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Kapitel 1

 



Das Blut vermischt sich langsam mit dem laufenden Wasser. Beschreibt verschlungene Wege auf dem weißen Keramikbecken und läuft schließlich ins Nichts des Ausgusses. Das kalte Neonlicht flackert unheilvoll über meinem Kopf, während ich versuche mich am Rand der Wanne festzuhalten.
Wieder dieser Traum. Wieder haben mich meine eigenen Schreie geweckt und wieder musste ich ins Bad rennen um mich zu übergeben. Die Tränen laufen mir noch immer über die Wangen, verfangen sich in meinem Haar, das mir ins Gesicht hängt, während ich dem Spiel von Blut und Wasser zusehe. Es ist irgendwie tröstlich zu beobachten. Friedlich, leise.
Ich bin so todmüde, doch jetzt noch einmal einzuschlafen ist unmöglich. In meinem Kopf hallt das Geschrei hunderter wieder, sehe ihre blutverspritzen, weißen Kleider, die offenen Wunden. Wie gerne würde ich jetzt einfach sterben. Mich in meiner Bettdecke einrollen und darauf warten, dass die Ewigkeit vorüber ist. Dann würde ich vielleicht schlafen können. Doch es ist wohl mein Schicksal, die Einzige zu sein. Die einzige, die der Hölle entkam. Ich erlaube mir noch ein paar Minuten liegen zu bleiben, den Kopf auf den Rand gelegt, die Augen geschlossen.
Die Alpträume sind seit damals weniger geworden, doch manchmal reißt es mich wieder in den Abgrund der Vergangenheit. Ich weiß selbst nicht mehr, wie viel daran Alptraum und wie viel Realität ist, genauso wenig wie ich weiß woher ich eigentlich komme. Tatsache ist ich bin hier. In einem kleinen Kaff, in der Mitte des Nirgendwo, zwischen Meer und Hochgebirgen, in dem Haus, das ich nun schon seit sechzehn Jahren mein Zuhause nenne. Hier wohne ich mit meiner Ziehmutter, der guten alten Wina Jacobson. Einer Seele von Mensch, die weder Anstoß daran genommen hat, als heraus kam, das ich ein Blutkind bin noch daran, dass ich mit zwanzig dazu entschlossen habe mein Leben als Vampirin fortzuführen.
Als ich die Tür gehen höre und ich Winas warme Hände auf meinen Schultern spüre, werde ich ruhiger. Mein auf Panik programmierter Körper sackt regelrecht in sich zusammen, als ihre Finger mein Haar nach hinten kämen und es mit liebkosenden Bewegungen in einem Zopf bändigen.
„Ich habe Kaffee gemacht“, stellt sie nur fest und streicht mir über die Wange. „Komm dann runter zum Frühstücken, ja?“
Ich schaffe es zu nicken. „Ist die Post schon da?“
„Ja. Kam vor fünf Minuten“, lächelt sie, wobei ihre Augen von tiefen Falten umrahmt werden und ihre schmalen Lippen fast vollkommen verschwinden. Ihr hellbraunes Haar, durch das sich mittlerweile die ersten grauen Strähnen ziehen ist zu einer eleganten Banane am Hinterkopf frisiert und der graue Rock mit der hellblauen Bluse spannen etwas um Bauch und Hüfte und verstärken nur noch den Eindruck einer lebensfrohen älteren Dame, die mit sich und ihrem Leben zufrieden ist. Alles in allem ist Wina eine wundervolle Ersatzmutter, die ich nicht eine Sekunde missen möchte, auch wenn sie meist etwas zu nörgeln hat. An mir, ihren Bekannten und der Welt im Allgemeinen und manchmal auch an sich selbst.
Ich hieve mich schließlich hoch, wanke zum Waschbecken und klatsche mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht. Den eigenen Anblick vermeidend, starre ich auf den Ausguss und warte darauf, dass ich mich wieder halbwegs lebendig fühle.
Doch der gewünschte Effekt tritt erst ein, als ich unten am Tisch sitze, mit einer großen Tasse Kaffee und einen Brief von Ilva, meiner kleinen Ziehschwester, die etwa zur gleichen Zeit wie ich selbst zu Wina kam.
Ilva, gerade siebzehn geworden, verbringt ihre Ferien mit ihrer besten Freundin Lara in der Provence um ihr katastrophales Französisch aufzubessern, das ihr im letzten Jahr die Versetzung in die zehnte Klasse gekostet hat.
„Was schreibt sie?“, will Wina neugierig wissen, als ich den Papierbogen entfalte. Er ist über und über mit ihrer weitgeschwungen verschnörkelten Handschrift beschrieben, viel durchgestrichen und jede Menge Worte sind unterstrichen, mit Ausrufezeichen versehen oder mit Smileys.
„Lass mal sehen“, grinse ich amüsiert und beginne zu lesen. „Offensichtlich, sind die Jungs der Wahnsinn. Sie ist eingeladen zu einer Party von einem gewissen Frank und Lara und sie haben sich gestritten. Das Wetter ist gut und achja, die Jungs sind der Wahnsinn“, lache ich und reiche Wina den Brief, die daraufhin ihr Marmeladenbrot auf ihren Teller wirft und sich die Hände am Geschirrtuch abwischt, das über der Lehne ihres Stuhles hängt.
Wina liest den Brief mit Argusaugen, bevor sie unzufrieden die Nase kräuselt. „Dieses Mädchen kostet mich noch den letzten Nerv. Wenn sie sich schwängern lässt, steig ich ihr aufs Dach.“
„Tu das“, schmunzele ich und schenke mir Kaffee nach. „Wann verschwindest du nachher auf Devons Hochzeit?“
Wina sieht von Ilvas Brief auf und mustert mich vorwurfsvoll. „Dein bester Freund heiratet Marlen. Denkst du nicht, dass du über deinen Schatten springen solltest und mit mir dort auftauchen solltest, egal wie wenig du von Emily hältst?“
„Nein. Denn er macht einen Fehler und darin werde ich ihn nicht unterstützen, weder durch meine Anwesenheit noch durch meinen Zuspruch“, entgegne ich schlicht, aber sehr nachdrücklich und stehe auf, die volle Kaffeetasse zurück lassend.
„Ich fahre jetzt runter zum Supermarkt. Brauchst du noch etwas fürs Wochenende? Falls wir uns vor heute Abend nicht mehr sehen, wünsche ich dir viel Spaß auf der Feier.“
„Lenny!“, schnappt Wina tadelnd.
„Bis nachher“, gebe ich nur zur Antwort und werfe die Küchentür hinter mir zu.


„Marlen, hast du schon gehört? Devon hat die Verlobung mit Emily gelöst“, wispert Betty mir von der Seite ins Ohr, als ich an der Kasse unseres kleinen Supermarktes stehe und darauf warte, dass Annabelle mich abkassiert.
„Woher weißt du das schon wieder?“, erkundige ich mich erstaunt und drehe mich zu ihr.
Bethany van Danes, schenkt mir ein überlegenes Lächeln, das ihre alten, wettergegerbten Gesichtszüge schelmisch strahlen lässt.
„Agnes hat es mir heute Morgen beim Bäcker erzählt. Ihre Tochter war zu Emilys Junggesellinnenabschied eingeladen. Der Abend war ganz wundervoll, bis Devon hereingeplatzt ist. Er sagte, er müsse mit Emily sprechen und daraufhin sind die Beiden verschwunden.“
„Und weiter?“, frage ich neugierig, während Annabelle eine Pause einlegt und die Ohren gespitzt hält.
„Schon nach kurzer Zeit gab es Geschrei und Emily ist aus dem Club geflüchtet, während Devon um allgemeine Aufmerksamkeit bat und ihren Gästen mitgeteilt hat, dass die Hochzeit nicht stattfindet. Dein Devon wird Hilfe gebrauchen können, beim Absagen der Veranstaltung“, meint sie verzückt. „Und dann musst du mir natürlich alle Details berichten.“
Ich nicke wiederstrebend.
„Übrigens wusstet ihr schon, dass zwei Herren heute Morgen vor Arthurs Hotel standen und sich nach Devon erkundigt haben? Er sagt, die Beiden seien in einem schweren Mercedes gekommen und hätten auf ihn den Eindruck zwei sehr feiner Herren gemacht, mit denen nicht zu Spaßen ist“, Betty macht eine melodramatische, künstlerische Pause, die ganz den gewünschten Effekt hat. Denn sowohl Annabelle wie auch ich selbst hängen gespannt an ihren Lippen.
„Denkt ihr sie wurden von Emilys Familie geschickt?“, wispert Annabelle.
„Möglich wäre es. Emily verkehrt in besten Kreisen. Sicherlich gibt es den ein oder anderen, der sich durch diese Zurückweisung in seiner Ehre verletzt sieht“, überlegt Betty mit sorgenvoller Miene.
„Vielleicht ist das ja auch nur ein dummer Zufall und die Beiden möchten Devon aus ganz anderen Gründen sprechen“, erwidere ich nachdenklich. „Das hoffe ich zumindest.“
„Sei nicht albern, Marlen. Wen sollte Devon schon kennen, der so viel Geld besitzt?“, unterbindet Betty den Ansatz meines Standpunktes.
„Nunja, irgendetwas muss Emilys Eltern doch wohl dazu gebracht haben, Devon als akzeptablen, ja geradezu wünschenswerten Schwiegersohn zu erachten“, kontere ich, was uns drei zum Schweigen bringt.
„Ich kenne Devon schon mein ganzes Leben. Bis jetzt ist mir nichts dergleichen zu Ohren gekommen, was diese Verlobung überhaupt hätte sinnvoll erscheinen lassen, außer, dass Devon ein gutaussehender Mann ist, der hart arbeitet“, seufzt Annabelle, wobei ihre hellblauen Augen einen sehnsüchtigen Ausdruck annehmen.
„Kindchen, fang nicht wieder mit dieser lächerlichen Schwärmerei an. Mit Vampiren sollte sich keine Sterbliche einlassen, das gibt nur gebrochene Herzen. Du hast einen Mann“, tadelt Betty ihre Nichte harsch.
„Na das sagt die Richtige“, zischt Annabelle leise. Damit hat sie nicht ganz Unrecht, denn Betty hat wirklich kein Recht über wahre Liebe zu reden. Hat sie doch selbst drei Ehen hinter sich und lebt zur Zeit in wilder Ehe mit ihrem Lebensabschnittsgefährten Mortimer, den sie in nächster Zeit auch zu ehelichen gedenkt.
„Ich meine es nur gut, Annabelle.“
„Jaja“, winkt ihre Nichte unwirsch ab und beginnt wieder mit dem Kassieren, da sich hinter Betty und mir langsam eine Schlange gebildet hat.
„Sag nicht Jaja in diesem Tonfall. Ich bin mir der Bedeutung deiner Worte durchaus im Klaren“, schnappt Betty und tätschelt mir währenddessen die Schulter. „Marlen, heute Mittag ist mein Enkel mal wieder bei mir. Wärst du so lieb und würdest mir nochmal dieses Ding ausleihen?“, wechselt sie mitten im Satz das Thema und den Gesprächspartner.
„Du meinst die Playstation? Sicher. Ich bring sie dir nachher vorbei“, meine ich freundlich, während ich mein Portmonee zücke und Annabelle den zu zahlenden Betrag reiche.
„Einen schönen Tag, euch Beiden“, verabschiede ich mich lächelnd.
„Dir auch meine Süße. Sag Devon liebe Grüße“, ruft Betty fröhlich.
„Mach´s gut“, brummelt Annabelle, die ihre Tante böse anfunkelt.

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Kapitel 2

 



Devon und ich Schweigen. Nicht im Einvernehmen, doch in der sicheren Gewissheit, dass nichts was wir dem anderen zu sagen hätten in irgendeiner Weise nützlich sein könnte.
In letzter Zeit scheint dies immer häufiger der Fall zu sein. Mein bester Freund und ich haben nicht viel gemeinsam. Er ist exakt zwölf Jahre und siebzehn Tage älter als ich. Unsere Freundschaft beruht nicht auf der Tatsache, dass wir uns Ähnlich sind. Tatsächlich ist es so, dass Devon in erster Linie immer da war. Er ist der Junge von nebenan. Lange bevor ich alt genug war um selbst auf mich acht zu geben, hat er das für mich übernommen. Vielleicht ist es untertrieben zu behaupten, er sei mein bester Freund. Im Grunde genommen ist er so viel mehr für mich. Er ist mein großer Bruder und Teil einer Familie, die nicht auf Blutsverwandtschaft beruht.
Die Hitze ist drückend. Selbst dem Wind, der sonst stetig vom Meer herauf weht scheint es heute zu anstrengend zu sein, bei fünfunddreißig Grad und wolkenlosem Himmel für eine kühle Brise zu sorgen.
Wir sitzen im Halbschatten auf den Stufen zur Veranda und beobachten Devons Freunde Tim und Adrian, die an meinem alten Ford F 250 Ranger Camper Special Edition herum schrauben. Der alte Pick up kann diese Zuwendung der Beiden Mechaniker wirklich gut gebrauchen und ich bin dankbar, dass die Beiden so gerne an ihm herum schrauben, auch wenn wir über die Lackierung, die sie meinem Wagen verpassen wollen, noch einmal dringend reden müssen.
Doch dies ist an diesem Vormittag eher zweitrangig. Während aus dem Radio, das in der offenen Garage steht, laute Rockmusik dröhnt, Adrian und Tim mit schwergewichtiger Mine auf meine Reifen starren und irgendwas leise miteinander beratschlagen habe ich mit meinem besten Freund wichtigere Probleme. Er hat einfach seine Hochzeit abgesagt. Einen Tag vor der Trauung und tut so, als sei nichts geschehen und das ein ganz normaler Samstagmorgen.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, als ich vorhin zu ihm herüber gegangen bin um ihn zur Rede zu stellen, doch sicherlich nicht, dass er gar nichts zu sagen hat.
„Es war doch dir doch von vorn herein klar, dass ich diese Frau nicht heiraten werde. Noch bevor es mir klar war“, seufzt er schwer, als ich schon nicht mehr daran glaube, dass ich heute noch ein Wort der Erklärung aus seinem Mund hören werde.
„Natürlich. Trotzdem hätte ich es gerne sofort erfahren. Die halbe Stadt weiß es, nur ich musste davon an der Kasse unseres Supermarktes unterrichtet werden“, meine ich tadelnd und drehe mich zu ihm.
„Verzeihung, aber du wolltest diese Hochzeit sowieso boykottieren. Ich dachte also, du hättest nichts dagegen, wenn ich dich ganz hinten auf die Telefonliste setze.“
„Ich bin deine beste Freundin, verflucht!“, fauche ich und gebe ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf.
Devon fährt sich verlegen durchs Haar und schenkt mir einen bedröppelten Blick. „Außerdem hättest du mich gelöchert, wieso, weshalb, warum-“
„Ich sag es gerne nochmal. Ich bin deine beste Freundin! Ich habe das recht sowas zu fragen!“, schnappe ich entnervt über soviel männlich, verdrehte Denkweise.
„Ist ja okay. Das hast du, nur wäre das in eine Stundenlange Diskussion ausgeartet und diese Zeit hatte ich gestern einfach nicht“, brummt er. Die vollen, eigensinnig geschwungenen Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen und die schwermütigen, dunkelroten Augen auf die drei Treppenstufen vor sich gerichtet, senkt er den Kopf und seufzt tief.
„Und wie kamst du jetzt darauf, dass du die Hochzeit absagen musst? Ich meine du hattest fünf Jahre Zeit es dir zu überlegen“, will ich neugierig wissen.
Devon weicht mir aus, indem er sich nach vorn beugt und damit beginnt die Schnürung seiner Motorradstiefel zu lockern, die über die verwaschene, alte Jeans gezogen sind. Er strahlt den typischen Holzfäller- Macho- Charme aus. Sicher, er ist keine klassische Schönheit, doch in seinem Gesicht ist etwas zu finden, das mich immer wieder in seinen Bann schlägt. Sein strubbliges, dunkelbraunes Haar steht in jede erdenkliche Richtung, seine Augen liegen tief und nachdenklich in ihren Höhlen, und die Nasenflügel seiner breiten, eigensinnigen Nase blähen sich wütend auf, während er aus seinem linken Stiefel schlüpft. Sein kantiges Kinn ist schon wieder unter einem Dreitagebart verschwunden, obgleich er sich täglich rasiert. Der starke Bartwuchs lässt ihn stets etwas ungepflegt erscheinen und seine Klamotten tun meist ihr übriges um ihn unter der Rubrik „gefährlicher Biker“ abzustempeln.
„Weißt du Marlen, das Problem am Nicht-Denken ist, dass dieser Zustand irgendwann endet und man mit der Realität in ihrer ungeschöntesten Form konfrontiert wird. Genau damit musste ich fertig werden. Doch ich habe gerade noch rechtzeitig festgestellt, dass meine Verlobte nicht die Person ist, mit der ich den Rest der Ewigkeit ertragen würde“, sagt er langsam, während er sich seinem zweiten Stiefel widmet.
Mit dieser Antwort kann ich mich anfreunden, weshalb ich nach meiner Nagelfeile greife und damit beginne meine Nägel zu kürzen.
„Würde es dir etwas ausmachen, deine Körperpflege etwas weiter entfernt von meinen Ohren durchzuführen?“, murmelt Devon tadelnd.
„Verzeihung“, schmunzele ich und rutsche zehn Zentimeter weiter nach rechts in Richtung des Treppengeländers um dort weiter zu feilen.
„Du bist ja so-“, er unterbricht sich. „Such dir eine beste Freundin. Dieses ständige maniküren, pediküren treibt mich in den Wahnsinn!“, fängt mein bester Freund an zu schimpfen.
„Also bitte. Ich und eine beste Freundin haben? Sag mir woher?“, seufze ich theatralisch. „Ich bin das, was andere Frauen hassen. Der Herr hat mich mit zu viel Charakter ausgestattet. Außerdem auch mit zu vielen Kurven und der falschen Haarfarbe um etwas anderes zu sein, als ein Lustobjekt. Doch über dieses Ärgernis beschwere ich mich nicht sonderlich häufig, denn das tun andere für mich. Vorzugsweise die Freundinnen der Männer, die mich angaffen. Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht mit anderen Frauen klar komme. Ständig werde ich angepflaumt, obwohl ich nichts tue, das solch eine Reaktion verdient hätte. Meistens wenigstens.“
„Meine Güte bist du heute empfindlich“, meint Devon erstaunt und greift in mein weiblondes, langes Haar und mich zu sich zu ziehen. „Das war doch nur ein Scherz.“
„Das weiß ich. Aber ich fand ihn nicht lustig“, seufze ich schwer und lege mein Kinn auf seine Schulter.
Mein bester Freund wickelt sich eine Stähne meines Haares um die Finger und grinst spitzbübisch. „Elendige Zicke.“
„Marlen, wir machen dir andere Felgen drauf!“, ruft Adrian zu uns herüber. „Die alten passen nicht zum Rest des Wagens.“
Ich winke nickend ab. „Tut was ihr nicht lassen könnt. Aber mir wäre lieber ihr würdet mal nach dem Vergaser und der Batterie sehen. In letzter Zeit macht mein Auto sehr merkwürdige Sachen, wenn es anspringen soll.“
„Tatsächlich? Die Batterie haben wir doch erst letzte Woche erneuert“, murmelt Tim nachdenklich und öffnet die Motorhaube.
„Du hast doch überhaupt kein Problem mit deiner Batterie. Du willst Tim nur auf den Arsch glotzen“, wispert Devon amüsiert, während ich den dunkelblonden Vampir mustere, dessen knapp einmetersiebzig zur Hälfte in meinem Auto verschwunden sind.
„Ich sehe ihn einfach gerne an“, grinse ich, während Devon eine Augenbraue nach oben zieht.
„Ich würde eher sagen, du bist bis über Beide Ohren in ihn verschossen.“
„Rede keinen Unsinn.“
„Wieso? Tim ist wenigstens real. Kein Produkt deiner Tagträume, von denen du glaubst, dass sie irgendwann wahr werden“, stellt er knapp fest und streckt sich neben mir genüßlich, was durchaus beeindruckend ist, da Devons Körperausmaße allein schon einen ganzen Schrank füllen würden. Einen Kopf größer als Tim und mit der doppelten Muskelmasse bepackt ist er niemand, den man einfach übersieht. Devon ist eine merkwürdige Mischung aus bösem Jungen und stillem Wasser. Alles in allem ist er jemand, dem die Frauen hinterherlaufen wie die dem neuesten Modetrend.
„Darüber rede ich nicht mehr mit dir“, schnaube ich. „Ich werde darüber für immer schweigen.“
„Lenny ist verliebt!“, gurrt er leise, wofür er sich von mir einen bösen Blick einhandelt.
„Lenny ist verliebt und es ist ihr peinlich!“, stimmt er einen kindischen Singsang an, was damit endet, dass wir uns auf dem Boden wälzen und uns gegenseitig kitzeln.
Mein Zwerchfell macht gerade Anstalten zu platzen, als wir Adrians Stimme vernehmen. „Lenny bringst du mir mal den zwölfer Imbusschlüssel rüber?“
Devon, der auf meinen Beinen zum sitzen gekommen ist und dessen eine Hand in meine Seite zwickt und die andere meine Arme festhält, sieht erstaunt auf, während ich versuche mein Lachen zu unterdrücken.
„Du bist ja so ein Arsch“, bringe ich heraus, als er mich loslässt und ich meine langen Haare versuche wieder in Ordnung zu bringen.
„Zicke“, murrt er und kneift mir in die Nase.
Ich ziehe einen gespielten Schmollmund und streiche mir die Lachtränchen aus den Augen, wobei ich auch gleich ein paar schwarze Kajalspuren beseitige.
„Leider habe ich keine Ahnung was das ist“, lächle ich und sehe meinen besten Freund mit einem verschmitzten Lächeln an. „Aber ich bin mir sicher, dass Devon dir weiterhelfen kann.“
„Man könnte tatsächlich meinen, du hättest in den endlosen Jahren, bei denen du mir beim Schrauben an zahllosen Autos zugesehen hast, irgendetwas gelernt. Aber du bist so unbrauchbar wie am ersten Tag“, knurrt Devon und kommt auf die Füße um strümpfig zum Werkzeugkasten zu gehen und Adrian den Imbus zuzuwerfen.
„Danke“, gurre ich zufrieden und lehne mich gegen das hölzerne Treppengeländer.

In einer Kleinstadt wie Voss, am Ende der Welt in der Mitte des Nirgendwo, zwischen Hochgebirgen und Nordatlantik, gibt es nicht viel Sehenswertes. Eine Schule, eine Tankstelle mit angeschlossenem Motel, einen winzigen Supermarkt und einen Hafenpub. Deshalb widme ich mich schließlich meiner Lieblingsbeschäftigung, als Devon und die Jungs sich gemeinsam an meinem Wagen zu schaffen machen. Dem ausgiebigen nichts tun. Was beinhaltet, dass ich in einem von Devons klapprigen, alten Liegestühlen im Bikini in der Mittagssonne brate und mich meinem zerlesenen Lieblingsbuch „Stolz und Vorurteil“ widme. Die große Sonnenbrille auf der Nase, schmachte ich Mr. Darcy an und vergesse die Welt um mich herum. Meiner Begeisterung für Jane Austens Roman mal wieder erlegen, brauche ich eine Weile um den dunklen Schatten, der mir die Sonne verdeckt zu bemerken.
Als ich es schließlich tue und verwirrt die Sonnenbrille ins Haar schiebe und von meinem Buch aufsehe, schnappe ich nach Luft.
Ich muss wohl eingeschlafen sein. Die dunkle Gestalt hat grobe Ähnlichkeit mit dem Mann meiner seit sechzehn Jahren währenden Tagträume. Verwundert blinzele ich gegen die Sonne an. Er sieht irgendwie anders aus als sonst. Der lange, schwarze Mantel ist verschwunden. Er trägt sonst immer seinen Mantel. Keinen Anzug. Irgendwie träume ich heute einen Mist zusammen. Aber es ist eindeutig, der Mann, der mich gerettet hat.
Ich schlucke. Der Traum fühlt sich so echt an. Ganz so, als sei er real. Ich spüre die Sonne auf meiner Haut und das flaue Gefühl in der Magengegend fühlt sich ebenfalls echt an.
Ganz zu schweigen davon, dass ich seinen unverkennbaren Duft von teurem Leder, Meer und Aftershave einatme, als stände er tatsächlich direkt vor mir. Das ist der realistischste Traum, den ich jemals hatte. Ich versuche ihn zu fixieren und stelle erstaunt fest, dass dunkle Opale mich ebenfalls still mustern. Der schwarze Wimpernkranz regungslos erstarrt und die eigenwillig geschwungen Augenbrauen, wirkt er, als stünde er wirklich vor mir. Meine Güte, ich sollte weniger vor mich hin träumen. So gut sah er nun wirklich nicht aus. Dieses Gesicht habe ich wohl eher auf einem Plakat entdeckt und hat nun klamm heimlich meine Erinnerung ersetzt. Ein Gesicht, umwerfend männlich mit hohen Wangenknochen und klassisch römischer Nase. Ganz zu schweigen davon, dass sein Haar aussieht als wäre er direkt aus dem Meer gestiegen, tiefschwarz, kurz und nachlässig nach hinten gekämmt. Und dann dieser Mund, der zu einem hochmütigen Ausdruck verzogen ist, als sei man nicht mal den Dreck unter seinen Schuhen wert.
Ich seufze hingerissen, obgleich ich mich darüber ärgere, dass ich langsam vergesse wie mein Retter ausgesehen hat.
„Entschuldigen sie bitte, aber wenn sie mit der Musterung fertig sind, könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Devon Cooper finde?“, sagt mein Tagtraum in samtweichem Bass, dessen Tonfall ziemlich verärgert klingt.
Ich kreische erschrocken auf und fahre zurück, wobei ich mit meinen Ellbogen gegen die Plastikarmlehne der Liege ramme. Der Schmerz durchzuckt mich so heftig und unvorbereitet, das ich erneut ein Wimmern von mir gebe.
Ich sehe nach oben, in der Hoffnung, mein Traummann sei verschwunden, doch weit gefehlt.
Seine schmalen Lippen sind in Missfallen gekräuselt und seine glattrasierten Wangen wölben sich nach innen, was wohl daher rührt, dass er darauf beißt.
„Devon!“, schreie ich panisch und der Schrei hallt selbst in meinen Ohren vollkommen hysterisch wieder.
Ich öffne den Mund um noch irgendetwas zu sagen, doch da hat sich mein Gegenüber auch schon abgewandt und geht davon.
„Das ist doch nicht wahr“, bestätige ich mir selbst vollkommen fassungslos und reibe mir meinen schmerzenden Ellbogen.
„Lenny!“, höre ich Devon besorgt rufen und vernehme schnelle Schritte, die plötzlich verstummen.
„Guten Morgen“, höre ich wieder die tiefe Stimme sprechen.
„Hey. Ihr seid noch hier?“, entgegnet Devon scheinbar verdutzt, aber erfreut hinter mir.
„Ja. Das sind wir. Rome parkt gerade noch seinen Wagen um.“

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Kapitel 3

 



Meinen Retter wieder zu sehen ist wie ein Schlag ins Gesicht. Diesen Augenblick habe ich mir seit sechszehn Jahren in jeder Einzelheit ausgemalt und jedes Mal endete er damit, dass er mir in die Augen gesehen hat und versicherte, dass es keinen Tag gegeben hat, an dem er nicht an mich gedacht hat.
Es war niemals so schmerzhaft. Schmerzhaft im wahrsten Sinne des Wortes. Doch vor allem hätte ich nie damit gerechnet, dass er mich nicht erkennen würde. Doch genau so scheint es zu sein. Diese Erkenntnis stößt mir sauer im Magen auf und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack in meinem Mund. Am liebsten würde ich schreien. Weinen oder um mich schlagen, doch das lässt mein Stolz nicht zu.
Im Stillen muss ich Devon recht geben, der mir all die Jahre gepredigt hat nicht vor mich hin zu träumen, sondern in der Realität zu leben.
Ich senke den Kopf und ziehe mir die Sonnenbrille aus dem Haar. Verflucht. Der Mann meiner Tagträume ist aufgetaucht, aber er ist ein Mann aus Fleisch und Blut und er scheint sich nicht im Geringesten für mich zu interessieren. Das Schlimme daran ist eigentlich, das ich nicht weiß, ob er das auch nur einen Augenblick lang getan hat. Ich kenne seine Beweggründe nicht, die ihn damals dazu bewogen haben mich aus dieser Hölle zu retten.
Mein Blick fällt auf den zerflätterten roten Umschlag meines Lieblingsbuches und ganz plötzlich habe ich keinerlei Bestreben mehr, je wieder auch nur eine Seite davon zu verschlingen. Ich habe mir von dieser Schnulze lange genug etwas vorgaukeln lassen.
„Lenny ich will dir jemanden vorstellen“, vernehme ich Devon Stimme dumpf. Sie hört sich an, als sei sie Meilenweit entfernt.
„Mh“, bringe ich raus und blinzele eine einzelne Träne weg, bevor ich mich erhebe und das schmerzhafte Pochen in meinem Ellbogen zu ignorieren versuche.
Das Gras zu meinen Füßen hat schon einen leichten Gelbstich und der Erdboden ist hart wie Beton, als ich mit unsicheren, zögerlichen Schritten zu meinem besten Freund und seinem Gast herüber schleiche.
Wütend stelle ich fest, dass mein eigener Körper verrät. Mein Gang ist nicht langsam, er ist aufreizend. Und diesen lächerlichen Griff in mein Haar hätte ich mir sparen können! Ich führe mich auf wie eine rollige Katze. Ich schüttle unwillig den Kopf und versuche Devon zu fixieren. Ich habe das blöde Gefühl, dass ich ohnmächtig werde, sobald ich den schwarzhaarigen Hühnen noch einmal ansehe.
Als ich zum Stehen komme, legt Devon mir seine mit Schwielen übersäte, große Pranke auf den nackten Rücken. „Marlen, das ist Semjon Cooper. Mein älterer Bruder.“
„Semjon, dieses schreckhafte Wesen ist Marlen Jacobson, meine beste Freundin. Sie wohnt gleich neben an“, stellt er uns einander mit einem amüsierten Glucksen vor, während sich in meinem Kopf die Gedanken überschlagen.
Ich bin total erschlagen von dieser Neuigkeit. Mein Retter ist sein Bruder?! Wie ist das möglich? Wie kann das sein!
„Halbbruder“, höre ich es ziemlich nachdrücklich sagen und sehe nun doch auf. Meinem Retter nun endlich einen Namen zuordnen zu können, lässt ihn nicht nur wirklicher, sondern auch erschreckender in meinen Augen wirken. War sein Gesichtsausdruck mit dem er mich vorhin bedacht hatte, noch herablassend bis verwundert, spiegelt seine Mine nun echte Wut wieder. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen und seine Augen wandern von Devon zu mir und wieder zurück. In seinen Opalen tanzen die Lichtreflexe wild umher und lassen meine Haut unangenehm prickeln.
„Freut mich“, bringe ich stotternd hervor, nach dem die entstehende Pause wirklich unangenehm geworden ist.
Semjons Kopf ruckt beinahe unmerklich in meine Richtung, doch er sieht mich nicht an, als er knapp nickt, zum Zeichen, dass er verstanden hat.
Ich höre Devon neben mir laut seufzen. „So unfreundlich wie eh und je.“
Ich senke den Blick und bohre meinen Fußnagel in die harte Erde. Wenn ich etwas mutiger wäre, würde ich ihn ansprechen. Semjon. Dieser Name passt zu ihm. Zu dem realen Mann, nicht zu dem Bild, das ich mir all die Jahre ausgemalt hatte.
„Marlen, ist alles mit dir in Ordnung? Du redest doch sonst wie ein Wasserfall egal ob du etwas zu sagen hast, oder nicht.“
Ich zucke hilflos mit den Schultern und wage es Semjon noch einmal anzusehen. In der Tat ist es wie ein Zwang, ihn immer wieder anzusehen. Es ist wie ein Verkehrsunfall. Man weiß genau, das was man zu sehen bekommt wird einem nicht gefallen, doch man muss einfach hinsehen.
Er steht noch immer vor uns, düster, von hochfahrendem Wesen und voll von Missachtung. Kurz frage ich mich, ob dieser Mann zu einer Reaktion fähig ist. Irgendeine und sei es nur, ein abfälliges Lachen.
„Rome!“, meint Devon da warm und ich suche den Garten nach dem Angesprochenen ab. Ich muss nicht lange suchen. Ein riesiger Vampir, nachlässig in Jeans und weißem Hemd gekleidet stolziert über den Rasen, als sei er hier zu Hause. Jede seiner Bewegungen strotzt vor Energie und er schenkt uns ein wölfisches Grinsen. Und er würde wirklich gut aussehen, wären da nicht diese tiefen Augenringe. Was sein Lächeln von Weitem noch überspielt hat, ist überdeutlich zu erkennen, als er sich zu uns gesellt. Dieser Mann ist vollkommen fertig mit der Welt. Er hat Mühe, überhaupt noch die Augen offen zu halten.
„Hey, ich bin Rome. Meine kleinen Brüder kennst du ja bereits. Und du bist?“, knurrt er tief. Seine Stimme klingt spröde, ganz so, als wäre er etwas eingerostet, was das Sprechen anbelangt.
„Ich bin Marlen, Devons beste Freundin“, entgegne ich, bevor ich es überhaupt richtig registriere und reiche ihm die Hand, da es mir irgendwie angebracht erscheint.
Er ergreift sie und schüttelt sie fest. Seine Finger sind von der Sonne aufgeheizt und sie liegen trocken um meine Hand.
„Freut mich, Rome“, lächle ich.
„Ganz meinerseits. Es freut mich immer eine schöne Frau kennenzulernen“, meint er, doch sein Charme wirkt leider rein gar nicht bei mir.
Das Schnauben, das Semjon hören lässt ist zwar leise, doch sehr deutlich und ich senke betreten den Kopf.
„Beachte ihn einfach nicht. Semjon ist immer so“, meint Devon aufmunternd und deutet auf Tim und Adrian, die ungestört weiter meinen Pick up bearbeiten. „Will ich wissen, was die Beiden da mit meinem Vorschlaghammer machen?“
Ich folge seiner Hand und reiße die Augen auf, als Tim der auf der Ladefläche steht, ausholt und gegen die Seitenwand schlägt.
„Das sieht so nach brachialer Gewalt aus“, meine ich erschrocken und entschuldige mich mit einer kurzen Handbewegung bei den Dreien um zu Tim und Adrian zu rennen.
„Tim, was zur Hölle tust du da?“, rufe ich entsetzt, als Tim nochmal dagegen schlägt.
„Die Ladefläche lässt sich nicht öffnen. Also helfe ich nach“, entgegnet er mir gelassen uns richtet sich auf. Das dunkelblaue Muskelshirt ist verschwitzt und mit Motoröl und anderem Dreck bedeckt, während seine Sommersprossen mit seinem Goldblonden Haar um die Wette leuchten.
„Mit einem Hammer! Hast du den Verstand verloren? Ich hab diese Ladefläche noch nie benötigt! Also lass meinen Wagen in Frieden und komm da runter!“, schimpfe ich ausgelassen und verschränke die Arme vor der Brust.
Genau in diesem Augenblick tut es einen Schlag und die Ladeflächenklappe knallt auf den Boden.
„Na klasse! Grandios gemacht Tim! Mein Pick up zerfällt in seine Einzelteile! Ganz große Klasse! Und bei meinem Glück, machst du exakt jetzt Feierabend!“
„Schrei mich nicht an. Ich habe es nur gut gemeint!“, schnappt Tim und wirft den Hammer neben mir auf den festgetretenen Kies, mit dem die Auffahrt geschottert ist. „Du kannst mich mal. Und ja, ich mache jetzt Feierabend, worauf du dich verlassen kannst! Ich mache das umsonst! Was du nicht würdigst! Während du in der Sonne gammelst und dich von irgendwelchen Typen anmachen lässt, opfere ich meine Freizeit um dir eine Freude zumachen. Und jetzt hast du nichts Besseres zu tun mich und meine Arbeitsweise in Frage zu stellen!“
„Tim“, seufze ich mit einer gehörigen Portion schlechtem Gewissen.
„Nein, ist schon gut. Da müssen wir nicht mehr drüber reden. Ist okay. Ich gehe jetzt. Einen schönen Tag noch“, sagt er eisig und springt vom Pick up herunter und eilt an mir vorbei zum Werkzeugkasten.
„Es tut mir Leid, okay? Ich hab es nicht so gemeint, aber mein Wagen ist das erste und einzige, das ich mir ganz alleine von meinem eigenen Geld gekauft habe. Dieses Auto ist mein Baby.“
Tim wendet sich zu mir um und steckt die Hände unschlüssig in die Hosentaschen. „Schön für dich. Dann kümmer dich selbst darum. Ich habe keine Lust weiter deine Launen zu ertragen in der Hoffnung, du würdest irgendwann erkennen, dass ich es wert bin, mir eine echte Chance zu geben und mit mir ausgehen.“
Die kleinen Steinchen, die sich in meine Fußsohlen graben, schmerzen ebenso sehr wie mein schlechtes Gewissen. Ich wusste genau, dass Tim Gefühle für mich hegt doch bis jetzt habe ich dies gekonnt ignoriert, schon allein deshalb, weil ich mit meinem Geschmack bei Männern immer gründlich danebenliege. Die Liste meiner Exfreunde ist lang und katastrophal. Tim dort hinzuzufügen wäre, als würde man einen süßen kleinen Welpen in eine Grube mit ausgehungerten Löwen werfen. Vor allem, weil der ein oder andere Kerl auf dieser Liste, sich durchaus einbildet noch Ansprüche auf mich erheben zu dürfen.
„Es tut mir Leid. Aber das kann und will ich nicht“, bringe ich schließlich heraus. „Komm gut nach Hause“, füge ich noch an, bevor ich mich bücke und die abgefallene Ladeklappe aufhebe um sie auf die Ladefläche zu legen. Danach beeile ich mich zurück zu Devon und seinen Brüdern zu kommen.
„Lenny, war das nötig? Du magst ihn doch. Wieso versuchst du es nicht mal mit ihm? Schlimmer als die anderen mit denen du sonst ausgehst ist er nicht. Eigentlich wäre er eine ziemliche Verbesserung“, grummelt er und wirft mir einen tadelnden Blick zu, dem ich ausweiche.
„Er ist einfach nicht mein Typ. Er will all die Dinge, die nette Jungs wollen. Nämlich genau die Dinge, die auch die Bösen wollen, nur dass die Netten zu feige sind einem das ins Gesicht zu sagen. Und darauf kann ich verzichten“, schnappe ich, mich verteidigend.
„Deine Logik hinkt, meine Kleine“, höre ich Rome mit einem Lächeln sagen. „Aber das wirst du irgendwann noch feststellen.“
„Ich wüsste nicht, wieso diese Logik nicht korrekt wäre, mein Großer! Denn ich schätze es direkt gefragt zu werden und nicht aus den verworrenen Gedanken eines Mannes vielleicht die richtige Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn das ist Zeitaufwendig und verwirrend“, lasse ich seinen Kommentar an mir abperlen und wage es Semjon anzusehen.
Er sieht seinen Bruder an, als sei er über irgendetwas wirklich wütend.
„Das heißt also, du sagst jedem direkt was du denkst?“, will Rome wissen.
„Das habe ich nicht gesagt. Ich wollte nur sagen, dass man mich einfach fragen kann, wenn man mit mir ausgehen will.“
„Nun, ich will nicht mit dir ausgehen, aber du nötigst mich trotzdem ständig dazu“, stellt Devon amüsiert fest.
„Das ist mir durchaus aufgefallen, das werde ich aber weiterhin tun“, antworte ich ihm gurrend. „Denn ich mag es mit dir auszugehen.“
„Was für eine Ehre“, grinst er und zieht mich an sich.
„Wie schön, dass du das erkannt hast. Denn falls es dir nicht aufgefallen ist, gehe ich nicht mit jedem aus“, schmunzle ich und tippe ihm auf die Brust.
„Nun, wenn das so ist, würde ich sagen beweg deinen hübschen Hintern ins Haus und bring mir und meinen Gästen ein Bier“, erwidert er mit einem breiten Grinsen.
„Macho. Aber ich bin höflich und sage, ich hole deinen Brüdern und mir ein Bier und du darfst dir deines selbst holen“, gebe ich neckend zurück.
Gott, dieses Gespräch ist lächerlich. Was Semjon von mir hält, will ich gar nicht wissen. Ich muss ihm vorkommen, wie ein billiges Flittchen.

