ausladenden Ledercouch und starrt auf den Laptop vor sich. Das gutsitzende weiße Hemd, unter dem sich breite Schulterblätter spannen, hat er bis zu den Ellbogen nach oben gekrempelt und in seiner linken Hand hält er ein Glas, das zwei Finger breit mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt ist, in der ein Eiswürfel schwimmt.

„Wir sind uns noch über den Preis uneins.“ Luca sieht nicht auf, während er das sagt, offenbar von etwas auf dem Bildschirm gefesselt. „Wie war dein Tag?“

Ich studiere sein hart geschnittenes Gesicht, das rigorose Kraft und Durchsetzungsvermögen ausstrahlt - vielleicht mehr noch als sein beeindruckender Körperbau, der den seines Vaters wie einen misslungenen Erstentwurf wirken lässt. Jeder Zoll ein überdeutlicher Hinweis darauf, dass er, hätte das Schicksal ihm seinen Willen gelassen, noch immer auf einem Footballfeld stehen würde. Stattdessen aber sitzt er in einem Anzug aus der Saville Road so vertieft vor dem Bauplan des neuen ELX-Firmenparks, dass man meinen könnte, es handele sich dabei um ein Playbook.

„Ich habe deinen Vater kennengelernt.“

Luca klappt seinen PC beinahe bedächtig zu, erfüllt von etwas, das ich als harte Wut umschreiben würde, ehe sein Mund sich zu einer schmalen Linie verzieht. „Wann?“

„Heute Morgen. Für vielleicht zwei Minuten. Mir war nicht einmal klar, dass er hier ist.“ Ich studiere Lucas Gesicht, aus dem ungefilterter Zorn spricht. Ich kenne ihn schon länger, als ich ihn liebe. Ein unbezwingbarer Wille und ein noch tiefer sitzender Sinn für das Geschäft machen ihn ebenso aus wie sein Sarkasmus und eine zuweilen an Selbstzerstörung grenzende Obsession zu Sport. Dass die nicht vorhandenen Bande zu seinem Vater und die Schuldgefühle wegen des Todes seiner Schwester jedoch jedes familiäre Grundempfinden getilgt haben, habe ich bisher eher befürchtet als es wirklich zu wissen.

Luca nimmt einen Schluck von der klaren Flüssigkeit, ehe er ein freudloses Lachen von sich gibt. „Er sollte auch nicht hier sein“, sagt er bitter. „Er sollte Don nur einen verfickten Platz in diesem Entzugsprogramm besorgen, so wie es ausgemacht war.“

Dass sein Vater und er irgendeine Übereinkunft wegen seines Bruders getroffen haben, ist mir gänzlich neu. Und so forsche ich in Lucas Gesicht nach irgendeinem Hinweis darauf, wann genau sie das entschieden haben. Und vor allem wie.

„Damon wollte sich eigentlich um die Einzelheiten kümmern“, liefert Luca eine halbausgegorene Erklärung.

„Dein Bruder kommt nach London?“, hake ich deshalb nach. „Hierher?“

„Ja.“ Luca legt den Kopf in den Nacken. „Wieso?“

Ich atme tief ein. „Na ja. Ich, … es wäre schön gewesen, davon zu erfahren, dass das im Gespräch ist.“

„Du hättest es mir ausgeredet.“ Luca wischt sich über seinen Bartschatten. „Weil es unglaublich viel Aufwand ist ihn herzubekommen, und dann hättest du mich nach dem Warum gefragt.“

Ich weiß nicht, ob es tröstlich ist, dass er sich über meine Reaktion Gedanken gemacht hat. Aber mich bekümmert ein wenig das Ergebnis seiner Überlegungen.

„Und das darf ich nicht?“

Luca fährt auf. „Nicht wirklich.“

„Was … willst du denn tun? Ich meine, er muss erst einmal einen Entzug machen.“ Ich schlucke. „Oder hat er den schon hinter sich?“

„Siehst du. Du redest es mir aus. Wie ich gesagt habe.“

„Nein. Ich rede dir gar nichts aus. Dazu müsstest du mir erst einmal mitteilen, was du genau vorhast und was Damon hier eigentlich organisieren soll.“

„Don muss auch nach seinem Entzug Auflagen erfüllen. Ansonsten buchten sie ihn ein. Darum kümmert sich Damon. Besser gesagt kümmert er sich darum, dass mein Vater die Vorteile versteht, die wir hier in London haben. Ich meine, Don wäre weg von seinem alten Umfeld. Er wüsste hier nicht einmal, wie er sich etwas besorgen kann, wenn er wollte.“

„Und diese beiden Vorteile würde ich nicht verstehen?“ Ich kneife die Augen zusammen.

