„Ist Alec bei dir?“
„Alec?“
„Ja, Alec.“ Hannah schiebt sich durch die Tür, bevor ich zur Seite treten kann, und nimmt energisch die fünf Stufen, die von meiner Pforte ins Wohnzimmer führen.
Verdattert sehe ich ihr nach, meine Kaffeetasse in der Hand haltend. „Den habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen.“
„Das ist unpraktisch. Er ist nämlich gestern nicht zu seiner Verhandlung erschienen.“ Sie schält sich aus ihrem roten Wollmantel und wirft ihn über die Lehne meiner Couch.
„Er hatte eine Gerichtsverhandlung? Schon wieder?“
Hannah legt ihren Kopf schief und taxiert mich nachdenklich. „Weißt du wirklich nicht, wo er steckt?“
„Nein.“
Sie runzelt die Stirn. „Bist du sicher, Iben? Es ist wichtig.“
„Bin ich.“
Mit ihren tiefen Augenringen wirkt Detective Constable Hannah Dermott an diesem Morgen alles andere als gesund und wahrscheinlich sollte ich nach all den Jahren daran gewöhnt sein, noch vor dem ersten Schluck Kaffee am Morgen nach dem Verbleib meiner Ex-Freunde gefragt zu werden. Doch seltsamerweise bin ich das noch immer nicht.
Hannah gibt ein frustriertes Stöhnen von sich. „Scheiße.“
Ich schließe die Wohnungstür hinter mir und frage mich einmal mehr, weshalb alle Welt zu glauben scheint, dass ich immer über die Aufenthaltsorte meiner Ex-Freunde informiert sei. „Ich bin kein Peilsender, Hannah.“
„Ich weiß, entschuldige.“ Sie fährt sich durch ihr krauses Haar und studiert mein Mobiliar. „Hast du hier umgeräumt?“
„Ein wenig. Ich habe mir einen neuen Sessel besorgt, nachdem mein alter Warren zum Opfer gefallen ist.“ Ich betrachte ihre zerknitterte Bluse, auf der ein undefinierbarer gelber Fleck prangt. „Und du hast schon wieder Überstunden im Büro gemacht?“, versuche ich das Thema zu wechseln. Über meine letzte Beziehung möchte ich bestimmt nicht sprechen.
Sie bläst die Backen auf. „Ja. Dank deines Ex‘. Was ist so schlimm daran, sich einen normalen Job zu suchen? Man könnte meinen, dieses ständige Verhaftetwerden würde ihm irgendwann einmal zum Hals raushängen.“
„Keine Ahnung. Ich habe zumindest die Schnauze voll davon, mich in solche Typen zu verlieben.“
Hannah fährt sich über die Stirn. „Dann tu’s nicht.“
„Ich versuche es. Willst du einen Tee oder einen Kaffee, wenn du schon hier bist?“
„Gern. Wenn ich nicht störe?“
„Nein. Ich bin nur auf dem Sprung zu meinen Eltern. Sie werden langsam ungemütlich, weil ich ihnen schon seit zwei Monaten verspreche, sie zu besuchen, und es nie schaffe“, winke ich ab.
„Das erklärt den todschicken Fummel.“ Sie deutet auf das schwarze Kleid, das ich auf meinen neuen ausladenden Sessel geworfen habe, als ich auf dem Weg zur Tür war, um ihr zu öffnen.
„Meine Mutter sagt immer, das Beste an mir seien meine Beine.“ Ich zucke mit den Schultern. „Und da sie ohnehin unendlich viele Dinge finden wird, die ihr an meinem Leben nicht passen, dachte ich, ich punkte zumindest damit.“
„Gute Überlegung.“ Hannah schenkt mir ein Lächeln. „Vielleicht hilft es ja.“
„Das bezweifele ich. Ich arbeite mit meinen Händen und ich habe keinen Ehemann. Ein Wunder, dass sie mich noch nicht enterbt hat.“
„Mach dir nichts draus. Millionen Frauen beneiden dich um deinen Job.“ Hannah schlendert in Richtung Küche, reißt den Hängeschrank über der Spüle auf und fischt eine Tasse aus dem Inneren, bevor sie nach ihren Teebeuteln greift, die in der Keksdose lagern. „Ich meine, du arbeitest mit Schokolade und Kuchen. Und was den Ehemann betrifft: Wieso bewahrst du eigentlich diese Liste des Grauens überhaupt noch auf?“ Sie deutet auf den Zettel am Kühlschrank, der meine acht Gründe dokumentiert, besser die Finger von der Männerwelt zu lassen. „Ich hätte die schon lange verbrannt.“
„Als Erinnerungsstütze. Vielleicht lerne ich es ja tatsächlich irgendwann, von Mistkerlen die Finger zu lassen.“ Ich sinke auf einen der Küchenstühle, während sie den Wasserkocher noch einmal anstellt, den ich gerade in Betrieb hatte. „Ist Alec mal wieder beim Dealen erwischt worden oder weshalb hat er schon wieder eine Verhandlung am Hals?“
„Darf ich dir nicht verraten.“ Hannah mustert mein unförmiges Schlafshirt und die graue Jogginghose, deren Bund sich an den Knöcheln langsam auflöst. „Wann willst du zu deinen Eltern aufbrechen?“
„In einer Stunde.“ Ich zupfe an der Hose herum, die ich dringend wegwerfen sollte, von der ich mich aber nicht trennen mag, weil sie so bequem ist. „Noch genug Zeit, um wach zu werden und mich fertigzumachen.“
Sie gähnt hinter vorgehaltener Hand. „Draußen hat es geschneit. Das Autokratzen wird ewig dauern. Im Kleid würde ich dir das nicht empfehlen.“
Ich nippe unglücklich an meinem Kaffee. „Du könntest eine gute Nachbarin sein und mir dabei helfen.“
Sie schüttelt träge den Kopf. „Es ist dein Auto und du hast vergessen es abzudecken. Ich werde jetzt schlafen gehen. Außerdem bist du selbst schuld, wenn du bei dem Wetter zu deinen Eltern fährst.“ Hannah gießt ihren Tee auf und deutet in Richtung Tür. „Ich bringe dir die Tasse später wieder. Mein Geschirr lagert noch in den Umzugskartons, wie du weißt. Aber ich verspreche, meine Teebeutel und ich sind nachher verschwunden.“
„Ich behalte deine Teebeutel auch noch länger.“ Ich schenke ihr ein breites Grinsen. „Sie haben sich hier recht gut eingelebt.“
Hannah zieht eine Augenbraue nach oben. „Viel Spaß beim Frieren“, merkt sie an, bevor sie ihren Mantel von der Couch pflückt und davoneilt. Der Detective Constable Hannah ist manchmal ruppiger, als sie sein müsste und ich frage mich nicht zum ersten Mal, ob das eine Berufskrankheit ist, ehe ich aus dem Küchenfenster linse, auf dessen Sims eine ganze Hand breit Schnee liegt.
Zeit, Autokratzen zu gehen.
Der alte dunkelblaue Seat ist von einer dichten Schneedecke überzogen, die kalt und nass meine Finger betäubt, als ich mit dem Schlüssel nach dem Schloss taste. Die Tür öffnet sich unter einem protestierenden Quietschen und lässt einen Teil des Schnees vom Dach herunterklatschen, direkt auf meine Stoffschuhe.
„Na toll“, entweicht es mir frustriert und ich beuge mich über den Fahrersitz hinweg, um nach dem Eiskratzer zu greifen, der im Fußraum begraben liegt. Ein Überrest aus den Tagen, als das Auto noch meinem Großvater gehört hat.
Ich krieche mit dem Kratzer bewaffnet wieder aus dem Wageninneren. Wenn ich gewusst hätte, dass London unter einer Schneedecke versinkt, wäre ich schon gestern Abend gefahren.
Unter dem Schnee, der um mein Auto herum liegt, verbirgt sich eine Eisschicht, die jeden Schritt zum Wagnis werden lässt, und ich kralle mich Halt suchend an der Tür fest. Wahrscheinlich hätte ich mir besser Winterschuhe anstatt meiner Sneakers anziehen sollen, um den Seat freizulegen, aber nun bin ich zu faul, um noch einmal kurz in meine Wohnung zu gehen. Außerdem habe ich keine Lust, länger als nötig in Schlafanzug und Wintermantel hier draußen rumzustehen.
Die Frontscheibe ist total vereist und mir wird zunehmend warm in meiner Aufmachung, während meine Arme langsam schwer werden. Ich wische mir eine Strähne aus der Stirn, die sich beim energischen Kratzen aus meinem Dutt gelöst hat, bevor ich mich daran erinnere, dass ich noch ein Enteisungsspray im Kofferraum habe.
Ich strecke meinen Rücken durch und betrachte den Weg zum Heck meines Wagens kritisch. Im Halbdunkeln des recht frühen Novembermorgens sieht der Schnee noch beinahe unberührt aus und tückisch harmlos. Doch für Stoffschuhträger mit glatten Sohlen ist diese weiße Pracht ein einziger Albtraum.
Ich schlittere langsam in Richtung Heck, ohne die Füße zu heben, und bin schon beinahe am Ziel, als ich die Bodenhaftung verliere.
„Was-“ Ich gebe ein erschrockenes Keuchen von mir und sehe den Boden näherkommen, bevor ich ungebremst mit den Händen voran gegen den Bordstein knalle. Der Schmerz in meinem Knie explodiert und ich schnappe nach Luft. „Heilige Maria Gottes“, entkommt es mir laut. Mein lädiertes Bein prickelt und pocht, ebenso wie meine Handflächen, die in den kalten Schnee gegriffen haben, und ich reibe unglücklich über mein Knie. „Das gibt einen blauen Fleck.“ Ich ziehe unglücklich die Luft ein. Meine Hose ist voller Schneematsch, genauso meine Sneakers. „So ein Käse“, fluche ich leise und versuche, den Schnee notdürftig aus meinen Schuhen zu fischen, bevor meine Socken nass und klamm werden, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnehme.
Im Zwielicht der Straßenlaterne kann ich nicht viel mehr als Umrisse erkennen, doch es reicht, um mich meinen Eiskratzer unwillkürlich etwas fester umfassen zu lassen. Und dann schnellt plötzlich ein Schatten auf mich zu mit einem Maul voller reißender Zähne. Ein Hund, schießt es mir durch den Kopf, bevor ich meine Arme vor mein Gesicht presse. „Nein!“
Ich falle auf meinen Hintern.
„Bailey, aus!“
Ich halte mir die Hände schützend vor den Kopf und warte mit wild klopfendem Herzen auf den Schmerz, den tief ins Fleisch grabende Hundezähne verursachen, doch er kommt nicht.
„Er tut Ihnen nichts.“
Ich atme schwer ein, während ich das Gesagte zu verarbeiten versuche. Für eine weitere schreckliche Sekunde passiert nichts und ich wage es, meine Arme sinken zu lassen und aufzuschauen. Das Blut rauscht in meinen Ohren.
„Tut mir leid.“
Der Hund, der mich beinahe zu Tode erschreckt hat, blickt mich mit großen Augen an. Die abgerundeten, hängenden Ohren fallen ihm ins Gesicht und er wirkt ein bisschen so, als würde er über mich die Stirn runzeln.