Als ich die Fliegengittertür hinter mir ins Schloss fallen lasse und das Haus betrete, schlage ich die Hände über dem Kopf zusammen. Die Rolle des Männergeilen Miststücks spiele ich so vortrefflich, dass es schwer ist, diese einfach fallen zulassen und mich wie eine anständige Frau zu benehmen und dafür könnte ich mich umbringen.
Das Innere des Hauses ist aufgeheizt. Im Holzgebälk staut sich die Hitze wie in einer Sauna, was zwar im Winter angenehm, doch nun Mitten im Hochsommer einfach nur Schweißtreibend ist. Ich wandle wie in Trance zum Kühlschrank und reiße diesen auf. Der mir entgegenschlagende wohltuende kühle Hauch, beruhigt mein aufgekratztes Inneres nur einen Augenblick.
Da draußen steht er.
Semjon.
Semjon Cooper.
Total durch den Wind, greife ich nach dem Bier und stelle es auf die Küchenzeile, bevor ich die Kühlschranktür mit der Hüfte zustoße. Meine Hände zittern, als ich erneut nach den vollen Flaschen greife. Um nachzudenken, bin ich zu aufgeregt und um runter zu kommen, habe ich keine Zeit. Auch wenn ich mich weiter vor ihm und seinem Bruder zum Affen mache, muss ich sofort wieder zu ihnen, denn um nichts in der Welt, will ich mir die Chance entgehen lassen, Semjons Anblick weiter in mich aufzusaugen.
In meiner Geisterabwesenheit, vergesse ich sogar Devon abzustrafen, denn ich habe tatsächlich vier Bier mitgenommen, stelle ich erbost fest, als ich auf die Veranda trete und die Drei auf den durchgesessenen Gartenmöbeln entdecke, die im Halbschatten der Veranda aufgestellt sind.
Semjon sitzt mir direkt gegenüber am Kopf des massiven, alten Holztisches und sieht mich direkt an, während ich das Bier ablade. Seine dunklen Augen verraten keine Gefühlsregung, ebenso wenig, wie sein Gesicht.
„Du hast mir ja doch eines mitgebracht. Ich danke dir“, höre ich Devon zu meiner Linken sagen, doch ich registriere es nicht wirklich.
Semjon ist gut aus.
Nein, er sieht umwerfend aus.
Ich beiße mir auf meine Unterlippe und versuche wegzusehen, doch es geht nicht.
Er hat mich total in seinen Bann geschlagen.
Schon wieder.

„Habe ich irgendetwas im Gesicht?“, seine Stimme durchschneidet die Luft wie ein eisiges Messer.
Ich schüttle entsetzt den Kopf und beeile mich damit, mich zu setzen.
„Vor Semjon musst du keine Angst haben, Devon und ich beschützen dich“, gurrt Rome amüsiert und greift nach einer Flasche.
Ich starre Rome an. Was redet er da?
„Ich- danke“, bringe ich heraus und betrachte meine Fingernägel.
„Ich fahre zurück ins Motel. Ich störe nur bei diesem Familienidyll“, knurrt Semjon plötzlich und erhebt sich.
„Semjon, rede keinen Unsinn. Bleib“, versucht es Devon, doch Semjon ist schon die Treppe nach unten gegangen.
„Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Einen schönen Tag noch“, knurrt er finster und ich komme nicht umhin festzustellen, dass er offensichtlich denkt, unerwünscht zu sein.
„Bitte bleiben sie, Semjon“, wispere ich leise und sehe wie er sich kurz umdreht. Der Blick den er mir zuwirft, oder vielleicht auch Devon, der neben mir auf der Bank sitzt ist nicht zu deuten, bevor er davon geht.
„Entschuldige. Mein Bruder ist nicht gerade der gesellige Typ. Es hat mich ohnehin gewundert, als er sagte, dass er mit hierher kommt. Es passt nicht zu ihm, dass er freiwillig zu Hochzeiten oder Besuchen erscheint“, meint Rome nachdenklich und prostet mir zu.
„Das ist allerdings wahr“, stimmt Devon ihm zu. „Wenn man es recht bedenkt, ist es überhaupt erst das zweite Mal, dass ich ihm persönlich gegenüber stand. Das letzte Mal habe ich ihn auf der Beerdigung unseres Vaters gesehen.“
„Semjon ist in letzter Zeit etwas aufgetaut. Weshalb, darüber kann ich nur mutmaßen, aber ich glaube es liegt an Mira. Sie scheint irgendwie zu ihm durchgedrungen zu sein. Das gefällt mir zwar nicht, aber sie schwört, dass da weiter nichts dahinter steckt.“
„Wer ist Mira?“, frage ich neugierig meine guten Manieren vergessend.
„Meine Freundin.“
„Das glaube ich ja nun nicht. Du hast eine Freundin? Der einsame Leitwolf hat eine Frau in sein Leben gelassen?“, fragt Devon ungläubig.
„Würdest du sie kennen, würdest du diese Frage nicht stellen.“ Romes Gesichtszüge werden weich und ich muss zugeben, ich beneide die Frau, die solch ein Bild von einem Mann offensichtlich um den Verstand gebracht hat.
„Sei ehrlich Rome, sie hat dir den Verstand heraus ge-“
Rome hebt warnend eine Hand. „Was immer du gerade sagen willst, Devon. Lass es. Wenn du sie in den Dreck ziehst, bring ich dich um.“
„Offensichtlich bist du tatsächlich bis über Beide Ohren verliebt“, seufzt Devon, doch ich sehe wie er kurz schlucken musste. Mit diesem Mann würde sich niemand anlegen, der noch bei Verstand ist.
„Das bin ich. Deswegen beunruhigt es mich, dass sie und Semjon beinahe jede freie Minute gemeinsam verbringen. Versteht mich nicht falsch, ich finde es gut, dass er auf sie Acht gibt, wenn ich nicht da sein kann um sie zu beschützen, aber er ist nicht gerade der nette Junge von nebenan. Was die Beiden treiben, wenn sie zusammen sind, will ich gar nicht wissen.“
„Denkst du etwa, sie betr-“
Rome schlägt auf den Tisch. „Halt den Mund!“
„Verzeihung, aber was willst du sonst damit andeuten?“, ereifert sich meine bester Freund ärgerlich.
„Ich will gar nichts andeuten. Ich sage nur, es gefällt mir nicht, dass er und sie so viel Zeit gemeinsam verbringen.“
„Hast du ihn denn mal darauf angesprochen?“, will ich vorsichtig wissen.
„Du hast ihn doch gerade eben kennengelernt. Genauso gut könnte ich mit einer schlechtgelaunten Wand sprechen und was Mira angeht, so schweigt sie ebenfalls darüber. Sie meinte, das ginge mich nichts an.“
„Dann ist es wohl auch so. Also lass es doch einfach auf sich beruhen“, versucht Devon es sanft.
Rome scheint unzufrieden mit der Antwort und ich bin es ebenfalls. Was bedeutet Semjon diese Frau?
In mir sprießt etwas, das verdächtig nach Eifersucht schmeckt, etwas, was mir ganz und gar nicht zusagt.

„Was machst du sonst so, wenn du nicht deine Verehrer anschreist?“, will Rome wissen.
Verdutzt über den Themenwechsel, brauche ich eine Minute um mich zu sammeln.
„Ich gehe in Bergen zur Schule. Zur Zeit haben wir Sommerferien“, entgegne ich schließlich und grubble an dem Etikett meiner Bierflasche herum.
„Wie alt bist du, wenn ich dich das fragen darf?“, nimmt Rome den Faden auf.
„Einundzwanzig. Mit zwanzig habe ich die Wandlung vollzogen“, gebe ich brav Antwort.
„Wie es scheint, scheinen wir Beide auf junge Frauen zu stehen, Bruderherz. Wie läuft es im Geschäft? Und wie kam es eigentlich dazu, dass Emily und du nun doch nicht geheiratet habt?“

Das ist der Auftakt zu einem lebhaften Gespräch über Autos und Emilys Familie, was mich Beides im Grunde genommen überhaupt nicht interessiert. Weshalb ich mich beeile mein Bier zu leeren. Jetzt wo Semjon verschwunden ist, habe ich kein Interesse mehr daran, dieser Unterhaltung beizuwohnen und ich verabschiede mich relativ zügig mit der Ausrede, dass ich noch Hausarbeiten zu erledigen habe.

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Kapitel 4

 



Ich liege auf meinem Bett und starre an die Decke. Sechzehn Jahre. Sechzehn verfluchte Jahre habe ich darauf gewartet, ihn wieder zu sehen. In jeder Einzelheit habe ich mir unser Widersehen ausgemalt über die Jahre und jedes einzelne Mal, endete es in meinen Fantasien damit, dass er, Semjon mir versicht hat, dass es keinen Tag gegeben hat, an dem er nicht an mich denken musste. Dass er mich wunderschön findet und das ich die Einzige bin, in die er sich je verlieben könnte. Dann würde er mich an sich reißen und mich um den Verstand küssen.
Nun gut. Eigentlich existiert diese Version meiner Tagträume erst, seit ich fünfzehn bin und Qendrim Morris mir ungefragt einen Kuss aufgedrückt hat und mir versicherte, dass “ich ein geiles Geschoss sei“, bevor Devon ihm einen Tritt in den Hintern verpasst hat.
Vorher waren meine Kleinmädchenfantasien darauf beschränkt, dass Semjon vor meiner Tür stehen und mich fragen würde ob ich nicht bei ihm leben wolle.

Mit zwanzig dann, als ich die ersten wenig erfreulichen Erfahrungen mit Männern hinter mir hatte, haben sich die Erwartungen an meinen Retter noch einmal in die Höhe geschraubt. Denn ich hatte die Realität von feuchten, ungekonnten Küssen und dem ersten fürchterlichen Sex ertragen gelernt, indem ich mindestens einmal die Woche Stolz und Vorurteil verschlang und meinen Retter mit all den vortrefflichen Eigenschaften Mr. Darcys ausstattete.
Doch nun, mit einundzwanzig kann ich die Augen nicht mehr vor der Realität verschließen. Mein Retter heißt nicht Mr. Darcy sondern Semjon Cooper und wenn er eine Eigenschaft von Mr. Darcy besitzt, so ist es seine Einsilbigkeit.

Ich schlage die Augen nieder und überlege ob es den Aufwand wert ist, aufzustehen und das Fenster zu öffnen, da es in meinem Zimmer im ersten Stock stickig heiß ist, wie in der Sauna und mir der Schweiß herunterrennt, als würde ich einen Marathon laufen. Doch die Entfernung bis zum Fenster, die immerhin knappe fünf Meter beträgt, impliziert, dass ich mich bewegen muss und das ist nun wirklich zu viel des Guten.
Die Arme hinter dem Kopf verschränkt wende ich den Kopf um auf meinen Nachttisch zu blicken. Dort liegt Jane Austens Meisterwerk und verpöhnt mich durch seine bloße Anwesenheit. Ich schnaube und versuche es durch einen bösen Blick dazu zu kriegen sich vom Tisch zu stürzen und in Flammen aufzugehen.
Nichts passiert.
„Frustrierend“, nuschle ich und wische mir die Schweißperlen von der Stirn. Hitze hat anders als Kälte leider denselben Effekt auf Vampire wie auf Menschen- man schwitzt sich die Seele aus dem Leib. Dadurch, dass unsere Körpertemperatur niedriger ist springt unser Kühlsystem bei fünfunddreißig Grad Außentemperatur durchaus an um uns vor Überhitzung zu schützen, etwas das ich erst in diesem Augenblick wirklich registriere. Noch überrascht mich mein Organismus immer wieder aufs Neue, was nicht nur befremdlich sondern auch faszinierend ist.
„Lenny!“, ruft Wina von unten, bevor ich die Treppenstufen knarren höre und meine Zimmertür aufgerissen wird. „Marlen Jacobsen! Du wirst jetzt sofort deinen Hintern aus dem Bett hieven! Draußen herrscht das herrlichste Wetter und du hockst in deinem Zimmer und lässt dich garen, das ist doch nicht normal!“, ereifert sich Wina und eilt zu meinem großen Fenster um es zu öffnen.
„Sag mal, was würdest du tun, wenn du jemanden wiedersehen würdest, nachdem du dich Jahre lang verzehrt hast, aber der dich vergessen zu haben scheint?“, meine ich betrübt und starre wieder an die Decke.
„Um welchen Mann geht es denn?“, will Wina wissen und ich merke, wie die Matratze unter Winas Gewicht nachgibt.
„Kennst du nicht“, nuschle ich und drehe mich auf die Seite um meine Ziehmutter anzusehen.
Wina legt nachdenklich den Kopf schief, bevor ihre warme Hand sich auf meinen Unterarm legt. „Nun, ich denke, da gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder du lässt es einfach auf sich beruhen, oder aber du nimmst das Ganze selbst in die Hand und sprichst ihn einfach darauf an. Allerdings beinhaltet keine der Optionen, dass du hier weiter in deinem Zimmer hockst und Trübsal bläst.“ Ihre hellbraunen Augen mustern mich liebevoll, während ihre Finger über meinen Arm reiben.
„Aber er-“, beginne ich leise.
„Wenn er dir wichtig ist, dann rede mit ihm. Nicht jeder Mann kann sich auf der Stelle so sehr in dein Äußeres verlieben, dass er des nachts unter deinem Fenster steht und dir ein Liebeslied singt“, stellt sie mit einem Schmunzeln fest.
„Das nimmst du mir wohl immer noch übel“, lächle ich entgegen meiner derzeitigen Laune.
„Noch nie im Leben, habe ich jemanden so schlecht und mit solcher Inbrunst singen hören. Auch wenn ich seinen Mut bewundert habe, genützt hat es ihm überhaupt nichts. Zwei Wochen bist du mit ihm ausgegangen, bevor er dir zu langweilig wurde. Ich möchte bestimmt nicht gemein klingen, aber dir würde es gut tun zur Abwechslung mal hinter einem Kerl herzulaufen, anstatt von ihnen belagert zu werden. Das bringt dich vielleicht wieder auf den Boden der Realität zurück“, antwortet Wina ernst.
„Ich kann das nicht“, überlege ich leise, was Wina dazu bringt mir die Stirn zu befühlen.
„Dann wirst du ihn wohl vergessen müssen“, seufzt sie und erhebt sich, bevor sie mir bedeutet aufzustehen. „Na los, komm schon. Ein bisschen Liebeskummer von Zeit zu Zeit hat noch niemandem geschadet.“
Wenn Wina nur wüsste. Liebeskummer ist wohl kaum die richtige Umschreibung für die Gefühle, die Semjons Erscheinen in mir ausgelöst hat.
„Lenny nun komm schon. Ich wollte gerade Eistee machen. Ignaz will vorbei kommen, ich bin sicher er würde sich freuen, wenn du uns mit deiner Anwesenheit beehren würdest“, lächelt Wina.
„Nein danke. Ich habe kein Interesse daran, eure Anstandsdame zu spielen“, meine ich mit einem halbherzigen Lächeln.
„Du wirst also was genau solange tun?“, hakt sie sofort nach und verschränkt die Arme vor der Brust.
Ich zucke mit den Schultern, als ich mich aufsetze. „Keine Ahnung. Ich glaube ich mache einen kleinen Spaziergang zum Strand herunter um den Kopf frei zu kriegen.“
„Das ist eine gute Idee. Aber komm nicht zu spät nach Hause. Du weißt, dass Devon sonst die Wände hoch geht. Das letzte Mal, als er nicht wusste wo du steckst, hat er bis um vier Uhr morgens an seinem Auto herumgebastelt“, ermahnt mich Wina vorsorglich.
„Das werde ich schon nicht. Soviel ich weiß steigt heute Abend keine Party“, antworte ich mit einem Zwinkern.
„Na dann ist ja gut“, entgegnet sie mir und verabschiedet sich mit einem warnenden Blick nach unten.
Als sie verschwunden ist, raffe ich mich schließlich tatsächlich auf, mir eine Jeansshorts überzuziehen, bevor mein Blick auf den zerlesenen Roman fällt, der noch immer neben meinem Bett liegt. Kurz entschlossen pfeffere ich ihn in den Mülleimer neben meinem Schreibtisch und eile aus dem Haus. Ich nehme vorsorglich die Hintertür, damit Devon nicht mitbekommt, dass ich mal wieder alleine durch die Gegend laufe. Aus irgendeinem Grund beunruhigt ihn das nämlich immer und er stellt hunderte von Fragen, wo ich war und was ich getan habe. Manchmal ist er wirklich schlimmer als jeder Wachhund!
Hinter dem Haus beginnt gleich der grüne Dschungel aus Farnen, hohen alten Bäumen und zerklüftetem Gebirge. Der Waldboden des ausgetretenen alten Pfades ist weich und warm, als ich die ersten Bäume hinter mir lasse.
Was Semjon jetzt wohl tut? Ob er schon alles für seine Abreise vorbereitet?
Bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht habe beginne zu rennen. Zuerst fühlen sich meine Bewegungen noch schwerfällig und anstrengend an, doch dann löst sich etwas in mir. Meine nackten Füße treffen auf weichen Torf, auf glatte Steine und weiches Moos und ich renne weiter. Schneller und schneller, einfach den schmalen ausgetreten Pfad entlang, der immer weiter führt. Das Spiel von Licht und Schatten auf dem feuchten Waldboden, die strahlende Sonne auf meiner Haut, als ich tiefer in die endlosen Wälder abtauche lassen mich ruhig werden. Ich renne weiter, über die den Punkt hinweg an dem meine Füße nicht mehr schneller können, durch kleine, eisigkalte Rinnsale, die die Landschaft durchziehen, über die abgelagerten Steinmoränen, welche die Gletscher über die Jahrtausende auf ihrem Weg hinterlassen haben und höre auf zu denken. Mein Verstand hat aufgehört mir zu befehlen was ich vielleicht lieber lassen sollte. In mir hat etwas anderes die Führung übernommen und das zieht mich rücksichtslos in Richtung des kleinen Motels neben der Tankstelle.
Ich habe das Gefühl zu fliegen und nie wieder will ich aufhören zu laufen. Plötzlich ist mein Leben so einfach, so klar und einfach alles erreichbar.
Der rauschende, eisige Gebirgsbach, der sich vor mir einen Weg über die rauen Felsen und glitzernden Kies, überwinde ich mit drei schnellen Schritten und grinse selig, als meine nackten Fußsohlen im warmen Sumpf des Ufers schmatzend einsinken, als ich weiter renne. Das Wollgras, die Moltebeeren und das Moos das hier wächst lassen das kleine Sumpfgebiet wie eine verträumte Märchenlandschaft wirken. Den Duft der würzigen Waldluft in der Nase greife ich mir im vorbei gehen, ein paar Heidelbeeren ab, die auf einem der bewachsenen Findlingen wachsen und schiebe mir die reifen Beeren in den Mund. So schmeckt der Himmel, dessen bin ich mir zu einhundert Prozent sicher, als der Geschmack der reifen Früchte meinen Gaumen kitzelt und ihr Saft meine Finger rot und klebrig werden lässt. Ich lecke mir den Saft von den Fingerspitzen, während ich um die Ecke biege und die letzen Meter durch den Wald nehme, bevor ich hinter Tims Haus herauskomme und erneut die Sonne in ihrer ganzen Herrlichkeit auf mich nieder brennen spüre. Ich überwinde das kurze Stück Rasen, das an Tims Haus vorbei zur Landstraße führt und beeile mich über den glühenden Asphalt auf die andere Seite zu kommen, wo die Tankstelle von Voss ist. Der Asphalt ist nicht nur heiß, sondern es liegen auch spitze Steinchen darüber, die sich bei jedem meiner Schritte in meine Sohlen bohren, doch ich beiße die Zähne zusammen und grüße flüchtig Betty, die gerade mit ihrem Enkel aus dem Inneren der Tankstelle kommt.
Vor dem weiß gestrichenen Haus, das nicht nur die Tankstelle beherbergt, sondern im oberen Geschoss auch deren Besitzer als Wohnung dient, stehen noch einige andere Wagen, deren Inhaber wohl zum Stammtisch gekommen sind, der dort jeden Samstag pünktlich um fünf Uhr beginnt.
Ich stelle kurz fest, dass sich dann wohl spätestens morgen das Dorf im Ausnahmezustand befindet, weil ich halbnackt zum Motel gerannt bin. Unser Dorf liebt Skandale und Eskapaden und meist werden diese auch nach Jahren nicht vergessen. Doch egal, die alten Männer werden sich ohne Zweifel über meinen Anblick freuen, als ich am Schaufenster vorbei jogge, die kleine Auffahrt zu den vier kleinen Häuschen, die als Motel dienen.
Die rot gestrichenen Holzhäuschen sind wie eigentlich immer im Sommer alle belegt. Ich stelle mich gerade darauf ein, an jede Tür klopfen zu müssen, als Semjon aus dem letzten Haus tritt und scheinbar zu seinem Wagen will. Ich glaube zumindest, dass es sein Wagen ist, der dort steht, denn er ist als einziger der vier geparkten Autos schwarz. Und ohne Zweifel verflucht teuer.
„Semjon! Warten Sie!“, rufe ich verzweifelt und lege noch einen Zahn zu, gepaart mit dem Gefälle ergibt sich daraus allerdings ein Problem. Das Problem, das ich zu spät bremsen kann und direkt in ihn renne. Semjon der sich erstaunt umgedreht hat, taumelt zurück als ich gegen seine Brust stoße und fängt sich gerade noch ab, bevor wir Beide zu Boden gegangen wären.
Meine Muskeln brennen wie Feuer und ich bin für einen Augenblick so vollkommen von dem Gefühl überwältigt, ihn tatsächlich zu berühren, dass ich meinen Kopf gähnende Leere herrscht.
„Haben Sie den Verstand verloren?“, schnappt er da auch schon und drückt mich, die Finger in meine Oberarme gegraben von sich weg.
Ich schlucke, während seine kühlen Finger schraubstockartig um meine Arme gezurrt sind.
„Ich konnte nicht mehr bremsen. Entschuldigung“, bringe ich hervor und wage es den Kopf zu heben um ihn anzusehen. Seine Augen spiegeln Verwirrung wieder. Dessen bin ich mir für eine Sekunde sicher, bevor seine Mine sich wieder vollkommen glättet.
„Das habe ich festgestellt. Ich bin in Eile. Hat einer meiner Brüder Sie geschickt?“, sagt er kühl. Seine tiefe Stimme vibriert in meinem Magen und überzieht meinen Körper mit einer Gänsehaut, während seine dunkelbraunen Augen sich von mir abwenden und er mich los lässt.
„Nein. Ganz und gar nicht. Sie wissen nicht, dass ich hier bin“, antworte ich schnell und überrumpelt. „Ich bin hier, weil ich mit ihnen reden muss“, füge ich noch an und verschlinge meine Finger ineinander.
„Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten. Gehen Sie nach Hause Marlen“, sagt er schlicht, zückt seinen Autoschlüssel und entriegelt seinen Wagen. Er will gerade einsteigen, als ich all meinen Mut zusammen nehme.
„Erinnerst du dich denn überhaupt nicht an mich?“, platze ich heraus, das förmliche, distanzierte Sie beiseite lassend.
Semjon hält darin Inne die Fahrertür zu öffnen.
„Erwarten Sie tatsächlich, dass ich mich an jedes Gesicht einer halbwegs hübschen Frau erinnere?“, sagt er und schenkt mir einen kurzen, abschätzenden Seitenblick.
Das tut weh.
„Nun, ich erinnere mich sehr gut an dich. Du hast mir damals mein Leben gerettet“, bringe ich mit Tränen in den Augen hervor.
Semjon knallt die Autotür zu und ist mit drei Schritten bei mir um mich an den Armen zu packen und mich gegen die Hauswand zu drücken.
„Halt den Mund, du törichtes Ding!“, knurrt er drohend und lässt mich sofort wieder los. Er stützt die Arme rechts und links von meinem Kopf gegen die rote Fassade des Hauses. Er hat den Kopf gesenkt und gibt keinen Mucks von sich, bevor er nach einer geschätzten Ewigkeit aufsieht. Und als er das tut, will ich am liebsten weglaufen. Sein Gesicht spiegelt puren Zorn wieder.
„Vergiss mich einfach“, quetscht er hervor. „Was mich betrifft, so kenne ich dich nicht.“
„Aber-“, versuche ich es verzweifelt.
„Du verstehst nicht. Ich will dich nicht kennenlernen! Du bist nicht mein Typ! Ich stehe nicht auf blonde, hirnlose Barbiepuppen, die aussehen, als seien sie ein Showgirl direkt aus Las Vegas!“, knurrt er langsam. Jede einzelne Silbe betonend, bevor er mir ein eisiges Lächeln schenkt und sich von der Wand abstößt.
Jedes einzelne Wort von ihm ist wie ein Messerstich, der sich direkt in mein Herz bohrt. Am Rande meines verschwommenen Sichtfeldes nehme ich wahr, wie er in den Wagen steigt und davon fährt. Doch ich kann mich nicht rühren. Mein Kinn bebt unter wilden Zuckungen, meine Muskeln brennen lichterloh. Das ist doch nicht wahr.
Es ist eine Sache mich nicht zu erkennen. Aber mich nicht kennen zu wollen, ist eine andere, tausend mal schmerzhaftere Erfahrung und beleidigt zu werden, von dem Kerl, den ich sechzehn Jahre lang vergöttert habe ist grausam.
Ich rutsche an den Balken herunter und zische auf, als sich ein paar Spreisel in meinen Rücken bohren, die aus der rauen Fassade herausstehen.
„Ich hasse ihn. Ich hasse ihn von ganzen Herzen! Dieser verfluchte Mistkerl“, wiederhole ich wie in Trance, während ich auf dem Boden kauere, die Hände um die Knie geschlungen und versuche mich wieder in den Griff zu bekommen. Doch die Heulkrämpfe wollen nicht enden, ebenso wenig wie mein leiser, verzweifelter Redefluss.
„Ich hasse ihn.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 5

 



„Lenny? Oh mein Gott, Lenny!“, höre ich Devons Stimme erschrocken durch den Nebel meines Hirns dringen, bevor ich seine Hände um meinen Kopf spüre. Seine schwieligen Handflächen drücken gegen meine Wangen und zwingen mich, meinen Kopf zu heben.
„Marlen, was ist los? Was ist passiert? Was tust du hier?“, redet er auf mich ein. Seine Finger verfangen sich in meinen Haaren, und ich öffne die Augen.
„Süße, rede mit mir“, sagt er sanft. Seine roten Augen liebevoll auf mich gerichtet kniet er vor mir in der Hocke, bevor er sich auf die Knie fallen lässt und mich ungefragt an seine Brust zieht. Gegen Devon Brust gedrückt lasse ich das letzte Bisschen, das mich bis jetzt bei Verstand gehalten hat los und umklammere ihn heulend. „Bitte, Marlen sag etwas“, flüstert er leise, während er mir über den Kopf streicht.
„Ich hasse ihn. Es tut so weh!“, presse ich aufgelöst zwischen zwei Heulkrämpfen hervor. Meine Stimme und mein Kinn beben unkontrolliert und ich weiß nicht einmal ob er mich verstanden hat.
„Semjon“, seufzt Devon und es klingt wie ein Fluch, bevor er mir einen kratzigen Kuss auf die Schläfe drückt. „Ich bin da, ich bin da. Niemand tut dir mehr weh. Ich passe auf dich auf.“
Irgendwo hinter dem Rücken meines besten Freundes höre ich eine Zunge schnalzen, bevor ich Romes Stimme vernehme. „Ich werde dem Scheißkerl Manieren beibringen!“
„Nein, bitte-“, meine ich entsetzt, doch mein Protest wird in Devons Shirt erstickt, als er mich näher an sich drückt und die Arme auf meinem nackten Rücken verschränkt.
„Lass es gut sein Rome. Ich regle das schon“, sagt Devon eisig und es hört sich wie ein Befehl an.
„Du willst ihn tatsächlich damit durchkommen lassen, dass er deine Kleine-“
„Halt verflucht nochmal den Mund! Es ist nicht deine Sache!“, ereifert sich Devon harsch, während seine Finger über meine Haut kreisen.