„Himmel, June. Der Papierkram ist Irrsinn, und … und du weißt so gut wie ich, dass ich das auch für mich mache. Weil ich mich damit besser fühle. Hier habe ich das Gefühl, was tun zu können.“

„Luca. Ich verstehe immer noch nicht, was ich dir ausreden soll.“

Er hebt beinahe trotzig die Schultern. „Weil nur ich hier bin. Überleg doch mal, wenn wirklich etwas passiert. Was mache ich dann? Gehe ich zu meinem Vater und sage: ‚Sieh mal, ich hab’s auch noch geschafft, dein zweites Kind unter die Erde zu bringen‘?“

„Hey!“ Ich nehme ihm sein Glas ab. „Das wirft dir niemand vor.“

Er gibt ein Schnauben von sich.

„Luca, hey, nein.“ Ich greife nach ihm. „Hör auf dich da reinzusteigern. Das war nicht deine Schuld. Euch ist jemand ins Auto gekracht.“

„Sag das mal meinem Vater.“

„Ich glaube, das muss ich ihm nicht sagen. Ich glaube nämlich, er weiß ziemlich genau, was für einen Riesenfehler er damals gemacht hat, seine Trauer an seinem Sohn auszulassen.“

Durch Luca läuft ein Zittern, ganz so, als hätte ich ihm einen Stromstoß verpasst. „Er, … ich kann nicht fassen, dass er dir nachsteigt. Ich meine, wo sind wir? Beim KGB?“ Für einen Moment habe ich den scharfen Geruch von eiskaltem Wodka in der Nase.

„Er war nur neugierig“, versuche ich Lucas Reaktion abzufedern. „Er weiß, dass du es nicht gutheißt, wenn er sich in dein Leben einmischt.“ Ich will nach seiner Wange greifen, doch er macht sich los.

„Und schon bist du auf seiner Seite.“ Luca bebt vor Zorn.

„Nein. Ich werde immer auf deiner Seite sein“, widerspreche ich ihm energisch. „Aber selbst dann, wenn ich das nicht wäre, müsste ich anerkennen, dass es eine gute Idee ist, Abstand zwischen einen Drogensüchtigen, seine Drogenversorgung und sein Umfeld zu bringen.“

„Ist es das?“

„Ja.“ Ich atme tief durch. „Ich bin mir sicher, Damon und du, ihr regelt das Bürokratische schon. Also, vielleicht schaffst du es, mir das nächste Mal Bescheid zu geben, wenn ich in deinem Kopf mal wieder Entscheidungen von dir anzweifele. Okay?“

Ich kann ihm dabei zusehen, wie er trocken schluckt. „Hm.“

Ich tippe gegen seine Brust. „Gut. Und jetzt solltest du mir besser verraten, weshalb du heute Abend den Vorzeige-Russen gibst. Ich meine, Wodka pur. Das ist eine Aussage.“

Lucas Brustkorb weitet sich und ich ahne, dass es etwas Schreckliches ist. „Mein Brandschutzbeauftragter hat vorhin hingeworfen. Der Architekt hat mich gerade angerufen.“

„Für den Neubau? Oh nein.“

„Ja.“ Luca presst die Lippen zusammen. „In Russland gibt es ein Sprichwort, das da heißt, über dem Kreml steht nur Gott - und über dem Bauherrn steht, so Gott will, nun mal nur der Brandschutzexperte, weil dieser für den Brandschutz bürgen muss. Ohne ihn gibt es kein neues Gebäude, auch wenn unsere Pläne in noch so trockenen Tüchern waren.“

Das „Und jetzt?“ liegt mir auf der Zunge, doch eigentlich weiß ich, was auf den Verlust folgen muss. Nämlich ein neuer, wahrscheinlich sehr viel teurerer Experte, der alles wieder verwirft, was zuvor ausgearbeitet worden ist. Weil sich Angebot und Nachfrage immer selbst regeln.