„Sind Sie in Ordnung?“, fragt mich eine finstere Stimme, die ich erst jetzt wirklich wahrnehme.
„Ja.“ Mein Steißbein pocht wie verrückt, aber ich beiße die Zähne zusammen. „Ich denke schon.“ Ich sehe hoch und gefriere. Offenbar ist der Hund nicht das gefährlichste Wesen in dieser Parkbucht.
Ein unbarmherziger Mund, ein grimmiger Blick und ein Dreitagebart lassen mich reglos am Boden verharren.
„Können Sie aufstehen?“
Ich schlucke trocken. Von meiner Froschperspektive wirkt der Kerl einfach nur bedrohlich und viel zu beeindruckend. Er trägt einen dunkelblauen Kapuzenpulli unter einer Lederjacke, zusammen mit einer dunkelgrauen Jeans, die in derbe Stiefel gesteckt ist. Seine gleichmäßigen Züge sind attraktiv, aber abweisend und seine ganze Erscheinung lässt die Fluchtreflexe in mir wach werden. Er sieht aus wie ein Typ, der dein Konto leer räumt und dein Herz im Vorübergehen bricht. Einfach so, weil er es kann.
„Alles bestens“, presse ich hervor.
„Bailey wollte Sie nicht erschrecken“, sagt er ernst, ehe er sich einfach zu mir hinunterbeugt und mich ohne Anstrengung zurück auf die Füße stellt.
Ich kann nicht atmen, während seine Hände auf meinen Oberarmen liegen. Ich habe mich bisher nicht für zerbrechlich gehalten. Doch unter seinem Blick bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Wie er so vor mir steht, erscheint er mir wie eine Naturgewalt. Er strahlt zu viel rohe Kraft aus und einen Unwillen, menschliche Fehler zu tolerieren.
„Ich … danke“, schlucke ich schließlich in Ermangelung einer besseren Antwort und versuche mich an einem Lächeln, das mir nicht recht gelingen will. Er ist beinahe einen ganzen Kopf größer als ich. Durchaus beeindruckend, wenn man bedenkt, dass ich selbst nicht gerade klein bin.
Er zuckt mit den Schultern. „Ist wohl das Mindeste.“ Er deutet auf den gewaltigen Hund, den er an der Leine hat und der den Kopf eingezogen hat. „Er sieht zwar erschreckend aus, aber er tut wirklich nichts.“
„Das glaube ich Ihnen“, bringe ich raus. „Es geht mir wirklich gut.“
„Gut. Entschuldigen Sie noch mal.“ Damit geht er davon und lässt mich allein mit meinem vereisten Auto. Sein großer Hund läuft leichtfüßig neben ihm und nun, da er mir den Rücken zugewandt hat und mit sicheren Schritten von dannen stapft, macht die Panik einer gewissen Faszination Platz.
Ich zwinge mich dazu, auf das Blech der Beifahrertür zu starren, auf dem sich vor kaum zwei Monaten mein Ex-Freund Warren mit dem netten Wort „Schlampe“ verewigt hat, nachdem er schon meine Wohnung zerlegt hatte. Auch wenn man das Wort, das Warren in den Lack gekratzt hat, dank des Lackstifts nicht mehr sieht, weiß ich doch, dass es dort einen Tag nach unserer Trennung geschrieben stand. Damals habe ich mir geschworen, dass böse Jungs bis auf Weiteres gestrichen sind.
„Schwere Körperverletzung, Sachbeschädigung, Drogen- und Waffenbesitz, Dealerei, ein Typ, der dein Konto leer geräumt hat, ein Typ, der dich mit deiner besten Freundin betrogen hat, und einer, der aus seinem Einsatz in Afghanistan nicht mehr wiedergekommen ist.“ Hannah steht plötzlich neben mir und hält mir meine leere Teetasse unter die Nase. „Bitte, versuch nicht rauszufinden, welchen Dreck der am Stecken hat.“
„Wie lange stehst du da schon?“
Sie bläst die Backen auf. „Lange genug, um deine Vorsätze, nur noch zahnlose Gentlemen zu daten, schwanken zu sehen.“
„Die sind immer noch da. Und wenn du da schon rumstehst, kannst du mir helfen mein Auto freizulegen“, wehre ich ab. Nach dem letzten Mal werde ich mich nicht in Affären mit dunklen, finsteren Fremden stürzen, egal wie gut sie aussehen
Die Klimaanlage bläst in ohrenbetäubender Lautstärke warme Luft ins Wageninnere, während ich hinter dem Räumfahrzeug hertuckere und mich krampfhaft daran zu erinnern versuche, was der nette Herr in der Werkstatt zum Zustand meiner Bremsen gesagt hat. Leider hatte ich damals einen fürchterlichen Streit mit Warren am Telefon, sodass mir partout nicht mehr einfallen will, ob das Quietschen, das wie Schaben auf Metall klingt, nur besorgniserregend oder wirklich übel ist.
Vor mir überqueren ein paar Passanten die Straße, ohne nach links oder rechts zu sehen, und ich trete auf die Bremse. Mein Auto gibt ein dramatisches Ächzen von sich, aber es reagiert. Erleichtert umkralle ich mein Lenkrad, während die Fußgänger mit tief in den Jackentaschen vergrabenen Händen über die frisch geräumte Straße eilen und die kleinen Schneeberge vor dem Gehweg mit einem mehr oder minder eleganten großen Schritt überwinden.
Mein Auto hört sich wirklich schlimm an. Warren hätte mich nicht bei so etwas Wichtigem wie dem Werkstattbesuch mit seinem Anruf ablenken sollen. Wenn ich recht darüber nachdenke, ist der ohnehin schon eine ganze Weile her. Gwen ist seitdem mit diesem Auto gefahren. Zu ihrer Lesung. Everett ist damit bis nach Schottland gerollt, um seinen Freund zu überraschen. Mir wird flau im Magen. Himmel, ihnen hätte sonst etwas passieren können, weil ich dem Mann nicht zugehört habe. Nur weil Warren mir in den letzten Monaten das Leben zur Hölle gemacht hat, kann ich doch nicht einfach derart wichtige Dinge vergessen.
Als mir der nächste Passant vor die Kühlerhaube hüpft, klingt mein Seat sogar noch beängstigender, obwohl wir nur in Schrittgeschwindigkeit kriechen.
Zu allem Übel beginnt auch noch mein Telefon zu klingeln und ich angele mit einer Hand nach meiner Ledertasche. Ein Blick aufs Display bestätigt mir die beinahe schon sichere Vermutung, dass mein Wochenende nur schlimmer werden kann. „Mum. Ich bin gerade losgefahren.“
„Du kommst? Definitiv?“ In ihrer Frage schwingt ein gewisser Unglaube mit. „Na, das wird auch Zeit. Ich hake nur nach, damit ich nachher weiß, für wie viele ich eindecken muss.“
„Ich werde da sein“, wiederhole ich noch einmal und bete, dass mein Auto mich nicht im Stich lässt.
„Gut.“ Damit legt sie auf und ich wundere mich einmal mehr, wie viele unterschwellige Vorwürfe sie in ein einziges Wort stecken kann.
Mein Seat mag zwar alt sein und seine Bremsen kurz davor, in die Knie zu gehen, aber zweieinhalb Stunden später passieren wir tatsächlich das Ortsschild von Suttbury und ich erlaube mir, meine verkrampften Finger, die sich um das Lenkrad gekrallt haben, etwas zu lockern.
Der Schnee liegt hier noch ein wenig höher als zuhause in London und gibt den reetgedeckten Cottages etwas ganz und gar Idyllisches. Die Backsteinhäuschen mit ihren gepflegten Hecken, opulenten Rosenbüschen und akkurat gestutzten Rasen waren für mich früher die Hölle auf Erden. Absolut nichts ist jemals in diesem Tausend-Seelen-Örtchen passiert. Nichts außer ein paar Affären zwischen gelangweilten Ehepartnern.
Ich schlittere weiter die Hauptstraße entlang, vorbei an dem kleinen Pub und unserer Kirche und schlage den Weg zur Elmswood Lane ein. Kaum zu glauben, dass ich seit zwei Monaten nicht mehr hier gewesen bin.
Ich parke schließlich mit einem melodramatischen Quietschen am Straßenrand und hoffe, dass niemand der Nachbarn dieses klägliche Schauspiel mitbekommen hat. Oder schlimmer noch, meine Eltern.
In unserer Auffahrt steht ein dicker Wagen, der mir völlig unbekannt ist. Ich betrachte das Heck der schwarzen Limousine kritisch, auf der nicht ein Schneekörnchen liegt, bevor ich mein eigenes Gefährt abschließe. Offensichtlich hat mein Bruder sich schon wieder eine neuen Angeberschlitten zugelegt.
„Iben?“ Mein Vater öffnet die Haustür, noch bevor ich einen Fuß aufs Grundstück setzen kann. „Warst das du?“ Sein blauer Pullunder spannt über seinem Bauch und er trägt schon wieder eines dieser hässlichen Hemden, die meine Mutter ihm ausgesucht hat.
„Hallo Dad“, begrüße ich ihn gezwungenermaßen und ignoriere seine Frage. Natürlich weiß er, dass mein Auto dieses erbärmliche Geräusch von sich gegeben hat.
„So kannst du nicht fahren.“
„Ich bringe es am Montag in die Werkstatt“, versuche ich eine Belehrung über Unverantwortlichkeit hinter dem Steuer abzuwenden, noch bevor ich überhaupt über die Türschwelle getreten bin.Ein Muskel in seiner Wange zuckt. Ein sicheres Anzeichen dafür, dass er mit meiner Antwort nicht einverstanden ist. Deshalb bin ich mehr als erstaunt, dass er nichts auf meine Entgegnung erwidert. Aber dann fällt mir auf, dass er eine seiner dunkelgrauen Anzughosen trägt und glatte Oxfords. Kein Outfit für einen gemütlichen Plausch in der Familie an einem Samstag und auch sein silbergraues Haar liegt bei genauer Betrachtung viel zu akkurat. „Gehst du noch irgendwohin?“
„Wir haben Besuch.“
„Wen?“, will ich verdattert wissen und mache einen großen Schritt über die vereiste Stelle auf dem Gartenweg.
Mein Vater verzieht seinen Mund. „Deine Mutter hat ihn eingeladen.“
„Wen?“, hake ich noch einmal nach.
„Keith Mayfield.“
Ich bleibe wie vom Donner gerührt stehen. „Was?“
Mein Vater mustert meinen guten Kaschmirmantel und nickt bedeutungsvoll. „Wir haben ihn gestern getroffen. Bei seinen Eltern.“
„Aber-“ Ich suche nach einer passenden Erwiderung. „Das geht nicht.“
„Deine Mutter und ich haben dich bereits vor einer halben Stunde erwartet, also komm bitte rein“, nimmt er mir jede Chance, mir eine Ausrede aus den Fingern zu saugen, meinem Ex-Freund nicht gegenüberzutreten. Keith. Großer Gott. Meine Eltern können doch nicht einfach Keith einladen.
„Iben. Jetzt steh da nicht so herum.“ Mein Vater deutet nach drinnen und bringt mich so dazu, mich in Bewegung zu setzen. „Du siehst sehr hübsch aus“, sagt er milde, als ich neben ihn trete.