Wie Devon mich nach Hause geschafft hat, weiß ich beim besten Willen nicht mehr, geschweige denn, wie er mich in sein Schlafzimmer gebracht hat. Alles ist in Dunkelheit versunken.
Ich möchte irgendetwas tun. Schreien, weinen, um mich schlagen, doch nichts davon lässt er zu. Seine starken Arme haben sich um meinen Körper geschlungen und sein Mund gibt ein leises, dunkles Knurren von sich, das entfernt Ähnlichkeit mit einem Schlaflied hat. Der bittere Geschmack auf meiner Zunge bringt mich beinahe dazu mich zu übergeben, die Tränen quellen heiß über meine Wangen und ich öffne den Mund zu einem lautlosen Schrei.
„Beruhige dich. Bitte Lenny, rede mit mir. Du machst mir eine Scheiß Angst“, murmelt er und zieht mich noch näher an sich.
„Ich kann nicht“, bringe ich zwischen zwei Heulkrämpfen hervor und kralle mich in sein Shirt.
Devons Hand legt sich auf meinen bebenden Rücken und malt sanfte Kreise. „Semjon hat mich angerufen und gesagt ich soll dich abholen. Was ist geschehen?“
„Er hasst mich. Er will nichts mit mir zu tun haben!“, heule ich auf und schlage mir eine Hand auf den Mund um nicht wieder in Versuchung zu kommen, zu schreien.
„Lenny, was hat er getan? Hat er dich angefasst? Ich schwöre ich bring ihn um!“, knurrt er entsetzt und tastet sich über meine Seite herab.
„Nein. Hat er nicht! Er hasst mich und er will nichts mit mir zu tun haben!“, schreie ich Devon an, der erschrocken zurück fährt.
„Du bist so durch den Wind weil-“
„Er! Er ist derjenige, der mich gerettet hat! Seit sechzehn Jahren gab es keinen Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe! Und nun ist er hier und er hasst mich! Er hasst alles an mir! Er hält mich für ein billiges Flittchen! Sag mir, wie ich nicht ausrasten soll!“, ereifere ich mich stoße ihn von mir.
Devon hebt abwehrend die Hände. „Wow, das hat er gesagt? Mein Bruder kann manchmal wirklich ein Arsch sein.“
Die Stille die entsteht ist lang und unbehaglich und mein Körper zittert wie Espenlaub.
„Glaubst du tatsächlich, was er gesagt hat?“, fragt er langsam nach einer schieren Ewigkeit.
Ich sehe meinen besten Freund verwirrt an, bevor ich nicke. „Es ist so“, heule ich auf. „Das hat er gesagt und vielleicht hat er Recht!“
„Himmel Lenny, du hattest bis jetzt zwei Mal im Leben Sex und das halbe Duzend Männer mit denen du ein paar scheue Küsse ausgetauscht hast, machen dich nicht zu einer Männermordenden Schlampe. Ich weiß dass du dich gern als solche hinstellst, aber ich kenne dich zu gut und zu lange um nicht zu durchschauen, was du damit verbergen willst. Du hast nämlich panische Angst davor, dass es jemand lange genug mit dir aushält um den Menschen hinter der schönen Fassade zu entdecken. Dass ihnen was sie entdecken nicht reicht und sie dich wieder allein lassen. Deshalb gehst du auch nicht mit Tim aus. Du hast Angst davor, weil du ihn nämlich magst und du bei ihm deine Fassade des blonden Dummchens ausversehen fallen lassen könntest.“
Ich kann nicht fassen, dass er das erkannt hat obgleich ich mir das selbst nie wirklich eingestanden habe. „Ist das so offensichtlich?“, will ich unglücklich wissen.
„Für die anderen nicht. Für mich aber schon. Es ist nichts falsch daran, lieber als sprunghaft denn als feige gelten zu wollen. Du bist weder ein Flittchen noch sonst etwas wenig schmeichelhaftes. Du bist hübsch und du gehst mit Männern aus. Das ist kein Verbrechen. Niemand, nicht einmal Semjon kann behaupten, dass eine einundzwanzigjährige die zwei Mal in ihrem Leben Sex hatte eine Hure ist.“
„Rede das jemandem ein, der das glaubt!“, schreie ich ihn an.
Devon breitet hilflos die Arme aus. „Semjon hat dich beleidigt, aber er hat mich auch angerufen, dass ich dich abholen soll.“
„Was für eine Heldentat. Rettet die Hure!“, brülle ich Devon an und will aus dem Bett flüchten.
„Warte Lenny! Bitte.“
„Nein. Und weißt du auch weshalb? Weil ich das nicht auf mir sitzen lasse! Wenn er denn so anständig ist, dann kann er sich selbst dafür rechtfertigen. Wieso soll ich es hier mit dir zu Tode reden?“, entgegne ich stürmisch.
„Weil das was Semjon sagt und was er tatsächlich denkt meist meilenweit auseinander liegen“, sagt er schnell und fährt sich durchs Haar, bevor er an seine Schläfe greift und mich ansieht. Er beißt sich auf seine Lippen und schüttelt abwehrend den Kopf. „Semjon ist kein schlechter Kerl. Eigentlich ist er ziemlich anständig“, sagt er langsam. „Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er-.“
„Devon, so sehr ich deine Mutmaßungen zu schätzen weiß und auch dein Versuch deinen Bruder in ein anderes Licht zu rücken, ich will es nicht hören“, sage ich schlicht und öffne die Türe. Sie quietscht wie zum Protest, doch davon lasse ich mich nicht beirren, als ich sie ins Schloss knallen lasse und zielstrebig nach unten eile.

Ich will allein sein. Mein blutendes Herz schreit danach mich irgendwo zu verkriechen, weiter zu heulen und ihn zu beschimpfen. Doch einer Konfrontation mit ihm, Semjon, halte ich heute einfach nicht mehr stand. Deshalb entschließe ich mich dazu, mich nach Hause zu schleichen und dort in den Schlaf zu weinen.
Das funktioniert erschreckender Weise ziemlich gut. Mein Schlaf ist tief und traumlos und obwohl ich von Wina an diesem Sonntagmorgen schon um acht Uhr durch ein lautes Klopfen an der Zimmertür geweckt werde, bin ich hellwach und halbwegs ausgeschlafen. Doch meine Augen können nicht verbergen, was ich zu gerne verdrängt hätte. Sie sind vom Weinen gerötet und das sonst so fröhliche Meeresblau meiner Iris ist so stumpf und trübe wie der Nordatlantik an einem regnerischen Novembermorgen. Ich versuche dies im Bad so gut wie möglich mit einer Menge Wasser zu beseitigen, doch der resignierte Ausdruck bleibt in meinem Gesicht haften, sodass ich es irgendwann aufgebe und mich ohne einen zweiten Blick in den Spiegel zu werfen nach unten begebe.


Wina hat auffallend gute Laune, während sie schon fleißig dabei ist alles für ihren sonntäglichen Kirchgang vorzubereiten und das danach folgende Picknick, das sie und ihre Freundinnen unten am Hafen veranstalten wollen.
„Na hattest du einen schönen Abend mit deinem Schatz?“, flöte ich, als ich mir einen Kaffee eingieße und versuche meine gute Laune wieder zu finden.
Wina blickt kurz von ihren Sandwiches auf, die sie gerade zubereitet und verdreht die Augen. „Ja, aber bitte nenn Ignaz nicht meinen Schatz. Ich bin einundfünfzig Jahre alt und er ebenfalls. Wir sind zu alt um uns Kosenamen zu geben“, meint sie spitz und widmet sich dann wieder ganz dem Essen.
„Hm. Ich glaube nicht dass es dafür eine Altersbeschränkung gibt“, antworte ich ihr nachdenklich und lehne mich gegen die Küchenzeile, bevor ich meine Kaffeetasse zum Mund führe und den ersten Schluck des frischgebrühten Getränks meine Kehle herunter rinnen lasse.
„Da fällt mir gerade ein, Devon war vor zehn Minuten hier. Er sagt du bist eingeladen zum Essen bei ihm“, erzählt sie fröhlich drauf los, während sie ihre volle Konzentration darauf verwendet, die Sandwiches in akkurate Dreiecke schneidet. „Vielleicht siehst du lieber schon vor zwölf nach ihm und vor allem nach dem Mittagessen. Ansonsten ist es sowieso ungenießbar. Du weißt, alles was man nicht in eine Mikrowelle stecken kann, oder nicht direkt aus einer Tüte kommt, kann man bei ihm in den Müll werfen. Er hat wirklich Glück, dass er nur Blut zum Leben braucht, sonst wäre unser Großer schon längst den Hungertod gestorben“, schmunzelt Wina. „Ich hoffe nur, er hat noch nicht angefangen zu kochen... Vielleicht solltet ihr uns zum Picknick begleiten. Dann muss ich mir wenigstens keine Sorgen machen, dass ihr beide morgen mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus liegt“, überlegt Wina laut.
„Vampire kriegen keine Lebensmittelvergiftungen. Glaub ich zumindest, vielleicht sollte ich das mal googlen“, sage ich nachdenklich und wandere langsam zum Küchentisch. Der alte Küchenstuhl knarzt unheilvoll, als ich mich schwungvoll darauf fallen lasse und Wina sieht tadelnd auf.
„Tu das bitte. Wollte Devon den Stuhl nicht schon längst repariert haben?“, ihr Blick sagt eindeutig, dass sie meinem besten Freund die Ohren langzieht, wenn er das nicht bald erledigt.
„Eigentlich schon. Ich werde es ihm nachher nochmal sagen.“
Wina zieht die Augenbrauen zusammen und wendet ihren Blick von mir zum Fenster, bevor sie die Hand hebt. „Vielleicht sagst du ihm das besser jetzt, denn ich glaube da drüben brennt was an!“
Ich stehe auf um zum Fenster hinaussehen zu können und entdecke die dicke schwarze Rauchwolke, die zu Devons Küchenfenster heraus quillt.
„Viel Spaß nachher!“, rufe ich ihr zu, drücke ihr einen Kuss auf die Wange und renne mit meiner noch halbvollen Kaffeetasse das kürze Stück zu Devons Haus.
Die Vordertür ist wie immer unverschlossen und ich stürze ins Haus, wobei mein Kaffee teilweise flöten geht. Doch das interessiert mich gerade relativ wenig, als ich den Geruch von verbranntem Fleisch rieche.
Als ich in die Küche komme, finde ich ein Chaos vor, das ich mir in etwa genauso ausgemalt hatte. Devon hüpft mit einer brennenden Pfanne in der Hand in der Küche umher du versucht irgendetwas zum Löschen zu finden.
Kurz entschlossen knalle ich die Kaffetasse auf den Tisch und reiße das Geschirrhandtuch, welches über einem der Küchenstühle hängt herunter und werfe es über den brennenden Pfanneninhalt, bevor ich Devon den Pfannengriff entreiße und das glühende Ding in die Spüle schmeiße, wo ich den Wasserhahn ausdrehe und durchatme, nachdem keine Flammen mehr unter dem lädierten Lappen hervor züngeln.
„Devon, du bist eine Katastrophe“, bringe ich erleichtert raus und drehe mich zu ihm um.
Devons Hände sind angekokelt, genauso wie seine linke Augenbraue und Teile seines rechten Unterarms.
Für einen Moment bin ich so perplex, dass ich kein Wort heraus bringe.
Er sieht so mitgenommen aus.
Wir Beide starren auf seine knallroten Hände, an denen die Brandblasen sprießen.
„Oh mein Gott, Devon! Du Idiot! Was hast du gemacht?“, schreie ich ihn an und zerre ihn am Oberarm ins kleine Gäste WC, wo ich den Hahn auf eiskalt drehe und seine Hände darunter halte.
„Ich wollte deinen Lieblingsnachtisch machen…wollte mich entschuldigen“, murmelt er niedergeschlagen.
Mein bester Freund ist manchmal so ein Idiot. Er hat keinen Grund sich zu entschuldigen. Nicht wirklich. Semjon ist ein Teil seiner Familie. Deswegen befeuchte ich das dunkelblaue Handtuch, das neben dem Waschbecken hängt.
„Ist schon okay“, seufze ich und greife an sein Kinn, um ihn zu zwingen sich zu mir herunter zu beugen, damit ich an seine Augenbraue komme. „Weißt du, nur weil du dich entschuldigen wolltest, musst du dich nicht anbrennen. Diese Selbstgeiselung wäre wirklich nicht notwendig gewesen.“
Das entlockt Devon ein Grinsen, genau wie mir selbst, als ich ihm das nasse Handtuch auf die Braue drücke.
„Weißt du, eigentlich wollte ich mich auch entschuldigen, weil Rome und Semjon nachher kommen.“
Diese Aussage wischt mir mein Lächeln wieder aus dem Gesicht und ich senke betreten den Blick. „Nun. Dann werde ich wohl damit leben müssen“, bringe ich schließlich heraus.
„Danke Lenny“, sagt er leise, beinahe von dem aus dem Hahn strömenden Wasser übertönt.
„Versprich mir nur eines. Bitte halt dich vom Herd fern“, grinse ich und muss nun doch auflachen, auch wenn es sich etwas schrill anhört. „Ich koche und ich werde es mir nicht nehmen lassen Semjon ins Essen zu spucken.“
Devon sieht mich entsetzt an.
„Nur ein Scherz. Immerhin ist er dein Bruder und er hat mir das Leben gerettet. Also werde ich höflich sein, auch wenn er das nicht verdient hat“, sage ich leichthin und versuche damit mein vor Panik und Schmerz schreiendes Inneres zu verbergen.
„Ich wollte aber grillen. Tim und Adrian kommen ebenfalls“, Devon macht nicht den Fehler nochmals auf das Thema Semjon einzugehen und ich entspanne mich etwas, während ich die Arme vor der Brust verschränke.
„Grillen kannst du gerne. Aber benutz keinen Grillanzünder. Du bist kein Streichholz“, warne ich ihn mit einem aufgesetzten Lächeln. "Kein Herumgezündel."

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Kapitel 6

 



Da Devons Kochkünste sowohl einem Päckchen Butter wie auch dreihundert Gramm Schokolade das Leben gekostet haben, fehlen mir für einen zweiten Versuch die Zutaten.
So komme ich in die Verlegenheit Devons Küchenschränke durchsuchen zu müssen und mache dabei auf allerhand unappetitliche Entdeckungen, von abgelaufenen Tütensuppen bishin zu verschimmelten Brot, das in der hinterletzten Ecke des Vorratscharnks vor sich hin gammelt.
„Verflucht“, entkommt es mir frustriert, als ich auf dem Boden inmitten des Berges von Lebensmitteln sitze, welche ich aus den Schränken geräumt habe auf meiner Suche. Bei uns drüben im Haus, werde ich ebenfalls nichts finden, das ich für das Dessert verwenden kann, da Wina gestern die letzten Reste aufgebraucht hat, indem sie einen Schokokuchen gebacken hat. Ich will mich schon damit abfinden, heute keinen Nachtisch zu bekommen, als mir die Tankstelle im Nachbarort einfällt, die auch Sonntags geöffnet hat.
Deshalb beeile ich mich Devons Vorräte zurück in die Schränke zu räumen und schlupfe zur Hintertür aus der Küche und bleibe auf der breiten, flachen Granitstufe stehen, die etwas erhöht in den Rasen des Gartens ragt.
„Ich fahre kurz zur Tanke!“, informiere ich meinen besten Freund, der sich im hinteren Teil seines Grundstücks, vor dem kleinen, überdachten Holzlager zu schaffen macht. Eine Axt in der Hand, richtet er gerade einen Holzscheit aus, um diesen in der Mitte zu spalten. Zu seinen Füßen liegt schon fein säuberlich gestapelt ein ganzer Haufen mit bearbeitetem Scheiten und er sieht etwas abwesend zu mir herüber, bevor er nickt.
„Hast du Geld oder brauchst du?“, will er wissen und zückt seine Brieftasche, nachdem er seine Axt im Holz versenkt hat. Den ausgebeulten Geldbeutel in der Hand kommt er zu mir herüber und zieht ein Bündel Scheine heraus, bevor er mir den etwas geleerten Geldbeutel reicht.
„Sei so gut und besorg noch zwei Sixpack Bier, eine Zeitung und ne Tüte Chips.“
„Bekomm ich dafür deinen Wagen?“, frage ich mit einem verführerischen Schmollmund und stemme die Hände in die Taille.
Devons dunkelrote Augen, die mich amüsiert fixieren, werden etwas schmaler und ich stelle fest, dass die Härchen an seiner linke Augenbraue in Richtung des Nasenrückens ziemlich kurz geworden sind und die Haut an seinen Unterarmen noch immer gerötet ist.
„Fährst du vorsichtig?“, will er ernst wissen.
„Also bitte. Ich bin immer ein wahres Vorbild an Manieren und vorbildlichem Fahren“, gurre ich und versuche verantwortungsvoll auszusehen.
Mein bester Freund legt die Stirn in Falten. „Tatsächlich? Wenn du das sagst muss ich dir das wohl glauben, nicht wahr?“, meint er und fischt aus seiner Hosentasche den Schlüssel für seinen 67iger Mustang Shelby.
„Passt du drauf auf?“, will er ernst von mir wissen und lässt die Schlüssel wie ein Köder vor meiner Nase baumeln.
Ich beeile mich zu nicken und reiße ihm quietschend die Schlüssel aus den Fingern und renne so schnell es mir meinen Flip Flops erlauben über den Rasen zu seiner Garage, wobei ich beinahe hinfalle, als ich über eine Wurzel der alten Blutbuche stolpere, welche direkt an der Ecke zur Garageneinfahrt steht.
„Mach langsam!“, höre ich Devon rufen und renne weiter, bevor mein bester Freund es sich noch anders überlegt und mir in letzter Minute doch noch verbietet mich hinter das Steuer seines fantastischen Autos zu setzen. Als ich das Garagentor öffne und den GT-500 KR Fastback erblicke, bleibe ich hingerissen stehen. Die typische Mustang Lackierung mit den zwei breiten, weißen Längsstreifen, welche sich von der Spitze bis zum Heck ziehen, bilden einen krassen Gegensatz zur ansonsten in rot gehaltenen Lackierung und sind beinahe Kult, genauso wie die in rotem Leder gehaltene Innenausstattung der Sportcoupé Legende.
Ich seufze hingerissen, als ich die Fahrertür öffne und den typischen Geruch eines gut gepflegten, sich im Gebrauch befindlichen Wagens einatme. Es hängt ein Hauch von Kokos in der Luft von meinem Lieblingsparfum, von Leder und einer Prise von Devons Aftershave.
Schon lange habe ich nicht mehr im Auto meines besten Freundes Platz genommen, trotzdem haftet mein Geruch noch immer am Beifahrersitz, als würde ich täglich mit dem Mustang mit fahren. Ich gebe zu, ich kann einen gewissen Stolz nicht verhehlen, als ich mir noch einmal die Tatsache ins Gedächtnis rufe, dass ich die erste und einzige Frau bin, die jemals in diesem Wagen Platz nehmen durfte.
Exakt das ist der Grund, weshalb ich immer wusste, dass Devons Gefühle und Absichten Emily gegenüber niemals ernst waren. Hätte er etwas für sie empfunden, dann hätte er sie in seinen Wagen und sein Leben gelassen, doch das hat er nicht. Von seiner Seite gab es kein einziges Zugeständnis an sie.
Vielleicht ist es gefühllos oder bösartig, dies zu behaupten, aber ich bezweifle ernsthaft, dass Devon Emily gegenüber jemals tiefe Gefühle gehegt hat. Ich meine sicher, die Beiden waren miteinander im Bett usw. aber auch wenn Devon es immer bestreiten wird, ich behaupte er wollte Emily nur heiraten, weil seine Mutter damals meinte, Emily und er hätten keine Zukunft. Diese Erklärung ist die einzig mögliche, wenn man sonst alle Indizien beachtet. Devon wollte Emily aus Trotz geheiraten, einfach nur um seiner Mutter zu beweisen, dass sie ihn überhaupt nicht kennt. Aufwand und Nutzen stehen dabei zwar in keinerlei Verhältnis zueinander, aber wenn es um Devons depressive, drogensüchtige Mutter Selen geht, dann scheinen bei meinem besten Freund Logik und Verstand auszuschalten.
Doch ich verdränge Devons verrückte Mutter, als ich ins Innere des Wagen klettere und mit meiner Hand die Rundung des Lenkrades nachfahre.
„Hallo Baby“, gurre ich und liebkose mit den Fingerspitzen das edle Design.
Wenn Devon meine Reaktion mitbekommen würde, läge er wahrscheinlich vor Lachen auf dem Boden oder würde mich ausschimpfen, weil ich mich immer über seine Besessenheit für diesen Wagen lustig mache. Doch die Wahrheit ist, ich beneide ihn um diesen Wagen.
Ich starte den Motor und genieße den unvergleichlichen Sound des auf 294kW gebrachten Cobra Jet-V8 Motors, schalte in den Rückwärtsgang und lasse die knapp 400PS langsam aus der Garage rollen, die geschotterte Auffahrt hinunter, vorbei an meinem altersschwachen Pick up und grinse wie ein Honigkuchenpferd. Als ich rückwärts auf die Straße biege und mich umsichtig dabei umsehe, immer auf der Hut vor Gegenverkehr, lasse ich schließlich die Fenster herunter und drehe das Radio auf, bevor ich den Blinker setze und mit einem schnellen Blick in den Spiegel in den ersten Gang schalte und los fahre.
Aus den Lautsprechern tönt the Clash, als ich die steil abfallende Straße hinunter donnere und laut zur Musik mitsinge. An der T- Kreuzung gegenüber der Kirche biege ich nach rechts, am Supermarkt und am Hafen vorbei in Richtung Strand. Die Holzhäuser, an denen ich vorbei fahre sind farbenfroh in rot, weiß und teilweiße auch in gelb angestrichen und heben sich damit kontrastreich von den grün, blau und schwarzen Farben der Landschaft ab, welche sich zu Beiden Seiten des Fjordes bis zum Horizont erstrecken.

Die See liegt glatt in ihrem Bett, als ich die einsame Küstenstraße entlang donnere, den Fahrtwind im Haar und meine Lieblingsmusik im Ohr vergesse ich meine Sorgen und trete das Gaspedal durch.
Kaum fünf Minuten später erreiche ich auch schon die Tankstelle von Lillesund, welche sich nur geringfügig von unserer Tankstelle unterscheidet aber Sonntags geöffnet hat.
Vor einer der Beiden Zapfsäulen parkt ein Opel Omega, dessen Kofferraum mit allerhand Koffern, Decken und Jacken voll gestopft ist und aus dessen Gepäckträger ein paar Stangen ragen, die Ähnlichkeit mit Bohnenstangen haben, doch ich wundere mich schon lange nicht mehr über solche Nichtigkeiten. Laut dem Nummernschild ist diese Touristenschüssel aus unserer Hauptstadt Oslo zu uns gekommen und ich parke mein Auto in einem sicheren Abstand zu dem Gefährt, bevor ich Pflicht schuldigst die Fenster nach oben kurble und den Wagen zuschließe.

Im Inneren der Tankstelle ist es heiß und stickig, obgleich ein Ventilator summend für Kühlung zu sorgen versucht. Aus einem alten Radio dröhn leise rauschend November Rain von Guns and Roses, während die halblauten Stimmen der Touristen, die vor dem Regal mit Zeitschriften stehen zu mir herüber wehen. Sie scheinen gerade eine Diskussion darüber zu führen, was sie heute noch tun wollen und ich höre ihre Tochter, die wohl ungefähr fünfzehn ist, in ziemlich schnippischen Ton sagen, dass sie nicht mit Wandern gehen wird.
Ich lächle Sten, dem siebzehnjährigen Kassierer im Vorbeigehen zu, während dieser gelangweilt in einer Zeitschrift blättert und laut auf einem Kaugummi herumkaut.
„Hey“, gurre ich in meinem freundlichsten Tonfall.
Sten fährt zusammen, schlägt hektisch seine Zeitschrift zu und versucht diese ungesehen verschwinden zu lassen, doch durch seine panische Reaktion gleitet im das Hochglanzmagazin aus den Fingern, wodurch ich freien Blick auf das barbusige Covermodel eines Männermagazins habe, das mich lazessiv angrinst.
„Hi Marlen“, stottert er peinlich berührt und reißt das Magazin an sich. „Wie kann ich dir helfen?“, plappert er sichtlich entsetzt weiter, während seine Hände die Zeitschrift aufrollen und diese mit schwitzigen Fingern umklammern.
„Du siehst gut aus“, murmelt er leise und wagt es dabei nicht mich anzusehen.
„Danke“, zwitschere ich und schenke ihm ein amüsiertes Lächeln, während ich sein von Akne und Sommersprossen bedecktes Gesicht mustere. „Du könntest dich nützlich machen und mir zwei Sixpack Bier aus dem Lagerraum holen, wenn du gerade Zeit hast“, fahre ich dann ungerührt fort und greife nach der Tageszeitung, welche auf einem Stapel links vor der Kasse liegt und bunkere diese schon mal auf dem Tresen.
„Bin gleich zurück“, beeilt sich Sten zu versichern und eilt davon.
Ich lächle gelangweilt und beginne damit die Kühltheke nach Butter und Schokolade abzusuchen. Als ich mit meiner Beute zurück zur Kasse schreite und im Vorbeigehen noch eine Tüte Kartoffelchips einsacke, schwankt der lange, schlaksige Sten auch schon mit dem Bier heran. Sten ist nun wirklich keine Schönheit. Seine Arme sind zu lang, sein Oberkörper zu schmächtig, aber er ist auch nicht hässlich. Seine Haare erstrahlen in einem soliden Straßenköterblond und seine Augenfarbe ist farblich vergleichbar mit einem halbreifen Weizenfeld. Ein höchst seltsamer Mischmasch von grün und gelb. Alles in allem ein typischer, unreifer Teenager und Ilvas erste große Liebe, bis er sie für eine ihre besten Freundinnen verlassen hat. Dieser kleine Dreckskerl hat meiner süßen kleinen Schwester das Herz gebrochen!
Ich sehe ihm genervt dabei zu, wie der zu zahlende Betrag immer höher wird und ärgere mich insgeheim darüber, dass Ilva mir verboten hat ihm eine Szene zu machen.
„Mit Karte oder Bar?“, will er höflich wissen und hämmert die Preise weiter in die Kasse.
„Bar“, entgegne ich und fische aus Devon Portmonee ein paar Scheine.
Sten reicht mir schweigend das Wechselgeld. „Ich trage es dir zum Wagen.“
Kurz will ich protestieren, doch dann besinne ich mich, indem ich mir noch einmal vor Augen führe, dass man das als Teil seiner Buße zählen lassen könnte.

„Mein Auto steht an der zweiten Zapfsäule“, weise ich ihn an und gehe vorraus. Sten, der mir schwer atmend folgt seufzt erleichtert, als er die Einkäufe auf dem Beifahrersitz verstaut hat und streckt sich wieder zu voller Größe aus.
„Einen schönen Tag noch, Marlen“, verabschiedet er sich höflich.
„Dir auch“, gebe ich knapp zurück und will gerade einsteigen, als ich den schwarzen Mercedes entdecke, der die Hauptstraße entlang brettert und dabei eine Staubwolke hinter sich her zieht.
Sten lässt ein Pfeifen hören. „Alter, wie geil ist das denn! Ich glaub ich werde wahnsinnig! Ein Mercedes Benz SLR McLaren 722.“
Ich wende mich verdutzt dem Exfreund meiner kleinen Schwester zu und kneife die Augen zusammen. „Soll das was besonderes sein?“
Ich sehe wie Sten blass wird, bevor sich seine schmalen Schultern straffen und er mich mit einem strafenden Blick bedenkt. „Dieser Wagen… dieser Traum von einem Wagen hat 650PS, einen 5,5- Liter- V8- Kompressormotor, das Innendesign ist-“
„Komm zum Punkt Sten. Ich sehe nur zwei Dinge. Erstens der Wagen ist schwarz und zweitens er ist zu schnell unterwegs.“
Sten schnaubt. „Von null auf hundert in 3,6 Sekunden. Natürlich ist dieser Wagen schnell. Aber das verstehst du nicht.“
Ich schlage auf das Dach, des alten Mustangs und grinse. „Nein, wirklich nicht. Das ist wohl so ein Männerding“, damit tauche ich ins Innere ab und mache mich gemütlichen Tempos auf den Heimweg.

Devon sitzt am Küchentisch und wiegt mit höchster Konzentration den Zucker ab, während ich das Eiweiß vom Eidotter trenne und die Butter überwache, die langsam im Topf schmilzt.
„Wie hast du es eigentlich geschafft, dass die Butter zu brennen angefangen hat?“, will ich nebenbei wissen, während ich seine Zuckerschüssel von der Küchenwaage nehme und das Eigelb abwiege.
„Keine Ahnung“, meint er nachdenklich und öffnet Schokoladenpackung.
„Mach bloß die ganze Packung leer. Ich brauche Endorphine“, seufze ich und schlendere zum Herd um die zerlassene Butter von der Herdplatte zu nehmen und einen Kopf mit Wasser zu füllen.
„Das sind über vierhundert Gramm“, sagt Devon angewidert.
„Na und? Viel hilft viel. Glaub mir, ich kann jede Aufmunterung gebrauchen“, erwidere ich nur und reiche ihm ein Küchenbrett.
„Schneid dir nicht in die Finger“, ermahne ich ihn, als er das Küchenmesser zückt und damit beginnen will, die Schokolade zu zerkleinern.
Devon schenkt mir einen bösen Blick. „Danke, ich weiß, wie ich mit einem Messer umzugehen habe.“
„Das werden wir sehen. Vielleicht sollte ich dir zu deinem nächsten Geburtstag einen Verbandskasten und einen Feuerlöscher für die Küche schenken“, überlege ich grinsend, greife in die unterste Schublade neben dem Herd und ziehe einen schon leicht zerfledderten Schneebesen hervor.
„Tu was du nicht lassen kannst, aber ich will die passende sexy Krankenschwester dazu“, lacht er und wirft sich ein Stückchen der zerkleinerten dunklen Schokolade in den Rachen.
Ich verdrehe die Augen. „Idiot.“
„Miststück“, schnurrt er und reißt die Augen auf, als ich ihn im Genick packe. Er zieht seinen Kopf ein und gibt ein Glucksen von sich.
„Geh nach deinem Feuer sehen. Ich will nicht, dass ein Waldbrand ausbricht, nur weil du keine Lust hast in der Sonne zu hocken“, tadle ich ihn.
„Es muss noch runter brennen“, meint er schlicht und entwindet sich meinem Griff.
„Wenn du das so sicher weißt“, seufze ich und beginne damit das Eiweiß zu schlagen.
„Natürlich weiß ich das sicher. Ich bin ein Mann. Ich kann grillen. Wenn ich auch sonst nichts Essenswertes hinbekomme ohne Hilfe.“
Zum Eklat kommt es, als mein bester Freund doch tatsächlich die zerhackten Schokoladenstücke ins Wasser kippen will. Nachdem ich das gerade noch abgewendet habe, werfe ich ihn aus der Küche, indem ich ihm den Auftrag gebe aus Winas Haus Backpapier und die Souffléförmchen zu holen.
Als er zurück kommt, hat er nichts davon dabei, doch in seinem Schlepptau sind Adrian und Tim, denen er in dramatisierter Form von seinem Kocherlebnis erzählt und die Beide herzhaft lachen.
„Hey Marlen“, gluckst Adrian, dessen halblanges rotes Haar zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden ist und der mit einer ausgebeulten und zerschlissen Jeans und einem khakifarbenen Poloshirt hereinspaziert kommt.
„Hey Ade“, lächle ich und widme mich dann wieder meinem Eischnee, da Tim scheinbar keinerlei Interesse daran hat mich zu grüßen.
Tim sieht gut aus. Er hat ein weißes Hemd an, das er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hat und eine dunkelbraune Surfershorts. Seine Füße stecken in Flip Flops und sein Haar ist mit Gel professionell verstrubbelt. Um seinen Hals hängt ein Lederband, an dem ein durchlöcherter Fangzahn eines Wolfes baumelt. So sieht es zumindest aus, als er den Kühlschrank öffnet und seinen Kopf auf der Suche nach einem Bier hineinsteckt.
„Hey du Egoist, nimm auch noch zwei für Devon und mich mit“, grinst Adrian und lehnt sich gegen den Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich habe Wina gerade getroffen. Sie sagt ich soll dir ausrichten, dass es bei ihr später werden kann, sie ist heute Abend noch mit Ignaz verabredet“, wendet er sich an mich und kommt zum Herd herüber um seinen Finger in die Schüssel zu stecken.
Ich gebe ihm einen Klaps auf den Handrücken und scheuche ihn davon. „Das ist ekelhaft!“
Adrian grinst unschuldig und streckt seine Hände aus, um meinen Kopf zu umfassen und mir einen Schmatz auf den Mund zu drücken. „Nicht aufregen“, gurrt er.
„Ach verschwinde! Raus, alle raus. Geht über Autos und Frauen reden und lasst mich und mein Schokoladensoufflé in Frieden!“, ereifere ich mich entnervt.
Sie wollen gerade meiner Aufforderung Folge leisten, als ich Rome in der Tür stehen sehe. Semjons älterer Bruder sieht anbetungswürdig aus. Das dicke, schwarze Haar leuchtet in der Sonne, das hellblaue Shirt und die weiße Hose lassen ihn aussehen wie ein Engel.
„Morgen! Was ist denn hier los?“, will Rome neugierig wissen. „Wieso schimpfst du wie ein Rohrspatz?“
„Weshalb? Nun Devon hat sich vorhin beinahe selbst in Brand gesteckt beim Kochen und Adrian steckt seine ungewaschenen Finger einfach in den Nachtisch, während Tim schon um zehn Uhr morgens anfängt zu trinken!“, ereifere ich mich erbost während Tim und Adrian sich verkrümeln.
Romes schiefes Grinsen ist so offen begeistert, dass ich misstrauisch die Augenbrauen zusammenziehe.
„Was?“, fahre ich ihn an.
„Nichts. Du bist höchst amüsant“, murmelt er und streckt wie zuvor Adrian einfach im Vorbeigehen seinen Zeigefinger in die flüssige Schokoladenmasse und beeilt sich aus dem Haus zu flüchten.
Ich werfe Devon einen bösen Blick zu und stapfe zum Tisch um die Edelstahlschüssel mit dem abgewogenen Zucker zu holen und sie in die Butter kippe.
„Weißt du was, ich werde auch mal nach draußen verschwinden“, sagt Devon schlicht und schlendert davon.
„Männer!“, fluche ich und werfe die Hände über dem Kopf zusammen, bevor ich die Masse aus Butter und Zucker in die Schokoladenmasse gebe und versuche nicht daran zu denken, dass Semjon demnächst vielleicht auch noch auftaucht.

In meiner aufkommenden Panik, backe und koche ich weiter und versuche damit dem flauen Gefühl in der Magengegend zu entkommen. Ich will gerade den Brotteig, den ich gemacht habe auf die Veranda stellen, damit er schneller aufgeht, als ich einen Wagen heran nahen höre und halte verdutzt inne, die Schüssel in der Hand.

„Oh mein Gott“, ist alles was ich herausbringe, als der schwarze Sportwagen in die Auffahrt rollt, der vorhin an der Tanke an mir vorbei gebrettert ist. Das tiefe, zufriedene Schnurren der V8. Motors endet kurz nachdem der Wagen zum Stehen gekommen ist und ich starre, die Schüssel mit Brotteig umklammernd in Richtung des soeben eingetroffenen Gastes, der die Wagentür in einer fließenden Bewegung öffnet.
Seine Füße stecken in schwarzen Lederslippern, die sich geschmeidig aus dem Auto heben, gefolgt von langen Beinen, welche in einer schwarzen, locker sitztenden Stoffhose stecken, bevor sich der Rest von ihm aus dem Inneren des Wagens erhebt. Er trägt farblich passend zu Schuhen und Hose, ein Poloshirt und eine Sonnenbrille im Pilotenstyle. Soeben ist Semjon Cooper auf der Bildfläche erschienen. Und zwar so lässig wie es sein Faible für schwarz zulässt.
Sein Haar ist nach hinten gegelt und scheinbar mit den Fingern zerzaust worden und er sähe wirklich fantastisch aus, würde sein Gesichtsausdruck nicht davon sprechen, dass es bestimmt nicht seine Idee war hierher zu kommen und er keinen Bedarf an unserer Gesellschaft im Allgemeinen und meiner im Besonderen hat.
Kurzum, er sieht aus, als würde er zu einer Beerdigung gehen.