Luca, der offenbar wütend ob der neuerlichen Suche nach einem Brandschutzexperten ist, aber nicht wütend genug, um die Sache mit seinem Vater zu vergessen, taxiert mich mit seinen beeindruckend blauen Augen. „Was hat mein Vater dich gefragt?“

„Praktisch nichts.“ Ich lasse mich auf die Polster gleiten. „Hast du schon jemand Neues in Aussicht?“, starte ich den Versuch, ihn von Dmitri abzulenken.

„Ich habe ihm schon einmal gesagt, dass er hier nichts zu suchen hat. Das zwischen uns geht ihn rein gar nichts an.“ Er läuft einfach aus dem Raum und ich zweifele nicht eine Sekunde daran, dass Lucas Verstand bereits an einer wenig diplomatischen Antwort auf Dmitris Besuch arbeitet, während er auf dem Weg zu seinem Smartphone ist.

Ich springe auf, um ihm zu folgen, und verfluche diesen Tag, der so gar keine Rücksicht auf das Hoch nimmt, das es geschafft hat, sich drei Wochen lang über meinem Leben festzusetzen.

„Schatz, denkst du nicht, du kannst es gut sein lassen?“

Mein Vorschlag kommt mir beinahe albern vor. Rein gar nichts an dem Umstand, dass Dmitri Bexton hier aufgetaucht ist, hat im Grunde genommen etwas mit mir zu tun. Und im Grunde genommen geht es auch nicht darum, dass er sich mir vorgestellt hat. Nein, hier geht es noch immer um damals und ich ahne, dass es schrecklich werden wird. Was damals passiert ist, das sollte kein Vater einem Sohn antun. Acht Jahre halten sie es nun schon aus in diesem schwarzen Loch aus Schuldzuweisungen und Vorwürfen.

Er braucht jemanden auf seiner Seite des Rings, kommen mir Dmitris Worte wieder in den Sinn und ich schiebe mir eine verwirrte Strähne hinters Ohr. Bis vorhin dachte ich, dass das Urteil auf beiden Seiten klar ist. Aber je länger ich über diese verfluchte Begegnung mit Lucas Vater nachdenke, desto mehr Zweifel schleichen sich in mein Gewissen. Dieses Gespräch zwischen Dmitri und mir wäre anders abgelaufen, wenn er seinen Sohn hassen würde.

„Luca …“ Ich bin nicht schnell genug, um meinen Freund davon abzuhalten mit dem Telefon auf die Terrasse zu verschwinden. Ich sacke gegen die Küchenanrichte, als die Glastür hinter ihm ins Schloss fällt. Velvet tritt neben mich, die samtweichen Ohren in Richtung der Tür gespitzt, und gibt ein leises Fiepen von sich, das wie ein Klagelaut klingt, während sein Besitzer auf den Dielen stehen bleibt. Es hat etwas Grausames an sich, ihm bei diesem Telefongespräch zuzusehen.

Vielleicht würde Luca besser mit Dmitris Übergriff klarkommen, wenn er sich insgeheim nicht auch dafür die Schuld geben würde, dass seine kleine Schwester gestorben ist. Es ist ein mieses Duell, das Luca seit acht Jahren führt. Genauer gesagt ist es ein Dreikampf. Seine Schuldgefühle und Dmitri gegen sich selbst.

Objektiv betrachtet war es ein Unfall. Ein schrecklicher Zufall, der ein Mädchen aus dem Leben gerissen hat, das nichts weiter wollte als ihren großen Bruder zu beruhigen, der sich über seine Stiefmutter geärgert hatte. Für Luca aber ist es ein inakzeptables Vergehen, seine Schwester mitgenommen zu haben, als er kopflos davongerauscht war, obgleich es ihm sein Vater verboten hatte. Und so steht es noch immer zwei zu eins gegen meinen Freund, dem der Zufall damals ein grausames Schnippchen geschlagen hat, indem er einen Überholer aus der Gegenrichtung in sein Auto krachen ließ.

Luca macht einen Schritt zurück, während er die Kiefer fest zusammenpresst, und ich schiebe meine Finger in Velvets Nacken. Ich erinnere mich daran, dass ich noch vor ein paar Wochen geglaubt habe, dass Luca und sein bester Freund nun vielleicht das Schlimmste hinter sich hätten. Doch diese romantische Vorstellung kann ich jetzt nur als absolute Fehleinschätzung abtun. Zumindest in Lucas Fall.