„Danke.“ Mir ist kalt. Meine Eltern haben meinen Ex-Freund eingeladen. Nicht irgendeinen, nein, Keith. Ausgerechnet Keith.
Ich schäle mich mit zitternden Fingern aus meinem Mantel. Mein Kleid hat die Fahrt nicht gut überstanden. Es ist zerknittert und meine Stiefel haben einen kleinen Salzrand vorn auf der abgerundeten Spitze. Mein Knie pocht noch immer unangenehm unter der blickdichten Strumpfhose und auch mein Hintern ist nicht im besten Zustand. Am liebsten würde ich umdrehen und davonstürmen, doch mein Vater versperrt mir den Fluchtweg.
„Nach dir“, brummt er.
Ich hätte misstrauisch werden sollen, als meine Mutter heute Morgen angerufen hat, um sich zu versichern, dass ich auch wirklich auftauche.
Die Hand meines Vaters bugsiert mich erbarmungslos in unser eigentlich sehr gemütliches Wohnzimmer.
„Iben! Archer. Da seid ihr ja endlich.“ Meine Mutter, die in ihrem Lieblingssessel thront, strahlt mir entgegen. Keith sitzt neben ihr auf dem großen, antiquierten Sofa, das schon Queen Victoria miterlebt haben dürfte, und kommt auf die Füße, kaum dass ich den Raum betrete.
„Iben.“
Ich glaube, ich stehe unter Schock. Mein Ex-Freund ist im Wohnzimmer meiner Eltern.
„Keith war so freundlich, uns zu besuchen“, lächelt meine Mutter die Stille weg.
Keith ist ein gut aussehender Mann. War er schon immer und er weiß, wie man einen Anzug trägt. Sein schwarzes Haar ist kurz geschnitten und seine durchdringenden grauen Augen leisten ihren Beitrag, um mein Herz einen Moment aussetzen zu lassen.
„Wir haben uns gestern auf der Party seiner Eltern getroffen und ich habe ihm erzählt, dass du heute herkommst.“
Ich versuche mich zusammenzureißen. Natürlich mussten sie sich irgendwann wieder über den Weg laufen. Sie verkehren immerhin in den gleichen gesellschaftlichen Kreisen. Die Mayfields sind alte Freunde meiner Eltern, schon seit ihrer Studienzeit.
Obwohl es mir ungehörig vorkommt, schaffe ich kein Lächeln. „Seit wann bist du draußen?“
„Zwei Jahre.“ Keith fasst sich an seine Krawatte und setzt sich wieder.
„Keith ist in die Firma seines Vaters eingestiegen. Wusstest du das?“, lenkt meine Mutter die Konversation weg von dem einzigen Thema, das ich mit diesem Mann zu besprechen wünsche.
Ich studiere die kleinen Fältchen um seine Augen. Wie alt ist er jetzt? Dreißig? Ich überschlage im Kopf, wie lange das schon her ist. Er saß drei Jahre. Zwei Jahre ist er draußen. Einunddreißig. Er ist schon einunddreißig.
„Nein. Das wusste ich nicht.“ Ich straffe die Schultern. Keiths Eltern führen ein sehr erfolgreiches Bauunternehmen und er hat irgendwas studiert, aber mir fällt nicht mehr ein, was. Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich gerade nur an seine Anklageschrift. Schwere Körperverletzung.
„Oh doch. Archer, jetzt lass deine Tochter doch neben Keith sitzen. Die beiden haben sich seit Jahren nicht gesehen!“, ordnet meine Mutter an.
Mein Vater stockt. Sein Widerwille ist ihm anzumerken. Er kann Keith nicht ausstehen. Konnte er noch nie und ich bin mir nicht sicher, welchem Umstand ich Keiths Auftauchen hier überhaupt verdanke.
„War das dein Auto, das dieses unsägliche Geräusch von sich gegeben hat?“, zwingt mich Keith, mit ihm zu sprechen.
„Ja.“ Ich sinke neben ihn auf die Polsterung.
„Deine Bremsen müssen überprüft werden. So kannst du nicht fahren“, wiederholt er Dads Worte.
„Da muss ich ihm zustimmen“, merkt dieser da auch schon an, sich offensichtlich an seine Rolle als höflicher Gastgeber erinnernd.
„Ich kann mal drübersehen, wenn du möchtest“, bietet Keith an.
„Das ist nicht nötig. Ich habe Montag einen Termin in der Werkstatt“, schwindele ich und frage mich, wann mein Ex-Freund so verflucht breit geworden ist. Keith war schon immer breitschultrig, aber so kann er beinahe mit dem Kerl von heute Morgen mithalten. Er ist nur nicht ganz so groß.
„Oh, sei nicht albern, Iben. Ich bin mir sicher, Keith würde es umsonst machen. Denk an deinen Geldbeutel. Bei deinem Job verdienst du ja nicht so übermäßig viel.“
Meine Mutter hat noch nie einen Blick auf meinen Gehaltsscheck geworfen. Oder auf mein Konto, daher bezweifele ich, dass sie sich ein Urteil darüber erlauben kann, wie es um meine Finanzen bestellt ist. Ich verdiene nicht schlecht. Wirklich nicht. Ich gebe nur zu viel aus und London ist teuer.
„Das ist nicht nötig, Mum.“
Sie hebt abwehrend die Hände. „Na schön, na schön“, seufzt sie melodramatisch, bevor sie sich mit einem verschwörerischen Funkeln in den Augen zu Keith beugt. „Den Sturkopf hat sie von Archer geerbt. Aber sofern ich mich erinnere, fandest du den ja immer ganz hinreißend.“ Sie greift nach seiner Hand und klopft beschwichtigend auf seinen Handrücken, während ich ungläubig daneben sitze.
„Ja“, stellt Keith mit einem Grinsen fest. Diesem Dreckskerl macht es scheinbar auch noch Spaß, von meiner Mutter umgarnt zu werden. „Iben hat einen wundervollen Sturkopf.“
„Mum, kann ich dich mal kurz sprechen?“
Susan Camwell schnalzt mit der Zunge. „Wir haben einen Gast.“
„Exakt“, bringe ich raus.
Sie verdreht die Augen. „Wir sind gleich zurück und dann musst du Iben die Geschichte mit dem Polospiel erzählen. Die ist wirklich fantastisch.“
„Mum, was zum Geier tust du da?“, fahre ich sie an, kaum dass die Küchentür hinter uns zugefallen ist.
„Ich habe Keith eingeladen.“ Sie zuckt mit den Schultern und deutet auf den Kaffeevollautomaten in der Ecke. „Möchtest du einen Kaffee? Vielleicht sollte ich auch Keith fragen, ob-“
Ich halte sie am Arm fest. „Was ist in dich gefahren? Du kannst Keith nicht ausstehen und Dad hat gedroht, ihn umzubringen, wenn er noch mal einen Fuß in dieses Haus setzt.“
„Das war vor fünf Jahren. Damals wart ihr noch so jung“, winkt sie ab. „Er hat sich die Hörner abgestoßen. Er ist bereit für etwas Ernstes.“ Susan Camwell hat die Dreistigkeit, zufrieden auszusehen. „Er hat einen guten Job. Wir kennen die Familie und er ist ganz vernarrt in dich.“
„Mum.“
„Immer bringst du diese schrecklichen Männer mit nach Hause. Einer schlimmer als der andere. Keinen willst du, den ich dir vorstelle“, presst sie vorwurfsvoll hervor. „Aber der gefällt dir. Das weiß ich.“
„Das ist Jahre her.“
„Genau deswegen habe ich ihn eingeladen.“ Sie greift an ihr besticktes Perlentuch, das gut mit ihren haselnussbraun gefärbten Haaren harmoniert. Eigentlich ist sie blond, aber das findet sie nicht elegant genug. „Ihr könnt euch noch mal ganz neu kennenlernen. Wenn du dir nicht bald einen Mann suchst, wirst du noch als alte Jungfer enden.“
„Ich bin fünfundzwanzig, nicht vierzig“, stöhne ich entnervt. „Du musst mich nicht verkuppeln. Wie oft soll ich dir das noch sagen?“
Ihre Augenbrauen senken sich, doch sie gibt nur ein leises Seufzen von sich, anstatt mir eine Gardinenpredigt zu halten. „Ich werde mich jetzt um den Kaffee kümmern.“
Und dann geht es immer weiter bergab. Zu meinem Leid kündigen sie im Radio heftige Schneefälle für die nächsten zwei Tage an, weshalb Mum beschließt, dass ich unmöglich hierbleiben kann. Ganz die Kupplerin hat sie einen hervorragenden Plan ausgeheckt. Indem sie meinem Vater eingeredet hat, dass es viel zu unsicher ist, mit meinem Auto zurück nach London zu fahren, bin ich plötzlich in der Verlegenheit, Keiths Vorschlag anzunehmen, mich nach dem Dinner zurück in die Stadt zu fahren und mein Auto hierzulassen.
„Willst du mich zwei Stunden lang anschweigen?“
„Das habe ich vor“, bestätige ich Keith, als wir in seinem Wagen aus der Elmswood Lane biegen. Ich habe Kopfschmerzen. Obwohl ich nur einen halben Tag zuhause war, fühle ich mich, als ob mir jemand mit einem Hammer die Schädeldecke einschlagen würde.
„Es tut mir leid.“
Ich gebe ein Schnauben von mir.
„Ich brauche deine Entschuldigungen nicht. Ich habe dir nichts mehr zu sagen“, versuche ich ihn abzuwürgen. Den ganzen Nachmittag habe ich mich bemüht mich vor den Erinnerungen abzuschotten, die seine Anwesenheit in mir auslöst, und Mums Geplapper zu ignorieren.
„Ich wollte nicht, dass du auf mich wartest, Iben.“
„Nun, das habe ich nicht, nicht wahr?“, entgegne ich ihm und wende mich von ihm ab. Ich könnte meine Mutter umbringen. Wieso tut sie mir das an? Sie weiß, wie viele Tränen ich seinetwegen vergossen habe.
„Du musst doch wissen, dass ich nur mit ihr geschlafen habe, um dich-“
„Lass“, unterbreche ich ihn.
„Es hat mir nichts bedeutet“, macht er einfach weiter. „Ich will nur, dass du das weißt.“
Ich schlinge meine Arme um mich und vergrabe meine Nase im Aufschlag meines Mantels. Als ob ich nicht wüsste, dass er es mir nur einfacher machen wollte, über ihn hinwegzukommen, nachdem er diese Anklage wegen der Schlägerei an der Backe hatte. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der Mistkerl auf meinen Gefühlen herumgetrampelt ist mit seinem Fremdgehen.