Er bedenkt mich nicht einmal mit einem Blick, als er ohne zu grüßen die Flügeltür seines Autos zufallen lässt und davon schlendert. Sein Wagen verriegelt sich von selbst, kaum dass er sich zwei Meter von ihm entfernt hat.
Ich fühle mich irgendwie dazu genötigt, ihn anzusprechen, doch als ich etwas heraus bringe, ist er schon fast um die Ecke der Garage verschwunden in Richtung des hinteren Teil des Gartens.
„Bist du immer so unhöflich?“
Ich sehe ihn inne halten und stelle die Schüssel auf das Geländer der Veranda, während er sich umdreht und seine Sonnenbrille von den Augen zieht.
„Ich wüsste nicht was Sie das angeht. Außerdem ist es mir neu, dass wir uns duzen.“
Ich schlucke meinen Stolz und meinen Zorn herunter, der mich bei seinen Worten überkommt und gehe die Treppenstufen herunter, dabei fällt mir auf, dass meine grasgrünen Shorts mit Mehl bedeckt sind und das weite, weiße Top, das meine Körperform vorhin noch auf das Vorteilhafteste umspielt hat an meiner schweißnassen Haut klebt, genau wie mein zum hohen Pferdeschwanz gebundenes Haar, das in meinem Nacken pappt.
Ich sehe fürchterlich aus.
„Nun, ganz wie du meinst. Ich dachte nur, wenn du mich ohne Grund beleidigst, würdest du das gerne etwas persönlicher gestalten indem du mich dabei duzt“, antworte ich spitz. „Ich wollte mich gestern nur bedanken, dass du mir vor sechzehn Jahren das Leben gerettet hast“, fahre ich fort, das Du gnadenlos beibehaltend.
„Und ich sagte dir bereits, dass es besser für dich wäre, wenn du den Mund halten würdest“, sagt er schlicht und ich sehe ihm das erste Mal direkt in die samtbraunen Augen, die er abweisend auf mich gerichtet hat, während seine Finger seine Sonnenbrille an den Kragen seines Poloshirts stecken, an dem die obersten beiden Knöpfe geöffnet sind.
„Ich will darüber aber nicht den Mund halten. Ich will danke sagen. Ich-“
„Es sei dir versichert, dass ich dies zur Kenntnis genommen habe. Schon gestern. Und nun würde ich es vorziehen, wenn du einfach still bist und mich in Frieden lassen würdest“, entgegnet er mir ernst und ich will am liebsten schreien.
„Du verstehst es nicht!“, ereifere ich mich, bevor ich mich versehe. „ Seit sechzehn Jahren warte ich darauf, dass-“
„Nein Marlen! Du verstehst es offensichtlich nicht! Was soll ich noch tun? Dich körperlich angreifen, damit du es verstehst?! Ich kann und will dich nicht in meiner Nähe haben!“
„Aber-“, protestiere ich verzweifelt und strecke die Hand aus.
„Es gibt kein aber. Es ist gefährlich in meiner Nähe. Also bleib weg von mir. Sprich nicht über mich und vergiss dass du mich je getroffen hast“, schnappt er und tritt einen Schritt zurück, bevor er den Kopf schüttelt und davon geht.

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Kapitel 7

 



Ich flüchte nach der Diskussion mit Semjon wutentbrannt ins Haus zurück und verfluche diesen schwarzgekleideten Mistkerl halblaut, während ich das Dressing für den grünen Salat anrühre.
Schließlich beginne ich damit den Tisch auf der Veranda einzudecken, das im Kühlschrank gebunkerte Null negativ in eine Glaskaraffe umzufüllen und die Servietten fachkundig zu falten.
Meine unzähligen Arbeitstage als Ferienkraft im nahegelegenen Bergener Vier-Sterne Hotel La Vague haben so schlussendlich doch noch einen Nutzen, auch wenn dieser nur darin besteht Semjon zu beeindrucken.
Als ich mit der Tafel fertig bin, wirkt sie als sei sie direkt einem Hochglanzmagazin für schöner Wohnen entsprungen. Das weiße, schwere Porzellan und der uralte, blankpolierte Kirschbaumholztisch passen perfekt zusammen, das schlichte Edelstahl Besteck ist exakt eingedeckt. Die teuren Gläser professionell positioniert und die vielen Schüsseln mit Salaten Brot und Soßen optisch ansprechend arrangiert, setze ich dem ganzen noch die Krone auf, indem ich aus Winas Vorgarten einen Strauß Blumen pflücke.
Die gelben Rosen, der rote Mandarinsalbei, die blauen Lobelien und der niedrige, violetten Gladiolen ergänzen die Tischdekoration auf das vorteilhafteste und ich trete einen Schritt zurück um mein Werk noch einmal ausgiebig zu würdigen, da die Jungs es sowieso nicht tun werden.
Genau wie ich es vorausgesehen habe, hat keiner der Jungs ein Wort des Lobes für Deko übrig. Sondern nur für das Essen.

„Lenny willst du mich heiraten?“, fragt Adrian mit vollem Mund, als er sich ein Stück des Stockbrots in den Mund geschoben hat.
„Ach stell dich hinten an Kumpel. Lenny ist schon meine Köchin“, lacht Devon und verschluckt sich an seinem Essen.
„Na das hättest du wohl gerne“, gluckse ich gelassen und drücke Devon einen Kuss auf die Wange, allein um Semjons Reaktion darauf zu beobachten, der mir gegenüber am Tisch Platz nimmt.
Seine dunklen Augen zeigen keine Reaktion, während er den Stuhl zu recht schiebt und seinen riesigen Körper zusammenfaltet um sich zu setzen.
„Und Ade, um auf deine Frage zurück zukommen. Kann ich das bitte schriftlich kriegen?“
Ade schenkt mir ein schiefes, schmatzendes Grinsen und verdreht die Augen.
„Oh was soll das heißen? Bin ich nicht gut genug oder was? Ich kann kochen, ich sehe nicht schlecht aus und ich bin nicht dumm.“
Devon klopf mir auf den Rücken, während ich mir ein Glas null negativ einschenke.
„Ja Marlen, du bist eine echte Traumfrau. Sieht man mal von der Tatsache ab, dass du zickig, stutenbissig und faul bist. Ganz zu schweigen davon, dass du grundsätzlich mindestens eine halbe Stunde zu spät kommst und so gerade heraus bist, dass du überall aneckst.“
Ich beeile mich damit, die Glaskaraffe zurück in den Kühler zu stellen und breite hilflos die Arme aus. „Danke vielmals. Findest du nicht das machen meine Vorzüge wieder wett?“, fordere ich zu wissen und nehme einen Schluck aus dem Glas.
„Hm. Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir Qendrim dazu bitten und seine Expertenmeinung dazu hören“, kontert mein bester Freund schmunzelnd.
„Qendrim? Oh, geh doch weg damit! Was für eine Geschmacksverirrung“, stöhne ich entsetzt.
„An denen scheinst du gelegentlich bis immer zu leiden. Ich meine Tyler, der-“
„Also bitte. Hör auf mich zu ärgern“, ereifere ich mich und mache ein angewidertes Gesicht. „Den Typen hast du verschuldet. Du hast mich praktisch gezwungen mit ihm auszugehen! Ich und meine Füße haben davon heute noch Alpträume und alles nur, weil du mir dieses blöde Date als Wettschuld aufgeschwätzt hast.“
„Verloren war verloren. Du musstest anständig bestraft werden, dafür dass du mir nicht glauben wolltest, dass die siebzehnte gegen die vierte Abteilung im Vampir- Rugby gewinnt.“
„Das stimmt doch überhaupt nicht. Dieser dumme Schiedsrichter war gekauft“, schnappe ich ärgerlich.
„Lenny das ist schon über drei Jahre her, wann kommst du endlich darüber hinweg?“, will Adrian wissen, während Rome so breit über seinen Teller hinweg grinst, dass es beinahe schon unheimlich ist.
Semjon hingegen scheint diese Diskussion absolut gleichgültig zu sein, denn er schanzt sich ein Steak auf den Teller und gießt sich ungerührt ein Glas Blut ein, ohne eine Miene zu verziehen.
„Nie. Ich fühle mich ungerecht behandelt. So was vergesse ich nicht“, fauche ich und schnappe mir den Brotkorb.
„Meine Güte. Du hast dich doch gerächt. Du hast ihn zum Weinen gebracht. Er hat geflennt wie ein Mädchen, nachdem du ihm die Meinung gegeigt hattest“, lächelt Devon und beißt in sein Fleischstück.
„Hab ich von dir gelernt. Immer dahin treten wo es weh tut“, bestätige ich milde gestimmt. „Wenn du mich als die Böse hinstellen willst, bitte. Was soll ich jetzt tun? Auf den Knien im Kreis robben und zehn Ave Maria beten?“
„Nun, das wäre keine schlechte Idee, aber ich bezweifle, dass du das Ave Maria auswendig kannst. Du bist doch überhaupt nicht gläubig“, stellt Devon lachend fest.
Ich schürze die Lippen. „Woher willst du das bitte wissen?“
„Ich kenne dich eben.“
„Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen“, erwidere ich nur und grinse breit.

„Lenny, du steckst voller Wunder.“
Ich zucke mit den Schultern. „Eigentlich nicht. Das kenn ich aus einem Horrorfilm, den ich mir vorgestern angeguckt habe.
Devon schüttelt nur den Kopf, während Rome lauthals los lacht, genau wie Adrian, der dabei ein paar Brotkrümel ausspuckt. Tim hingegen macht eine eiserne Mine, während ein Muskel in Semjons Wange verdächtig zuckt.
„Lenny, ich muss dir unbedingt mal meine Freundin vorstellen. Mira und du würdet euch sicherlich hervorragend verstehen.“
„Willst du Lenny gerade eine Spielkameradin andrehen?“, fragt Devon entsetzt.
„Klar will ich das. Sie gehört ja praktisch zur Familie. Um die Familie kümmert man sich und außerdem ist Marlen bestimmt nicht böse, wenn sie mal jemand anderen wie dich um sich hat. Du bist ja nun nicht gerade die beste Gesellschaft.“
„Und das kommt von jemandem wie dir“, schmunzelt mein bester Freund nur bei den Worten seines Bruders.
„Nein mal ohne Scheiß. In der wievielten Klasse der Oberstufe bist du?“, meint Rome neugierig.
„Vierten. Wieso?“, will ich verdattert wissen.
„Treffer versenkt… Ich fliege sowieso nächste Woche nach Helsinki um Mira zu besuchen. Komm doch mit und sieh es dir mal an. Devon kann ja auch mitkommen. Dann lernt ihr meine Freundin kennen und macht gleichzeitig ein bisschen Urlaub. Und vielleicht bekommst du ja dann zufällig Lust auf die St. Andrews zu wechseln.“
„Helsinki?“, meine ich verwirrt.
„Ja. Was sagt ihr?“, hakt Rome nach und sieht dabei vollkommen ernst aus.
„Ich habe zu tun mit der Werkstatt. Aber wenn du Lust hast Lenny, nur zu. Rome ist ein anständiger Kerl.“
Semjons Schnauben ist laut und grollend.
„Semjon, möchtest du mir irgendetwas sagen?“, knurrt Rome genervt.
„Ich halte es für eine schlechte Idee“, antwortet er schlicht.
„Deine Meinung ist hier aber nicht gefragt“, sagt Rome harsch und fixiert seinen Halbbruder mit zusammengekniffen Augen.
„Das ist sie vielleicht nicht. Aber ich habe wohl ein Mitspracherecht was-“
„Semjon. Die letzte Entscheidungsgewalt in dieser Familie liegt bei mir. Komm nicht auf die Idee meine Entscheidung in Frage zu stellen.“
„Wenn ich denke du machst einen Fehler, dann habe ich durchaus das Recht nein zu sagen. Also mach dich nicht lächerlich indem du mir den Mund verbietest, Rome“, antwortet Semjon ihm eisig.
„Ich bin nicht in der Laune deine verworrenen Ansichten zu diskutieren“, schnappt Rome und ich nehme mit Erschrecken wahr, wie die Laune am Tisch ins Bodenlose gerutscht ist.
„Daran gibt es nichts zu diskutieren.“
„Mir ist neu, dass du überhaupt zu irgendetwas eine Meinung hast, kleiner Bruder. Und es ist mir auch absolut gleich.“
„Sei nicht so selbstgefällig. Nur weil du der Ältere bist, macht dich das nicht unfehlbar“, erwidert er langsam.
„Das vielleicht nicht, aber ich muss mich auch nicht an die Freundin meines Bruders heran machen“, schnappt Rome. Seine Augen sprühen beinahe Funken, was mich ziemlich unruhig werden lässt.
„Ich fahre sie zur Schule. Das ist alles. Mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn es bei euch nicht gut läuft“, sagt er unterkühlt und legt seine Unterarme auf der Stuhllehne ab.
„Wieso tust du dann etwas für sie, wenn da nichts läuft?“, will Rome vollkommen außer sich wissen.
„Sie ist die Schwester meines besten Freundes“, antwortet Semjon ihm so ehrlich verwirrt, dass ich ihm das ohne jeden Zweifel abkaufe.
„Oh natürlich. Wer soll dir das glauben? Christobal Casey ist bestimmt nicht dein bester Freund. Er ist ein Dunkler! Laut Mira ist er sogar der Boss der Dunklen! Weshalb sollte er mit dir befreundet sein? Dir. Einem Kleinkriminellen.“
Ich habe Semjon noch nie Lachen hören. Es ist erschreckend. Tief, laut und zornig. „Ich beneide dich manchmal wirklich um dein Talent deinen Verstand so vollständig auszuschalten. Du hältst mich tatsächlich für einen absoluten Versager, oder? Beeindruckend.“
„Leute, ich muss weg. Ich habe vollkommen vergessen, dass ich noch etwas zu erledigen habe“, entschuldigt sich Tim hektisch und auch Adrian erhebt sich.
„War nett, danke fürs Essen, aber ich muss auch los“, seufzt Adrian und wirft Devon und mir einen ziemlich besorgten Blick zu.
Ich nicke nur, während Devon ungerührt ein „Bis bald“, in ihre Richtung wirft und einen Arm hinter mich auf die Bank legt.
„Klasse Semjon. Wie immer hast du es geschafft, die Gäste zu vertreiben“, meint Rome erzürnt.
„Ich würde sagen, das habt ihr Beide zu verantworten“, mische ich mich ein, da ich es ziemlich unfair von Rome finde, Semjon nicht nur zu beleidigen und zu bevormunden, sondern auch noch die Schuld an etwas zu geben, an dem er ebenfalls erheblichen Anteil hat.
Rome und Semjon sehen mich Beide an. Und diesmal kann ich Semjons Gesichtsausdruck deuten. Er ist erstaunt. Seine Augenbrauen sind in die Höhe gezogen und seine braunen Augen sind auf mich gerichtet.
Bis jetzt habe ich seine Augenfarbe gar nicht richtig wahrgenommen. Doch jetzt, wo diese Opale mich anstarren, bin ich wie paralysiert. Sie sind braun. Er ist ein Vampir. Seine Augenfarbe müsste rot sein. Oder aber blau, wenn er wie ich auch, zu den wenigen gehören würde, die mit dieser seltenen Veranlagung geboren wurden. Aber braun, beinahe schwarze Augen bei einem Vampir- das ist wieder die Natur!
Semjons Blick streicht langsam wie dickflüssiger Sirup über mein Gesicht, bevor er sich Rome zuwendet.

„Vielleicht ist es an der Zeit eines klar zu stellen. Ich bin niemand, der sich etwas von dir vorschreiben lässt Rome. Ich bin weder kriminell oder auf sonst eine Art dieser Familie unwürdig“, sagt Semjon schlicht. „Und wenn du es irgendwann schaffst, über den Rand deiner Welt hinaus zu blicken, wirst du feststellen, dass nicht Christobal Boss der Dunklen ist. Er ist nur der offizielle Kopf unserer Abteilung. Ich bin derjenige dem er untersteht. Ich bin derjenige dem er Frage und Antwort stehen muss. Also verzeih, wenn ich es wage meine Meinung kund zu tun was Marlen angeht. Aber du hast keine Ahnung, was sie angeht. Sie ist keine Puppe, die du deiner Freundin mitbringen kannst. Marlen hat in ihrem Leben wirklich genug erleben müssen. Ich will nicht, dass sie erneut in etwas Derartiges hineingerät.“
Ich bin sprachlos. Genau wie die anderen drei. Semjon ist der Boss der Dunklen? Der Boss der siebenundzwanzigsten Abteilung? Derjenige, der darüber wacht, dass das Gesetz unserer Gesellschaft gewahrt wird und diejenigen, die sich nicht daran halten zur Verantwortung gezogen werden? Der Mächtigste all jener, deren Namen man nur mit Ehrfurcht ausspricht? Semjon Cooper ist der Boss unserer “Polizei“. Das ist eine Information, an der ich zu kauen habe.

„Du erinnerst dich also an mich?“, kommt es mir nach einiger Zeit der Stille leise über die Lippen.
„Marlen. Glaub mir ich habe einiges gesehen. Und an das kleine Ding, das ich als einzige Überlebende aus diesem abartigen Schlachthaus retten konnte, daran erinnere ich mich ohne jeden Zweifel. Ich werde nicht zulassen, dass dich Rome oder sonst jemand in Gefahr bringt, nur weil er sich davon verspricht, seiner Freundin ein Gefallen zu tun. Denn wir haben diese Schweine nie gefasst, die dir und den anderen das damals angetan haben. Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich fürchte sogar, dass exakt das, was man euch damals angetan hat, wieder passiert, denn in letzter Zeit häufen sich gewisse Vorfälle. Vorfälle die daraufhin deuten, dass man an denjenigen Rache üben will, die damals an den Ermittlungen beteiligt waren. Zwei meiner Leute die damals bei dem Einsatz beteiligt waren, wurden angeschossen, ein anderer ist verschwunden, genau wie diverse Kinder und drei Vampirinnen.“
Mir ist schlecht. Mir ist schlecht und am Liebsten würde ich mich über den Tisch auf Semjon stürzen und mich an ihn krallen.
„Es tut mir ... Ich habe mich hinreißen lassen. Es stand mir nicht zu darüber vor Devon und Rome zu sprechen.“ Semjons Lippen sind zu einem Strich verzogen und er senkt den Kopf, wie zur Entschuldigung.

„Entschuldigt mich“, presse ich hervor, bevor ich vom Tisch aufstehe und auf Klo stürze um mich zu übergeben.
Da ich heute bis auf einen Kaffee und einen Schluck Blut eben nichts gegessen habe, würge ich nur Magensäure hervor, doch ich kauere eine schiere Ewigkeit auf den weißen Fließen, bevor sich mein Magen soweit beruhigt hat, dass ich es wage mich nach hinten gegen die geflieste Wand sinken zu lassen, die eine angenehme Wärme abstrahlt. Die Hände schützend um die Knie geschlungen, schließe ich die Augen und versuche nicht an das zu denken, was Semjons Worte gerade heraufbeschworen haben.
Doch die Bilder strömen unaufhörlich auf mich ein, gemischt mit dem entsetzlichen Gefühl von Panik und dem Ausgeliefert sein: Der Angst, der Schreie, den blutenden Körpern und den leeren, toten Augen. Und auch dem entsetzlichen Ausdruck des Wahnsinns in dem Gesicht dieser Vampirin, die mich Nacht für Nacht in meinen Alpträumen verfolgt.
„Es ist vorüber“, wispere ich leise.
Doch Semjons Worte lassen diese beruhigende Floskel wie Hohn klingen. Es ist eben scheinbar nicht vorbei. Er sagte, es fängt wieder an. Es hat schon angefangen!
„Oh Gott“, entkommt es mir zitternd.
Ich höre es irgendwann klopfen und hebe den Kopf, als die Tür aufgestoßen wird. Ich rechne damit, mich meinem besten Freund gegenüber zu sehen, doch er ist es nicht, der in der Türschwelle steht. Es ist Semjon.
„Es tut mir Leid, Marlen“, bringt er nach schließlich hervor und schließt die Tür hinter sich. „Ich hätte nichts darüber sagen sollen.“
„Ich... Panik“, erwidere ich verzweifelt und unzusammenhängend.
„Das musst du nicht haben. Dir wird nichts passieren. Ich werde das ein für alle Mal beenden“, antwortet er, als er unvermittelt vor mir steht. „Ich wollte dir keine Angst einjagen.“
„Ach ja? Wie bitte willst du es beenden, wenn du seit sechzehn Jahren nach den Schuldigen suchst? Du scheinst keinen großen Erfolg dabei zu haben!“, schreie ich ihn an.
„Damals sind wir davon ausgegangen, dass die Täter unter den Opfern waren. Von diesen Vorfällen wurde mir erst vor ein paar Tagen berichtet. Ich werde sie dran kriegen. Das verspreche ich dir“, knurrt er und lehnt sich gegen das Waschbecken. Er sieht aus wie der leibhaftige Teufel, wie er die Arme auf das Keramikbecken stützt und sie durchdrückt, während er den Kopf in den Nacken gelegt hat.
„Ist das der Grund, weshalb du nicht willst, dass ich mit dir rede? Weil sie mich nicht finden sollen? Wieso zum Teufel bist du dann hier?“, fordere ich laut zu wissen, doch ich weiß ich muss kläglich aussehen, wie ich wie Espenlaub zitternd auf dem Boden kauere.
„Ich habe gerade mit Devon und Rome über diese Sache gesprochen. Sie werden dich nichts mehr zu diesem Thema fragen. Es tut mir Leid, dass ich mich habe hinreißen lassen Rome über den Mund zu fahren und dich da hineingezogen habe“, weicht er mir aus.
Seine tiefe, raue Stimme vibriert in meinem Magen und ich sehe zu ihm hoch.
„Du magst mich doch nicht mal. Es besteht kein Grund sich zu entschuldigen“, entgegne ich mit träger Zunge.
„Ich kenne dich nicht. Ich bin nicht gut in Zwischenmenschlichen Dingen. Deshalb merke ich meist nicht, wenn ich mich wie ein Arschloch aufführe. Wenn du es unbedingt wissen musst, weshalb ich hier bin… ich wollte sehen ob du in Sicherheit bist. Ob jemand auf dich Acht gibt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du mich erkennen würdest“, antwortet er mir nach kurzem Zögern. „Aber wie ich feststellen musste, hast du zwar das Herz meines Halbbruders Devon erobert, aber er ist nicht allein in der Lage dich zu beschützen. Und dessen ist er sich offenbar bewusst. Er hat mich gefragt, ob ich es nicht in Erwägung ziehen würde, dich in nächster Zeit im Auge zu behalten.“
„Was soll das heißen?“, hake ich unsicher nach.
„Das soll heißen, dass mir wohl keine andere Möglichkeit bleibt, solange wie diese Leute nicht geschnappt sind, auf dich aufzupassen“, entgegnet er mir stockend.
„Hier?“
„Helsinki“, knurrt er finster.
„Was ist damit, dass ich mich von dir fern halten soll?“, hake ich unglücklich nach.
„Devon hat mich darum gebeten auf dich aufzupassen. Und auch wenn das nicht meinen Plänen entsprach, so werde ich seine Bitte erfüllen. Wenn ich könnte, würde dir ja anbieten, ein paar meiner Leute hier her zu schicken, aber ich kann zur Zeit einfach niemand halbwegs fähigen entbehren.“
„Meinst du das ernst?“, entkommt es mir leise.
Semjons Mienenspiel ist undeutbar, bevor er unmerklich nickt. „Ich fliege übermorgen. Du wirst mitkommen.“

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Kapitel 8

 



Semjon ist nach seiner Mitteilung verschwunden und ich sitze noch immer im brütend heißen Badezimmer und will am liebsten meinen Kopf gegen die Wand schlagen. Doch dazu müsste ich aufhören zu zittern und wieder die Kontrolle über meinen Körper bekommen.
Ich stehe noch immer unter Schock und Devons Bitte an Semjon auf mich Aufzupassen finde ich auf der einen Seite fürchterlich süß, doch auf der anderen Seite wehrt sich ein nicht unwesentlicher Teil meines Wesens gegen diese Bevormundung.
Natürlich bin ich irgendwo froh darüber, dass man auf mich aufpasst und sichergehen will, dass mir nichts geschieht aber das alles über meinen Kopf hinweg zu entscheiden, das macht mich wütend. Wenn Devon sonst irgendwelche Bedenken hat, dann redet er zuerst mit mir darüber nicht mit Rome und auch nicht mit Semjon. Wieso also maßt sich mein bester Freund plötzlich an, für mich zu antworten, ohne überhaupt darüber mit mir gesprochen zu haben?
Schließlich schaffe ich es auf die Beine zu kommen und zum Tisch zurück zukehren. Doch dort sitzen nur noch Rome und Devon. Semjon ist verschwunden.
„Hat er mit dir gesprochen?“, fragt Devon schlicht und fixiert mich nachdenklich, als ich mich neben ihn setze.
„Ja. Hat er. Und auch wenn ich es durchaus nachvollziehen kann, weshalb du diese Bitte an Semjon herangetragen hast, will mir nicht in den Sinn weshalb du darüber nicht vorher mit mir gesprochen hast“, antworte ich ihm ziemlich angefressen.
„Es war nur eine einfache Frage. Eigentlich hatte ich nicht einmal erwartet, dass ich eine Antwort bekommen würde. Doch wie es scheint, nimmt Semjon seinen Job und die damit verbundene Verantwortung durchaus sehr ernst“, seufzt Devon.
„Das tut er wohl“, bringe ich mit einem Kloß im Hals heraus. „ Aber ich will hier nicht weg. Ich kenne niemanden in Helsinki! Niemanden außer Rome und Semjon. Und du Rome, wirst mit deiner Freundin beschäftigt sein und Semjon ist nicht gerade ein Sonnenschein. Ich will nicht bei ihm bleiben und jeden Tag seine Launen aushalten müssen“, ereifere ich mich niedergeschlagen.
„Nun, damit wirst du leben müssen“, vernehme ich die eisige Stimme Semjons hinter mir.
Ich fahre ertappt zu ihm herum.
Er hält ein Blackberry in den Händen und scheint soeben aus dem Inneren des Hauses nach draußen getreten zu sein. Seine Miene ist verschlossen und der Zug seinen Mund hart.
„Ich- es tut mir Leid. Ich habe es nicht so gemeint“, bringe ich unsicher heraus.
„Entschuldige dich niemals für etwas, wenn du es nicht so meinst“, sagt er schlicht und nickt uns zu. „Ich habe noch etwas zu erledigen.“
Damit schlendert er die Stufen herab und setzt sich lässig seine Sonnenbrille auf.
„Was zur Hölle war das?“, schnaubt Rome.
„Scheint mir, als wäre er angepisst“, meint Devon mit einem Schulterzucken. „Aber wer weiß das schon so genau.“
Ich sehe Semjon nach. Gestern noch wäre ich vor Freude in die Luft gesprungen meinen Retter begleiten zu dürfen. Doch irgendwie hat ein Tag gereicht um mich auf den Boden der Tatsachen zu holen. Und mehr als alles andere ist dies frustrierend. Sechzehn Jahre der albernen Träumerei von einem einzigen Tag in der Realität weggewischt als hätten sie nie existiert.
„Du siehst so nachdenklich aus Lenny, ist alles okay?“, hakt Devon besorgt nach und lässt seine Hand auf mein Knie sinken.
„Sicher“, murmle ich niedergeschlagen. „Ich geh runter zu Hafen, Wina die Neuigkeiten berichten. Sie wird davon erfahren wollen.“
Devon nickt und beißt sich auf die Unterlippe. „Soll ich dich fahren?“
„Nicht notwendig. Ich laufe“, entgegne ich ihm um verabschiede mich mit einem Lächeln von Rome.
Wina hat die Neuigkeiten eigentlich relativ gut aufgenommen. Sogar besser als gut, denn irgendwie hat sich in ihrem Kopf die Idee eingebrannt, dass dieser „erzwungene Urlaub“ in Helsinki meinen Manieren nützen würde und ich die Chance bekommen würde, vielleicht einen anständigen Jungen kennen zulernen. Ich weiß weder wie sie darauf kommt, dass meine Manieren miserabel sind noch wie so darauf kommt, dass ich überhaupt irgendjemanden kennen lernen werde. Geschweige denn jemand der nicht Winas Missfalles erregen würde. Komischerweise allerdings scheinen für Wina Rome und Semjon okay zu sein. Obwohl hauptsächlich sind die Beiden wahrscheinlich okay für sie, weil sie Devons Brüder sind und Devon für Wina wie ein Sohn ist.
Sie impft mir noch einmal ein bloß höflich zu sein.

Ich habe die fragwürdige Ehre bei Semjon mitzufahren, da Rome mit einen früheren Flug genommen hat. Scheinbar konnte er es gar nicht erwarten von seinem Halbbruder los zu kommen, etwas das ich zwar irgendwo nachvollziehen kann, doch es ist auch ohne Zweifel ziemlich unhöflich von ihm.

Semjons traumhafter, schwarzer Wagen rollt kurz vor neun unsere geschotterte Auffahrt nach oben und ich erhebe mich von der Hollywoodschaukel auf der ich gemeinsam mit Wina gewartet habe. Devon, welcher an der Hauswand lehnt, stößt sich mit der Schulter ab und strafft die Schultern, als Semjon aus dem Inneren seines Autos auftaucht.
„Er sieht auf eine sehr düstere Weise, sehr attraktiv aus“, murmelt Wina in meine Richtung, als Semjon und Devon sich die Hände schütteln.
Insgeheim kann ich Wina nur aus vollstem Herzen zustimmen.

Gott, ich könnte Devon umbringen! Dabei ist es mir vollkommen egal, dass er nur das Beste für mich will. Ich habe Sommerferien. Ich wollte die Zeit mit Nichtstun vertrödeln, nicht zum Nichtstun verdonnert werden!
Wenn Semjon etwas mehr so wäre, wie ich ihn mir sechzehn Jahre lang vorgestellt habe, dann würde ich begeistert mitkommen. Doch so ist es einfach nur gruselig. Ich fliege nach Helsinki, mit einem Mann der mich nicht ausstehen kann aber der versprochen hat mich zu beschützen. Das ist absolut krank. Komischerweise mache ich mir nach dem ersten Schock keinerlei Sorgen darum, dass man mir etwas antun könnte.
Niemand kann ernsthaft so dumm sein sich mit Semjon anzulegen und mit der siebenundzwanzigsten Abteilung. Mein Retter scheint mir niemand zu sein, den man einschüchtern kann oder der sich zu leichtfertigen Entscheidungen hinreißen lässt.
Rome entspricht da mehr meinem Naturell, laut, starrsinnig und temperamentvoll. Wahrscheinlich wäre er es gewesen, der mir aufgefallen wäre. Allein schon auf Grund seines Organs und seines seltsamen Humors. Semjon hingegen, nun er gehört wohl eher zum Typ düsterer Einzelgänger, von dem man zwar nicht den Blick abwenden kann, weil er eine morbide Faszination ausstrahlt und schlichtweg umwerfend aussieht, aber vorsichtshalber drei Schritte zurück tritt, wenn er in einen Raum kommt.
Genau wie jetzt.
Wina rührt sich nicht von der Stelle und ich merke, wie ich leicht zurückweiche, als Semjon wie aus dem Ei gepellt in einem tiefschwarzen, maßgeschneiderten Anzug am Fuße der Treppe stehen bleibt.
„Morgen, Semjon“, knurrt Devon und kommt ihm als einziger von uns entgegen und schüttelt ihm die Hand. „Ich hole Marlens Zeug. Ich hoffe der Kram passt überhaupt in dein Auto. Sie scheint ihren gesamten Kleiderschrank eingepackt zu haben.“
„Tu das“, erwidert er ohne ein Wort der Begrüßung, bevor er sich mir zuwendet. „Hast du deinen Pass?“, will er kühl wissen und legt den Kopf schief.
Ich bin noch immer nicht sonderlich sprachgewandt wenn es darum geht Semjon auf Fragen zu antworten.
„Ja“, bringe ich nur heraus und starre auf meine Zehenspitzen, die in korallenroten High Heels stecken. Ich hätte mir irgendetwas anderes anziehen sollen. Etwas, das sich nicht so krass von seinem Schwarz abweicht. Vor allem aber hätte ich dieses weiße Kleid im Empirestil nicht anziehen sollen, das knapp über den Knien endet, einen tiefen V- Ausschnitt und diese albernen Stickereien am Saum hat. Das luftige aber sexy Sommerkleid schreit regelrecht nach einer weiteren Bekundung seinerseits, wie wenig er meine Vorzüge zu schätzen weiß. Mit einem Mal fühle ich mich, als stünde ich nackt vor ihm, oder wahlweise in meiner farblich zu meinem Schuhwerk passenden Dessous.
Unruhig spiele ich mit meinen Fingern an meinen Holzarmreifen herum und beiße mir auf die Unterlippe. Die korallenrote dünne Strickjacke, die über meiner überdimensionalen, braunen Ledertasche drapiert ist, lächelt mich höhnisch an, während ich nicht wage den Blick zu heben.
„Vielen Dank nochmals, dass Sie auf meine Kleine aufpassen werden“, sagt da plötzlich Wina und schlingt einen Arm um meine Schultern. „Ich hoffe sehr, Sie wird ihnen keinen Ärger machen.“
„Wir werden schon zurechtkommen“, entgegnet Semjon ihr zu meinem Erstaunen äußerst höflich.
Und endlich kommt Devon aus dem Haus. Schwer bepackt mit drei Koffern und einem Seesack.
Ich sehe den Blick, den Semjon zuerst meinem Gepäck und dann mir zuwirft nur aus den Augenwinkeln, doch selbst das reicht um zu erkennen, dass er erstaunt ist.
„Ist das alles?“, fragt er da auch schon und fixiert Devon nachdenklich.
„Jupp“, knurrt mein bester Freund, während Semjon zu seinem Auto zurück geht. „Das reicht ja auch wohl.“
Ich sehe wie sich Semjons Körper zu einem Schulterzucken durchringt und sehe Wina unglücklich an. „Ich glaube, es ist Zeit sich zu verabschieden.“
Wina schenkt mir ein Lächeln und dirigiert mich die Stufen herunter. „Das ist es wohl meine Süße.“

Ich heule noch, als wir knapp fünfzig Kilometer vor Bergen sind. Bis jetzt hat Semjon kein Ton gesagt, und im Auto ist es vollkommen still. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren und lässt den Wagen bei einundzwanzig Grad zu Eis erstarren. Die Tränen, die über meine Wangen rollen kommen nicht nur vom Abschied von Devon und Wina, sondern auch davon, dass Semjons raumgreifende Anwesenheit mir höllischen Respekt einflößt.
„Ich rauche“, knurrt es plötzlich vom Fahrersitz herüber und ich wage es meinen Blick, der die ganze Zeit auf der Landschaft, die am Fenster vorbeifliegt geruht hat zu ihm herüber wandern zu lassen. Semjon hat eine Kippe im Mundwinkel hängen und lässt ein schweres, silbernes Feuerzeug aufschnappen, das ihm sofort eine Flamme präsentiert.
Ich schaffe es zu nicken, da es nur eine schlichte Feststellung seiner Seite ist auf die er wohl keine Antwort erwartet.
„Ich nicht“, entkommt es mir langsam, während er abascht. Die Worte fließen aus meinem Mund nur um nicht wieder in die Verlegenheit zu kommen diese Stille noch länger ertragen zu müssen. In nächster Zeit werde ich mit ihm klar kommen müssen. „Und ich mag es auch nicht. Es stinkt und es schmeckt widerlich.“
Ich spüre seinen kurzen Seitenblick strafend auf mir ruhen und hebe den Blick um ihm in die Augen zu sehen, doch Semjon hat sich schon wieder abgewandt. Zu meinem Erstaunen drückt er die Zigarette aus.
„Klasse“, murmelt er beißt sich auf die Innenseite seiner glattrasierten Wange.
„Du musst nicht-“, fange ich bedröppelt an.
„Es stört dich. Also werde ich es im Auto lassen, direkt neben dir“, unterbricht er mich harsch.
„Danke. Aber es ist dein Wagen. Der Fahrer bestimmt die Musik“, meine ich entschuldigend.
„Ich höre keine Musik beim Autofahren“, entgegnet er mir scheinbar verwirrt.
„Oder eben das“, sage ich leise. „ Ganz nebenbei bist du der Erste, den ich kenne, der das nicht tut.“
Semjons dunkelbraune Augen wandern zum Armaturenbrett und dann zu mir. „Man überhört dabei Dinge, die vielleicht wichtig wären. Ich mag keine Ablenkungen.“
„Hm. Ich mag es gerne laut. Es gibt nichts über guten, alten Rock der einem laut aus den Lautsprechern entgegenschlägt, während man über eine einsame Landstraße rast“, lächle ich unsicher.
„Dann hör ihn auf einem MP3 Player“, murmelt er und fixiert die Straße ungerührt.
Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Rock auf einem MP3 Player zu hören ist eine Vergewaltigung des guten Geschmacks“, murmle ich erzürnt.