Zwischen Dmitri und ihm liegt so viel im Argen, dass sich all die Schimpfwörter, die Luca so schnell hintereinander ausspuckt, beinahe wie ein natürliches Gespräch anhören. Eine einzige Anklage, geschürt von Leid und einst erlebtem Unrecht. Und selbst wenn ich wollte, kann ich diesen Zustand nicht ausblenden. Ebenso wenig wie ich James‘ missratenes Liebesleben oder die fehlende Informationsweitergabe an Eric noch länger ignorieren kann.

Kapitel 3

Ich schalte die Musik aus, als ich auf der obersten Stufe des altersschwachen Treppenhauses angekommen bin, und kappe den Körperkontakt mit den Lautsprecherstöpseln. Ohne die gewandte Zunge Freddie Mercurys im Ohr kriechen die Gedanken an die bedrückende Stimmung während des Abendessens mit Luca zurück. Noch aufgeladen von dem galligen Gespräch mit seinem Vater, kamen nicht mehr als ein paar schmallippige Kurzantworten auf meine Versuche, ein Gespräch in Gang zu bringen.

„Sieh an. Welch fremder Gast in unserer Hütte.“ Meine Mitbewohnerin Sam, die offenbar gerade das gesamte Register ihrer Kochkunst gezogen hat, indem sie sich eine Tüte Rhamen aufgegossen hat, blickt mich amüsiert über den Rand ihrer dampfenden Suppenschüssel an. „Kein Luca Bexton heute?“

„Ich muss Eric anrufen.“ Ich werfe den Haustürschlüssel in die kleine Schale auf der Garderobe und stütze mich gegen die Wand, um meine Schuhe loszuwerden, während mein Puls sich langsam wieder vom Aufstieg beruhigt.

Sam, deren Finger die heiße Schüssel am obersten Rand umfassen, reißt die Augen auf. „Wieso das denn?“

Es ist seltsam, wie eine so kleine Reaktion mich beinahe von meinem gefassten Entschluss abbringen kann. „Wir müssen endlich dieses Theater hinter uns lassen, weißt du? Luca ist ein guter Kerl.“

Sam, die eigentlich schon immer die Taffere von uns beiden war, gibt ein tiefes Seufzen von sich. „Bist du dir wirklich sicher, dass du dir das antun willst? Eric ist doch ohnehin so gut wie nie da.“

„Ich kann ihn nicht länger so neben dem Stuhl sitzen lassen.“ Ich schlucke. „Er ist mein Bruder. Ich will ihn nicht aus meinem Leben ausschließen.“

Sam gibt einen weiteren Laut von sich, der keinen Zweifel daran lässt, dass sie mich für bekloppt hält. „Na, wenn du meinst. Ist ja dein Bier.“ Sie nickt in Richtung Wohnzimmer und guckt mich noch immer an, als wäre ich das törichteste Wesen, das je ihren Weg gekreuzt hat. „Es gibt eine neue Folge Bones. Fängt gerade an.“

Obgleich ihr Alternativvorschlag zu einer wenig erfreulichen Unterhaltung mit Eric mehr als verlockend ist, zwinge ich mich dazu den Kopf zu schütteln. „Vielleicht später.“

Sam rollt mit den Augen. „Ich seh‘ dich dann wohl auf der anderen Seite“, murmelt sie düster und ich kann es ihr nicht verdenken. Immerhin hat sie die fragwürdigsten Ausbrüche von Erics fehlgeleitetem Beschützerinstinkt hautnah miterlebt.

„Mh. Wünsch mir Glück.“ Das Problem zwischen Eric und meinen besseren Hälften besteht schon, seit ich mich erinnern kann. Was irgendwie daran liegt, dass mein Bruder der krasse Gegenentwurf zu meinem Vater ist. Wo mein Vater durch Abwesenheit glänzte und es durch ein gottgegebenes Urvertrauen in die Fähigkeiten und den Menschenverstand seiner Kinder schaffte, während der ersten achtzehn Jahre nur am Rande aufzutauchen, kam Eric und seinem besten Kumpel Darnell schon immer die Rolle zu, auf mich, die kleine, naive Schwester, aufzupassen – die dank bester Erfahrungen mit ihren Brüdern wenig Panik vor dem anderen Geschlecht hatte.