„Ich war ein Idiot, Iben.“ Die Klimaanlage bläst heiße Luft in den Fußraum und wärmt meine Zehen. „Ein wütendes Kind.“
„Ja. Und nun würde ich es vorziehen, wenn du den Mund halten könntest. Ich habe Kopfschmerzen.“
„Zuhause habe ich eine Kopfschmerztablette“, bietet er an und ich bin kurz davor loszuheulen. Ich will keine Tablette. Ich will einfach ein einziges Mal Glück haben und mich nicht in ein Arschloch verlieben. „Da habe ich übrigens auch noch ein paar Ohrringe von dir. Wenn wir bei mir vorbeifahren, kann ich sie dir geben.“
„Mh“, entkommt es mir, mich auf meine Manieren besinnend. Immerhin nimmt kutschiert er mich zurück nach London. „Sicher.“
Keith wohnt in einer der Nobelgegenden, die sich ein Normalsterblicher nicht mal zur Miete leisten könnte. Die dicken Autos vor den weißen Häusern geben bereits einen dezenten Hinweis darauf.
„Kommst du kurz mit rein?“
Ich würde gern ablehnen, doch leider lässt das meine Blase nicht zu. „Wenn ich kurz dein Badezimmer benutzen kann.“
„Sicher.“ Seine hellen Augen finden meine und ich habe das Gefühl, dass ihm irgendetwas auf der Zunge liegt, aber da öffnet er auch schon die Autotür.
Ich hoffe, dass er sich nicht ausmalt, dass ich mich auf ihn stürzen werde, sobald er mich nur nach drinnen gelockt hat. Eigentlich sollte er wissen, dass ich so etwas nicht tue.
Nur zur Sicherheit gebe ich vor, die aus den Wolken taumelnden Flocken zu studieren. „Wie lange wohnst du schon hier?“
„Noch nicht lange. Aber ich denke, ich werde schon bald wieder ausziehen.“ Er holt seinen Haustürschlüssel hervor. „Nebenan wohnt eine aufstrebende Sängerin. Ständig lungern irgendwelche Paparazzi herum. Gestern habe ich einen erwischt, wie er meinen Müll durchwühlt hat.“
Ich spare mir die Frage, um wen es sich handelt, weil ich nicht so etwas wie Interesse vermitteln will, und folge ihm in Richtung Haus.
„Das Badezimmer ist im ersten Stock, gleich links.“
„Danke“, beeile ich mich rauszubringen und steige die Treppe nach oben.
Ich bin gerade dabei mir die Hände abzutrocknen, als die Außenbeleuchtung im Nachbargarten anspringt. Keiths Handtücher sind weich und ich linse nicht ohne Neugier aus dem Fenster, um vielleicht einen Blick auf seine berühmte Nachbarin zu erhaschen. Nur ist das keine Frau, die da den Garten betreten hat. Das ist der Kerl von heute Morgen. In der Hand hält er ein Bündel Stoff, das mit irgendetwas getränkt ist. Im ersten Augenblick halte ich es für Blut, bevor das Licht enthüllt, dass es sich dabei wohl um orangerote Farbe handelt. Ich kann mich nicht abwenden.
Er sieht mehr als missgelaunt aus. Geradezu stinksauer, während er durch den tiefen Schnee stapft und den Stofffetzen auf den Kugelgrill wirft, der am hintersten Ende des Gartens steht.
Er bückt sich, um das Ganze mit Spiritus zu tränken, und greift schließlich in seine Manteltasche, um ein Feuerzeug hervorzuziehen und eine Schachtel Kippen.
Ich bin wie festgefroren.
Sein Gesicht liegt im Halbdunkeln und macht es beinahe unmöglich, seine Miene zu entziffern, doch auch so bin ich fasziniert.
Er zündet sich eine Kippe an und ich frage mich schon, ob er die nun ganz qualmen will, als er sie auf den Grill wirft und sich die Flammen in den Nachthimmel fressen.
Im emporschlagenden Feuerschein leuchtet sein dunkelbraunes Haar selbst wie Höllenglut, bevor er sich umwendet und durch den Schnee zurück in Richtung Haus stapft. Ich studiere seine breiten Schultern fasziniert. Männer wie er bringen nur Ärger und Chaos. Aber sie sind so viel interessanter als all die Gentlemen.
Keith wartet am Fuß der Treppe auf mich und lässt mich nicht aus seinem Blick. Eine Hand in die Hosentasche gesteckt, in der anderen eine schwarze Schatulle, sieht er so schrecklich ernst aus, dass ich halb fürchte, er würde gleich vor mir auf die Knie sinken.
„Du musst dir nicht die Mühe machen, mich nach Hause zu fahren“, bringe ich hervor in der Hoffnung, er würde aufhören mich so anzustarren. „Es sind nur ein paar Minuten mit der Tube.“
Er schüttelt entschieden den Kopf. „So weit kommt’s noch. Natürlich fahre ich dich.“ Seine grauen Augen taxieren mich, ohne zu blinzeln, und ich frage mich, ob es sehr unhöflich ist, wenn ich mich schlichtweg weigere, denn er wirkt, als würde er sich immer noch Hoffnungen machen.
Der Träger meiner Handtasche schneidet in meine Schulter. Sämtliches Gepäck in nur eine einzige überdimensionale Tasche zu stopfen, war wahrscheinlich keine sonderlich gute Idee, aber immerhin hat alles hineingepasst.
Keith umkrallt die kleine Samtschatulle etwas fester. „Iben“, setzt er an und sieht dabei aus, als wollte er mich in seine Arme reißen. „Ich weiß, ich habe deine Ohrringe schon eine Ewigkeit und ich hätte sie dir einfach vorbeibringen sollen, aber ich habe es nicht über mich gebracht.“ Seine Miene ist fürchterlich ernst, als er schluckt. „Ich wollte etwas … ich…“ Er fährt sich über den Nacken. „Ich habe mit dem Rugby aufgehört und ich habe keinen Pub mehr an Spieltagen betreten, seit ich wieder draußen bin.“
„Gut für dich.“ Keiths Temperament geht mit ihm durch, sobald er dieses Ei durch die Gegend fliegen sieht. Die schwere Körperverletzung, wegen der er in den Bau gewandert ist, war nur die Krönung einer Reihe von Vorkommnissen dieser Art.
Er öffnet das Kästchen und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Über meinen silbernen Knotenohrringen steckt noch ein zweites Paar. Eines aus Perlen.
„Was soll das? Die gehören mir nicht“, bringe ich raus, während ich die beiden großen Perlen anstarre.
„Jetzt schon.“ Er drückt mir die kleine Box in die Hand. „Es tut mir wirklich leid, Iben. Sieh sie als Entschuldigung, dass ich fünf Jahre gebraucht habe, um dir –“
„Keith, ich will sie nicht“, unterbreche ich ihn entsetzt.
„Sie sind mit keiner Verpflichtung verbunden. Sie sind einfach nur-“
„Ich bin nicht käuflich.“ Ich pflücke meine alten Ohrringe aus der Box, von denen ich glaubte, sie verloren zu haben, bevor ich ihm das Kästchen zurückgebe. „Behalt sie oder schenk sie einer anderen. Die sind nichts für mich.“
Der Silberschmuck in meiner Handfläche ist kühl. „Ich sollte jetzt gehen“, würge ich ihn ab, noch bevor er ein weiteres Wort hervorbringen kann. „Danke für’s Mitnehmen.“
Er hält mich am Handgelenk fest. „Iben.“ Sein Griff ist beinahe ruppig, während sich seine grauen Augen in meine bohren. „Geh nicht.“
Keith war noch nie sonderlich sanft oder feinmotorisch, aber irgendetwas ist anders an ihm.
„Hör zu. Es ist schön, dass du wieder draußen bist. Selbst wenn du mich nicht betrogen hättest, sind es fünf Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben. Ich kenne dich nicht mehr und du mich nicht.“
Er schüttelt den Kopf. „Iben, bitte bleib. Wir können-“
„Lass mich los.“
Seine Augen verschlingen mich geradezu und mein Puls beginnt zu flattern, doch seine Finger geben mich nach kurzem Zögern frei.
„Mach’s gut“, verabschiede ich mich erleichtert und schiebe mich an ihm vorbei.
„Hast du zurzeit einen Freund?“
Ich bin bereits an der Tür, als er mir die Frage stellt, und ich drehe mich notgedrungen noch einmal zu ihm um. „Das geht dich nichts mehr an.“
Er presst die Lippen aufeinander und ich beeile mich nach draußen zu kommen.
Der Schneefall ist dichter geworden. Große Flocken taumeln aus dem schwarzen Nachthimmel und ich muss gegen die weiße Wand anblinzeln, die bis morgen angeblich dreißig Zentimeter Neuschnee mit sich bringen soll. Ich taste mich die glatten Stufen hinunter. Auch wenn ich eigentlich weiß, dass Keith mir nie etwas tun würde, habe ich das Bedürfnis, so schnell wie möglich Abstand zwischen uns zu bringen. Meine schwere Handtasche rutscht mir über die Schulter und ich schiebe sie mit einiger Mühe zurück in Position, weil sich die Träger in meinen Haaren verfangen.
Ich trete gerade zurück auf die Straße, als ich im weißen Treiben vor mir den Kerl von eben entdecke, der mit ein paar schnellen Handgriffen ein Auto freilegt, das bereits unter einer dicken Schneeschicht versunken ist. Jede seiner fließenden Bewegungen spricht von Verärgerung und ich packe meine Tasche etwas fester.
Sich wie eine Irre auf den Boden zu werfen, weil mich sein Hund erschreckt hat, war nicht gerade eine Meisterleistung. Und dann auch noch im Schlafanzug.
Ich werde einfach an ihm vorbeigehen. Was ist schon dabei. Sicherlich erinnert er sich nicht mehr an den Vorfall. Außerdem trage ich jetzt meine Haare offen und es schneit wie verrückt. Er kann mich gar nicht erkennen. Es gibt keinen Grund, einen Bogen um ihn zu machen.
Die Ohrringe, die ich noch in der Hand halte, pieken in meine Handfläche, während ich ihn im Blick behalte. Er ist dabei, seine Heckscheibe freizulegen, in seinen dunklen Haaren hängen die weißen Flocken und ich frage mich, was er hier tut. Wohnt er hier? Oder ist er nur der Freund dieser Berühmtheit, von der Keith gesprochen hat?
Ich passiere ihn, ohne dass er aufsieht, und will schon erleichtert durchatmen, als ich auf etwas stoße. Etwas Lebendiges. Es jault und ich zucke zurück. Gerade rechtzeitig, um einen großen Kopf hochschnappen zu sehen.
Ich gebe ein erschrockenes „Oh!“ von mir. Mein Herz rast, während ich den dunkelbraunen Hund anstarre, dem ich auf die Rute getreten bin.
„Sind Sie okay?“
„Ja“, presse ich raus und schaffe es, einen Blick auf meinen Arm zu werfen, an dem sein Kopf vorbeigeschossen ist.
Eine große Hand legt sich um meinen Ellbogen. „Hat er Sie erwischt?“
„Nein“, bringe ich hervor, während ich mit der Tatsache hadere, dass ich einen riesigen Hund übersehen habe, obwohl er mitten in meinem Weg lag. „Tut mir leid. Ich bin ihm aus Versehen auf den Schwanz getreten“, entschuldige ich mich. „Ich wollte das nicht.“
Er studiert noch immer meinen Arm. „Sind Sie sicher, dass er Ihnen nicht wehgetan hat?“
„Ja.“
Ich begegne seinen dunklen Augen. „Heute ist wohl nicht Ihr Glückstag“, stellt er nicht ohne ein gewisses Erstaunen fest und ich nicke bedröppelt.