Mit dieser Aussage endet unsere Konversation bis Helsinki. Denn ich habe beschlossen, diesem Kerl, der meine Musik in einen MP3 Player stecken wollte keine weitere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Obgleich es mir selbst gegenüber schwer war, dieses Versprechen einzuhalten, als er mich mit einem Privatjet überrumpelt hat. Doch meine Anerkennung habe ich in ein schlichtes Kopfnicken verpackt und nur innerlich hyperventiliert und mich schnellst möglich in den Sitz der am weitesten von ihm entfernt war, verkrochen und mich mit einem meiner zahllosen Stolz und Vorurteil Exemplaren beschäftigt, nachdem ich dem Buch schlussendlich doch verziehen habe meine Kleinmädchenfantasien beflügelt zu haben.

Doch als Semjon und ich durch die Ankunftshalle des Flughafens gehen, durchzuckt mich ein Gedankenblitz ganz unvermittelt.
„Wo ist das Gepäck?“, entkommt es mir panisch.
„Im Wagen. Doch der muss erst durch die Sicherheitskontrolle“, bekomme ich prompt die eisige Antwort. „Wir werden abgeholt.“
„Von wem?“, hake ich nach.
Semjon nickt nur in Richtung des Ausgangs wo die wohl schönste Frau steht, die ich je gesehen habe und daneben ihr männliches Ebenbild.
„Hey Semjon!“, höre ich sie da auch schon rufen und schenkt ihm ein umwerfendes Lächeln, das zwei perfekte, weiße Zahnreihen zeigt. Ihre hohen Wagenknochen werden von ihrem langen, perfekt gelockten Haar umspielt, die glänzend um ihre Schultern fallen. Ihre anmuten Rundungen sind in ein schlichtes, hellblaues Bandeaukleid gehüllt, das wie eine zweite Haut sitzt und ihre Beine endlos erscheinen lässt. Erst als wir näher kommen, erkenne ich, dass ihre Augen in einem tiefen, durchdringenden Blau strahlen, das noch von langen Wimpern betont wird.
Ich gebe zu, mich durchzuckt ein Stich der Eifersucht, als Semjon ihr Lächeln erwidert.
Der Mann der neben ihr steht ist nicht weniger beeindruckend, sehr viel größer als sie, kantig und austrainiert, grinst er schief. Sein Haar hat den gleichen Farbton, wie der seiner Begleiterin, ist kurz geschnitten und betont genau wie sein schwarzer Anzug einen teuren Lebensstil.
„Morgen“, höre ich Semjon sagen, als ich nur noch ein paar Schritte entfernt sind.
„Hey“, höre ich den unverschämt attraktiven Kerl antworten, während die Frau Semjon kurz an sich drückt, was dieser nicht erwidert.
Das finde ich gut.... irgendwie.
„Christobal“, sagt Semjon stattdessen und ich werde Zeuge eines mich sehr verwunderten Schauspiels, als die Beiden riesigen Männer sich die Hände schütteln und sich ein flapsiges Schulterklopfen verpassen.
„Mira, Christobal, das ist Marlen Jacobson. Marlen, das ist Christobal Casey und das hier ist Mira Blue, seine Schwester“, stellt uns Semjon einander vor, als er sich zu mir umdreht.
„Freut mich sehr, Marlen“, lächelt mir der riesige Christobal entgegen und mir fällt auf, dass auch er blaue Augen hat. Sie sind von beinahe stechendem Blau, wie die eines Huskeys. Sei lassen seinen kantigen Unterkiefer und die perfekte römische Nase, genau wie den Rest von ihm wie ein Raubtier wirken. Wie ein Raubtier, dem offensichtlich gefällt, was es sieht.
„Ebenfalls“, entgegne ich mit einem strahlenden Lächeln, als er meine Hand ergreift. Seine Handfläche ist glatt und trocken, als er mir einen kräftigen, aber nicht brutalen Händedruck schenkt.
„Hey Marlen, Rome hat von dir erzählt. Ich bin Mira!“, grinst da auch schon seine Schwester und mir fällt schlagartig ein, woher ich den Namen kenne.
Sie ist Romes Freundin!
„Die berühmte Mira. Freut mich ebenso“, bringe ich heraus und schüttle auch ihre Hand. „Dein Freund meinte, wir Beide würden wie die Faust aufs Auge passen“, grinse ich ehrlich, da ich Rome ins Herz geschlossen habe und sie ganz nett wirkt.
„Schon möglich. Ausprobieren will ich das aber nicht. Also das mit der Faust aufs Auge“, gluckst sie fröhlich, bevor sie mir einen kritischen Blick schenkt. „Ich könnte wetten, unser Charmebolzen Semjon war mal wieder die Unfreundlichkeit in Person. Aber mach dir nichts daraus. Er ist immer so. Man gewöhnt sich irgendwann daran.“
„Er ist ganz okay“, erwidere ich verdutzt.
Miras Blick ist erstaunt. „Es besteht also noch Hoffnung? Ich bin erstaunt. Als ich ihn kennengelernt habe, haben wir uns nicht weniger als zwei Wochen angeschwiegen.“
„Nein. Ich habe geschrien. Wir hatten einen tollen Start“, grinse ich breit und sehe zu Semjon hoch. Ich reiche ihm nicht einmal bis zum Kinn auf meinen acht Zentimeter hohen Hacken, deshalb muss ich den Kopf in den Nacken legen.
Sein Blick ist böse.
„Naja, ich habe mir den Ellbogen angeschlagen, als er nach seinem Bruder gefragt hat“, füge ich pflichtschuldigst an.
„Er hat dich zu Tode erschreckt?“, grinst Christobal. „Die Wirkung hat er auf die Meisten.“
„Ja, weil er immer mit todernster Miene durch die Gegend läuft und immer nur schwarz trägt“, stimmt Mira ihrem Bruder zu. „Sei ganz ehrlich. Ich habe versucht mir Semjon im Urlaub vorzustellen, aber auch seine Freizeitklamotten sind-“
„Schwarz“, beende ich ihren Satz.
Semjon räuspert sich, wohl zur Erinnerung, dass er sehr wohl daneben steht.
„Du bist unmöglich“, lächelt Mira Semjon an und aus ihrem Gesicht spricht ehrliche Zuneigung für meinen Retter. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, es gibt auch noch andere Farben?“
„Ja. Können wir jetzt los?“, wechselt Semjon das Thema.
„Sicher. Ich stehe sowieso im Parkverbot“, entgegnet Christobal und schenkt mir ein Lächeln, während sein Blick über mein Gesicht langsam tiefer wandert.
„Risto heb dir das flirten für später auf“, fährt Mira ihren Bruder an und gibt ihm einen Knuff in die Seite. „Lass die Beiden erst einmal ihr Zeug verstauen. Morgen hast du noch genug Zeit Marlen schöne Augen zu machen.“
„Ich flirte nicht“, stellt ihr Bruder scheinbar leicht verschnupft fest und ich muss grinsen.
Oh doch. Das tut er und ich finde es toll. Er gefällt mir.
„Wie auch immer. Lasst uns gehen“, sagt Mira schlicht.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 9

 



Die Fahrt ist ziemlich schweigsam. Mira, die neben mir auf der Rückbank sitzt, ist scheinbar beleidigt, weil Semjon und auch Christobal ihr untersagt haben mich zu Semjon zu begleiten und sie bei irgendeiner Freundin von ihr absetzen.
Und weder Semjon noch Christobal scheinen ein Problem mit der vorherrschenden Stille zu haben, als sie Mira haben aussteigen lassen.

So beobachte ich die vorbeifliegenden Straßenzüge mit einem mulmigen Gefühl und setzte mich stocksteif auf, als das Auto sich in einem besonders noblen Ortsteil Helsinkis verlangsamt.
Hier stehen die Häuser dicht an dicht, Häuser im Jugendstil und zu Loftwohnungen umgebaute alte Lagerhäuser.
Christobal setzt vor einem der Backsteingebäude den Blinker und fährt in die Tiefgarage, die unter ein hohes Gebäude gebaut ist, das von außen wie eine Fabrikhalle wirkt.
„Man sieht sich. Viel Spaß euch Beiden. Ich werde Mira abholen“, verabschiedet sich Christobal mit einem Lächeln.
„Tu das“, sagt Semjon schlicht, bevor er aussteigt und ums Auto herum geht um mir die Tür zu öffnen. „Komm mit.“


„Sehr modern“, ist alles als ich hervorbringe, als Semjon und ich aus dem Aufzug steigen und vor einer Backsteinmauer stehen, in die eine riesige Stahltür eingelassen ist.
Semjon wirft mir einen verwirrten Seitenblick zu, während er seinen Schlüssel zückt. „Wenn es dir nicht gefällt, finden wir einen anderen Platz wo du unterkommen kannst, solange du hier bist.“
Ich seufze, als ich das Schloss klicken höre und er die Tür zur Seite schiebt. „Verflucht.“
„Es gefällt dir nicht?“
„Dass hatte das verflucht nicht zu bedeuten. Es ist wow“, hauche ich andächtig und trete ein.
Wie Semjon wohnt, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Doch nun, wo ich in der wohl abgefahrensten Diele stehe, die ich je gesehen habe, bin ich von den Socken. Sie ist riesig. Der Industriecharme des Hauses ist hier, im obersten Stockwerk noch deutlicher, als es von unten erschien. Die Diele ist beinahe dreißig Meter lang, mit dunklem Parkett ausgelegt und zur linken Seite erstreckt sich eine dramatische Front aus bodentiefen Rundfenstern, die alle paar Meter die Backsteinmauern durchbrechen und deren Holzrahmen im gleichen Ton gehalten ist wie der Boden. Die sechs Meter hohe Balkendecke lässt den Raum noch dramatischer Wirken, genau wie die eingezogenen, weißen Trennwände, welche nicht bis zur Decke reichen und von einander leicht versetzt die Abgrenzung zum restlichen Raum darstellen, den ich kaum erwarten kann zu sehen. Bis jetzt liegt in meinem Blickfeld nur eine weiße, siebziger Jahre Bar, vor der drei Barhocker stehen und auf dessen Tresen sich leere Bierflaschen sammeln. An der Wand dahinter ist halb verdeckt, ein langgestreckter Kamin zu erahnen, vor dem ein naturfarbener riesiger Teppich ausgelegt ist.
„Ich liebe es“, seufze ich hingerissen und sehe zu Semjon, der gerade hinter uns die Tür ins Schloss fallen lässt.
„Zeigst du mir den Rest?“
Semjon zieht eine Augenbraue nach oben, als sein Blick von mir auf die Bar fällt. „Offensichtlich ist es nicht aufgeräumt. Die Jungs haben es wohl versäumt, alles so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden haben“, murmelt er und ich kann den Ärger der in seiner Stimme mitschwingt regelrecht mit den Händen greifen.
„Was für Jungs?“, hake ich neugierig nach und warte darauf, dass er sich in Bewegung setzt. Ich sterbe vor Neugierde den Rest der Wohnung zu sehen.
„ Oh ich denke, damit sind wir gemeint“, höre ich jemanden Lachen, bevor ein Bär von einem Mann ins Sichtfeld tritt und mir die Luft wegbleibt. Mit kahl geschorenem Kopf und aufgepumpten Muskeln und dem selben Kleidungsstil den Devon bevorzug, nämlich dunklen Jeans, Motorradstiefeln und einem ACDC- Shirt, das über seiner breiten Brust spannt ist er niemand dem man allein im Dunkeln begegnen möchte.
So groß wie Semjon zu sein mit dieser Muskelmasse, ist schlichtweg Angst einflößend. Doch dieses Gefühl zieht vor rüber, als er mir ein sanftes Lächeln schenkt.
„Darf ich vorstellen, ich bin Matt. Und wenn du ins Wohnzimmer kommst, stell ich dir die anderen vor… Marlen.“
Ich schlucke. Woher weiß er meinen Namen? Wohnt er hier? Ich sehe zu Semjon, der die Augenbrauen zusammenzieht.
„Ist etwa der ganze Haufen hier?“, knurrt er genervt.
„Natürlich. Denkst du wir lassen uns eine heiße Frau entgehen?“, höre ich jemand anderen sagen, bevor sich ein schmächtiger Mann, mit dickem schwarzen Zopf und Ganzkörpertatoo zu dem Bärenmann gesellt.
Er ist kaum größer als ich, doch mit den Tatoos, den sehnigen Gestalt und dem Gesicht eines Falken wirkt er ebenfalls nicht, wie jemand mit dem man sich anlegen sollte. In seiner Unterlippe steckt ein Silberring und in seiner linken Augenbraue ein weiteres Piercing. Er grinst frech und breitet die Arme aus, in einer Hand eine Flasche Blut. „Willkommen zu Hause, Marlen… Boss.“
„Großartig. Ihr scheint mich alle zu kennen“, seufze ich eingeschüchtert.
Mr. Tatoo macht ein erstauntes Gesicht. „Du erinnerst dich nicht an uns? Verflucht… naja irgendwie verständlich. Du warst ja noch ein Kleinkind, als wir uns getroffen haben. Ich bin Nikita. Und ganz unter uns, du siehst nicht aus, wie ich mir das vorgestellt habe. Du siehst heiß aus.“
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben, unsicher was ich darauf sagen soll.
„Ich glaube, das sollte als Kompliment gemeint sein“, schiebt Matt leise nach.
„Definitiv“, antwortet Nikita ihm grinsend. „Wo ist eigentlich Risto? Dachte, er würde mitkommen.“
„Mira nach Hause bringen“, sage ich schüchtern.
„Oh yeah, Ristos kleine Schwester. Ich mag sie nicht. Sie ist so chick flick“, murmelt Nikita und grinst. „Steht ihr Beide da jetzt für den Rest des Tages, oder kommt ihr rein?“
„Was ist chick flick?“, frage ich hilfesuchend in Semjons Richtung. Während Mr. Tatoo und Mr. Bär den Rückzug antreten.
„Frag ihn“, entgegnet Semjon mir nur, während er sich in Bewegung setzt. „Mir ist kein solches Wort geläufig.“
Ich folge ihm überstürzt. Es ist wie in eine Seifenoper geraten zu sein, deren erste vier Staffeln man verpasst hat und Semjon ist der Einzige, den ich kenne.
Als Semjon um die Ecke biegt und ich in seinem Windschatten hinterher hechte, bin ich so erstaunt, dass er stehen bleibt, dass ich in ihn laufe.
„Tschuldige“, meine ich gepresst und linse hinter seinem Rücken hervor. Dieses Loft ist der Wahnsinn. Zu meiner rechten erstreckt sich eine lange, schwarze Lederbank, die in einer dunklen Küchenzeile endet, die mehr gekostet haben dürfte als Winas gesamtes Haus und Devons Mustang zusammen. Das Backsteingemäuer endet nach dem Kühlschrank abrupt in einer vollständig verglasten Front, die sich L- förmig bis zur gegenüberliegenden Wand zieht. Eine Holztreppe ist freischwebend in der Mitte des riesigen Raumes platziert und führt offensichtlich in ein nächstes Stockwerk. Ich bekomme den Mund nicht mehr zu. In der Mitte des Raumes, der beinahe ein halbes Fußballfeld misst, gehen Stahlträger in ungeschönter Pracht zur Decke. Und ich erspähe einen bombastischen Essbereich, an dessen Tisch sicherlich zwölf Leute Platz finden.

„Semjon wie viel kostet ein Pool im Wohnzimmer?“, hake ich entsetzt nach, als ich mir der Tatsache bewusst werde, dass vor der Treppe und unter ihr hindurch ein fast sechs Meter breiter und zwanzig Meter langer quadratisch geschnittener Pool eingelassen ist.
„Das ist kein Pool. Das ist ein Teich“, entgegnet er mir nur und tritt einen Schritt zur Seite. „Er ist mit schwarzem Granit gekachelt und beheimatet Semjons Haustiere“, fügt plötzlich Nikita an, der neben uns auftaucht.
Ich starre auf das schwarze Wasser, über das im hinteren Drittel eine schlichte Betonplatte führt, auf welcher die Treppe zum liegen kommt und ein Sumpfdotterblumengelbes Chaiselongue- Sofa steht, das in moderner Schlichtheit das Ganze zu einem Höhepunkt des Raumes werden lässt.
„Nikita, sie ist gerade erst zur Tür herangekommen. Gib ihr einen Moment Zeit, okay?“, schnappt Semjon, als ich total überfordert meinen Blick weiter schweifen lasse. Auf der linken Seite, des “Teiches“ ist liegt ein großer Teppich quer über dem Parkett und dahinter schließt sich ein breite, weiße Liege an, welche vor einer Bücherwand steht. Da der Raum dort nur von einem einzigen der bodentiefen Fenster durchbrochen ist, wirkt er an dieser Stelle gemütlich und weniger modern. Hinter der weit ins Zimmer ragenden Wand, ist wohl der eigentliche Wohnzimmerbereich gelegen. Denn dort steht eine riesige, graue Couch, auf der drei Personen hocken und von dort kommt leise das Geräusch eines Fernsehers. Der Steintisch, der vor den dreien vollgestellt ist mit Chips, Dosen und Flaschen wirkt monströs. Alles in allem ist Semjons Loft der Wahnsinn.
„Semjon, das ist definitiv die coolste Wohnung, die ich jemals gesehen habe“, atme ich beinahe hyperventilierend aus.
„Großartig. Schön das endlich mal von einer Frau zu hören. Du bist nämlich die erste Frau, die diese heiligen Hallen unseres Bosses betritt. Und das ist wirklich zu schade, denn ich habe all meinen großartigen Geschmack in das hier investiert. Und die Jungs können das einfach nicht würdigen“, lächelt ein Kerl zu uns herüber, der von weitem Ähnlichkeit mit einem Buchhalter aufweist.
„Nicht, dass du Anerkennung dafür brauchen würdest, Youri. Dein Ego ist nun wirklich groß genug“, schnarrt Nikita und ich sehe, wie sich Semjons Lippen zu einem Lächeln kräuseln.
„Immer wieder eine Freude nach Hause zu kommen“, sagt er und er hört sich vollkommen ernst dabei an. „Komm mit, ich stell dir den Rest vor.“
Ich bin sprachlos, als er mir eine Hand auf den Rücken legt und mich in Richtung der Männer dirigiert, die zusammen auf der Couch trinken.
„Hi, ich bin Youri“, stellt sich der Buchhalter vor, der nun, da ich keine drei Meter vor ihm stehe, eher wie ein Student im neunten Semester wirkt. Er trägt eine Hornbrille, hinter der hellrote, Augen groß und wässrig leuchten. Sein aschblondes Haar und die fahle Haut, kombiniert mit einer Jeans, die mit einem braunen Ledergürtel, welche die sie an dem langen, sehnigen Körper hält und dem hellblauen Kurzarmhemd tun ihr übriges, um ihn wie einen lernbegierigen Streber wirken zu lassen.
„Hey“, bringe ich hervor.
„Und das ist Chase“, stellt Nikita den letzten im Bunde vor, dessen schwarzes, dickes Haar in wilden Locken von seinem Kopf absteht. Sein breites, mit Bartstoppeln bedecktes Gesicht, ist auf eine sehr befremdliche Art sehr attraktiv. Ein bisschen erinnert er mich nämlich an Devon. Seine dunkelroten Augen sind schwermütig, der breite Nasenrücken leicht gekrümmt und die vollen Lippen zu einem wohl unbeabsichtigten Schmollmund verzogen. Er hat eine Lederjacke an, eine schwarze Jeans und ein weinrotes Hemd, bei dem die obersten beiden Knöpfe nachlässig geöffnet sind und um seinen Hals baumelt eine Lederkette, deren Anhänger eine kunstvoll geschnitzte Patrone mit Totenkopf darstellt.
„Eigentlich nennen mich alle Cash. Und du musst Marlen sein. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, bist du erwachsen geworden“, knurrt er, während Semjon sich auf die Couch zwischen Matt und ihn flackt.
„Setz dich. Mach es dir bequem. Wir sind hier in der Familie. Von uns beißt dich keiner, stimmt´s Boss?“, schmunzelt Nikita und klopft neben sich.
Ich nehme zögerlich sein Angebot an und streiche mein Kleid glatt, als ich neben ihm Platz genommen habe.
„Wenn du damit meinst, dass ihr auf sie Acht geben werdet, dann stimme ich dir vollkommen zu Nik“, grollt Semjon und wirft ihm einen abschätzenden Blick zu.
„So viel ich mich erinnere war ich es, der von ihr vollgekotzt wurde. Wir haben also definitiv eine Verbindung“, lacht Nikita und schenkt mir ein breites, zahnweises Lächeln, das ziemlich schief ist.
„Oh komm schon. Wer wurde das nicht? Sie zum Essen zu bringen war eine Sache. Sie es drin behalten zu lassen, praktisch unmöglich“, murmelt Chase und grinst ebenfalls.
„Ihr habt alle-“
„Hey, was denkst du, weshalb wir hier alle rumhocken und darauf warten, dass ihr endlich eintrudelt? Wir waren dabei, als Semjon dich gerettet hat. Und auch wenn er dich vielleicht nicht so wirkt, aber er hat dafür gesorgt, dass man alles tat um dir zu helfen, damit du wieder in Ordnung kommst. Uns eingeschlossen“, grollt Chase und beugt sich nach vorn um sich ein halbleeres Bier zu angeln.
Ich sehe an Nikita und Youri vorbei zu Semjon, der sich auf der Couch ausgestreckt hat. „Ich danke euch. Auch wenn ich mich an nichts davon erinnern kann.“
„Kein Problem. Du siehst gut aus. Hat sich definitiv gelohnt“, sagt Matt leise.
„Oho, Matt, sowas aus deinem Mund? Normalerweise brauchst du Stunden, bevor du den Mund vor Fremden aufbekommst“, lacht Youri.
„Verdammt! Marlen, es gibt da noch jemanden, den wir dir vorstellen sollten… auch wenn er gerade in einer etwas schwierigen Verfassung ist“, schiebt Nikita noch nach.

Ich schüttle verwirrt den Kopf, als mein Nebensitzer aufsteht und einmal um die Couch läuft und sich dann bückt. Ich höre ihn etwas wispern, bevor er wieder auftaucht. Chase dreht sich zu ihm herum.
„Hältst du das für eine gute Idee? Amon ist nicht gerade-“
„Cash, er ist so seit Jahren. Ich denke nicht, dass es noch schlimmer werden kann“, schnaubt Semjon.
„Was ist denn los?“, will ich unsicher wissen.
Youri schiebt die Brille mit dem Mittelfinger nach oben und seufzt schwer, während Nikita zurück kommt und mit ihm ein Monster von einem Hund. Eine schwarzweiße Dogge. So groß, dass sie ihm fast bis an die Brust reicht.
„Darf ich vorstellen. Das ist Amon. Er… wie sagt man das, ohne dass du es falsch verstehst. Er ist… er hat ein winziges, psychisches Problem“, presst Nikita hervor und hält seinen Zeigefinder ein paar Zentimeter von seinem Daumen entfernt in die Höhe, um mir bildlich zu demonstrieren, wie groß der Schaden ist. „Er ist ein Vampir. Und nun ja es ist offensichtlich… er verwandelt sich nicht mehr zurück. Wir wissen nicht wieso. Jedenfalls gehört er auch zum Team. Und vielleicht wird er ja wieder.“
Ich sehe den riesigen Hund an. Vampir. Verbessere ich mich sofort selbst und strecke eine Hand aus, die er sofort beschnüffelt.
„Na scheinbar mag er dich“, stellt Youri fest, als Amon seine nasse Zunge über meine Finger gleiten lässt.
„Ich mag ihn auch“, lächle ich und lasse meine Hand über seinen Kopf gleiten, hin zu seinen Ohren und puste ihn an. „Du bist ein feiner Junge. Groß und sabbrig, aber süß.“
Ich höre Semjon schnauben und drehe mich um.
„Was, er ist süß. Auf eine hundige Art und Weise“, schnappe ich.
„Er ist ein Vampir. Zwar verwandelt, aber immer noch ein Vampir. Also behandel ihn nicht wie einen Hund“, fährt mich Semjon an, als Amon seine enorm großen Kopf auf meine Knie sinken lässt.
„Verdammt, das ist die beste Anmache, die ich je gesehen habe“, grinst Cash. „Schönheit, hast du noch Platz für einen Rottweiler bei dir drüben auf der Couch?“
„Nein. Aber wenn du willst, darfst du mir gerne die Füße wärmen.“
Amon lässt sich auf sein Gesäß fallen und guckt mich aus riesigen, treudoofen Hundeaugen an und gibt ein Seufzen von sich.
„Ach du hast es schon schwer“, bestätige ich ihn und kraule ihn hinter den Ohren.
„Hast du noch eine Hand frei? Meine Eier würden sich auch freuen, wenn sie gekrault würden“, sagt Nikita und bevor Semjon, der dabei ist aufzuspringen ihn erreichen kann, verpasse ich ihm einen heftigen Stoß gegen die Schulter.
„Pass auf dass meine noch freie Hand, nicht nochmal ausrutscht. Und ganz nebenbei, du bist ein Arschloch.“
Cash pfeift vergnügt, während Semjon Nikita einen drohenden Blick zuwirft.
„Miststück“, grinst Nikita.
„Klar. Jungs wie dich kenn ich zu genüge. Du hältst dich für super cool und super heiß und hast eine große Klappe. Und dann im Bett bist du so klein mit Hut. Also nichts für ungut, wenn ich jemandem die Eier kraule, dann bestimmt nicht dir“, zirpe ich mit einem bösen Lächeln.
„Wow. Das tut weh“, schmunzelt er und ich denke er weiß so gut wie ich, dass es nur ein harmloses Geplänkel ist. „Wem würdest du den gerne mal-“
„Nikita, lass es“, befiehlt Semjon eisig und ich sehe ihn erschrocken an. Ich glaube er hat nicht ganz verstanden, dass es nur ein harmloses Gespräch ist, bei dem Nikita und ich austesten, wie weit wir mit den Späßen gehen können.
Sein Blick ist wütend, die Augenbrauen zusammengezogen und den Mund zu einem Strich verzogen, wirkt er, als würde er gleich explodieren.
„Semjon, es ist nur ein dummes Geplänkel. Wenn ich deine Hilfe brauche, werde ich mich melden“, entkommt es mir ohne groß darüber nachzudenken.
Es herrscht absolute Stille, nur das leise Gespräch, das die Beiden Schauspieler auf dem Plasmabildschirm führen, ist zu hören. Ich beschließe, dass ich etwas gegen die plötzlich so ungemütliche Stimmung tun sollte und wechsle ich das Thema. „Übrigens Nikita, was ist jetzt dieses chick flick? Du hast es vorhin gesagt. Was heißt das?“
Nikita sieht mich verdutzt an. „Kennst du das nicht? Ein chick flick ist ein Frauenfilm. Du weißt schon, emotional, Tränen in die Augentreibend und langweilig. Und chick flick zu sein ist genau das. Nehmen wir Mira, sie ist das typische Mädchen. Bei ihr geht es nur um zwei Themen, nämlich oh mein Gott ich liebe meinen Freund so sehr und oh mein Gott mein Freund kann nicht bei mir sein, die Welt geht unter. Einfach… Chick flick“, grinst er.
„Wow, das ist eine interessante Zusammenfassung. Das heißt also, du magst sie nicht, weil sie Gefühle hat.“
„Nein. Ich mag sie nicht, weil diese Frau nur aus Gefühlen besteht. Sie dich an, du schlägst zurück. Mira säße wie versteinert da und wüsste nicht was sie sagen sollte, außer beleidigt zu sein und ein paar Tränen zu verdrücken.“
„Ich bin also nicht chick flick, verstehe ich das richtig?“, hake ich amüsiert nach.
„Definitiv. Du bist cool. Du hast Charakter.“
„Also ehrlich gesagt, bezweifle ich, dass du diese These halten kannst. Ich weiß was ich zu sagen habe, wenn ein blöder Spruch kommt, weil ich weiß, wie es gemeint ist. Ich bin mit Jungs aufgewachsen. Also weiß ich auch, was mich erwartet, wenn ich in einen Raum mit fünf Männern und einem Vampirhund komme. Über meinen Charakter sagt das rein gar nichts aus.“
Nikita runzelt die Stirn. „Sei nicht so kleinkariert. Du weißt was ich sagen will, oder?“
„Ja. Aber du hast es falsch ausgedrückt“, kontere ich schlicht.
Chase grinst. „Ich glaube wir werden viel Spaß mit dir haben, Marlen.“
„Oh bitte. Hört auf mich Marlen zu nennen. Meine Freunde sagen Lenny zu mir“, erwidere ich und schenke ihnen ein strahlendes Lächeln.
„Also Lenny, was willst du trinken? Wir haben null negativ, Bier, Bier und äh… noch mehr Bier“, sagt Matt und es hört sich ziemlich schüchtern an.
„Dann nehme ich wohl ein Bier.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 10

 

 


Amons Sabberfäden sammeln sich langsam auf meinen nackten Knien, während ich noch mit seinem Schicksal hadere. Wie es wohl sein muss in seiner Tiergestalt gefangen zu sein? Die meisten Vampire die ich kenne, können sich nicht einmal in ein Tier verwandeln. Von jemandem der sich nicht mehr zurückverwandeln kann, habe ich noch nie gehört. Ich sehe ihm in die großen, braunen Doggenaugen und streichle ihn weiter mit einer Hand hinter den Ohren. Ob sein Vampirhirn hinter alles registriert oder er tatsächlich nur über den Verstand einer Dogge verfügt?
Ich genehmige mir einen Schluck Bier, bevor ich den Flaschenhals gegen meine Wange drücke und mir auf die Lippen beiße.
„Wieso kann er sich nicht wieder zurückverwandeln?“
Nikita, der sich gerade eine Handvoll Chips in den Rachen stopft zuckt mit den Schultern.
„Weil er es offensichtlich nicht will“, antwortet Semjon mir auf meine Frage an Nikitas Stelle. „Wie es scheint zieht er es vor nicht von menschlichen Gefühlen und Gedankenmustern verfolgt zu werden. In seiner Tiergestalt zu verweilen erscheint ihm wohl komfortabler.“
Semjons Gesicht ist mir zugewandt, doch er macht den Eindruck, als sei er in Gedanken weit weg.
„Das heißt, er ist zurzeit vollkommen Hund?“, hake ich neugierig nach, obgleich Semjon nicht den Eindruck macht, als hätte er Lust meine Fragen zu beantworten.
„Ja. Wie es den Anschein macht. Anders als meine Bodyguards im Teich, deren Verstand von ihrer Tierform nicht beeinträchtigt ist, scheint es, als hätte sich Amons auf seine tierischen Instinkte reduziert“, erklärt mir Semjon bereitwillig, während ich erschrocken die Augen aufreiße.
„Was soll das heißen, Bodyguards im Teich? Ich dachte da wären Haustiere“, quetsche ich hervor.
„Sehe ich wirklich aus, als hätte ich Interesse daran mich an irgendwelchen untätig herum lümmelnden Tieren zu erfreuen?“, schnappt er unfreundlich, während die Anderen in Gelächter ausbrechen und mich damit zum Erröten bringen.
„Ganz genau. Keine Haustiere, kein Weihnachten und keine Liebesschwüre!“, grölt Chase lauthals und schlägt Semjon auf die Schulter.
„Und keine Manieren“, murmelt Matt naserümpfend.
„Wenigstens steh ich dazu. Ich arbeite nicht mit großen Puppenaugen und einem unschuldigen Lächeln, während ich mir im Kopf irgendwelche bösartigen Pläne zurecht lege“, zischt Chase abfällig.
„Na wenigstens kann ich mit etwas anderem wie mit meinem Schwanz denken“, entgegnet Matt ihm leise.
„Selbst mein Schwanz ist intelligenter als du“, schnappt Chase.
„Tatsächlich? Sieh dich doch mal an. Kaum betritt eine Frau den Raum, kannst du nichts anderes mehr als Protzen, Prahlen und unqualifizierte Kommentare äußern“, kontert Matt finster.
Youri schiebt sich seine Hornbrille mit dem Zeigefinger nach oben, bevor er sich am Nasenrücken kratzt. „Sie sind Brüder. Sie beleidigen sich immer. Also nimm sie nicht ernst“, erklärt mir der blonde Vampir mit einem abfälligen Seufzen.
„Leider sind wir das. Wenn du mich fragst, hätten unsere Eltern gut daran getan, nach mir mit der Produktion aufzuhören“, grollt Matt und greift nach seiner Flasche.
Über die Neuigkeiten bin ich nun doch leicht entsetzt. Ich mustere Matt, wie er die massigen Arme auf die Schenkel gestützt auf der Couch lümmelt und den kahl geschorenen Schädel gesenkt hält, während er die dunkelgrüne Glasflasche schwenkt. Chase hingegen setzt sich auf und erwidert meinem Blick, bevor er den Mund öffnet.
„Cash, was immer du sagen möchtest. Schluck es runter und versuch zur Abwechslung den Mund zu halten“, mahnt Semjon ihn ab, wirft sowohl ihm wie auch Matt einen strafenden Blick zu und deutet dann mit seinem Trinken in der Hand auf Amon. „Wenn du dich von ihnen genervt fühlst, sag es.“
Erstaunt über Semjons umsichtiges Angebot, kann ich nur den Kopf schütteln. Erstens, weil Amons Kopf auf meinen Knien mich beruhigt, zweitens, weil ich die Anderen bis jetzt gut leiden kann und drittens, weil ich einfach nicht erwartet habe, dass er sich um mich Gedanken macht.
„Bis jetzt finde ich es hier sehr amüsant, aber danke“, bringe ich schließlich hervor.
Ich räuspere mich leise, unsicher ob ich es wagen kann ihn noch einmal anzusprechen. Doch da er hier gesprächiger scheint, als sonst beschließe ich das Risiko keine Antwort zu bekommen eingehen zu können. „Semjon, nochmal zu deinen Haustieren. Sie sind Bodyguards? Was soll das heißen?“