Sam hebt still ihre Schüssel. „Das Telefon liegt irgendwo zwischen der Lehne und dem Polster.“

Ich bleibe stehen, trotz ihrer stillen Aufforderung und schäme mich dafür, nicht energisch auf diese Unterredung zuzustürmen. „Ist Mila schon da?“

„Nein, sie hat noch ein Geschäftsessen.“ Samantha mustert mich mitleidig. „Du musst das wirklich nicht tun, June. Ich kenn‘ doch die Situation. Eric spinnt nur wieder rum.“

Ich schaffe es irgendwie den Kopf zu schütteln. „Mir musst du das nicht sagen.“ Es grenzt an ein kleines Wunder, dass Eric noch nichts von Luca und mir zu Ohren gekommen ist. Eigentlich habe ich das nur dem Umstand zu verdanken, dass Eric einmal mehr seit Wochen bis zum Hals in seiner Arbeit im Krankenhaus steckt - missing in action, sozusagen.

Ich räume die Pfeffermühle zur Seite, die umgestoßen auf dem Sofa liegt, und strecke meinen Arm zwischen die Untiefen der Polsterung, auf der Suche nach unserem silbernen Tastentelefon.

„Du solltest ihm einfach eine Nachricht schreiben: Habe neuen Freund. Misch dich nicht ein. Sonst knallt’s“, schlägt mir Sam nonchalant vor und ihre Schüssel landet lautstark auf der Tischplatte.

Ihr Vorschlag wäre nur eine Option, wenn ich die Absicht hätte, Eric richtig vor den Kopf zu stoßen und mir meine eigene Mutter auf den Hals zu hetzen. So ignoriere ich die nutzlose Anregung und hebe mein Bein an, um mein Gleichgewicht zu halten, während meine Hand bis zum Ellbogen von der Couch geschluckt wird. „Wohin zum Teufel ist das Ding gerutscht?“

„Vielleicht ist es auch im Bad“, überlegt Sam laut. „Ehrlich gesagt könnte das sogar sehr gut sein. Ich habe vorhin telefoniert, als ich mir die Beine enthaart habe.“

Ich lasse mich zurück auf die Fersen sinken. Kein Wunder, dass ich das Teil nirgendwo finde. „Auf der Wanne?“

„Wahrscheinlich.“ Der Fernseher springt an. „Kannst du mir mal die Mühle geben?“ Sam streckt die Finger aus und ich neige mich ihr entgegen. Der Pfeffer wechselt den Besitzer und ich lasse mich einen Moment vom Intro der Serie ablenken. David Boreanz ist wirklich heiß.

„June, du wolltest telefonieren.“

Ich nicke, ohne dass ich sie wirklich höre. Situationen wie diese, bei denen ich schon vorher weiß, wie sie ausgehen, hasse ich wie die Pest und nun, da ich irgendwie auf der Couch hängen geblieben bin, habe ich Mühe, noch einmal meine vorige Motivation aufzubringen. Denn auch wenn Eric und ich uns mehr Zuneigung als Luca und Dmitri entgegenbringen, zweifele ich nicht eine Sekunde daran, dass es weniger harmlos verlaufen wird.

Vielleicht hätte ich es erst Dad erzählen sollen. Sozusagen als neutrale Instanz. Oder besser noch Darnell. Wenn Eric auf jemanden hört, dann auf die beiden.

Mir entkommt ein Seufzen, bevor ich aufstehe. Eric ist nun einmal, wie er ist, aber er ist mein gottverdammter großer Bruder. Also marschiere ich ins Bad, wie es sich gehört, und entdecke tatsächlich auch das versprochene Telefon.

Meine Finger wählen Erics Nummer, ohne dass sie auch nur einen Moment darüber nachdenken müssen. Es tutet und ich überschlage im Geist, welcher Wochentag heute ist. Mittwoch. Der zweite Mittwoch im Monat. Eric sollte zu Hause sein, oder auf dem Sprung zu Darnell, Party machen. Zumindest wenn er nicht arbeiten muss. Tuten Nummer zwei verklingt.

Wenn er bei Darnell sein sollte, dann ist das wirklich gut. Sein bester Kumpel könnte sogar einen wildgewordenen Stier beruhigen. Und das liegt nur zum Teil daran, dass er auch die nötige Medikation zur Verfügung hat.

Andererseits kann es auch nach hinten losgehen, wenn Darnell sich daran erinnern sollte, dass er ja praktisch auch für mich verantwortlich ist, war er doch quasi in der Vergangenheit erzieherisch gleichberechtigt, als die beiden mich noch regelmäßig mit in die Clubs genommen haben.