„Wohl nicht.“
Er gibt ein Seufzen von sich und lässt meinen Arm los. Sein Blick wandert zu seinem Hund, der mit eingezogener Rute neben uns steht und ein klägliches Winseln von sich gibt.
„Ich habe ihm wehgetan, oder?“, frage ich unglücklich. „Ich habe ihn übersehen.“
Der beeindruckende Fremde beugt sich zu seinem vierbeinigen Begleiter hinunter und tastet ihn ab. Ich wische mir über meinen Arm. Nicht mal Sabber hängt auf dem Stoff. Mein Puls rast immer noch, während das Gewinsel verstummt. Stattdessen hält der große Dobermann ganz still und guckt mich direkt an. Die hellbraunen Abzeichen über den Augen und an der Schnauze, die sich von seinem nussbraunen Körper abheben, verleihen ihm einen eigenwilligen Charme.
„Schlimm scheint es nicht zu sein“, murmelt sein Besitzer.
„Wirklich nicht?“
„Bailey hat sich nur erschreckt.“ Er richtet sich wieder zu voller Körpergröße auf und fährt seinem Rüden über den Kopf, der sich dichter an seinen Besitzer lehnt. „Eigentlich übersieht man Tiere in dieser Größe nicht so leicht.“ Er mustert mein Gesicht und in diesem Augenblick bin ich mir sicher, dass er mich für ziemlich durchgeknallt hält.
„Ich kam gerade von meinem Ex-Freund ... Ich war in Gedanken“, versuche ich den Zwischenfall zu erklären. Er bedenkt mich mit Schweigen, während der Dobermann vor meiner ausgestreckten Hand zurückweicht. „Es tut mir wirklich leid. Das wollte ich ehrlich nicht“, entkommt es mir mit einem Blick in die großen, ovalen Hundeaugen.
„Ist Ihr Ex der Kerl von nebenan?“
„Ja.“ Ich schiebe meine Tasche zurück auf meine Schulter, die schon wieder in Richtung Boden wandert.
Halb erwarte ich, dass er mich noch etwas zu dem Thema fragt, doch er steckt nur die Hände in die Jackentaschen.
„Ich sollte dann wohl gehen. Bevor wir uns noch ein drittes Mal beim Eiskratzen über den Weg laufen.“
„Versuchen Sie keine großen Hunde mehr zu übersehen“, rät er mir und ich schaffe es, irgendwie zu nicken.
„Tschüss“, verabschiede ich mich und kann seinen Blick auf mir ruhen spüren, als ich davongehe. Entweder hält er mich für geistig minderbemittelt oder richtig irre. Zwei so peinliche Begegnungen an einem Tag hatte ich schon lange nicht mehr.
Ich geißele mich noch immer selbst, als ich eine halbe Stunde später in meine Wohnung komme, den Schnee aus meinen langen Haaren schüttle und erleichtert meine schwere Tasche auf den Sessel werfe. Was für ein katastrophaler Tag.
Ich fahre mir übers Gesicht und halte wie vom Donner gerührt inne. Meine Ohrringe. Ich hatte sie doch vorhin noch in der Hand! Ich klopfe meine Manteltaschen ab und gebe ein frustriertes Schnauben von mir, als ich nur ins Leere greife. Grandios. Wahrscheinlich habe ich sie vor Schreck fallen lassen, als ich den Dobermann übersehen habe.
„Das darf doch nicht wahr sein.“ Ich lasse mich auf mein Sofa sinken und muss das Bedürfnis unterdrücken, in Tränen auszubrechen. „Wie kann man so dumm sein?“ Diesmal sind sie weg. Für immer weg. „So ein verfluchter Käse.“ Mich durchläuft ein Zittern und erinnert mich daran, dass ich aus meinen klammen Klamotten raus muss. Krank zu werden hilft mir auch nicht weiter. Mit einiger Mühe schäle ich mich aus meinem Mantel und starre meine nassen Strähnen an. Vielleicht stimmt es, was alle Welt über uns Blondinen sagt. Vielleicht sind wir einfach minderbemittelt in Sachen Intelligenz.
Das Wasser sammelt sich an meinen Haarspitzen, die sich unter der Feuchtigkeit kringeln. Wenn man es genau nimmt, bin ich eigentlich gar nicht richtig blond. Als Kind schon, aber mittlerweile sind meine Haare eher karamellfarben. Eine Mischung aus dunklem Blond und hellem Braun, das zu viele Kupferelemente abbekommen hat. Als richtige Blondine gehe ich höchstens noch im Sommer durch, wenn die Sonne meine Haare ausgeblichen hat.
Ich atme tief durch. Im Grunde genommen ist es ohnehin egal, worauf ich meine eigene Dummheit nun zurückführe. Ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Ich sollte diesen Tag einfach beenden, mir meine Haare föhnen und schlafen gehen. Meine Ohrringe habe ich ohnehin die letzten fünf Jahre nicht vermisst, Keith bleibt mir hoffentlich weiterhin gestohlen und dem Fremden werde ich bestimmt nie wieder begegnen.
Bevor ich schließlich ins Bett gehe, schreibe ich meinen Freunden noch, dass ich morgen doch zuhause bin, und verabrede mich mit ihnen zu unserem sonntäglichen, gemeinsamen Lunch in unserem Lieblingsrestaurant.
„Dieser Keith hört sich nach Ärger an“, brummt Hannah und greift nach ihrem Rotweinglas, als ich meinen Bericht beendet habe, und auch Toska und Everett nicken ernst, während Gwen die Stirn runzelt.
„Ich verstehe deine Mutter nicht. Sie hat Keith gehasst.“ Sie legt ihre Speisekarte aus der Hand. „Ich habe ihn sogar noch vor ihr verteidigen müssen, und jetzt will sie dich wieder mit ihm verkuppeln? Das ist doch vollkommen bescheuert.“
„Es ist aber so.“ Ich zucke mit den Schultern, während meine älteste Freundin die Gedankengänge meiner Mutter nachzuvollziehen versucht.
An unserem üblichen Tisch am Fenster von Pepe wird es still. Gwens platinblonder Pixieschnitt leuchtet in der Mittagssonne und lässt ihre blauen Augen noch größer als sonst wirken.
„Du bist einfach viel zu nett, Mäuschen. Das ist dein Problem.“ Everett, der sich an der Sektflöte festhält, bläst unglücklich die Luft aus. „Ich hätte ihr die Hölle heißgemacht, meinen Ex-Freund einzuladen.“
„Ja, ganz genau.“ Toska schiebt sich eine schwarze, glatte Strähne hinter die Ohren. Sie trägt mal wieder einen flauschigen, cremefarben Pullover, der ihren rundlichen Körper an genau den falschen Stellen betont, und einen schwarzen Rock, der etwas über dem Knie endet, doch darauf achtet kaum jemand, wenn er erst einmal in ihr Puppengesicht gesehen hat, mit den großen braunen Augen und dem herzförmigen Mund. „Das kannst du dir nicht gefallen lassen.“
„Das ist verlorene Liebesmüh. Außerdem sehe ich sie erst wieder an Weihnachten. Bis dahin ist die Sache hoffentlich vergessen.“ Ich knabbere an meinem Pizzabrot und bedenke meine beiden Kollegen Everett und Toska mit einem Lächeln. „Jetzt sieh mich nicht so an, Ewe.“
Everett kann einem zuzeiten ein wenig Angst einjagen mit seinen stechend blauen Augen, seiner schneeweißen Haut und den orangeroten Haaren. Sein schmales Gesicht mit der leicht gekrümmten Nase tut das Übrige, um ihm seine Drohung, jemandem die Hölle heißmachen zu wollen, wahrlich abzunehmen.
„Eigentlich ist doch auch ganz egal, was mit Keith ist. Dein Fremder mit dem Hund hört sich ohnehin viel interessanter an“, beendet Gwen die Diskussion um meinen Ex-Freund.
„Das war furchtbar peinlich. Sein Hund hat Angst vor mir und er hält mich wahrscheinlich für verrückt.“
Everett, der neben mir sitzt, umfasst meine Hand verständnisvoll. „Mach dir nichts draus. Wenn es dich aufbaut, ich hatte gestern auch keinen guten Tag. Ich habe meinen Ex auch gesehen. Sebastien.“ Sein sehniger Körper, der in Jeans und einem dünnen grauen Pullover steckt, ist angespannt und ich kann seinen Kummer beinahe fühlen. Sebastien war seine große Liebe, aber er hat sich lieber für eine Karriere in der Politik entschieden als für ihn.
„Der alte Sack hatte dich eh nie verdient“, entkommt es mir leise. „Du bist so ein Hübscher, Ewe. Jeder Kerl kann sich glücklich schätzen dich zu kriegen.“
„Ja“, bestätigt Toska. „Auf dich standen schon ganz andere. An dem hast du wirklich nichts verloren.“
„Wenn du willst, kann ich ein paar Strippen ziehen und ihm eine Steuerprüfung auf den Hals hetzen“, schlägt Hannah vor. „Oder Gwen kann ihn in ihrem neuen Buch in den Bösewicht verwandeln.“
„Das nicht, aber der Redakteur von diesem einen Revolverblatt schuldet mir noch einen Gefallen. Wenn du willst, verliere ich mal ein paar Worte zu deinem Ex in einem Artikel.“
Unser Quintett ist in den letzten Jahren erstaunlich gut und routiniert darin geworden, uns über die Mistkerle in unserem Leben hinwegzutrösten, und ich weiß wirklich nicht, was ich ohne die vier in den vergangenen Monaten gemacht hätte.
„Schon okay.“ Everett kippt seinen Sekt hinunter und betrachtet mein Wasserglas. „Alkohol hilft. Ich versteh‘ nur nicht, wie du bei dem ganzen Chaos darauf verzichten kannst, Iben. Ich würde wahnsinnig werden.“
„Da stimme ich ihm zu.“ Hannah lässt demonstrativ den Rotwein in ihrem Glas tanzen. „Der Grund für deinen Verzicht ist doch reichlich lächerlich.“
„Ist er nicht“, wehre ich mich. „Und das ist kein komischer Aberglaube. Sobald ich einen Schluck Alkohol trinke, taucht einer meiner Ex-Freunde auf. Es ist immer so. Deshalb habe ich damit aufgehört.“
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du sie bestimmt einfach nur anrufst, wenn du betrunken bist“, seufzt Gwen. „Du bist unglaublich schnell betrunken. Das weißt du.“
Hannah grinst. „Wir suchen Alec immer noch. Ich für meinen Teil wäre dankbar, wenn der auftaucht.“
Ich gebe ein Schnauben von mir und blicke in die grinsende Runde. „Na schön. Ich beweise es euch. Aber wer auch immer auftaucht, ist euer Problem!“
„Sicher.“ Hannah reicht mir ihr Glas und funkelt mich amüsiert an. „Handschellen habe ich im Auto.“
Ich wische mir meine Finger an der Serviette ab und nehme ihr das Glas ab.
„Wieso hast du an deinem freien Tag Handschellen dabei?“, hakt Everett nach, bevor er abwinkt. „Nein, weißt du was, ich will’s gar nicht wissen.“
Uns entkommt ein Lachen.