„Der Teich beherbergt vier Bodyguards. Sie wechseln jede Woche. Doch es sind immer vier.. Diese Woche haben vier Dienst, deren Gestalt Krokodile sind. Sie bleiben die gesamte Zeit über im Wasser. Also lass dich nicht durch ihre Anwesenheit beunruhigen. Sie sind diskret und fähig. Du wirst sie nicht bemerken“, lässt er sich herab mir zu antworten und stellt seine Flasche auf dem Tisch ab.
Ich schlucke bei seinen Worten. „Sie werden mich nicht anfallen, oder?“
„Natürlich nicht. Doch jeden anderen der ungefragt, oder heimlich die Treppen nach oben will, werden sie daran hindern“, meint Semjon und greift in seine Anzugtasche, als sich sein auf lautlos gestelltes Handy leise summend meldet. Er wirft einen prüfenden Blick auf das Display und steckt es dann wieder weg.
„Christobal?“, will Nikita wissen, während Amon gähnt und dabei noch etwas mehr Sabber auf mir verteilt.
„Nein. Mein Wagen ist eingetroffen“, erklärt Semjon uns schlicht und erhebt sich.
Unser Gespräch ist offensichtlich beendet und ich sehe ihm hinterher, als er davon geht. Dieser Mann macht mich wahnsinnig! Es würde ihn wohl nicht umbringen, wenn man ihm nicht alles aus der Nase ziehen müsste, sondern er sich auch einmal ungefragt erklärt.
„Wo will er hin?“, frage ich an die Jungs gewandt.
„Zu seinem Auto“, murmelt Nikita.
Als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, rutscht dieser plötzlich ein Stück näher. „Lenny, ich weiß wir kennen uns noch nicht lange. Ich meine technisch gesehen schon, aber damals warst du noch ein Kleinkind und du erinnerst dich nicht-“
„Was Nik dich fragen will… was wir alle wissen wollen… hat er sich in deiner Anwesenheit genährt?“, wispert Youri so leise, dass ich Schwierigkeiten habe ihn zu verstehen.
„Weshalb fragt ihr?“, hake ich ebenso leise nach.
„Weil es wichtig ist“, meint Nikita lautlos.
„Nikita meint damit, wir befürchten, er macht sich bereit für eine Jagd. Keiner von uns hat ihn in den letzen Wochen Blut zu sich nehmen sehen, dafür hat er aber eine Menge trainiert. Das Aushungern macht ihn gefährlich. Es macht ihn aggressiv, es macht ihn scharf. Die Instinkte treten in den Vordergrund. Ausgehungerte Hunde sind die schlimmsten, wenn man sie loslässt“, fügt Matt an.
„Er will unbedingt diejenigen schnappen, die dir das angetan haben. Die all die anderen entführt haben, aber diesmal übertreibt er maßlos, wenn wir richtig liegen. Also hast du ihn etwas trinken sehen?“, redet Nikita auf mich ein.
Ich runzele die Stirn. Ich kann mich nicht erinnern ihn trinken zu sehen. Bier ja, aber Blut? „Ich glaube nicht“, seufze ich leise.
„Verdammt. Er zieht das wirklich durch. Das endet böse“, seufzt Matt nur.
„Das befürchte ich auch. Lenny, hör zu, egal was passiert, du kannst uns immer anrufen. Wir werden in ein paar Minuten hier sein können. Du musst nur eines wissen. Wenn Semjons Pupillen zu Schlitzen werden, dann geh. Egal wo du bist und er ist in deiner Nähe, verschwinde. Sag nichts zu ihm. Geh einfach. Wenn du nicht gehen kannst, halte Abstand, schließ dich ein. Ruf uns an und verhalt dich ruhig bis einer von uns dich holt“, lässt Chase verlauten.
Ich spüre die Gänsehaut langsam meinen Rücken hinauf kriechen. Meinen die Jungs das tatsächlich ernst?
„Jetzt mal nicht den Teufel an die Wand Cash. Bis jetzt hatte Semjon sich noch immer soweit unter Kontrolle, dass er noch wusste, was er tut“, versucht Nikita mich zu beruhigen. Allerdings ohne großen Erfolg.
„Außerdem wird Amon auf dich aufpassen. Er mag zwar nicht mehr bei Vampirverstand sein, aber seine Instinkte sind noch immer gut“, versucht nun auch Matt mich zu beruhigen.

Nikita klopft mir auf mein Knie. „Genug von dem Thema. Wir sollten dir schon mal dein Zimmer zeigen, bevor die Stimmung total in den Keller sackt.“
„Okay“, bringe ich nur hervor, total verunsichert.
Nikita erhebt sich und grinst mir aufmunternd zu. „Na komm.“
„Denkst du nicht, Semjon möchte ihr persönlich ihr neues Domizil zeigen? Du weißt wie eigen er manchmal sein kann“, wirft Youri nachdenklich ein und schiebt sich seine Brille erneut zurecht.
„Ich denke kaum, dass er sich daran stören wird“, antwortet ihm Nikita sofort äußerst nachdrücklich. Die gepiercte Unterlippe vorwurfvoll schürzend und die Augen zusammengekniffen, ist die stille Warnung in seinem Gesicht überdeutlich.
„Verdammt. Ich komme mit. Wenn ihr nicht mitkommen wollt, zwingt euch niemand euch vom Fleck zu rühren. Ich für meinen Teil werde Lenny nun ihr Zimmer zeigen“, sagt Chase nur und erhebt sich mit einem breiten Lächeln, während Amon den Kopf in seine Richtung dreht und dabei seinen Speichel noch etwas weiter über meine Haut verteilt.
Ich komme nicht umhin das Leuchten in Chase Augen zu bemerken. Sein Lächeln und die Art, wie sich seine Muskeln anspannen spiegeln Vorfreude wieder.
„Lenny, kommst du?“, will er wissen, wobei seine Stimmlage eine Oktave tiefer rutscht.
Was für eine Frage. Natürlich werde ich mitkommen, denn ich bin neugierig auf mein Zimmer und die Aussicht Chase etwas näher kennenzulernen, ist auch nicht gerade abschreckend in Anbetracht der Tatsache, dass er mich im Notfall vor Semjon retten könnte.
„Klar“, schnurre ich und schiebe Amons Kopf ein Stückchen zur Seite um aufzustehen und Nikita und Chase mit einem breiten Lächeln zu folgen. Als ich die Treppe nach oben gehe, erwische ich mich immer wieder dabei wie ich in das dunkle Wasser starre, das unter der Treppe spiegelglatt im Becken liegt. Ich entdecke nicht einen Hinweis auf die Bodyguards, was mich einerseits beruhigt andererseits bin ich aber auch etwas enttäuscht.
„Lenny, schlag keine Wurzeln!“, ruft Nikita der schon mit Chase im oberen Stockwerk wartet. Als ich endlich bei ihnen ankomme, packt mich Chase an der Hand und macht eine ausschweifende Bewegung. „Na was sagst du?“

Da hier oben genau wie unten das Backsteingemäuer fortgeführt ist und auch sonst dem Stil der unten begonnen wurde gleicht, kann ich nur mit den Schultern zucken. „Schön.“
U förmig um das Treppenhaus sind Trennwände gezogen, welche bis zur Decke reichen und auch ein Paar Stahlträger blitzen hin und wieder frei stehend und im Gemäuer verbaut auf. Die Decke hier oben ist leicht zur Fensterfront hin abgeschrägt und sehr viel niedriger als im unteren Stockwerk, was das Stockwerk gemütlicher wirken lässt. Außerdem stehen einige siebziger Jahre Möbel herum und eine Menge Regale, die mit Kunst und Büchern gefüllt sind, welche in der Mitte des Raumes wohl so etwas wie eine Bibliothek bilden. Direkt vor mir erstreckt sich ein lichtdurchfluteter Wintergarten indem nur eine Liege steht und ein kreisrunder Beistelltisch. Keine Pflanzen und auch sonst keinerlei Firlefanz.
Chase legt mir einen Arm auf die Schultern. „Dein Zimmer ist gleich das hier“, grinst er und schiebt mich an einer weißen Türe vorbei zu zwei offenstehenden, stählernen Schiebetüren, in deren Mitte eine Backsteinsäule prangt und damit die riesige Spannweite der Türen nochmals vergrößert. Doch dahinter liegt anstatt eines angrenzenden Schlafzimmers, nur eine weitere Backsteinmauer, in der eine normalgroße, weiße Türe eingelassen ist, durch die Chase mich ohne viel Federlesens schiebt.
Der Raum in den wir kommen ist fantastisch. Zwischen den beinahe bodentiefen Rundbogenfenstern, die genau wie unten in dunkelm Holz gefasst sind und den warmen Farben der Backsteinmauern liegt ein Zimmer, das ich mir selbst nicht schöner hätte einrichten können. Zu meiner Rechten ist die gesamte Wand mit Regalen bedeckt in denen sich Vinylplatten aneinanderreihen. Auf dem Boden liegt ein flauschiger cremefarbener Teppich und der Plattenspieler auf dem limonengrünen Regal vor dem Fenster spricht davon, dass man die Platten unbedingt benutzen muss.
Keine drei Meter davon entfernt steht ein riesiges Bett, das eher einer Liegewise gleicht und darüber hängt ein rotes Stoffplakat von Che Guevara. Auf der anderen Seite des Raumes ist ein offener Kamin in die Wand eingelassen, vor dem einige cremefarbene Kissen und ein Rentierfell liegen. Ein beiger Cocktailsessel, hinter dem ein weiteres Regal mit Büchern steht komplimentiert den Raum und ich seufze hingerissen.
„Es geht noch weiter Lenny“, schmunzelt Nikita und deutet auf den Durchbruch zu meiner Linken, den ich bis jetzt noch gar nicht wahr genommen hatte. Als ich um die Ecke biege, erschließt sich mir mit einem Mal die volle Bedeutung des Wortes „abgefahren!“
Ich stehe in einem offenen Wohnzimmer, indem nicht nur ein überdimensionaler Flachbildschirm an der Wand hängt, sondern auch ein entsprechend riesige geschwungene Liege, welche die Ausmaße einer ausgewachsenen Dreimanncouch hat und deren aufwändige Knöpfung im Chesterfield- Style den schwarz schimmernden Samtbezug zu hohen Wellen auftürmt. Dahinter führen vier Treppenstufen auf ein Zwischengeschoss, in das man ungehinderten Einblick nehmen kann, auch wenn auf der Fensterseite ein Regal in den Raum ragt, das mit ein paar weißen Handtüchern bestückt ist.
Ich reiße die Augen auf. Ein offenes Badezimmer? Das ist ungewöhnlich und auch irgendwie unpraktisch meines Erachtens nach.
Chase grinst mir entgegen, als er die Treppe erklimmt. „Darf ich dir vorstellen, dein Badezimmer.“
Ich hole tief Luft, bevor ich zu Chase und Nikita nach oben gehe und die erste Abneigung gegen mein neues Badezimmer noch einmal überdenke.
Auf der linken Seite ist eine aus Echtglassteinen gemauerte Duschgelegenheit installiert, welche man beidseitig durch zwei Glastüren betreten kann und auf der Fensterseite ist eine weiße, tiefe und quadratische Wanne in den Boden eingelassen, in welcher locker vier Personen Platz finden würden.
Zu meiner Verwunderung finde ich zwar einen unscheinbaren verchromten Hebel zum Einstellen der Wassertemperatur und des Wasserzuflusses, aber keinen Einlauf, weshalb ich mich Nikita zuwende. „Die Wanne ist ja cool, aber drin Baden scheint man nicht zu können.“
Nikita winkt lässig ab. „Dreh einfach am Hahn.“
Ich tue wie mir geheißen und quietsche erschrocken auf, als sich ein Wasserfall aus der Decke ergießt. Schnell drehe ich wieder zu und starre Nikita an. „Das ist abgefahren.“
„Semjon steht auf solche technischen Spielereien“, sagt er begeistert und verschränkt die Arme vor der Brust. „Naja, eigentlich tut das jeder. Aber die wenigstens können sich so was leisten.“
Ich setze mich auf den Boden neben die Wanne und atme tief durch. Es reicht für heute einfach. Es ist zu viel. Ich werde verfolgt. Mein Leben ist in Gefahr. Ich reise in einem Privatjet, dann lerne ich Semjons Freunde kennen, sein unglaubliches Loft, seine Bodyguards im Teich und jetzt auch noch ein Wasserfall aus der Decke. Es reicht! Himmel, ich bin ein einfaches Mädchen aus der Provinz! Ich bin es gewohnt beengt zu wohnen, mit alten Möbeln und viel Grün. Ich habe nichts gegen ein bisschen Dreck, gegen Motorenöl und unfeine Manieren. Ich bin hier so fehl am Platz wie man nur sein kann.
„Lenny, ist alles in Ordnung?“, will Chase besorgt wissen.
„Nein“, gebe ich ehrlich zu und betrachte Nikitas Rücken, der sich im langen Spiegel über den beiden Waschbecken spiegelt. „Ich brauche eine Auszeit.“
Nikitas langes, schwarzes Haar reicht ihm bis weit über die Schulterblätter, als er seinen Pferdeschwanz löst und ihn neu bindet.
„Ich weiß, es ist viel auf einmal“, sagt er. Seine Stimme ist angenehm. Rau und träge, wie teurer, trockener Rotwein.
Nachdem er damit fertig ist sein Haar zu binden, lässt er sich neben mich auf die Holzdielen sinken und legt mir eine Hand auf die nackten Schultern. „Wenn du möchtest, lassen wir dich erstmal allein. Semjon bringt dein Zeug sicherlich gleich hoch. Geh derweil einfach duschen oder sieh solange Fern. Wir werden morgen bestimmt noch Gelegenheit haben miteinander zu quatschen“, schlägt er vor.
„Ich glaube, das wäre eine gute Idee.“
Er nickt und tätschelt mir den Arm. „Dann werden wir dich jetzt mal in Ruhe lassen.“
Ich bin unglaublich dankbar über das Angebot, weshalb ich es nur zu gerne ergreife. „Okay. Seid mir aber bitte nicht böse.“
Nikita schüttelt den Kopf. „Nicht doch. Nur eines noch. Hinter der Schiebetür, da in der Wand ist dein neuer Kleiderschrank. Dann hast du erst mal das Wichtigste gesehen.“
Ich nicke, bevor ich mich nach hinten auf den Rücken fallen lasse und die Augen schließe. „Ich fühle mich wie erschlagen.“
„Das kann ich nachvollziehen“, höre ich Chase sagen. „Ruh dich aus. Morgen wird Semjon dich sicher mit ins Hauptquartier mitnehmen. Oder aber du wirst mit Mira und ihren Freundinnen zusammengesteckt. In Beiden Fällen wird dein morgiger Tag anstrengend.“
Als die Beiden gegangen sind, raffe ich mich auf um unter die Dusche zu steigen.


Ich will gerade aus meinem Kleid steigen, als es an der Zimmertür klopft. Schnell ziehe ich mein Kleid, das ich gerade schon bis zu der Hüfte heruntergezogen hatte wieder nach oben und halte den Stoff mit einer Hand über der Brust fest, bevor ich ins Schlafzimmer eile.
„Ja?“
Die Tür öffnet sich lautlos, bevor Semjon hoch erhobenen Hauptes mit meinem Zeug bepackt in den Raum stolziert und mein Gepäck neben das Bett stellt.
„Vielen Dank“, sage ich verdutzt.
Semjon wendet sich zu mir um, die dunklen Augen dabei auf mein Gesicht gerichtet. „Keine Ursache. Entschuldige meine Störung, offensichtlich bist du beschäftigt.“
Ich mustere ihn nachdenklich, als er auffällig schnell den Kopf abwendet und aus dem Fenster sieht. „Ich lasse dich nun besser allein“, stellt er mit seiner tiefen Stimme fest, während ich beobachten kann, wie sich seine Nasenflügel aufblähen.
Semjons Verhalten kommt mir verdächtig vor. Wieso kann er mich nicht ansehen?
„Semjon? Ist alles in Ordnung?“, hake ich vorsichtig nach, als er sich obgleich seiner Worte, dass er gehen sollte, nicht von der Stelle rührt.
Er tritt ans Fenster und streicht gedankenverloren über das Glas des Plattenspielers. „Ja“, murmelt er nach einer halben Ewigkeit. „Christobal hat mich gefragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er dich um ein Date bitten würde.“
Ich schnappe erschrocken nach Luft, während Semjons Blick auf dem Fensterkreuz haftet. Überrumpelt von seiner Neuigkeit, weiß ich nicht was ich sagen soll.
„Es wäre höchst unprofessionell. Doch wenn es dein Wunsch sein sollte, dann werde ich das respektieren“, seine Stimme ist eisig, obgleich seiner Aussage.
Ich runzle die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich mit ihm ausgehen möchte. Ich kenne ihn ja gar nicht. Aber es ist schön zu hören, dass du mir die Entscheidung überlässt. Er sieht gut aus“, stelle ich mit einem Schulterzucken fest. „Außerdem scheint er sympathisch zu sein. Doch wie gesagt, ich kenne ihn ja kaum.“
„Überleg es dir“, murmelt Semjon.
„Das werde ich“, sage ich leise und versuche aus seiner Körperhaltung irgendetwas zu lesen. Ich wünschte, er hätte es mir einfach verboten. Dann könnte ich mich über ihn ärgern und müsste mir keine Gedanken darum machen, ob er vielleicht doch nicht so ein Mistkerl ist, wie ich zuerst dachte.
„Noch etwas Marlen. Ich muss dein Handy einfordern. Wenn du telefonieren möchtest, benutz das Telefon in meinem Arbeitszimmer. Diese Leitung ist sicher. Es ist eine nötige Vorsichtsmaßnahme. Natürlich bekommst du bald möglichst ein neues Handy.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Na toll“, schmolle ich, bevor ich mich umständlich auf die Bettkante setze und meine Handtasche vom Gepäckstapel fische und nach meinem Handy krame. Auf dem Display werden drei neue Nachrichten angezeigt. Alle von Devon.
Hi Lenny, bist du schon angekommen? Melde dich wenn du da bist. Devon
Ich öffne die nächste Mitteilung.
Lenny? Wo steckst du?
SMS Nummer drei, ist sehr viel länger.
Lenny, schreib endlich zurück! Ich mache mir Sorgen!

Ich starre den Display an. Diese Mitteilungen sind vollkommen falsch. „Semjon. Irgendjemand hat Devons Handy benutzt und mir eine Menge SMS hinterlassen. Devon hasst SMS. Er bricht sich jedesmal einen ab, wenn er eine schreiben muss. Deshalb benutzt er nie Satzzeichen. Und er schreibt grundsätzlich nur Len, wenn er mich anschreibt. Er hat mich sogar mal gefragt, ob das okay für mich ist“, wispere ich und halte ihm mein Handy hin.
Semjon kommt zu mir und ergreift es bestimmt, während ich beginne zu zittern.
„Bist du dir sicher?“, will er nachdrücklich wissen, als er auf der Tastatur herum drückt und sich scheinbar die Nachrichten durchliest.
„Ja“, bringe ich mit bebender Stimme hervor. „Bitte. Ich muss ihn anrufen. Ich muss wissen, ob es ihm gut geht!“
Semjon steckt das Handy in seine Hosentasche. „Ich werde das erledigen. Bitte versuch nicht durchzudrehen, ja?“
Ich nicke, während mir die Tränen aus den Augen strömen. „Wenn ihm was passiert ist, dann-“, ich breche ab. Oh Gott, bitte lass ihm nichts passiert sein! Das wäre das Schlimmste, was geschehen könnte.
„Marlen, ich werde dem nachgehen. Aber wenn du mich fragst sieht es nach einer falschen Fährte aus. Wenn es jemand darauf angelegt hätte, Devon glaubwürdig zu imitieren, dann hätte er sich frühere Nachrichten von ihm durchgelesen.“ Seine Pupillen sind nur Stecknadelköpfe, als er mir in die Augen sieht.
„Kannst du ihn gleich anrufen? Kann ich ihn-“
„Ich werde ihn anrufen“, unterbricht mich Semjon beinahe sanft. „Ich schlage vor, du gehst derweil duschen, oder was auch immer du gerade tun wolltest, bevor ich angeklopft habe.“
Ich stimme mit einem tonlosen Nicken zu, auch wenn ich ihm am liebsten das Handy entreißen und meinen besten Freund anrufen würde.
„Ich bin gleich zurück“, knurrt Semjon.

Als er zurück kommt sitze ich noch immer auf dem Bett, die Hände schweißnass ineinander verknotet, das Kleid mit dem offenem Reisverschluss an mich gepresst. Die letzten zwanzig Minuten waren die schlimmsten meines bisherigen Lebens und ich versuche verzweifelt aus seiner Mimik etwas zu lesen.
„Devon geht es gut. Wie es scheint war heute seine Exverlobte bei ihm und seitdem sei sein Handy verschwunden. Er meint es sei gut möglich, dass sie die SMS verschickt hat, da sie offenbar beweisen will, dass du und er eine Affäre gehabt haben“, verkündet er mir freundlicher Weise ohne Umschweife.
Ich werde von einer Welle der Erleichterung überflutet, bevor ich mir der Anschuldigung bewusst werde, die Emily gegen Devon und mich vorgebracht hat.
„Hat diese Frau nun endgültig den Verstand verloren? Sie will Devon unterstellen, er hätte-“
„Verletzter Stolz ist immer eine unschöne Angelegenheit in unseren Kreisen. Er hat sie und ihre Familie beleidigt. Dafür wollen sie ihn wohl bluten sehen. Doch dafür braucht man Beweise.“ Semjon legt den Kopf schief und zieht die Augenbrauen zusammen. „Ich denke, Devon wird in nächster Zeit seinen Spaß haben. Es dürfte nur von Vorteil für ihn sein, dass du hier bist.“
„Denkst du, Emily will Geld?“
Semjon zuckt mit den Schultern. „Sehr wahrscheinlich. Eine Widergutmachung ist durchaus üblich bei solch heiklen Situationen. Hier geht es auch um die Familienehre. Ich werde Rome informieren müssen.“
„Ich habe nichts mit Devon! Er ist mein bester Freund. Er hat mich praktisch aufgezogen! Er ist wie ein Bruder für mich! Und Devon hatte nichts mit anderen, während er mit Emily verlobt war!“, ereifere ich mich wütend. „ Eine solche Anschuldigung ist vollkommen aus der Luft gegriffen! Devon ist der beste Kerl den ich kenne!“
Semjon beißt sich auf die Innenseite der Wangen, bevor er den Mund öffnet. „Dann hat er wohl nichts zu befürchten.“
„Ganz genau“, zische ich schärfer als beabsichtigt, wobei mein Kleid mir beinahe herunterrutscht.
„Also gut. Wenn etwas sein sollte findest du mich unten im Wohnzimmer“, verabschiedet sich Semjon kühl und ich bleibe erleichtert, aber schmollend in meinem neuen Zimmer zurück.

In dieser Nacht kommen die Alpträume heftiger zurück als jemals zuvor. Von den eigenen Schreien geweckt, rolle ich mich unter meiner Bettdecke zusammen und versuche mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Mein Kinn zittert unkontrolliert, die Tränen strömen ungehemmt auf die weißen Kissen und die Muskeln in meinem Körper sind zum Zerreißen gespannt. Wie sehr ich es hasse in diesem Zustand dahinzuvegetieren. Die Ständigen Flashbacks, die endlosen Alpträume.
„Hey, Marlen. Bist du okay?“, höre ich es leise aus der Dunkelheit knurren. Ich zucke erschrocken zusammen und setze mich panisch auf.
Die Nacht ist beinahe taghell, durch den riesigen Vollmond und enthüllt jemanden den ich zu dieser Stunde bestimmt nicht in meinem Zimmer anzutreffen zu glaubte. Semjon sitzt auf der Fensterbank, des offenen Zimmerfensters, eine Flasche Wasser in der Hand.
„Ich habe dich schreien hören“, fügt er an, da ihm scheinbar bewusst wird, dass er mich zu Tode erschreckt hat. „Es hat sich angehört, als würdest du Hilfe brauchen.“
„Wie lange sitzt du schon da?“, bringe ich mit brüchiger Stimme heraus.
„Eine Weile“, entgegnet er langsam. „Jedenfalls lange genug.“
„Hat man dir nie gesagt, dass es gruselig und unhöflich ist, einfach so wildfremde Menschen beim Schlafen zu beobachten?“, meine ich leise, unfähig meiner Stimme die nötige Schärfe zu verleihen.
„Du tust es. Jetzt“, knurrt er und es hört sich beinahe amüsiert an. „Es ist nicht gerade so, als wäre das Beobachten schlafender, um sich schlagender Frauen meine Lieblingsbeschäftigung“, antwortet er schlicht.
„Würdest du bitte gehen?“, bitte ich ihn mit brüchiger Stimme.
„Hast du diese Alpträume öfters?“, hakt er ungerührt nach obgleich meiner Bitte einfach zu gehen.
Ich wickle mich fester in die Bettlaken und beiße mir auf die Lippen, während Semjon sich erhebt und zu mir ans Bett tritt.
„Marlen?“, fragt er ernst.
„Ja“, schlucke ich schließlich und lehne mich gegen das Kopfende des Bettes. „Ja habe ich. Beinahe jede Nacht. Meistens muss ich danach übergeben.“
Ich höre die Wasserflasche unheilvoll knacken und sehe Semjon an, während mein Körper noch von den Nachbeben meines Alptraums geschüttelt wird. Mein Retter wirkt, als hätte er auf eine Zitrone gebissen.
„Und wie lange hast du die schon?“
„Schon solange wie ich mich erinnern kann“, gebe ich zu und versuche mein Zittern einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen.
Er stellt seine Wasserflasche auf den Nachttisch, bevor er ein Seufzen von sich gibt. „Morgen früh bringe ich dich zu einem guten Therapeuten.“
„Das ist nicht notwendig, ich-“
„Ich habe das oft genug gesehen. Keine Widerrede. Du musst darüber hinwegkommen. Das schulde ich dir. Ich lass dir das Wasser hier. Du solltest etwas trinken und dann versuchen weiterzuschlafen.“
Damit verlässt er mich erneut und schließt umsichtig die Tür hinter sich.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 11

 



Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, macht sich in mir neben den Nachbeben meines Alptraumes eine gewisse Unruhe breit, die nichts mit den schreien blutiger Frauen und Kindern zu tun hat, sondern einzig und allein in der Tatsache begründet liegt, dass Semjon Cooper mich offensichtlich nicht nur für eine Schlampe hält, sondern auch für bemitleidenswert und verrückt. Welche der Drei Möglichkeiten ich nun für die am wenigsten Kränkende halten soll, weiß ich noch nicht, dass mir allerdings seine Überheblichkeit mit der er mir begegnet gründlich missfällt, weiß ich genau.
Ich soll zu einem Therapeuten! Als würde ich noch nicht genug Dummschwätzer und Scharlatane kennen, die glauben mir helfen zu können.
Schnaubend ziehe ich die Daunendecke fester um mich und verschränke die Arme vor der Brust, während meine Muskeln noch immer wie Espenlaub in einem Herbststurm zittern.
Wie konnte ich Semjon in meinen Träumen nur jemals mit Mr. Darcy vergleichen? Ich muss all die Jahre nicht bei Sinnen gewesen sein. Jetzt erscheint mir meine Schwärmerei für ihn so absolut töricht, dass ich nicht glauben kann das es eine Zeit gab, in der alles was ich wollte war, von ihm geküsst zu werden.