Es schellt weiter. Keiner bequemt sich ans Telefon zu gehen und ich will schon auflegen, als das unverkennbare Klicken ertönt, gefolgt von Erics tiefer Stimme. „Hey.“

„Eric.“ Ich lasse mich auf den Wannenrand plumpsen und schiebe meine Beine übereinander, bis sie wie zwei stapelbare Stühle ineinanderpassen. „Schön, dass ich dich erreiche.“

„Ja.“ Mein Bruder war noch nie ein großer Philosoph. „Kann ich etwas für dich tun? Ich bin gerade auf dem Sprung zu Darn.“

„Ja.“ Großer Gott, irgendwie habe ich diese Sache so gar nicht durchdacht, schießt es mir durch den Kopf, während eine sehr laute innere Stimme mich anbrüllt einfach aufzulegen. Weil ich Eric leider erzählt habe, wie sehr mich Lucas Nichtbeachtung verletzt hat. Bevor ich wusste, was los ist. „Ich wollte heute vielleicht auch noch weg“, lüge ich, um Zeit zu gewinnen. „Was macht ihr?“

„Ein bisschen Delì. Nichts Besonderes. Runterkommen nach der Schicht“, brummt Eric.

„Verstehe. Hör mal, hast du kurz fünf Minuten?“ Es liegt mir fern ihn von seinem wohlverdienten Feierabend abzuhalten. Die Abende und Tage, an denen er aus seiner Krankenhausblase auftaucht, sind rar gesät, vor allem seit er seine Dissertation mit großen Zügen angegangen ist. „Ich muss mit dir über etwas sprechen, … über jemanden“, korrigiere ich mich und wische mir eine lästige Locke aus der Stirn. „Ich habe jemanden kennengelernt.“ Ich lausche. Lausche darauf, ob mein Bruder bereits Fackeln und Streitaxt auspackt. Doch es bleibt ganz seltsam still am anderen Ende.

Dann atmet Eric scharf ein.

„Ich weiß, dass sich angeblich in den ersten Wochen immer alles nach Liebe anfühlt, Eric. Aber diesmal mag ich ihn wirklich.“

„June.“ Mein Name klingt aus seinem Mund wie der eines zurückgebliebenen Kindes. „Du bist gerade erst über dieses Arschloch Bexton hinweggekommen.“ Ich schließe die Augen. Wunderbar. Er hat Luca Bexton also nicht vergessen. „Denkst du nicht, dass…“

„Genau über den wollte ich mit dir reden“, unterbreche ich Eric, ehe er noch mehr Dinge über Luca sagen kann, die ich ihm übel nehmen könnte. „Wir haben uns ausgesprochen, Eric.“

Gott, ich wünschte, ich könnte ihm offenlegen, wie sehr ich diesen Mann liebe. Wie sehr ich verstehe, weshalb er so gehandelt hat, wie er es tat. Aber all das ist nicht meine Geschichte. Ich habe kein Recht, sie offenzulegen und Eric zum Fraß vorzuwerfen, in der Hoffnung, sie würde ihn gnädig stimmen. „Ich würde mich freuen, wenn du ihm eine Chance geben könntest.“

Und dann legt er einfach auf. Kein übliches, viel zu detailliertes Nachfragen, kein Geschrei. Gar nichts. Er hat einfach unser Gespräch unterbrochen und ich starre das Display des Telefons in schierer Verwunderung an. Eric Morten hat mich einfach weggedrückt.

Mein Fuß kribbelt ganz komisch und ich lasse meine Knie nebeneinanderrutschen, ehe ich aufstehe. Eric, dieser Depp, hat tatsächlich aufgelegt. Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt. Kurz schwebt die Horrorvision vor mir, Eric würde direkt zu Luca nach Hause fahren und an seiner Tür klingeln wie ein gemeiner Schuldeneintreiber. Dann erinnere ich mich daran, dass er nicht weiß, wo Luca wohnt. Immerhin etwas. Ein aufgebrachter Luca und ein wild gewordener Eric sind nicht gerade das, was man einem gut eingerichteten Stadthaus wünscht. Zumindest nicht, wenn man nicht von vornherein vorhatte zu renovieren.

Ich schiebe die trüben Gedanken an ein verwüstetes Haus beiseite. Das hat Eric noch nie gemacht. Sicher, mit seinem überbordenden Beschützerinstinkt war er bereits häufiger so in Rage, dass er außer ein paar stinkwütenden Gesten und unkontrolliertem Gefluche nichts mehr gesagt hat, aber Stille ist neu. Und mit Stille komme ich deshalb überhaupt nicht klar.