„Ich bin eben auf jede Eventualität vorbereitet“, wehrt sich Hannah. „Ich spiele keine Fesselspielchen in meiner Freizeit.“
„Das sagen sie alle“, erwidert Toska, während wir gespannt das Glas in meinen Händen anstarren.
„Euer Problem“, wiederhole ich noch mal vorsorglich. „Egal wer.“
„Ja ja. Jetzt mach schon“, feuert mich Everett an.
Der Rotwein ist trocken, beinahe staubig und ich verziehe angewidert das Gesicht, als er meine Kehle hinunterrinnt. Von vier Leuten dabei angestarrt zu werden, ist ebenfalls nicht gerade förderlich.
„Siehst du, da passiert überhaupt nichts.“ Everett, der mit dem Rücken zum Restaurant sitzt, dreht sich um und reckt den Kopf, um in Richtung Tür zu blicken. „Wie auch?“
„Es dauert immer ein wenig“, zügele ich seine Ungeduld.
„Wenn man hier länger sitzt, trifft man immer jemanden, den man kennt. Wir sind jeden Sonntag hier, Iben“, winkt Gwen ab und will gerade selbst zu ihrem Wein greifen, als ihr Lächeln plötzlich erlischt.
„Hallo“, höre ich jemanden in meinem Rücken sagen, während meine Freunde geschlossen auf einen Punkt direkt hinter mir starren. Ich kenne diese Stimme. Das ist keiner meiner Ex-Freunde.
„Hey, ich glaube, Sie sind mein Problem“, sagt Hannah und die anderen kichern.
„Das bezweifle ich.“
Mein Kopf ruckt herum. Am liebsten würde ich im Boden versinken. Da steht er. Der Kerl von gestern. Großgewachsen und finster. Er trägt eine graue Anzughose, ein blaues Hemd und eine derbe, braune Lederjacke, die die Farbe seines Gürtels und seines Haares wiederaufgreift.
„Ich glaube, Sie haben gestern etwas verloren.“ Seine dunklen Augen verengen sich und ich kann meinen Puls flattern spüren. Ich habe keine Ahnung, von was er spricht. Wirklich nicht. Das einzige, das ich zusammengeschustert bekomme ist, dass er sich rasiert hat, aber ohne Dreitagebart sieht er nicht weniger gefährlich aus.
Nur eines ist erschreckend klar. Er hat reichlich Geld.
Er greift in seine Lederjacke und fischt meine beiden Ohrringe hervor. In seinen Händen wirken sie so filigran, dass ich einen Moment brauche, um sie zu erkennen. „ Das …Danke, woher … “
„Google“, brummt er. „Und ihr Ex.“ Das Silber fällt in meine Hand.
Ich erinnere mich daran zu atmen, als der Verschluss in meine Haut piekt. „Geht es Ihrem Hund gut?“
„Ja.“ Seine braunen Augen finden meine. „Tut es.“
„Gut. Das freut mich.“ Ich wünschte, mir würde irgendetwas Kluges einfallen, doch mein Kopf ist wie leergefegt. Was für ein imponierendes Exemplar von Mann.
„Nun, ich will Sie nicht länger aufhalten“, beendet er meinen vergeblichen Versuch, Konversation zu betreiben. „Schönen Tag noch.“ Er schenkt Hannah einen grimmigen Seitenblick und geht davon.
„Was für ein Mann“, äußert Everett meinen stillen Gedankengang, während der viel zu beeindruckende Fremde zu einem Grüppchen Leute zurückkehrt, die sich gerade aufbruchsfertig machen.
„Ja“, gebe ich nicht weniger erschüttert zu und schließe meine Hand um die Ohrringe. „Was für ein Mann.“
„Ich muss zugeben, dein Fremder sieht nicht schlecht aus“, murmelt Hannah in den groben, senfgelben Schal um ihren Hals, als wir ein paar Stunden später aus dem Pepe schlendern.
„Er ist nicht ‚mein Fremder‘“, korrigiere ich sie und blinzele gegen den stärker werdenden Schneefall an. „Aber immerhin hörst du endlich auf, dich über meinen Alkoholverzicht lustig zu machen.“
Hannah biegt zwischen den parkenden Autos ab, um über die Straße zu huschen. „Wir haben uns nicht über deinen Verzicht lustig gemacht, sondern nur über den Grund deines Verzichts.“
Ich folge ihr auf dem Fuße. „Sag ich doch“, seufze ich. „Seit der Kerl verschwunden ist, habt ihr nichts anderes getan, als mich zu necken. Aber es ist kein blöder Aberglaube.“
„Iben.“
„Ist es nicht.“ Ich überwinde den großen Schneeberg auf der anderen Straßenseite und höre Hannah mit der Zunge schnalzen.
„Solange der Fremde nicht dein zukünftiger Ex war, kann ich dir leider nicht zustimmen. Und wenn du nur etwas mit ihm anfängst, um zu beweisen, dass du richtig liegst, dann bekommst du etwas von mir zu hören.“
„Willst du mir jetzt vorschreiben, mit wem ich ausgehen soll?“
Hannah legt den Kopf schief und grinst milde. „Das wäre vielleicht gar keine schlechte Idee, in Anbetracht deiner Quote. Hör zu … Ich gestehe dem Typen ja zu, dass das mit deinen Ohrringen wirklich aufmerksam von ihm war. Aber die Geschichte mit dem Verbrennen von farbbefleckten Klamotten, das ist doch reichlich seltsam.“ Hannah schließt die Haustüre auf und wirft mir einen forschenden Blick zu. „Manchmal kommt es mir so vor, als wolltest du unbedingt Kriminelle daten. Ich mache mir Sorgen.“
„Nur weil er gut aussieht und höflich war, heißt das nicht, dass -“
„Everett und du ihn angehimmelt habt? Oder dass du dich fragst, wie es wäre, in seine farbverschmierten Arme zu fallen, und wie ihr als Gangsterpärchen glücklich werdet?“, beendet Hannah meinen Satz für mich.
„Du bist gemein.“ Ich verdrehe die Augen und halte auf die Treppe zu. „Und ich tue nichts dergleichen.“
„Mh“, presst Hannah finster hervor. „Bestimmt.“
Die Stufen knarzen unter unseren Schritten, während wir schweigend nebeneinander nach oben laufen. Ich krame nach meinem Schlüssel und versuche Hannahs urteilendem Blick auszuweichen. „Ja, in meine Handtasche ist ein schwarzes Loch und nein, ich habe nicht vor sie aufzuräumen.“ Ich grabe den Inhalt meines Taschenuniversums um, auf der Suche nach meinem Schlüsselbund. Ich bleibe auf der nächsten Stufe stehen und lausche dem klirrenden Geräusch, das mir verrät, dass ich ihn definitiv nicht verloren habe. „So ein Käse! Ich weiß, dass er da drin ist.“ Ich taste die Seitentasche ab und werde schließlich fündig. „Haha!“ Ich umfasse das kühle Metall erleichtert und ziehe es an dem kleinen Äffchen hervor.
Hannah runzelt die Stirn. „Hast du schon wieder einen neuen Anhänger?“
„Ja. Der Alte ist abgegangen. Den habe ich von einem süßen, kleinen Geschäft am Conv-“
Oben fällt eine Tür ins Schloss und Hannah sieht mich alarmiert an. Dort oben wohnen nur wir beide.
Schnelle Schritte trampeln die Treppe herunter und ich erstarre, als ich einen Kerl in Lederjacke um die Ecke poltern sehe, ein weißes Päckchen in der Hand. Ich kenne dieses Gesicht, das unter zu vielen Bartstoppeln versteckt ist. Und ich kenne diese Nase.
„Alec?“, entkommt es mir verdutzt, während er an uns beiden vorbeistürmt und Hannah mit sich reißt. Sie taumelt zur Seite und fällt die beiden Stufen zur Nachbarwohnung nach unten.
„Au!“, presst sie hervor und will sich aufrappeln, um ihm hinterherzueilen, doch sie sackt mit einem Fluch zusammen, als sie auftritt.
„Hannah? Bist du okay?“, frage ich entsetzt und greife nach ihrem Arm.
„Ja. Au. Verfluchte Kacke!“ Sie schlägt gegen die Wand. „Scheiße!“ Sie macht sich von mir los und greift nach ihrem Telefon, oder will es zumindest, denn sie fasst ins Leere. „Das darf doch nicht wahr sein!“, tobt sie.
„Mein Handy liegt auf meinem Bett“, helfe ich ihr aus, während ich in den verwaisten Treppenflur starre. Alec war in meiner Wohnung. Dieser Dreckskerl war in meiner Wohnung!
Mein Puls flattert. Und was hatte er da überhaupt bei sich?
„Der hatte doch Stoff in der Hand“, spricht Hannah meine Befürchtungen aus und dreht sich humpelnd zu mir um. „Hilfst du mir mal die Treppe hoch?“
„Ja.“
Ihre Hand schlingt sich um meinen Hals. „Scheiße. Erinnere mich daran, mich nie wieder über den Grund deines Alkoholverzichts lustig zu machen“, stöhnt sie leise.
„Ja.“ Ich habe gute Lust, in Tränen auszubrechen, erst recht, als ich das aufgebrochene Schloss ausmache.
„Iben. Es ist nur eine Tür“, seufzt sie. „Nicht heulen.“
„Mh.“ Ich helfe ihr durch meine aufgebrochene Wohnungstür, hinauf ins Wohnzimmer und bereite mich schon auf das Schlimmste vor, doch hier drin steht alles noch an seinem angestammten Platz.
Hannah sieht sich in meinem Wohnraum um. „Dein Ex scheint sich benommen zu haben.“
Ich komme mir so bescheuert vor. Das zweite Mal in drei Monaten hat einer meiner Ex-Freunde bei mir eingebrochen! Das ist doch verrückt.
„Iben, holst du dein Handy?“, gängelt mich Hannah. „Ich muss telefonieren.“
„'kay“, reiße ich mich zusammen, während ich die Erinnerung an die zerschlagenen Möbelstücke zu verdrängen versuche. Hannah lässt sich derweil auf meine Couch sinken.
„Siehst du, dass er irgendetwas hat mitgehen lassen?“, will Hannah wissen, während ich in Richtung meines Schlafzimmers stürme. Auch dort scheint alles unberührt. Selbst mein Telefon ist noch an sein Ladekabel angeschlossen. Ich schnappe es mir und beeile mich zurück ins Wohnzimmer zu kommen, oder will es zumindest, als mein Blick ins Bad fällt.
„Was zur Hölle?“ Der Deckel des Toilettenspülkastens liegt auf dem Boden neben dem Klo. „Dieser …“ Ich schnappe nach Luft, bevor ich zu Hannah zurückgehe. „Hannah, er hat mein Klo auseinandergenommen!“ Die Tränen brennen in meinen Augenwinkeln. „Dieser Scheißkerl hat Drogen bei mir gebunkert!“
„Setz dich.“
Sie nimmt mir mein Telefon aus der Hand und kommt selbst auf die Füße. Hinkend schlurft sie in Richtung Bad, während ihre Finger über das Display meines Smartphones gleiten.
„Garreth. Alec hat bei Iben eingebrochen“, kann ich sie murmeln hören, bevor ich auf meiner Couch zusammensinke.