„Semjon, warte“, bringe ich raus.
Ich kann kaum fassen, dass er tatsächlich zurück kommt und mich mit seinen dunklen Augen nachdenklich ansieht.
„Lass mich raten, du willst nicht in Behandlung“, murmelt er leise.
„Ich weiß schon längst unter was ich leide. Ich brauche keine Therapie. Ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung oder kurz gesagt PTBS. Mein Körper versucht nur sich selbst zu schützen indem er mich wach halten will“, sage ich verzweifelt. „Ich brauche das nicht. Ich muss nicht darüber sprechen. Ich weiß doch sowieso nichts mehr davon. Da sind nur Bilder. Fetzen, die mich wach halten“, wispere ich und versuche nicht in Tränen auszubrechen, während ich meine Hände in die Bettdecke kralle.
„Dessen bin ich mir bewusst Marlen.“ Semjon tritt ans Bett heran und betrachtet meine verkrampften Hände lange, bevor er sich neben mich auf die Matratze fallen lässt.
„Ich meine, ich kann darüber nicht sprechen. Ich kann es nicht einordnen. Ich will einfach nur die Bilder vergessen“, heule ich unvermittelt los und vergrabe mein Gesicht in den zitternden Händen.
„Gibt es irgendetwas, das es besser macht? Dass jedes Bild verdrängen kann das du im Schlaf siehst?“, will er langsam wissen.
Ich versuche mich zusammenzureißen, doch es will nicht recht klappen. Meine Stimme hört sich so brüchig und weinerlich an, dass ich mich am liebsten schlagen würde, als ich es ausspreche. „Du.“
Semjons Augen bohren sich in meine. „Ich? Na kein Wunder, dass du Alpträume hast“, meint er flapsig und ich kann nicht fassen, als er zu grinsen beginnt. Hat er etwa einen Witz gerissen?
„Du hast mich gerettet. Ich erinnere mich daran, dass du mich da raus geholt hast. Wie du gerochen hast. Wie schwarz deine Kleidung war, ein krasser Gegensatz zu dem weiß und rot meiner Welt“, krächze ich und muss den Blick abwenden, weil ich es nicht ertrage ihn bei diesen Worten anzusehen.
„So etwas solltest du nicht sagen. Ich war zu spät. Zu spät um all die anderen lebend herauszuholen. Und viel zu spät um dich unversehrt vor zu finden. Es ist meine Schuld, denn ich hatte keine Ahnung wie ich euch finden sollte“, sagt er und sein Geruch schwappt mir in die Nase, als er sich zu mir beugt. Sein Duft ist wie Beruhigungsmittel für mich, doch gleichzeitig macht mich seine Nähe unglaublich nervös. Sie überlagert die Nachwehen meines Traumes und lässt meinen Körper empfindsamer werden.
„Es ist nicht deine Schuld. Nur wegen dir lebe ich noch. Du hast getan was du konntest, da bin ich mir sicher.“
Semjons Hand stützt sich auf der Matratze ab. Er ist mir so nah, dass ich jeden einzelnen Muskelstrang, jede Einzelheit seiner Haut wahrnehmen kann.
„Ich weiß was ich getan habe und was nicht. Noch einmal wird sich das nicht wiederholen. Nicht so“, sagt er schleppend und ich merke, wie mich eine Welle des Entsetzens packt, als er zu zittern beginnt.
„Bestrafst du dich deshalb mit Nahrungsentzug? Ich meine, sie dich an. Du zitterst wie ein Junkie auf Entzug. Trink endlich wieder. Du weißt nicht was geschehen wird. Die Jungs sagen zwar, du wirst durch das Hungern aggressiver und deine Sinne schärfen sich, aber wenn du verletzt wirst-“
„Sie hätten nicht mit dir darüber sprechen dürfen“, unterbricht er mich harsch und ich sehe, wie sich seine Hand zur Faust ballt.
„Ich bin froh, dass sie es getan haben. Setz nicht dein Leben aufs Spiel. Auch du bist nur theoretisch unsterblich. Du kannst anderen nur helfen, wenn du im Vollbesitz deiner Fähigkeiten bist“, ereifere ich mich. Ich weiß selbst nicht genau, weshalb ich ihn nicht einfach machen lassen kann, sondern meinen Senf dazu geben muss.
„Ich bin im Vollbesitz meiner Kräfte. Maß dir nicht an mir Ratschläge zu geben. Ich werde dich beschützen, doch ich verbitte mir deine Einmischung.“
Ich schlucke, weil mir etwas auf der Zunge liegt, das mir nicht auf der Zunge liegen sollte. Doch das Gefühl geht einfach nicht weg. Die Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte bleibt erhalten.
„Pass einfach nur auf dich auf“, kommt es mir schließlich über die Lippen, obgleich ich nicht sicher bin, ob ich das hätte aussprechen sollen.
Ich reiße die Augen auf, als sich plötzlich eine Hand unter mein Kinn schiebt und mich kühle Finger zwingen Semjon anzusehen. „Es ist mein Job. Ich bin gut indem was ich tue. Es besteht kein Grund besorgt zu sein. Verstanden?“, fragt er und zwingt mich ihm ins Gesicht zu sehen.
Die nachtschwarzen Augen taxieren mich mit einer Eindringlichkeit, die mich schaudern lässt. Doch weniger, weil es mir unangenehm ist, sondern weil mein ganzer Körper sich anfühlt, als würden hunderte kleine Ameisen über ihn wuseln.
„Ja“, presse ich hervor und versuche seinem wachen, unbarmherzigen Blick zu entkommen.
Semjons Daumen streicht über mein Kinn, bevor er seine Finger so schnell wegreißt, als hätte er sich verbrannt. Ich sehe von seinen Fingerspitzen in sein Gesicht und stutze nun erst richtig. Sein sonst so ausdrucksloses Gesicht spiegelt Verwirrung wieder, ganz so als hätte irgendetwas ihn in Erstaunen versetzt.
„Ist alles in Ordnung?“, will ich wissen und greife ganz automatisch nach seiner Hand, was ihn dazu bringt zurückzuzucken und ich somit ins Leere greife.
„Du solltest jetzt schlafen. Wenn du nicht zum Therapeuten möchtest, dann können wir es noch ein paar Tage so versuchen. Wenn keine Besserung eintritt bist du allerdings fällig“, lenkt er vom Thema ab und erhebt sich rasch.
„Wieso gehst du? Habe ich etwas Falsches gesagt?“, hake ich nach und schlage die Bettdecke zurück, als er gegen den Türrahmen kracht. „Geht es dir nicht gut?“
Semjon hält abwehrend eine Hand hoch und schüttelt den Kopf. „Es geht mir-“, er bricht ab und sackt leicht in sich zusammen.
Ich springe aus dem Bett und stolpere zu ihm, da ich mich in der Bettdecke verheddere. Als ich ihm direkt gegenüberstehe, sehe ich wovor mich die anderen gewarnt haben. Seine Pupillen sind zu Schlitzen geformt, kaum breiter als eine Rasierklinge.
Verflucht.
Ich wäge kurz die Möglichkeiten ab.
Entweder versuche ich ihn aus dem Zimmer zu werfen und rufe panisch einen der Jungs an oder aber ich lasse ihn hier einfach stehen und zwinge ihn etwas zu trinken. Bis jetzt scheint er sich ja noch unter Kontrolle zu haben.
„Bleib weg“, grollt er dunkel und senkt seinen Blick, sodass ich seine Augen nicht mehr sehen kann.
„Du musst etwas trinken“, sage ich leise und trete noch einen Schritt näher.
„Nicht von dir“, kommt es spröde aus seiner Kehle.
„Vollkommen egal von wem. Aber du musst endlich Blut zu dir nehmen. Du bist schon jetzt weit über der Grenze. Deine Augen haben sich verändert.“
Semjons gibt einen wütenden Fluch von sich, bevor er sich sammelt. „Amon, geh zu Marlen ins Zimmer“, befiehlt er mit eisiger Stimme und öffnet die Tür, hinter der der große Vampirhund sitzt.
„Schließ hinter mir ab!“, knirscht er in befehlendem Ton, als Amon in mein Zimmer schleicht und Semjon aus großen Augen mustert.
Ich will seinem Befehl schon panisch nachkommen, als ich ihn gegen den gegenüberliegenden Backsteinpfeiler taumeln sehe.
„Dieser Idiot!“, rutscht es mir heraus und bleibe in der Tür stehen, bevor ich all meine Panik und Zweifel an seinem momentanen Zustand beiseiteschiebe und zu ihm laufe.
„Dir geht es also gut, ja? Das sehe ich“, sage ich wütend und umschlinge ohne darüber nachzudenken seine Taille um zu verhindern, dass er zu Boden gleitet.
„Hast du im Kühlschrank noch ein paar Flaschen zu trinken?“, frage ich gepresst, da Semjon aufrecht zu halten ein ganzes Stück Arbeit ist.
„Verschwinde!“, höre ich Semjon rausbringen. „Auf der Stelle.“
„Ganz ehrlich Semjon, ich kann dich gerade nicht sehr ernst nehmen. Also verzeih mir, wenn ich mir vorbehalte lieber ein Auge auf dich zu haben.“
„Marlen, ich kann mich nicht mehr lange-“
Mit einem Schnauben schiebe ich Semjon gegen die Wand und schiebe, als ich sicher bin, dass er nicht das Gleichgewicht verliert mit einer Hand mein Haar aus dem Nacken.
„Ich habe die Absicht, dass der Überlebenswille und deine Reflexe endlich dein Hirn abschalten und du etwas trinkst. Also hör auf mit dem ganzen Blödsinn und beiß endlich zu. Wenn du danach nicht aufhören kannst, dann weiß ich mich zu wehren“, fahre ich ihn an und trete einen Schritt auf ihn zu.
Meine Augen bohren sich in seine, bevor ich plötzlich mit einem Knurren mit dem Gesicht voraus gegen die Wand geschoben werde und seine Hände sich an der Backsteinmauer abstützen.
Ich wage nicht mich zu bewegen, als ich einen kühlen Lufthauch über meinen Hals streifen spüre und Semjons Mund sich auf den Bogen meines Nackens senkt. Sein Mund ist kühl und fest und lässt jeden Zentimeter meiner Haut sehnsuchtsvoll prickeln. Und erst jetzt kommt mir der Gedanke, dass ein ausgewachsener Mann hinter mir steht von dem ich nichts weiter weiß, als dass er mir vor einer Ewigkeit gerettet hat und das seine Freunde mich vor diesem Zustand in dem er sich gerade befindet gewarnt haben.
Doch all die Befürchtungen sind wie weggeblasen, als sich seine Lippen teilen und seine Fänge lang und scharf meine Haut durchstoßen. Das Stöhnen das aus meiner Kehle rinnt ist so wohlig, das ich mich beinahe dafür schäme.
Er hält mich allein durch seinen Mund an Ort und Stelle und ich lehne wie in Trance meine Stirn gegen die raue Backsteinmauer.
Verstohlen in der Dunkelheit, hat Semjon eine Grenze überschritten, eine über die ich ihn selbst bereitwillig geschubst habe. Noch nie war mir ein Mann näher und doch so weit entfernt. Irgendwo tief in mir, habe ich mich all die Jahre danach gesehnt ihm so nahe zu sein. Doch Chancen, dass ich jemals mehr von ihm bekommen werde, wie diese stille, verführerische Forderung seiner Fänge ist so gering, dass sie mir Tränen in die Augen treibt.
Ich spüre wie sich eine einzelne Träne aus meinem Augenlied löst. Sie zieht ihren Weg hinab über mein Gesicht, während er einer Liebkosung gleich, langsam und ohne Hast in großen Schlucken aus der brennenden Wunde trinkt, die er mir beigefügt hat. Es sind nur Blut, das seine langen Fänge aus mir saugen, doch mir ist, als würde er mir all den Kummer aus meinem Körper ziehen.
Als seine Zunge über die beiden winzigen Einstiche gleitet und sie säubert, will ich ihn am liebsten packen. Will ihn zwingen mich anzufassen, mich zu berühren, doch meine Finger sind taub und regungslos.
Er entzieht sich mir und nun bin ich es, die beinahe den Boden unter den Füßen verliert.
„Ich habe nicht früh genug aufgehört nicht wahr?“, höre ich ihn wütend sagen, als ich mit zitternden Knien versuche aus seiner Nähe zu verschwinden.
„Marlen!“, ruft er und hält mich am Arm fest, was es mir unmöglich macht in mein Zimmer zu verschwinden und über meinen vollkommen durcheinander geratenen Gefühlshaushalt nachzugrübeln.
„Es geht mir gut“, versuche ich ihn abzuwimmeln, doch das hat nicht die erhoffte Wirkung. Stattdessen umfangen mein Gesicht zwei lange, starke Hände, die mich zwingen in seine nachtschwarzen, wieder normalförmigen Augen zu blicken.
„Lüg mich nicht an. Ich hätte das gerade niemals zulassen dürfen. Es tut mir Leid“, sagt er und tritt noch einen Schritt auf mich zu. „.Bitte, das musst du mir glauben.“
„Du hast mir nicht weh getan“, wispere ich und reiße mich von ihm los.
„Marlen…“
Ich beiße mir auf die Lippen, während mein Name noch in der Luft klebt, wie zu süßer Honig.
Diese Begegnung im Schutz der Dunkelheit, lässt meine Gefühle schwanken, wie die eines unsicheren Teenagers. Mein Blut rast in meinen Venen. Die Wunde an meinem Nacken prickelt verheißungsvoll. Ich kann nicht klar denken. Und das ist eine Tatsache, die mir den nackten Angstschweiß auf die Stirn treibt. Denn egal wie ich es drehe und wende, das Einzige was ich in diesem Augenblick mit Bestimmtheit weiß ist, dass ich Semjon Cooper küssen will. Und das, das geht einfach nicht. Immerhin habe ich doch als Arschloch abgestempelt. Amtlich beglaubigt und besiegelt.
„Hey, du siehst aus, als wolltest du gleich umkippen“, höre ich ihn sagen, bevor sich lange Finger um meinen Oberarm schlingen und er mich in eine gefährliche Kussdistanz bringt.
„Lass mich los“, zische ich erschrocken und halte abwehrend eine Hand hoch.
„Okay“, erwidert er mir beschwichtigend und löst seinen Griff.
„Lass mich einfach nur in Ruhe“, schleudere ich ihm entgegen, bevor ich noch den letzen Rest Selbstbeherrschung verliere und stürme in mein Zimmer.
Als die Tür hinter mir ins Schloss knallt, zucke ich kurz zusammen, bevor ich die Augen schließe und den Kopf über meine Dummheit schüttle.
Ich bin weit davon entfernt ihn nicht ausstehen zu können. Aber auch weit davon entfernt ihm das unter die Nase zu reiben. Semjon Cooper hat schon jetzt viel zu viel Macht über meinen Seelenfrieden. Das ist schlecht. Er ist ein Mann. Und auch nur das kleinste Stückchens meines Herzens in seinen Händen zu wissen, ist ein Risiko, das ich nicht bereit bin einzugehen. Retter hin oder her. Ich habe nicht die Kraft, auch noch mit einem gebrochenen Herzen zu leben. Ein Trauma genügt vollkommen.
„Ich bin ein wandelndes Desaster“, stelle ich bekümmert, fest, bevor ich kopfüber ins Bett falle und die Decke über mich ziehe. „Total lebensmüde und bescheuert.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 12

 



Ich werde am nächsten Morgen von einer kalten Hundeschnauze geweckt, die meine Finger beschnüffelt.
Irgendwo in den Hinterzimmern meines Hirns, stelle ich fest, dass Amon gestern Nacht wohl immer noch in meinem Zimmer war, als ich verwirrt wie ich war ins Bett geflüchtet bin und er wohl jedes einzelne Wort, das ich gemurmelt habe, mitbekommen hat.
Dem unausgeschlafenen Rest von mir, ist das alles herzlich egal. Er ist ein Hund in gewisser Weise und ich bin zu müde um wirklich darüber entsetzt zu sein, dass er die ganze Zeit hier war.
Ich schiebe mein Kopfkissen mit dem Kinn zurecht und betrachte Amons Schnauze amüsiert. Meine Hand, die aus dem Bett hängt scheint für ihn höchst interessant zu sein, jedenfalls lässt er erst von ihr ab, als er jeden Zentimeter untersucht hat.
„Guten Morgen, mein Großer“, seufze ich und klopfe aufs Bett, als er fertig ist. „Na komm!“
Amon sieht mich mit großen treudoofen Augen an. Er ist ein wahrer Riese, weshalb er die Bettkante weit überragt und nur die Vorderläufe heben muss um meiner Aufforderung nachzukommen. Die rein weiße Grundfarbe seines Fells, die an der Brust keinen einzigen schwarzen Fleck aufweist schimmert in der hellen Morgensonne, als er zu mir aufs Bett steigt und sich mit einem vernehmlichen Seufzen an meine Seite legt. Seine dunklen mandelförmigen Augen mustern mich eingehend, während seine schwarze Nase neugierig in Richtung Bettdecke wandert. Seine ungleichförmigen, zerrissenen lackschwarzen Flecken, die wild auf dem sonstigen Körper verteilt sind, bilden am Kopf ein dichtes Muster, das mit seinen klaren Linien wie eine aufgemalte Maske wirkt.
„Na, kommst du kuscheln?“, grinse ich erschlagen und streiche ihm schläfrig über den Kopf. Ich habe eine grauenvolle Nacht hinter mir und will eigentlich nichts weiter, als Amon als riesiges Kuscheltier neben mir haben und mich tiefer in die Bettdecke vergraben und versuchen noch eine Runde zu schlafen.
Amons Fell ist seidig weich und meine Finger können gar nicht genug davon bekommen, während ich vor mich hin döse.
Doch wirklich schlafen kann ich jetzt nicht mehr. Ich wälze mich noch ein wenig umher, noch nicht bereit dem Tag entgegenzutreten. Aber gegen halb zehn kapituliere ich schließlich vor der Sonne und meinem Magen, der nach einer heißen Tasse Kaffee giert und auch nach ein wenig warmem Blut. Semjon mag vielleicht nicht viel getrunken haben, aber auch das bisschen verlangt nach einer raschen Auffüllung. Schließlich habe ich nicht das Ziel mich möglichst Blutleer umher zu schleppen und irgendjemand anzufallen.

Nachdem ich den Weg ins Bad antrete bekomme ich erst einmal einen Schock, als ich in den Spiegel blicke.
Meine Augen sind verquollen, mein Haar sieht aus, als sei es in einen Tornado geraten und da ich vergessen habe mich abzuschminken, sind die schwarzen Kajalspuren auf meinen Wagen die Zeugen meiner vergossenen Tränen in der Nacht. Kurzum ich beschließe, dass an der Dusche, die ich gestern noch nehmen wollte, heute Morgen kein Weg vorbei führt.

Als ich eine Stunde später frisch geduscht, geschminkt und mit seidig weich fallenden Haaren meinen Koffer nach einem ansprechenden Outfit durchforste, bin ich schon wieder ganz ansehnlich. Zumindest fühlt sich mein Kopf aber nicht mehr so an, als würde er in den Wolken stecken.
Eigentlich sollte ich wohl ausräumen, doch ich hege kein großes Bedürfnis Haufenweise Klamotten zu sortieren, weshalb diese provisorisch erst einmal alle auf dem ungemachten Bett landen.
Ich mag es, das anzuziehen, was ich schön finde. Und wenn jemand damit ein Problem hat, so ist mir das meistens egal. Meistens, weil Wina, meine herrische Ziehmutter, mich mit so mancher Kombination nicht aus dem Haus lässt.
Diese würde wahrscheinlich darunter fallen.
Lässige Wildlederboots in beige, kombiniert mit einem dunkelbraunen, knappen Shorts, die nur knapp unter dem weiten camel farbenen Tunika hervorlugen, die oben geknöpft ist und bei der ich die Beiden obersten Knöpfe offen lasse sind nicht gerade das, worin Wina mich sehen will. Doch sie ist nicht hier. Der runde Ausschnitt lässt die Träger meines schokofarbenen Triangle-Bikinis aufblitzen und ich knote meiner Haare zu einem ungepflegten Dut, bevor ich mir mein geliebtes Lederarmband umbinde, das ich mal von Devon geschenkt bekommen habe. Mit den geknöpften Riegeln am Ärmel der Tunika habe ich den Leinenstoff auf Ellenbogenlänge fixiert und ich hänge mir noch ein paar riesige Kreolen in die Ohren, die dunkles Holz mit Gold umrahmen.
Ich mag es immer ein wenig verrückt, weshalb ich mir zu guter Letzt noch meinen Hut aus dem Seesack krame, ihn zurück in Form biege, und mir den derben, beigen Männerhut, der eigentlich mal Devon gehört hat aufziehe und die asymmetrische Krempe zurecht ziehe. Das breite Hutband aus Satin, ist ebenso Schokofarben wie mein Bikini, was diese Kombi meines Erachtens einfach unwiderstehlich macht.

Ich lasse meine Hand verdächtig lange auf der Türklinke, die aus meinem Reich führt, fällt mir entsetzt auf. Bis jetzt habe ich wirklich gut verdrängt, dass da draußen Semjon sein Unwesen treibt. Bin ich bereit ihm entgegenzutreten? Nicht im Geringsten. Aber ich habe keine Wahl, wenn ich an Kaffee kommen möchte.
„Was tut man nicht alles um an sein Koffein zu kommen“, seufze ich schweren Herzens und beeile mich ungesehen nach unten in die Küche zu kommen.

„Guten Morgen Lady mit Hut“, höre ich es von der Seite sagen und drehe mich verdutzt um.
Nikita sitzt vor dem Fernseher, einen Joystick in der Hand und starrt wie gebannt auf den Bildschirm vor sich, der laut irgendwelches Geschrei und Schussgeräusche von sich gibt.
„Morgen, der Herr Killerspielspieler“, antworte ich im gleichen trockenen Tonfall, als ich am Ende der Treppe ankomme. „Wo ist Semjon?“
„ Arbeiten. Wann er wieder kommt weiß nicht. Du hast ihn ungefähr um fünf Stunden verpasst.“
Über diese Neuigkeit freue ich mich nicht so sehr, wie ich eigentlich sollte, stelle ich mit Entsetzen fest. Doch bevor ich ernsthaft ins Grübeln verfallen kann, hat Nikita sein Spielzeug zur Seite geworfen und kommt strahlenden Schrittes auf mich zu.
„Nun, da du endlich wach bist, können wir ja endlich frühstücken gehen! Ich verhungere gleich und der Kaffee der hier herumsteht, hält meinen Magen nicht ewig im Zaum.“
Ich stöhne auf. „Ich muss zu meinem Frühstück laufen? Ohne Kaffee? Willst du mich umbringen?“
Nikita deutet lässig mit seinem Daumen Richtung Tür. „Nur zwei Häuser weiter gibt es das beste Frühstück der Stadt. Glaub mir, die paar Meter sind es wert.“
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. „Beweis es“, sage ich fordernd und setze mich in Richtung Tür in Bewegung.
„Du hast überhaupt kein Vertrauen in meine Fähigkeiten als Gourmetvielfraß meine Liebe. Du wirst den Laden lieben.“
Ich lasse meinen Blick an ihm herunter schweifen. „Vielleicht liegt mein Misstrauen darin begründet, dass man deine Gefräßigkeit kein Stück sehen kann.“
Nikita lässt seine Piercings nach oben wandern. „Du hast den Meister einfach noch nicht bei der Arbeit gesehen, Mad Hatter.“
Ich grinse. „Du bist ja ungemein kreativ, mit deinen Spitznamen.“
„Alles eine Frage der Übung“, meint er leichthin. „Und jetzt los. Ich will noch was von der Frühstückskarte, bevor der Morgen um ist.“
Ich stütze meinen Ellbogen auf seiner Schulter ab und schiebe meinen Hut zu Recht. „Na dann lass uns mal loslegen.“

„Oh, ich mag deine Einstellung“, jubiliert Nikita und zieht mich vom Treppenabsatz herunter, der es mir ermöglicht hat, ihn um einen Kopf zu überragen. „Semjon hat dir einen Batzen Kohle und eine Kreditkarte dagelassen. Wir werden also, wenn wir gesättigt und gewässert sind losziehen und dir eine Menge mehr abgefahrene Hüte kaufen und noch viel mehr heiße Klamotten und ich werde zusehen, wie du sie alle anprobierst“, grinst er breit, sodass ich keinen Zweifel daran habe, welche Klamotten im Speziellen er da meint.
„Denk nicht mal dran.“
„Komm schon, du könntest die Wirkung gleich am lebenden Objekt ausprobieren.“
„So gut kann dieses Frühstück gar nicht sein, als dass ich so gut auf dich zu Sprechen bin, dass ich das mit dir machen werde.“
Nikita schnaubt und schnappt sich eine schwarze Lederjacke vom Haken. „Oh, du hast ja keine Ahnung.“

Wir Beide grinsen uns abwägend an und ich komme nicht umhin, den gepiercten, tätowierten Kerl, mit dem glänzend schwarzen Zopf immer sympathischer zu finden. Er hat heute eine ausgewaschene Jeans an in unordentlich in schwere Bikerstiefel gesteckt sind und unter seiner schwarzen Lederjacke ein schlichtes schwarzes Muskelshirt auf dem in fetter weißer Schrift verkündet steht: Sarkastisch. Bösartig. Gut.
Allein für den T-Shirt Aufdruck kann man ihm schon mal gefühlte 100 Punkte auf der Sympathieskala gutschreiben. Doch wie viel Wahrheit hinter seinen Sprüchen steckt und wie viel davon nur Show ist, kann ich jetzt noch nicht genau sagen.
„Wir werden sehen. Hast du einen Schlüssel?“
Nikita zieht einen Schlüsselbund aus der Jackentasche und öffnet die Stahltür mit einem amüsierten Lächeln. „Klar. Amon! Beweg deinen faulen Doggenhintern hier her! Wir gehen!“
Amon biegt, beinahe über die eigenen Füße fallend im gestreckten Galopp um die Ecke und ich finde, dass er ziemlich große Ähnlichkeit mit einem lebendig gewordenen Gummiball aufweist. Die Ohren schlackern, die Rute hüpft fröhlich auf und ab und die langen Füße lassen den Körper wie auf Sprungfedern über den Boden fliegen.

Nikita gibt ein tadelndes Schnauben von sich, bevor er die Tür hinter uns Dreien abschließt. „Jeden Tag das Selbe mit dir Amon. Ich bin es leid Gassi zu gehen. Wenn ich ein Haustier wollen würde, dann hätte ich eines“, zischt er in Richtung Hund und drückt auf den Fahrstuhlknopf ohne mich oder Amon anzusehen.
Amon macht sich klein neben mir und wartet bis ich in den Aufzug gestiegen bin, bevor er schnell in die Kabine huscht und Nikita mit großen Hundeaugen anstarrt, während dieser mit seinen Schlüsseln klimpert.

Ich sehe von Nikita zu Amon und wieder zurück. Beide sehen ziemlich deprimiert aus, bevor Nikita mir ein Lächeln schenkt und den Kopf schief legt. „Sag mal magst du deine Blaubeerpfannkuchen mit Ahornsirup oder bist du eher der klassische Puderzuckerjunkie?“
Sein Lächeln erreicht nicht seine Augen. Er sieht mich an, aber man merkt deutlich, dass seine Gedanken nicht bei Pfannkuchen und Kaffee sind, weshalb ich beschließe nicht auf seine Frage zu antworten, sondern lieber meine eigene Stelle. „Du siehst aus, als würde dich irgendetwas belasten. Was ist los Großer?“
Nikitas Mine verschließt sich vor mir. Es ist, als hätte man einer Weinbergschnecke mit einem Stöckchen auf die Fühler gepikst.
„Nikita?“, hake ich nach, als er kein Ton von sich gibt, sondern nur abwesend auf einen Punkt vor sich in der Luft starrt.
„Wir kennen uns seit nicht einmal vierundzwanzig Stunden. Ich kann nicht mit dir darüber reden.“
Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Na schön. Aber dann tu bitte einfach so, als wäre nichts und guck vor allem nicht so niedergeschlagen!“, fordere ich, weil ich es nicht ertrage, wenn jemand wie ein geprügelter Hund neben mir steht.
Nikita versucht sich an einem halbherzigen Grinsen. „Besser?“
„Nicht wirklich“, seufze ich, als der Aufzug mit einem lauten “Bling“, das Ende unserer Fahrt verkündet.
„Hör zu, wenn es wegen Amon ist verstehe ich das. Es muss hart sein, wenn ein Freund den man schon lange kennt plötzlich nur noch in seiner Tiergestalt existiert und man plötzlich nicht mehr mit ihm reden kann. Wenn man jeden Tag-“
„Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass du das verstehst Lenny! Er ist mein bester Freund, seit über zweihundert Jahren. Er und ich haben alles zusammen überstanden und jetzt, jetzt darf ich mit ihm Gassi gehen!“, spukt Nikita. „Ich habe genauso viel Scheiße durchgemacht wie er und ich verstecke mich auch nicht vor der Welt und lasse ihn alleine!“
Amon duckt sich, als wäre er geschlagen worden, während Nikita die Hände in die Jackentaschen rammt und aus dem Aufzug stürmt.
„Du hast jedes recht wütend zu sein. Ich wäre es auch“, entkommt es mir, als ich ihm folge. „Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn Devon als Hund dahinvegetieren würde.“
Nikita schlägt die Augen nieder. „Ich will ihn zurück. Ich weiß, ich höre mich wie ein weinerliches Mädchen an, wenn ich das sage, aber ich ertrage es nicht ihn so zu sehen. Das Problem ist, ich kann nichts tun um ihm zu helfen. Ich muss warten, bis er so weit ist und ich hasse ihn dafür!“
Meine Finger greifen wie von selbst nach seinem Arm, als er sich abwenden will und halten ihn fest, sodass er gezwungen ist, mich anzusehen. „Du hast jedes Recht wütend auf ihn zu sein. Das ist okay.“
„Nein, ist es nicht. Er ist ein Hund, bei allen Göttern der Nyx! Mit treudoofen Riesenaugen und allem was dazu gehört“, schnappt er und lässt seinen Unterlippenpiercing in seinem Mund verschwinden.
„Er hat dich alleine gelassen. Hund hin oder her.“
Wir Beide fixieren uns eine Weile, bevor Nikita schnaubt. „Auf was wartest du? Ich werde nicht anfangen zu heulen. Also los jetzt, ich habe immer noch Hunger.“
Damit zieht er von dannen und ich muss mich sputen um ihm hinterher zu kommen, genau wie Amon der mir auf dem Fuß folgt.


„Okay, also das ist obszön“, stelle ich fest, als die Bedienung uns ungefragt ein Tablett mit köstlich duftenden Pfannkuchen auf den Tisch stellt, Eiern und Speck, Brötchen, Aufstrichen in allen Variationen und zwei Kannen frisch gebrühten, heißen Kaffees, kaum dass Nikita und ich uns an einen der viereckigen Tische gesetzt haben.
„Oh ja“, grinst mein Gegenüber und schaufelt sich vier Blaubeerpfannkuchen auf seinen Teller, bevor er diese in Ahornsirup ertränkt und sich ein großes Stück in den Mund schiebt.
„Du kommst oft hier her, oder?“, hake ich fasziniert nach, als die Bedienung vor uns noch eine Auswahl von süßen Stückchen platziert und ihm Kaffee einschenkt, zwei Stück Zucker in die Tasse fallen lässt und einen ordentlichen Schuss Milch dazu gibt.
„Dank dir Liebes“, lächelt Nikita in Richtung der guten Fee. „Du bist ein echtes Goldstück.“
„Du siehst nicht gut aus Nik. Du arbeitest zu viel“, entgegnet sie ihm und huscht dann davon um die anderen Gäste zu bedienen.
Ich sehe der Frau hinterher. Sie ist vielleicht um die vierzig, mit einem kecken Kurzhaarschnitt und zu viel Schminke im rundlichen, hübschen Gesicht, das von zwei freundlich dreinblickenden, roten Augen dominiert wird. Die Schürze spannt etwas um die Hüften, als sie sich über den Tisch beugt um eine Bestellung zu notieren und ich finde sie hat etwas von einer überbesorgten Glucke, als sie zum nächsten Tisch weiterflattert.
„Ich bin Stammgast. Und die Frau, die du gerade so fasziniert beobachtest heißt Mona. Ihr gehört der Laden.“
„Sie erinnert mich an meine Mum“, sage ich lächelnd.
„Irgendwie erinnert sie uns alle an unsre Mütter. Selbst Semjon isst hier aus Höflichkeit etwas, wenn sie ihn mit dem Junge- du-fällst- vom- Fleisch- Blick anschaut.“
Ich schlucke. Semjon. Er hat von mir getrunken. Ich habe mich ihm bereitwillig angeboten. Ja ich habe ihn geradezu genötigt von mir zu trinken. Natürlich sollten die Jungs das erfahren. Doch irgendetwas hindert mich daran es Nikita zu sagen. Es fühlt sich falsch an es zu erzählen. Fast so, als würde ich ihm und den Jungs damit ein intimes Geheimnis verraten. Eines das nur Semjon und mich etwas angeht.
Ich räuspere mich und schippe mir ebenfalls einen Pfannkuchen auf den Teller und übergieße ihn großzügig mit flüssiger Schokolade, bevor ich einen großen Klecks Schlagsahne auf meinem Teller verteile. Exakt jetzt würde Devon bemerken, dass ich Frust schiebe und mir irgendetwas auf der Seele brennt. Das tut es immer wenn ich solche Kalorienhaltigen Schokoladenkombinationen in mich hinein futtere, doch davon weiß der Vielfraß mir gegenüber nichts.
Das ist total verrückt. Semjon und ich haben kein intimes Geheimnis. Wir haben gar nichts. Im Grunde genommen kann ich ihn ja nicht einmal ausstehen. Gut, vielleicht sieht er gut aus und seine finstere, grüblerische, hochmütige Art macht mich irgendwie an, aber er ist immer noch ein Arschloch.
„Probier den Kaffee Lenny. Du wirst ihn lieben“, unterbricht Nikita meine Gedankengänge.
„Natürlich wird sie das. Immerhin ist das das Beste Café weit und breit“, höre ich Mona hinter uns sagen, als ich gerade den ersten Schluck Kaffee nehme.
„Ihr Kaffee schmeckt fantastisch“, entkommt es mir überrumpelt, weil ich nicht unhöflich erscheinen will und verschlucke mich dabei.
„Alles in Ordnung Liebes? Ich beiße nicht“, meint Mona sanft und tätschelt mir den Rücken.
„Ja, sicher“, bringe ich hustend raus.
Mona lächelt mich breit an. „Wie heißt du eigentlich? Ich habe dich noch nie hier in der Gegend gesehen“, fragt sie sanft und legt eine Hand auf meine Schulter.
„Ihr Name ist Marlen und sie gehört zu Semjon“, kommt mir Nikita zuvor. „ Also wirst du sie hier noch öfters sehen.“
Mona zieht eine Augenbraue nach oben. „Zu Semjon?“, hakt sie erstaunt nach, bevor ich den Stuhl rucken höre und sie sich neben mich setzt. „Wie kommst du denn zu dem?“
Nikita lächelt wie die Mona Lisa und ich könnte ihm eine Knallen. „Ich bin die beste Freundin seines kleinen Bruders“, antworte ich, bevor mir hier noch andere Sachen unterstellt werden.
Mona wirkt total verwundert. „Semjon hat einen Bruder?“
„Ja. Sogar zwei“, bestätigt Nikita bereitwillig. „Lenny wohnt in nächster Zeit erst mal bei ihm.“
„Unser Semjon hat also Familie? Das ist neu“, überlegt Mona laut. „Jedenfalls freut es mich sehr Marlen. Und ich bin ein Fan von deinem Hut.“
„Ich habe ihm meinem besten Freund geklaut“, grinse ich, nachdem ich nicht mehr den Kaffee in der falschen Kehle habe.
„Nichts geht über ein paar abgefahrene Accessoires.“ , lächelt sie breit. „Und das du bei Semjon wohnst finde ich fantastisch. Je eher unser grüblerischer, dunkler Schweiger ein bisschen Platz für zwischenmenschliche Beziehungen machen muss, desto besser. Vielleicht schafft es dann mal jemand ihm ein Lächeln abzuringen.“
„Also ich glaube nicht, dass ich jemand bin, der ihn zum Lachen bringt“, rutscht es mir raus, woraufhin ich von meinem Gegenüber einen kritischen Blick zugeworfen bekomme.
„Hm, jedenfalls ist er ein echtes Zuckerstückchen. Keine Frau, die Augen im Kopf hat, wird das bestreiten. Selbst wenn er mit todernster Mine durch die Weltgeschichte umherwandert. Tatsächlich finde ich, es macht einen Großteil seines Charmes aus, dass er immer so eisig wirkt“, plappert Mona fröhlich drauf los. „Allerdings würde mir nicht einfallen mich an ihn heran zu machen. Ich sehe ihn gerne an, aber von solchen Männern lässt man lieber die Finger.“
„Schlechte Erfahrungen gemacht?“, witzelt Nikita leichthin, während er die letzen Krümel auf seinem Teller zusammenkratzt.
„Eigentlich nicht“, seufzt Mona. „Trotzallem mache ich um solch stille Wasser lieber einen großen Bogen in Liebesdingen. Aber du bist die beste Freundin seines Bruders, du kennst die Abgründe seines Charakters bestimmt zu genüge.“
„Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen kennengelernt. Ich kenne ihn noch weniger als du es tust“, erwidere ich zögernd. „Soweit ich das beurteilen kann haben er und sein kleiner Bruder Devon nichts miteinander gemein, außer das Schwarz seiner Haare.“
„Devon, hm? Ungewöhnlicher Name. Du musst mir unbedingt mehr von ihm erzählen, doch vorher muss ich leider kurz weiterbedienen“, entschuldigt sich Mona um davon zu eilen und zwei Gästen Kaffee nach zu schenken.
„Du musst nicht dein ganzes Leben vor Mona ausbreiten. Sie wird nicht sauer sein, wenn du es nicht tust“, sagt Nikita und angelt sich ein Stück Streuselkuchen. „Und was Semjon angeht. Es besteht für dich kein Grund Angst vor ihm zu haben, solange du ihm aus dem Weg gehst, wenn er von seiner Blutgier überwältigt wird.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
Nikitas Augen verengen sich misstrauisch. „Lenny, du wirst ihm doch dann aus dem Weg gehen, oder?“, hakt er verdutzt nach mit seiner rauen Stimme und ich schlage die Augen nieder.
„Was würde denn passieren, wenn ich es nicht täte?“, frage ich zögerlich.
„Was… Lenny es ist gefährlich. Mal davon abgesehen, dass er dich umbringen könnte wenn er die Kontrolle verliert, weißt du doch sicherlich, was passiert, wenn eine Frau einem Mann Blut gibt“, meint er schleppend.
Ich sehe Nikita verdattert an. „Äh, nein?“
Nikitas Züge entgleisen leicht, bevor er auflacht. „Wie kannst du das nicht wissen? Ich meine, du hast doch bestimmt schon-“ Er räuspert sich unwohl. „Süße, ich weiß jetzt nicht genau, wie man das weniger obszön klingen lässt. Wir werden geil, okay. Verdammt geil. So geil, dass meistens auch eine kalte Dusche da nichts mehr hilft.“
Mir ist, als wäre ich gegen eine ziemlich harte Glaswand gelaufen. Das habe ich nicht kommen sehen. Und nun platzt fast mein Schädel von der Flut an Gedanken, die mir durch den Kopf schwirren.
„Geht´s dir gut Lenny? Du siehst ziemlich blass um die Nase aus“, will er mit einem entschuldigenden Lächeln wissen.
„Funktioniert das auch in die andere Richtung?“
„Wie meinst du das, in die andere Richtung?“ Nikita hört sich nun offenkundig verwirrt an.
„Naja, wird die Frau auch davon erregt?“, bringe ich mit bestimmt hoch rotem Kopf raus.
„Die Meisten schon, wieso fragst du mich das? Du hast doch nicht etwa… Marlen! Hast du Semjon etwa dein Blut-“
„Er, er hatte gestern diese Augen. Er hat gezittert wie ein Junkie auf Entzug. Ich konnte ihn doch nicht so herum laufen lassen. Ich meine, er hatte sich unter Kontrolle als er von mir getrunken hat. Und es ist auch nichts weiter passiert, außer dass er sich ungefähr hundert Mal dafür entschuldigt hat und ich nunja, das Bedürfnis hatte ihn zu küssen. Natürlich habe ich das nicht getan, aber ich hätte gern. Ist das also nur eine rein körperliche Reaktion darauf, oder-“
Nikita schlägt die Hände über die Augen und ich sehe, wie er tief Luft holt, Luft, die er eigentlich gar nicht nötig hat. „Marlen, was genau an halt dich von ihm fern, wenn er diese Augen hat hast du nicht verstanden?“, zischt er leise grollend.
„Ich dachte, das Risiko sei überschaubar“, sage ich unglücklich. „ Das Ganze ist mir auch so peinlich genug, also-“
„Ich könnte dich echt gegen die nächste Wand donnern!“, ereifert sich Nikita und seine sonst so schleppend, angenehm raue Stimme überschlägt sich fast.
„Schon kapiert. Ich bin lebensmüde, verrückt-“
„Du bist eine Katastrophe. Und um auf deine Frage zurück zu kommen. Nein. Denn wie schon gesagt, auch ihr werdet auch ein wenig erregt, nicht aber verliebt. Du wolltest ihn küssen, nicht besteigen“, sagt er so kaltschnäuzig, dass ich registriere, dass ich gerade einen Seelenstriptease vor ihm hingelegt habe.
„Ich-“
„Bei allen Göttern der Nyx! Lenny du bist total wahnsinnig! Semjon? Ich meine klar, wie Mona schon gesagt hat, er sieht gut aus, aber er spielt so weit außerhalb deiner Liga, dass du nicht einmal einen Gedanken im Bezug auf ihn in dieser Beziehung haben solltest.“
„Ich habe überhaupt keine Gedanken im Bezug auf ihn.“
„Das hoffe ich sehr für dich. Semjon hat Frauen schon bestiegen, als es dich noch nicht einmal gab und er hat nicht gerade den Ruf besonders sanft oder zutraulich zu sein. Ganz zu Schweigen davon, dass er keinen Schimmer hat, was die Worte Zuneigung oder gar Liebe bedeuten!“
„Denkst du das weiß ich nicht? Lass uns jetzt weiter essen. Ich will nichts mehr zu dem Thema sagen“, brumme ich unglücklilch.
Nikita wirft mir einen langen Blick zu, bevor er unmerklich nickt.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 13