Ich tippe noch einmal seine Nummer. Er geht nicht ran. Keine Antwort. Irgendwann springt seine Mailbox an und ich lege auf, weil ich ihm bestimmt keine Ansage aufs Band reden werde.

Meine Mutter hat mir wirklich nicht viel beigebracht, was man als nützliche Lebensweisheit werten könnte, aber die eine hat sich bei mir eingebrannt. Auf Anrufbeantwortern erreichst du gar nichts. Entweder redest du direkt mit jemandem oder du lässt es bleiben.

„Sturkopf“, entweicht es mir gefrustet und ich werfe die Hände in die Luft. Ich liebe diesen Kerl wie keinen zweiten auf der Welt, aber ich schwöre, er macht mich wahnsinnig, wenn er mal wieder so wie heute den Hinterwäldler herauskehrt. Als könnte ich nicht auf mich selbst aufpassen.

Sam ist dabei die langen Nudeln in ihren Mund zu bugsieren, als ich das Telefon zurück auf die Ladestation stelle. Wie missgelaunte Schlangen hängt das Teigwerk zwischen Schüssel, Gabel und ihrem Schlund und verhindert die Preisgabe des Fragenkatalogs, der sich bei meinem Auftauchen formt.

„Mein Bruder mimt seit Neuestem Nordkorea.“ Ich lasse mich neben sie auf die Couch fallen und klemme mir ein Kissen unter die Arme. „Hat die Leitung gekappt, bevor ich ihm Luca auch nur ein bisschen schmackhaft machen konnte.“

Sam, die noch immer mit einem vollen Mund kämpft, gibt ein zustimmendes Schnauben von sich.

„Man könnte meinen, wir wären noch im Kindergarten.“ Ich spüre, wie sich meine Schultern verkrampfen, und drücke das Kissen etwas näher an mich. Nicht einmal eine Minute hat Eric mir gelassen, um für sich selbst zu entscheiden, dass ihm ein Gespräch mit mir darüber einfach zu dumm ist. Ganz so, als hätte ich einfach den Verstand verloren.

„I … Ig…noriers einf…ch“, kommentiert Sam kauend und schluckt dann. „Er meldet sich schon, wenn ihm genügend Gründe eingefallen sind, weshalb Luca und du eine ganz blöde Idee seid.“

Der Kummer darüber, dass Sam es leider auf den Punkt gebracht hat, flutet meinen Körper vom Magen bis zu den Fingerspitzen. Es ist echt kläglich, aber ich wünschte, Eric wäre nur einmal mit meiner Wahl zufrieden. Ich erwarte ja keine Lobgesänge, aber ein kleines wohlwollendes Nicken würde ihn nicht umbringen.

Der Reißverschluss des Kissens drückt gegen mein Kinn und ich drehe den Bezug, ehe ich mein Gesicht darin vergrabe. Wie sehr ich dieses Drama hasse.

„Weißt du, wenn ich ehrlich bin, war ich früher immer ein wenig neidisch darauf, dass du so viele Geschwister hast. Aber jetzt sehe ich die Vorteile, keine zu haben.“ Sams Gabel stochert in der Suppe, auf der Suche nach mehr Einlage. Ich beobachte die knirschende Bewegung ihres Bestecks. Sie hat diese Feststellung schon so oft wiederholt, dass sie mittlerweile beinahe zu einem festen Bestandteil im Eric-spinnt-mal-wieder-rum-Ritual geworden ist.

„Eigentlich sollte ich die freie Zeit, die mir die emotionale Schieflage der Kerle in meinem Leben ermöglicht, für die Uni oder das neue adith-Projekt nutzen.“

„Wieso Plural?“ Sam, ganz die angehende Anwältin, erinnert mich daran, dass ich ihr weder etwas von Luca noch von James erzählt habe. Ich presse mein Gesicht noch mal für einen Moment ins Kissen, ehe ich es über mich bringe, ihr vom Ende von James und Johanna zu berichten. Mila und ich waren uns so sicher, dass es mit den beiden klappen würde. Himmel, wir

Impressum

Verlag: Elaria

Texte: Eliza Hill 2018
Cover: Casandra Krammer
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2018
ISBN: 978-3-96465-003-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle die June und Luca nie aufgegeben haben.

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