Zwei Stunden später haben mich Hannah und ihr Partner Garreth eine Wohnung weiter nach oben verfrachtet, um ihren Kollegen Platz zu machen, während Gwen auf mich einredet. „Hannah sagt, sie machen dir eine neue Tür mit Sicherheitsschloss rein, wenn sie fertig sind. Dann passiert das nicht mehr.“
„Das macht man doch nicht. Man versteckt keine Drogen bei seiner Ex-Freundin“, entkommt es mir wütend. „Wer macht denn so was?“
„Arschlöcher“, schlägt Gwen mir vor und zieht mich fester in ihre Arme. „Genau wegen so was hast du dich doch von ihm getrennt.“
„Ja. Scheiße, ich saß auf einem ganzen Paket Drogen, Gwen! Was, wenn das noch jemand gewusst hätte?“
„Darüber solltest du nicht mal nachdenken.“ Gwen streicht mir über den Rücken. „Die Jungs unten haben doch sogar einen Drogenspürhund dabei. Wenn sie fertig sind, musst du dir darüber überhaupt keine Gedanken mehr machen.“
„Ich komme mir so bescheuert vor.“
„Du kannst doch nichts dazu.“
„Ich war mit ihm zusammen.“
„Ich war auch schon mit einem Haufen Idioten zusammen. Aber das heißt nicht, dass du für sie verantwortlich bist. Schon gar nicht, wenn sie in deinem Bad Drogen bunkern. Wer denkt denn an so was?“
Ich lasse meinen Kopf auf ihre Schulter sinken. „Was für ein beschissenes Wochenende!“
„Ja.“ Sie klopft mir aufs Knie. „Aber du hast schon Schlimmeres überstanden.“
„Hab ich wohl. Aber das macht’s nicht besser.“
Es ist schließlich halb acht, als eine neue Tür mit Sicherheitsschloss eingesetzt ist und ich nach einer halbherzigen Befragung durch Garreth zurück in meine eigenen vier Wände kann.
„Sie haben nichts gefunden“, informiert Hannah mich, als ich meine Schuhe auf der Treppe ausziehe. „Scheint, als wäre der Toilettenspülkasten Alecs einziges Versteck gewesen.“
„Gut. Wenigstens etwas.“ Meine Wohnung fühlt sich seltsam fremd an. Ganz so, als wäre sie nicht mehr meine. Die Jungs haben nicht gerade viel Unordnung gemacht, aber trotzdem habe ich das dringende Bedürfnis, meine Sachen zu ordnen und hier durchzuwischen.
„Hier sind deine neuen Schlüssel.“ Hannah drückt sie mir mit einem aufmunternden Lächeln in die Hand. „Wenn du dich weiterhin vom Alkohol fernhältst, solltest du hier drin ab jetzt deine Ruhe haben.“
Unter anderen Umständen würde ich ihr ein „Ich hab’s euch ja gesagt“ entgegenschleudern, aber es will mir nicht recht über die Lippen kommen. Ich muss endlich damit anfangen, anständige Männer ohne kriminelle Vergangenheit zu daten.
„Kopf hoch, Iben.“
Das sagt sich so einfach. Sie ist nicht diejenige, die innerhalb von zwei Tagen zwei Ex-Freunde vor den Latz geknallt bekommen hat.
„Ich werde anfangen hier aufzuräumen“, wechsele ich das Thema. „Danke für eure Hilfe.“
Gwen nickt. „Soll ich dir noch bei etwas helfen?“
„Nein. Danke.“
„Na schön.“ Gwen umarmt mich zum Abschied. „Melde dich, wenn noch etwas ist.“
„Mach ich“, verspreche ich und wende mich dann Hannah zu, um sie ebenfalls kurz an mich zu drücken. „Danke.“
„Kein Problem.“ Sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. „Ich bin noch eine Weile wach. Klopf einfach, wenn du nicht alleine sein willst.“
„Werde ich.“
Ich fühle mich wie ausgekotzt, als ich am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit bin. Ich konnte nicht richtig schlafen, nachdem ich bis um kurz nach zwölf meine Wohnung geputzt habe. Ständig bin ich aufgewacht, im Glauben jemand würde sich in meinem Schlafzimmer herumtreiben, doch es waren nur Schatten und zu viele Erinnerungen.
Meine Finger, die ich um eine der Haltestangen in der Tube geschlungen habe, fühlen sich seltsam klebrig an, während mir der schlechte Atem eines älteren Herrn in die Nase steigt, der auf seine Zeitung starrt.
‚Grippewelle breitet sich aus‘, lautet eine der kleineren Überschriften auf der Rückseite seiner Zeitung und ich wechsele unwillkürlich zu meiner linken Hand, um mich festzuhalten. Jetzt krank zu werden, fehlt mir gerade noch. Wahrscheinlich wäre ich die eine Station von zuhause bis zum Chocoholics besser zu Fuß gegangen, aber jetzt ist es auch zu spät.
Ich warte darauf, dass die Tube zum Stehen kommt, und lasse mich vom Schwarm von Pendlern die Rolltreppen nach oben treiben, hinaus in die kalte Winterluft und halte auf das alte Gebäude zu, auf dessen weit in die Straße hineinreichenden, gusseisernen Schild in schlichten silbernen Lettern „Chocoholics“ zu lesen ist.
Die bodentiefen Fenster des Ladens sind hell erleuchtet und darin tummeln sich bereits die Kunden. Das Geschäft mit der Laufkundschaft ist eine gut florierende Geldquelle neben den überirdisch gut bezahlten Auftragsarbeiten und dem eigentlichen Cafébetrieb und ich kann unsere Crew hinter der Ladentheke bereits hektisch umherflattern sehen.
Die Einrichtung aus weißem Holz und opulenten Kristallkronleuchtern wurde von Minous Inneneinrichter an den Stil des viktorianischen Englands angelehnt und bis auf die Lichtquellen finde ich es tatsächlich sehr geschmackvoll bei uns. Ich mag diesen Protz einfach nicht, aber die creme- und mintfarbenen Bezüge der Stühle und die floralen Ornamente auf der Seidentapete sind wirklich hübsch.
„Morgen!“, grüße ich das geschäftige Team hinter dem Tresen, als ich an ihnen vorbei in Richtung Mitarbeitertür laufe. „Minou schon da?“
„Hey Iben. Ja, ist sie“, informiert mich Junia, eine unserer Teilzeitkräfte.
„Normalerweise haben wir einen Seiteneingang für Mitarbeiter, Iben“, empfängt mich die eben Erwähnte auch schon, als ich durch die Tür in den Gang zur Backstube trete. Ihre stechend blauen Augen, deren Intensität von dem Stahlgrau ihres Haares noch betont wird, fixieren mich tadelnd.
„Ich weiß. Aber der ist nicht geräumt.“
„Ich habe eigentlich Charly aufgetragen, das schon vor einer Stunde zu tun.“ In ihrem korallroten Kostüm und ihren roten Lackpumps könnte sie ebenso gut als Chefin einer Bank oder Anwaltskanzlei durchgehen. „Schönes Wochenende gehabt?“
„Nein.“ Ich biege in Richtung Pausenraum. „Es war fürchterlich. Ist Toska auch schon da?“, will ich von meiner Chefin wissen und hänge meinen Mantel in den Schrank.
„Noch nicht.“ Minou sieht mir dabei zu, wie ich zum Waschbecken hinübergehe und meine Hände wasche, bevor ich sie vorsichtshalber noch desinfiziere. „Aber wir können trotzdem schon einmal die Aufträge für heute durchgehen. Marcia und Audrey warten schon im Atelier.“
„Klar.“ Ich überprüfe den Sitz meines Haarknotens im Spiegel. „Hast du unser Backstubenteam etwa schon versorgt?“
„Ja. Die sind bereits eingewiesen. Dank des Schnees bin ich schon seit einer Stunde hier. Und auch keine Minute zu früh, denn gerade vorhin haben wir noch einen sehr großen Auftrag hereinbekommen, für den Nein keine Option war. Den wirst du nachher erledigen.“ Minou klatscht in die Hände, während ich eine widerspenstige Strähne feststecke.
„Kann ich machen.“
„Gut. Du wurdest nämlich auch verlangt.“ Minou lächelt, als ich ein kleines bisschen rot werde. In letzter Zeit kommt es häufiger vor, dass Kunden Everetts und meine Kreationen wünschen. Explizit unsere und immer wenn das passiert, kann ich es nicht so ganz glauben. „Auf, auf! Je eher wir anfangen, desto schneller sind wir fertig!“
Ich nehme mir eine frische Schürze vom Haken und folge ihr in unseren Hauptarbeitsraum, der vom Laden nur durch ein paar Sprossenfenster getrennt ist und es den Kunden so erlaubt, uns bei jedem Handgriff des Tortenverzierens zuzusehen.
„Morgen!“, begrüßen mich meine beiden bereits anwesenden Kolleginnen fröhlich, während Minou ihren Ordner mit den Aufträgen auf den großen, hölzernen Arbeitstisch fallen lässt.
„Morgen. Schicke Frisur, Marcia. Warst du beim Friseur?“, entgegne ich beiden.
„Nein, bei meiner Schwester. Ihre Tochter hat gerade ihre Lehre als Friseurin angefangen.“ Marcia fährt sich durch ihren kurzen, roten Bubikopf.
„Also, fangen wir an.“ Minou schlägt den Ordner auf. „Iben, wie weit bist du mit der Verzierung für die Schokotorte für die Barnes-Hochzeit?“
„Beinahe fertig. Eigentlich muss ich sie später nur noch auf der Torte anbringen, sobald die Mädels aus der Backstube den Biskuit fertig haben.“
„Gut. Wie gesagt übernimmst du nachher das Treffen mit dem neuen Kunden außer Haus.“
„Um wie viel Uhr?“, will ich wissen und gehe zu unserem Kalender, um den Termin in meiner Spalte einzutragen.
„Elf Uhr. Der Kunde ist ELX. Die Adresse musst du im Computer nachgucken. Sie planen ihre Weihnachtsfeier und wollen sich durch unsere Palette probieren. Wenn ich sie richtig verstanden habe, wollen sie eine große Torte und Cupcakes. Aber Genaueres klärst du bitte mit ihnen. Die Mail mit den Einzelheiten ist im Postfach.“
„Sicher.“ Ich kritzele es in den Terminplan. „Sonst noch Aufträge für heute, um die ich mich kümmern soll?“
„Marcia und ich sind heute für den restlichen Kundendienst eingeteilt. Sobald du wieder da bist, müssen wir unbedingt beim Auftrag für die Durkstetter weitermachen. Diese Anemonen werden sonst nie fertig. Und die Schokolade für die goldene Hochzeit bei den McLennards sollte heute ebenfalls fertig werden. Und dann stehen noch drei Thementorten an für Jones, Martimer und Philis.“
„Alles klar.“ Ich kritzele die Namen in meine Liste und reiche dann Audrey den Stift, um ihre Anweisungen festzuhalten. Diese Art der Planung machen wir schon so, seit ich hier vor vier Jahren noch als Auszubildende angefangen habe, und bisher gab es noch nie Probleme damit.
Als Audrey und Marcia schließlich auch beide versorgt sind, genau wie die ein wenig zu spät gekommene Toska, verabschiedet sich Minou, um in ihr Büro zu verschwinden und sich um den Papierkram zu kümmern.
„Ich hol mal meine Torte von oben. Soll ich dir deine mitbringen?“, will Toska von mir wissen und bindet sich ihre Haare neu.
„Wäre lieb. Ich geh‘ schon mal meine Blüten holen“, informiere ich sie, während Marcia und Audrey in Richtung PC stürmen, um die Einzelheiten ihrer Aufträge abzuklären.
Unser Vorratsraum, der die Dekoelemente für die nächsten Aufträge bereithält, ist schon wieder ein einziges Chaos aus Zetteln und versuchter Ordnung, vollgestopft mit allerlei Zuckerwerken, die zum Trocknen aufgehängt sind, von Orchideen und Pfingstrosen über Christrosen, die bis Weihnachten noch besser werden müssen, hin zu den Einzelteilen von großen Schleifen und Feen. Ich entdecke ein paar kleine Gespenster, die noch von Halloween übrig geblieben sind, welches schon knapp zwei Wochen zurückliegt, als ich mich bücke, um meine Schokoladenblüten aus dem Regal zu nehmen.
Ein kurzer Blick auf den Laufzettel verrät mir, dass die Geister von einem Auftrag stammen, den Everett bearbeitet hat und der bereits vor drei Wochen ausgeliefert wurde.
„Oh Mann, Ewe. Minou frisst dich wieder, wenn du deine Überbleibsel nicht wegräumst“, entkommt es mir leise, während ich die Gespenster ebenfalls auf mein Tablett mit Blüten wandern lasse und den Zettel zusammenknülle, um ihn in den Papierkorb zu werfen, bevor ich das Zuckerwerk zurück ins Atelier trage, wie unsere Chefin unsere Backstube gerne bezeichnet.
Auf der Grundlage von Zucker lässt sich beinahe alles herstellen, wenn man nur weiß wie. Und Neues zu erfinden, auf Grundlage dessen, was sich ein Kunde wünscht, ist immer wieder spannend. Doch wenn ich ehrlich bin, mag ich die Torten am liebsten, die keiner bestellt hat. Diejenigen, die entstehen, wenn ich die übrig gebliebenen Dekorationen verwende und meiner Kreativität mit ihnen einfach freien Lauf lasse. Deshalb packe ich die Gespenster ein, um sie später mit nach Hause zu nehmen, und geselle mich dann zu Audrey und Marcia, um die Adresse für mein Kundengespräch herauszufinden.
Ich habe Glück. Es ist nur eine knappe Dreiviertelstunde mit dem Auto, weshalb ich bei meinen Aufträgen keinen Sprint einlegen muss. Ich schreibe mir den Namen meines Kunden auf, ein gewisser Mr. Bexton, und mache mich dann an meine dreistöckige Schokoladen-Hochzeitstorte mit den großen Rosenblüten.
„Hammer“, stellt Toska fest, die gerade das voluminöse Zuckergitter auf ihrer zweistöckigen Karamell-Lebkuchen-Torte anbringt, und nickt in Richtung der überladenen Hochzeitstorte. „Die Blüten sind der Kracher, Iben.“
„Ich finde, die Torte ist viel zu vollgepackt“, gebe ich zu, während ich die letzten Rosen anbringe. „Aber die Kunden wollten es so.“
„Ich finde, sie ist der Wahnsinn“, schüttelt Toska den Kopf. „Die Blüten sind gigantisch“, wiederholt sie ihr Lob.
„Hör mir bloß auf. Die sind mir vergangene Woche ständig auseinandergefallen, weil die Blätter zu schwer waren. Wenn ich noch eine Rose neu machen muss, kriege ich einen Schreikrampf“, verspreche ich ihr und Audrey gibt ein zustimmendes Schnauben von sich.
„So.“ Ich mache einen Schritt zurück und betrachte mein Werk. „Aber ich glaube, ich bin fertig. Hat mal jemand eine Uhrzeit?“
„Viertel nach zehn“, murmelt Audrey, die konzentriert Chilis zerkleinert.
„Was?“, entkommt es mir entsetzt. „Aber …“ Ich sehe hoch auf die Küchenuhr. Tatsächlich. „Käse, Käse, Käse! Mein Termin!“ Ich löse die schwarze Schürze. „Könnt ihr die Torte für mich verpacken? Ich muss los zu meinem Kunden!“
„Klar.“ Toska winkt ab. „Die Proben stehen schon oben im Kühlraum!“
Es ist kurz vor elf, als ich schließlich in unserem dunkelgrünen Mini Cooper auf das Firmengelände rolle und den großen Gebäudekomplex der ELX Corporation anstarre, auf der Suche nach dem Haus, das mit der Nummer eins ausgezeichnet ist und in dessen Inneren ich irgendwo mein Meeting mit unserem Kunden habe.
Der Software-Hersteller ELX ist einer der wichtigsten Arbeitgeber hier im Großraum London und ich erinnere mich daran, dass mein Bruder etwas davon erzählt hat hier bei der Planung vier neuer Bürogebäude beteiligt gewesen zu sein. Nicht, dass dieses Wissen mir etwas helfen würde. Ich habe keine Ahnung, wo ich hinmuss.
„Kacke“, fluche ich ungehalten. „Ich komme so was von zu spät!“
Die Autos parken dicht an dicht und ich folge der Beschilderung für die Kundenparkplätze, in der Hoffnung, dort noch eine freie Parklücke zu ergattern.
Minou bringt mich um, wenn wir einen Auftrag verlieren, nur weil ich zu spät gekommen bin. „Käse-Kacke“, murmele ich mit einem unheilvollen Blick auf die Zeitanzeige. „Vier Minuten… das wird knapp.“ Ich würde gerne ein wenig schneller fahren, doch ich traue den Straßenverhältnissen nicht.
Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, an dem ich zu einem Kundentermin zu spät gekommen bin. Es muss wohl noch während meiner Ausbildungszeit gewesen sein und nun passiert mir dieser Fauxpas ausgerechnet bei so einem großen Auftrag.
„Käse, Käse, Käse.“ Ich krame in meiner Handtasche nach meinem Telefon und rufe noch einmal die E-Mail auf. „Am Empfang melden. Na, das sollte ich wohl hinbekommen.“
Die brandneuen Gebäude, die zu beiden Seiten der Straße aufragen, kriechen viel zu langsam an meinem Fenster vorbei.
Vor Gebäude Nummer eins sind tatsächlich noch eine Reihe von Kundenparkplätzen frei, die sorgfältig vom Schnee gesäubert wurden, und ich beeile mich mein Auto abzustellen, aus dem Wageninneren zu klettern und meinen Karton mit den Proben der verschiedenen Torten aus dem Kofferraum zu holen, bevor ich die drei Stufen zum Haupteingang nehme und durch die Drehtür ins Innere des beeindruckenden Neubaus laufe.
„Guten Tag. Ich habe einen Termin mit Mr. Bexton“, begrüße ich den älteren Herren am Empfang freundlich.
„Der Name?“
„Iben Camwell vom Chocoholics.“ Ich packe meinen Karton etwas fester.
„Einen kurzen Augenblick.“ Er greift nach dem Telefon und murmelt meinen Namen in den Hörer, brummt ein paar „Ja. Ich verstehe“ und legt dann wieder auf.
„Mr. Bexton ist noch beschäftigt, aber seine Sekretärin erwartet Sie bereits“, meint er mit einem sehr höflichen Lächeln. „Ich begleite Sie nach oben. Soll ich Ihnen mit dem Karton helfen?“
„Er ist leichter, als er aussieht. Es geht schon“, bedanke ich mich und folge ihm zum Aufzug.
„Bitte sehr.“ Der Herr vom Empfang, der mich die Treppen nach oben begleitet hat, deutet auf ein massives Schild neben der gläsernen Durchgangstür, auf dem in schwarzen Lettern der Name meines Kunden vermerkt ist: Brandon Bexton, Managing Director.
Ich stocke. Ich habe ein Treffen mit dem Geschäftsführer der ELX Corporation? Und ich bin zu spät. Grandios.
Durch die Tür kann ich den rotbraunen Schopf einer Vorzimmerdame erkennen, deren Kopf hinter einem überdimensionalen Bildschirm verschwunden ist.
„Gehen Sie rein. Sie werden erwartet“, reißt mein Begleiter mich aus meinen Gedanken, öffnet mir die Tür und gibt mir dadurch keinerlei Möglichkeit, mir eine adäquate Begrüßung zu überlegen.
„Guten Tag. Ich habe einen Termin mit Mr. Bexton“, räuspere ich mich und umfasse das Behältnis mit den Tortenproben in meinen Händen unwillkürlich etwas fester. „Iben Camwell vom Chocoholics.“
Die Sekretärin sieht auf und ich schätze sie auf Anfang bis Mitte dreißig, während sie mich tadelnd mustert.
„Sie sind zu spät.“ Ihr langes Haar ist zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, der ihren zu lang geratenen Hals betont und ihr schmales Gesicht.
„Verzeihung.“ Ich schenke ihr ein Lächeln. „Das Schneechaos auf der Straße hat mich ein wenig aus meinem Zeitfenster geworfen.“
„Ja. Nun, Mr. Bexton ist noch anderweitig beschäftigt.“ Sie kneift die stark geschminkten Augen zusammen und taxiert den Saum meines dunkelblauen Wickelkleids, unter dem ich eine schwarze Stumpfhose trage. „Sie werden mit mir vorliebnehmen müssen. Ich bin Amber Hayden. Miss Amber Hayden“, verbessert sie sich.
„Es freut mich, Miss Hayden. Entschuldigen Sie die Umstände, die ich Ihnen bereite.“
„Ja. Umstände sind es in der Tat.“ Sie steht auf und kommt um ihren Schreibtisch herum.
Mr. Bextons Sekretärin ist beinahe so groß wie ich selbst, auch wenn sie mit ihren Schuhen etwas schummelt, und an ihr ist kein Gramm zu viel. Ihr Kleidungsstil ist elegant und ihr Make-up gekonnt. Sie ist durch und durch eine Geschäftsfrau. „Länger als zehn Minuten kann ich keinesfalls entbehren. Ich weiß nicht, was Mr. Bexton sich dabei gedacht hat. Als hätten wir nicht schon genug Essen bestellt. Und jetzt soll ich das auch noch … naja, setzen Sie sich.“
Ich folge ihrer Anweisung und lasse den Karton auf den massiven Schreibtisch sinken, bevor ich mich ihr schräg gegenüber auf einen modernen Sessel vor dem blank polierten Holztisch Platz nehme.
Es ist offensichtlich, dass die Dame vor mir kein Interesse an dem süßen Leben hat, dass das Chocoholics verspricht.
„Nun, Miss Hayden, was haben Sie sich vorgestellt?“, hake ich nach, lasse meinen Mantel auf die Lehne meines Sessels fallen und greife in meine
Verlag: Elaria
Texte: Eliza Hill 2014-2019
Bildmaterialien: Covergestaltung: Casandra Krammer - www.casandrakrammer.de , Covermotiv: © Shutterstock.com
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2014
ISBN: 978-3-96465-131-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all die kleinen Sünden, die das Leben so süß machen.