 



Ich schiebe mein Essen appetitlos auf dem Teller umher. Pfannkuchen schmecken nicht, wenn man niedergestarrt wird.
„Sieh mich nicht so an Nikita“, murmle ich verzweifelt.
„Ich hab verstanden, dass du nicht mit mir über das Thema reden möchtest. Aber ich muss noch etwas los werden.“
„Was?“, will ich ergeben wissen, da ich sowieso nichts gegen seine Ermahnungen tun kann und pieke eine ordentliche Portion Pfannkuchen auf.
„Wie sollte das bitte zwischen euch gut gehen?“, seufzt er und es hört sich einfach nur bedauernd an.
„Nikita, du-“
„Entschuldige, aber ich muss das erst verdauen. Und ich verdaue, indem ich rede. Also wie zum Henker malt sich deine Fantasie sich das aus? Stellst du dir vor, dass er wie Rom sein ganzes Wesen vergisst und er dich zärtlich besteigt und die ganze böse Welt und all seine Wesenszüge ablegt, sobald er dich sieht?“
Ich beiße auf die harten Metallzinken der Gabel und spüre den Schmerz durch meinen Körper zucken, bevor ich entsetzt das Besteck fallen lasse und ihn mit tränenden Augen anstarre.
„Hast du den Verstand verloren?“, presse ich hervor, nachdem ich den Bissen ohne zu kauen herunter gewürgt habe und versuche die Nachwehen meiner Begegnung mit dem Edelstahl zu bewältigen.
„Nein. Ich will nur wissen, wie man so dämlich sein kann, sich in Semjon Cooper zu verlieben!“, schnappt er.
„Ich bin nicht in ihn verliebt! Ich weiß ja noch nicht einmal ob ich ihn überhaupt mag. Das einzige das ich weiß ist, dass ich ihn küssen wollte!“, zische ich energisch.
„Also im Grunde genommen findest du ihn nur anziehend?“, hakt Nikita nochmal nach. „Du stellst dir nicht vor, wie ihr gemeinsam in den Sonnenuntergang tanzt und du bist allenfalls dabei dich in ihn zu verlieben, richtig?“
Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
Nikita fährt sich über die Augen. „Na das kann ja spaßig werden.“
„Bitte verrate es niemandem“, bettle ich und lege mein Besteck zur Seite um mit meinen Fingern seinen Handrücken zu berühren.
„Natürlich werde ich das nicht tun.“
„Danke“, seufze ich erleichtert.
„Weißt du, was wir jetzt tun werden? Wir besorgen dir einen Kerl. Einen den du hemmungslos anschmachten kannst und darüber Semjon vergisst“, grinst Nikita breit. „Ich würde ja mich anbieten, aber es verliert seinen Reiz mit dir anzubandeln, wenn man weiß dass man nur Ersatzspieler ist.“
„Du wärst kein Ersatzspieler. Kerle wie du, findet man nicht oft“, lächle ich charmant.
„Fangen meine Ohren schon an rot zu werden?“, fragt Nikita mich ernst.
Ich grinse böse. „Kann sein, dass ich einen leichten Rotstich sehe an deinen Ohrläppchen.“


Nikita und ich witzeln während unseres Frühstücks weiter herum und als wir uns auf den Weg durch die Stadt machen um Amon seinen Auslauf zu gönnen, stellt sich mein Begleiter als echter Fremdenführer heraus, sodass ich vollkommen überfahren von all den Informationen und neuen Eindrücken am Abend auf Semjons breite Couch falle und mir meine Schuhe von den schmerzenden Füßen ziehe.
„Nicht schlapp machen Lenny. In einer Stunde müssen wir im Jungle Head sein. In der Bar spielen heute Abend Plastic Crow. Der Laden wird überlaufen.“
„Gib meinen Füßen zehn Minuten“, stöhne ich und schließe die Augen.
„Matt holt uns in einer halben Stunde ab. Wenn du nicht fertig bist, nehmen wir dich auch halb nackt mit.“
„Ich hoffe für dich, dass ich heute Abend den Mann meiner Träume finde“, murmle ich, als ich mich auf die schmerzenden Ballen stelle und ungelenk den Weg nach oben in mein Zimmer antrete.


Im Jungle Head

ist es laut, überfüllt und eng. Es gibt kaum genug Platz um umzufallen, als Nikita, Matt und ich uns zur Tür herein drücken.
Die Einrichtung ist auf alt getrimmt. Die Wände sind in einem muffigen Grün gehalten und die Meute die hier auf das Konzert wartet überbietet sich geradezu an Designerklamotten und nackter Haut. Kurzum, das Hauptziel das der Großteil der wartenden Menge zu verfolgen scheint, ist es heute Nacht flach gelegt zu werden.
Laut Nikitas Aussage ist es einer der Szeneclubs Helsinkis, doch meiner bescheidenen Meinung nach ist es ein überteuerter Laden, der sich etwas darauf einbildet ein paar Berühmtheiten an den Wänden hängen zu haben.
„Ist es hier drin immer so voll?“, brülle ich Matt über die Schulter hinweg zu, als wir uns in Richtung Bar schieben.
„Heute ist es extrem!“, schreit er zurück, bevor er sich zwischen zwei besetzen Barhockern hindurch quetscht und dem Barkeeper irgendetwas zuruft.
„Was willst du trinken?“, raunt Matt über ein paar Köpfe hinweg, als er sich erneut zu uns dreht.
„Ich nehm das, was du nimmst“, antworte ich ihm und sehe ihm dabei zu, wie er den Barkeeper anweist noch Bier herüber wandern zu lassen. Matts Hemd spannt dabei über seinen Muskeln und ich frage mich kurz, wie er wohl unter seinen Klamotten aussieht, bevor ich mich zu Nikita drehe und mein Kleid vorsorglich nach oben ziehe, bevor ich Nikita ansehe. „Sag mir, wenn du einen hübschen Kerl siehst.“
„Keine Sorge. Es gibt keinen Kerl, der heute Abend an dir vorbei sieht. Darunter werden schon ein paar sein, die du ansehnlich findest. Ich konzentriere mich lieber darauf ein paar heiße Frauen abzugreifen, als für dich nach Männern Ausschau zu halten“, schmunzelt er nur und nimmt Matt eines der Biere ab, das dieser gerade bezahlt.
„Na ich hoffe doch sehr, dass es sich gelohnt hat mich in diese Schuhe zu quetschen“, grinse ich amüsiert, denn mein Schuhwerk ist zwar schön anzusehen, aber ein echtes Folterinstrument für die Trägerin, da schwarzen High Heels einen so hohen Absatz haben, dass ich unglaubliche dreizehn Zentimeter größer bin.
„Lenny, sollte jemand auf deine Schuhe achten, wird er dich sicher nicht minder attraktiv finden“, antwortet Nikita mir mit einem Schulterzucken. „Du siehst genauso aus, wie Männer es am liebsten haben. Eine lange blonde Mähne, ein verruchter Augenaufschlag, ein kurzes schwarzes Kleid und ein Schmollmund, der nur dafür gemacht ihn zu küssen.“
„Sehr freundlich“, gebe ich pikiert zurück. „Ich denke ich gehe mir mal die Nase pudern.“
„Lenny komm schon. Sag nicht, dass dich solche Aussagen verlegen machen“, schnaubt Nikita. „Das musst du doch gewohnt sein.“
Ich greife mir ins Haar und weiche seinem Blick aus. „Ja. Aber ich sehe nicht anders aus, wie die anderen Mädchen auch. Nur das mein Kleid kein Einzelstück ist und auch kein Vermögen gekostet hat“, gebe ich ihm zur Antwort und mache mich mit meiner Bierflasche von dannen.
Ich kann solche Kommentare nicht ausstehen. Egal von wem sie kommen. Ich bin kein wandelndes Lustobjekt. Auch wenn ich mich gerne sexy anziehe und Schminke nicht für Teufelswerk halte, heißt das noch lange nicht, dass ich nach Komplimenten wie Nikita sie mir gerade gemacht hat giere.
Auf dem Weg zum Klo wird mein Arsch mehr als einmal begrabscht, was mich jedes Mal dazu bringt mich umzudrehen und dem Nächstbesten, der gerade hinter mir steht eine Ohrfeige zu verpassen. Dass ich dabei nicht immer den Täter erwische ist mir Gleich. Entschuldigen werde ich mich dafür nicht.


In der Pause zwischen Vorband und Band lehne ich an der Bar und nippe gerade an meinem zweiten Bier, das mir ein nicht ganz unansehnlicher Typ ausgegeben hat, der mir gerade seine Telefonnummer auf eine Serviette schreibt, als ich ihn sehe.
Er läuft mit einer Gitarre in der Hand auf der Bühne umher, bevor er diese abstellt und nach einer Wasserflasche greift. Er hat hellbraunes Haar. Dick und unbändig steht es in alle Richtungen von seinem Kopf ab und der Dreitagebart bildet mit dem ausgeleierten weißen Shirt, den ausgeblichenen Jeans, Motorradstiefeln und trendiger schwarzer Lederjacke den Innbegriff eines Rockstars. Er hat ein schmales, aber ausdrucksstarkes Gesicht, das von der krummen Nase und buschigen Augenbrauen dominiert wird. Die dunkelroten Augen liegen tief in ihren Höhlen und die Lippen sind nicht breiter als der Kopf einer Stecknadel, während sein fliehendes Kinn seinen Kopf noch schmäler erscheinen lässt.
Ich kenne ihn.
Er war schon einmal Gast in dem Hotel, indem ich zur Aufbesserung meines Budgets in Bergen arbeite. Es ist zwar schon beinahe ein Jahr her, aber ich erinnere mich an alles. Ich habe bedient. Er saß an der Bar und hatte schon einiges intus, als ich Feierabend hatte. Ihm ist sein Glas abgestürzt, als ich gerade verschwinden wollte und er hat sich so dermaßen ungeschickt angestellt, dass ich mich genötigt fühlte, ihm zu helfen, als er vom Stuhl getorkelt ist. Nachdem die Scherben weggeräumt waren, habe ich ihn noch nach oben zu seinem Appartement eskortiert und ihm aufgeschlossen. Er hat gefragt, ob ich mit rein kommen will. Ich sagte nein.
Ich durchforste mein Hirn fieberhaft nach seinem Namen, doch er fällt mir nicht ein.
„Hier, wäre schön, wenn du dich melden würdest“, säuselt der Typ neben mir, während ich noch immer versuche mich an den Namen des Gitarristen zu erinnern.
„Hm“, gebe ich nachdenklich zur Antwort und stecke mir die Serviette mit der Telefonnummer in die Jackentasche. „Sag mal, weißt du wer das ist?“, will ich von meinem Flirt wissen und deute mit der relativ vollen Flasche in Richtung Bühne.
„Arias Ballantyne. Der Leadgitarrist von Plastic Crow“, schreit er mir ins Ohr und legt mir dabei eine Hand auf den Rücken.
„Interessant“, lächle ich fasziniert und gleite vom Barhocker um mich nach vorne zur Bühne zu schieben.
„Wo willst du hin?“, schreit mir der Typ nach.
Ich werfe mein Haar zurück und schenke ihm ein durchtriebenes Lächeln. „Mir einen Rockstar angeln.“

Der Blick des Gitarristen fällt auf mich, als an einer Horde trinkfreudiger Kerle vorbeischiebe, die lautstark ihre Begeisterung für meinen Hintern kundtun. Mit einem Augenrollen grinse ich Arias zu und tue so, als würde ich zielstrebig auf die Theke neben der Bühne zusteuern.
Als ich dort ankomme und mich dort mit meinem Getränk positioniere, muss ich nicht lange warten, bevor Arias Ballantyne hinter mir auftaucht und fragt ob er mir einen ausgeben kann.
„Ich bin noch bedient, danke.“
„Ich kenne dich irgendwo her“, stellt er fest.
„Ich habe dich mal auf dein Zimmer gebracht, als du zu betrunken warst um noch geradeaus zu gehen“, sage ich mit einem Lächeln.
„Ich erinnere mich. Du bist das göttliche Wesen, das mir damals nicht seinen Namen verraten hat und auch nicht mit herein kommen wollte“, meint er und kratzt sich verlegen an der Schläfe.
„Genau die.“
„Du siehst noch besser aus, als das letzte Mal. Denkst du, du könntest nachher ein paar Minuten für mich Zeit schaffen. Zumindest für ein Getränk?“
„Ich denke, das lässt sich einrichten.“
„Wir sehen uns“, meint er mit einem berechnenden Blick und geht davon.


Am Ende des Abends habe ich irgendwo zwischen den letzten Drinks und ein paar schlechten Küssen mit einem Rockstar Nikita und die anderen verloren. Ich schlendere gutgelaunt neben Arias her, der sich angeboten hat, mich nach Hause zu bringen. Leider habe ich nicht die geringste Ahnung wo ich hin muss, weshalb ich Arias nicht gerade uneigennütziges Angebot bei ihm im Hotel zu schlafen angenommen habe.
„Komm da runter, Marlen!“, grölt er, als ich mit langen Schritten über eine kleine Mauer balanciere und ihm einen Kussmund zuwerfe.
„Dann hol mich runter!“, necke ich ihn und kreische erschrocken auf, als er mich tatsächlich herunter reißt und an seine Schulter zieht.
„Du Idiot!“, presse ich hervor.
„Du wolltest es doch so“, murmelt er, bevor unsere Lippen sich zu einem Kuss treffen.
„Hm. Kann sein“, wispere ich lächelnd.

Als wir endlich im Hotel ankommen und sich die Aufzugtüren hinter uns geschlossen haben, drängt er mich gegen die kalte, verspiegelte Kabinenwand. Seine Hände wandern unter mein Kleid und ich streife ihm die Jacke von den Schultern. Es ist wie in einer schlechten Liebesromanze. Das ach so hemmungslose Vorspiel im Aufzug. Die Protagonisten können ihre Leidenschaft nicht länger zügeln und fallen über einander her. Leider sind meine Gedanken nicht ganz so lusttrunken, dass ich vergesse zu denken. Ich bin mir jede einzelne verfluchte Sekunde bewusst, dass ich ihn nur deshalb küsse und an mir herumfummeln lasse um überhaupt irgendwas zu spüren. Ich habe genug davon und bin es leid mich mit dem Thema Semjon auseinanderzusetzen. Sechzehn Jahre reichen.
Ich vergrabe meine Finger in Arias vollem Haar und dränge mich gegen ihn.
Gerade bin ich dabei seinen Gürtel zu öffnen, als der Aufzug sich öffnet und ich mich den wütenden Augen Semjons gegenübersehe. Sie sprühen beinahe Funken, während seine hochgewachsene Gestalt breitbeinig vor dem Aufzug steht und uns den Weg versperrt.
„Was machst du hier?“, grollt er und seine Tonlage lässt keinen Zweifel daran zu, dass ich nicht hier sein sollte.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 14

 



Mit einem frustrierten Schnauben lasse ich meinen Hinterkopf gegen die Aufzugwand knallen. Das darf jawohl nicht wahr sein! Hat er nichts Besseres zu tun, als mich sogar jetzt zu foltern?
„Nach was sieht es denn aus, Semjon?“, sage ich gereizt ob dieser Ungerechtigkeit. „Die anderen waren plötzlich weg. Also habe ich Arias Angebot angenommen, heute bei ihm zu schlafen“, lege ich meine Gründe dar ohne zu erörtern, weshalb ich meinem Rockstar die Zunge in den Hals gesteckt habe.
Semjon scheint diese Antwort zu irritieren. Zumindest deute ich sein Stirnrunzeln damit ihn aus dem Konzept gebracht zu haben.
„Die Jungs suchen dich seit Stunden“, meint er schließlich.
„Tut mir Leid. Ich habe keinen von ihnen gesehen und ich hatte auch keine Nummer von euch!“, fauche ich ihn an und ziehe mein Kleid zurecht.
„Ich will es nicht hören“, antwortet er mir mit einem Funkeln in den Augen, welches einen so stillen aber heftigen Ärger zum Ausdruck bringt, dass ich mich sang und klanglos von Arias löse und aus dem Aufzug trete.
„Hey du musst nicht gehen Kleines!“, verkündet Arias lautstark hinter meinem Rücken.
Ich will ihm schon antworten, als Semjon einen Schritt nach vorn macht und Arias eine Hand auf die Wange legt und ihn mit zwei Fingern auf Augenhöhe zu ihm zieht. „Ich bin dir sehr dankbar, dass sie dir nicht abhanden gekommen ist. Aber ich rate dir jetzt den Mund zu halten, denn sonst breche ich dir irgendwas. Klar soweit?“, grinst er freudlos.
„Ja, Sir“, beeilt sich Arias zu versichern.
„Ihr Rocker scheint gar nicht so minderbemittelt zu sein“, sagt Semjon boshaft und lässt ihn los.
Ich weiß nicht wie er es anstellt, dass man ihm diese Drohung abnimmt. Ob es nun an den schwarzen Klamotten, seiner puren Größe oder seiner samtweichen Stimme liegt, die alles zu Eis gefrieren lassen kann, wenn er es darauf anlegt oder einfach an seinen unnatürlich dunklen Augen, hinter denen die Feuer der Hölle zu lodern scheinen, bleibt dahingestellt. Vielleicht liegt es aber auch einfach nur an seinem scheinbar unerschütterlichen Vertrauen in seine Fähigkeiten.
„Gehen wir“, fordert Semjon mich auf, während er an mir vorbei stolziert und seine Krawatte zurechtrückt.
Kurz bin ich versucht gegen diese Bevormundung aufzubegehren, dann überlege ich es mir doch anders, weil ich keine Lust habe mich mit Semjons geballtem Zorn auseinanderzusetzen.
Er dreht sich zu mir um, da ich mir Zeit gelassen habe mich zu entscheiden und mustert mich abwägend, während ich die Hände in die Hosentasche stecke und absichtlich langsam den Gang entlang schlendere.


„Wirst du mich nun für alle Zeit ignorieren?“, meine ich wütend, als Semjon dabei ist in seinen Wagen zu steigen, der vor der Eingangstür geparkt ist.
„Nein. Nur so lange, bis du aufhörst zu schmollen. Und nun steig endlich ein“, antwortet er mir knapp und taucht ins Innere seines Mercedes ab.
Ich bin mir nicht sicher, ob er das ernst gemeint hat, oder ob es so sarkastisch gemeint war, wie es geklungen hat, jedenfalls macht mich der Kerl fertig. Mit einem Stoßseufzer füge ich mich und klettere auf den Rücksitz, da ich es vorziehe gerade nicht neben ihm sitzen zu müssen.
„Geht es dir gut?“, fragt mich Semjon plötzlich, als ich mich angeschnallt habe und aus dem Fenster starre, an dem die Häuserschluchten vorbei fliegen.
Er mustert mich aus dem Rückspiegel. Von seiner stillen Wut von vorhin ist nichts mehr zu sehen. Die dunklen Augen mustern mich so intensiv, dass ich mich am Liebsten zwischen den Sitzpolstern verkriechen würde, weil ich das Gefühl habe, dass sie mich wie ein Scanner durchleuchten.
„Ja“, presse ich hervor und ziehe meine Lederjacke enger um mich. Ich wünschte ich würde nicht so nach Arias stinken und Semjon eine schlechtere Nase besitzen. Obgleich bis auf Fummeln und Knutschen nichts passiert ist, fühle ich mich dennoch peinlich berührt, dass er es mitbekommen hat.
„So siehst du aber nicht aus“, sagt Semjon ernst.
Ich zucke mit den Schultern, da mir keine zufriedenstellende Antwort einfällt. Semjon scheint sich damit zu begnügen, denn er tippt auf seinem Handy herum und beachtet mich nicht mehr weiter.
„Verdammt!“, murmelt er plötzlich und tritt auf die Bremse, sodass ich gegen den Sicherheitsgurt gedrückt werde und verwundert beobachten kann, wie er den Rückwärtsgang einlegt.
„Ist etwas passiert?“, frage ich verdattert, während er einen Arm auf der Halsstütze des Beifahrersitzes ablegt und er sein Wagen zurück setzt.
„Ja. Sieht so aus, als hättest du heute Nacht unerhörtes Glück gehabt“, meint er kurzangebunden, bevor er sich wieder umdreht und den Mercedes durch die schmale Seitengasse jagt, die sich auf der rechten Seite aufgetan hat. Sie ist kaum groß genug um den schweren Wagen nicht anecken zu lassen, doch Semjon drückt weiter aufs Gaspedal.
„Wieso haben wir es so eilig?“, hake ich verschüchtert nach, während er in halsbrecherischem Manöver durch die Gässchen rast und ich mich in die Sitzpolster kralle.
„Ich muss zu einem Tatort“, antwortet er mir schlicht.
Ich schlucke hart bei der Aussicht und kauere mich in den Sitz. „Nimmst du mich etwa mit?“, will ich entsetzt wissen.
„Du bleibst im Wagen. Ich habe keine Zeit dich nach Hause zu fahren.“
„Okay“, stimme ich ohne groß Nachdenken zu müssen zu. Keine zehn Pferde würden mich aus diesem Auto steigen lassen, denn mein Bedarf an Toten die mich in meine Träume verfolgen, ist gedeckt.
Semjons Blick streift kurz den Rückspiegel. „Tut mir Leid Marlen.“ Seine Stimmlage lässt vermuten, dass er gerade das Gleiche wie ich gedacht hat und das ist echt beruhigend.
„Mach deinen Job. Ich rühr mich nicht vom Fleck“, gebe ich darauf nur zur Antwort und fahre mir durch meine vom Haarspray verklebten Locken. „Entschuldige übrigens, dass ich vorhin so biestig war“, fühle ich mich schließlich noch genötigt zu sagen.
„Ist nicht weiter schlimm. Aber er war nicht deine Liga. Ich hoffe, das weißt du.“
Ich blinze. Ich blinze noch ein zweites Mal, während Semjon seinen Wagen um die nächste Ecke jagt. Diese Beleidigung hat gesessen.
„Na vielen Dank. Was ist denn meine Liga? Ein Kellner aus einer drittklassigen-“
„Wieso bekommst du eigentlich alles was ich sage in den falschen Hals?“, unterbricht er mich unwirsch. „Alles was ich sagen wollte war, dass du sie alle haben könntest. Also verkauf dich nicht unter wert. Und bevor du jetzt wieder das Falsche denkst, nein, ich meinte damit nicht, dass du käuflich wärst.“
„Wenn das jetzt ein Kompliment war, war es echt gut versteckt.“
Seine dunklen Augen fixieren mich kurz mit ihrer ganzen Intensität, doch er schweigt, anstatt mir zu antworten und irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir Beide gerade auf sehr komplizierte Weise miteinander flirten.
Doch ich komme nicht dazu, das genauer rauszufinden, denn vor uns taucht eine breite Straße auf, auf der sich eine wilde Ansammlung schwarzer Vans und dunkler Gestalten tummelt, welche geschäftig umher wuseln, Absperrbänder ziehen, in Gruppen zusammenstehen oder in weißen Ganzkörperanzügen Fotos schießen.
„Ich versuche so schnell wie möglich wieder da zu sein. Wenn du möchtest mach dir das Radio an oder schlaf eine Runde“, erklärt er mir unterkühlt.
Ich nicke, während er hinter den anderen Autos der Dunklen parkt und den Motor abstellt.

Als er davon geht und mich allein im Auto zurück lässt überkommt mich ein unwohles Gefühl, das auch nicht verschwindet als sich der Wagen automatisch verriegelt. Ich beobachte mit flauem Magen, wie er zwischen all den schwarz angezogenen Leuten abtaucht und mit einem Mal habe ich den Duft von Regen in der Nase.
Verwirrt sehe ich nach draußen, in die vollkommen klare Sommernacht. Doch da ist keine Spur von Regen.
Jetzt werde ich wohl auch noch verrückt. Na spitze.

Gerade als ich meine Füße von meinen High Heels befreien will um es mir zum Schlafen gemütlich zu machen, da meine Fantasie mir, wie ich hoffe, nur aufgrund des Schlafmangels durchgeht, sehe ich eine Kamera blitzen.
Der Regen fällt dicht auf den Asphalt und schlägt große Blasen in den dicken Pfützen, während aufgeregte Stimmen durch die Dunkelheit dringen.
„Schickt noch ein Team runter in die Katakomben. Ich will eine Dokumentation jedes einzelnen Staubkorns, dass da unten zu finden ist! Und dann schafft mir einen Arzt her! Die Kleine muss versorgt werden“, höre ich Semjons Stimme in meinen Ohren wiederhallen.
„Boss, du- du hast ein Loch in der Schulter“, sagt Nikitas Stimme.
„Ich weiß. Nicht wichtig. Schaff der Kleinen endlich einen Arzt her! Und dann such mit den anderen weiter die Umgebung ab.“
„Das sieht böse aus. Du kannst mir das Bündel geben Boss. Ich kümmer mich um-“
„Darum habe ich dich nicht gebeten. Tu was ich gesagt habe und beeil dich damit“, durchbricht Semjons Stimme das laute Trommeln des Regens, während ich näher an ihn gepresst werde.
„Wenigstens regnet es“, höre ich ihn murmeln, während seine Hand über meinen Kopf streicht.


Ich blinzle. Was zur Hölle war das? Den Kopf schüttelnd werde mir der Tatsache bewusst, dass ich halb über dem Beifahrersitz hänge und aus der Windschutzscheibe starre. Verdammt. Habe ich das geträumt, oder war das der erste Flashback meines Lebens, indem keine Toten vorkommen?
Ich sinke zurück auf die Rückbank. Es hat sich so real angefühlt. Mir war kalt, ich war durchnässt, aber ich hatte keine Furcht.
Mit klammen Fingern, reibe ich mir über die Augen und rolle mich zusammen. Ich wusste nicht mehr, dass es damals geregnet hat. Und ich wusste auch nicht, dass Semjon damals verletzt war. Krampfhaft versuche ich mich an noch mehr zu erinnern, doch da ist nicht mehr, egal wie tief ich auch in mich gehe.
Der Horizont beginnt schon sich rot zu verfärben, als ich das nächste Mal aus dem Fenster sehe und mit einem schnellen Blick auf die Uhr erkenne ich, dass wir kurz nach fünf haben und Semjon schon eine gute Stunde weg ist.
Schlafen kann ich hier definitiv nicht und mein Hirn weiter zermartern will ich auch nicht, weshalb ich mich dafür entscheide das Radio anzumachen und Semjon zu beobachten, der gerade zwischen den parkenden Autos auf mich zusteuert.
Als er mir die Tür öffnet und mir sein unverwechselbarer Geruch entgegen schwappt, fühle ich mich beinahe gut.
„Das kann hier noch dauern. Aber es gibt Kaffee. Komm aus dem Auto.“
Ich nicke verdattert. „Okay.“
„Beeil dich“, fordert er und wartet, bis ich mich wieder in meine High Heels gequetscht habe.

„Ich dachte ich darf hier gar nicht herumlaufen“, meine ich, während ich ihm folge.
„Ich habe beschlossen, dass du es darfst“, antwortet er mir und lässt mich nicht aus den Augen, als ich einen Bogen um zwei sehr beschäftigt aussehende Männer mache, die über einem Laptop hängen, der auf der Motorhaube eines der Vans steht.
Er bleibt stehen und hält inne, bis ich neben ihm bin, bevor er weiter geht.
„Darf ich fragen, was hier passiert ist?“, hake ich neugierig nach, während er sehr darauf bedacht scheint, mich im Auge zu behalten.
„Wir haben eine männliche Leiche und eine entführte Frau“, antwortet er mir kurz angebunden und als er mich um das nächste parkende Einsatzfahrzeug führt, wird mir auch klar, was er vorhin meinte, als er sagte, dass ich heute Nacht unerhörtes Glück gehabt hätte. Wir befinden uns am Hintereingang des Jungle Head, zumindest verkündet das die Aufschrift auf der grauen Eisentür, auf der außerdem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass dieser Eingang nur für Personal reserviert ist.
„Da hinten ist der Kaffee“, erklärt Semjon mir freundlich, als würden wir nur einen Spaziergang machen und nicht über einen Tatort laufen.
„Ich möchte nach Hause“, wispere ich, was ihn dazu bringt mich anzusehen.
„Dir passiert nichts, solange du in meiner Nähe bist. Und Nikita und die anderen sind auch hier“, sagt er schlicht und dirigiert mich zum Kofferraum eines riesigen Mercedesbusses, indem Matt und Youri sitzen.
„Lenny! Bei allen Göttern der Nyx, wo warst du?“, brüllt mich Nikita da auch schon von der Seite an und umarmt mich so fest, dass ich ein paar Knochen brechen höre.
„Ihr wart weg, also bin ich mit Arias nach Hause“, presse ich hervor, während Nikita mich noch immer an der Taille umschlungen hält.
„Tu das nie wieder“, murmelt er, bevor er mir einen kratzigen Kuss auf die Stirn drückt.
„Nik, lass sie los und arbeite weiter. Marlen ist soweit okay. Lass sie in Frieden“, befiehlt Semjon ihm und drückt mir einen heißen Becher Kaffee in die Hand, bevor er davon geht um zu einer Traube von schwarz Uniformierten Vampiren zu gehen, die allesamt auf einen Bildschirm starren.
„Semjon hat uns fast den Kopf abgerissen, als wir ihm sagen mussten, dass wir nicht wissen wo du steckst und jetzt die scheiße hier. Offensichtlich hatte er recht damit uns so zusammenzustauchen“, meint Nikita leise. „Das Mädel das verschwunden ist, sieht dir verdammt ähnlich. Und unsere Leiche scheint nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Eine schöne Scheiße ist das“, flucht er vor sich hin, was mich gleichzeitig dazu bringt mich noch unwohler zu fühlen.
„Denkst du etwa, jemand war hinter mir her?“, will ich panisch wissen.
„Das denke nicht nur ich Liebes. Auch der Boss. Was glaubst du, warum er dich nicht mal allein im Auto lassen will?“
„Nik! Lass sie in Frieden!“, schreit Semjon in ohrenbetäubender Lautstärke zu uns herüber und ich sehe unverhohlenen Zorn in seinen Augen stehen. „Du hast für heute schon genug angerichtet!“
Nikita zieht das Genick ein und verabschiedet sich mit einem entschuldigenden Lächeln. „Ich muss noch ein paar Zeugen befragen.“

Ich nicke verschüchtert, und inhaliere meinen Kaffee. Doch plötzlich rieche ich einen Hauch von Tod. Süßlich und schwach.

Der Geruch von verbranntem Fleisch und Tot überflutet meine Sinne, als ich über die blutleeren Körper steige, die seltsam verdreht auf dem Boden liegen und mich aus leeren Augen anblicken. Manche von ihnen haben im Tod noch ihre Fangzähne ausgefahren, andere liegen wie schlafend nebeneinander und dazwischen immer wieder abgetrennte Gliedmaßen.
Mein Magen versucht irgendetwas hervor zu würgen, doch da ist nichts mehr, dass ich noch loswerden kann. Mit blutenden Knien krabble ich über den Schuttberg, der sich vor mir auftut und versuche vor den lauten Stimmen zu fliehen, die sich immer weiter nähern.
„Boss! Da bewegt sich was!“, höre ich jemanden brüllen.
Ich versuche schneller weg zu kommen, weil man mir weh tun wird, wenn man mich erwischt und schaffe es noch zur gegenüberliegenden Wand, bevor ich Schritte direkt hinter mir höre und erschrocken herum fahre.
Ich starre auf schwarze, schwere Stiefel und kauere mich in Erwartung des Kommenden so klein wie möglich zusammen.
„Ich bin hier um dich hier raus zu holen. Ich werde dir nichts tun“, höre ich die Stimme sanft sagen. „Ich tu dir nicht weh, versprochen“, murmelt er leise und ich spüre, wie sich eine kalte Hand auf meine Wange legt. „Du warst sehr tapfer Kleines.“


Ich fahre erschrocken zusammen, erst recht, als ich die Augen öffne und nur schwarz sehe, während ich den Boden unter meinen Füßen schwanken spüre.
„Ist alles in Ordnung Marlen“, höre ich Semjons Stimme sagen. „Du bist uns umgekippt.“
Sein Geruch legt mich vollkommen lahm, wie eine Überdosis Beruhigungsmittel. „Tut mir Leid“, bringe ich träge raus.
„Kein Problem. Ich fürchte nur, du hast dich am Kaffee verbrannt.“
„Ich spüre nichts“, murmle ich.
„Das solltest du auch nicht. Ich war so frei es zu verbinden und dich nach Hause zu bringen.“
Ich drehe meinen Kopf etwas und registriere erstaunt, dass er gerade dabei ist mich in den zweiten Stock seiner Wohnung zu befördern.
„Wie wie lange war ich weg?“, will ich erschrocken wissen.
„Eine knappe halbe Stunde. Zuerst warst du einfach nur ohnmächtig. Als ich dich dann zu mir gefahren habe hast du angefangen um dich zu schlagen und zu zittern“, grollt er, während er mit dem Ellbogen meine Zimmertür öffnet.
„Du kannst mich ruhig runterlassen“, meine ich mit so viel Überzeugung wie ich aufbringen kann.
„Rede keinen Unsinn. Du zitterst immer noch wie Espenlaub. Du kannst nicht einmal stehen, geschweige denn laufen. Und das musst du auch nicht“, sagt er sanft und lässt mich umsichtig auf das Bett sinken.
„Es geht mir be-“
„Wag es nicht mir zu sagen, dass es dir Bestens geht. Das tut es nicht und das ist auch noch mein Verdienst“, knurrt er. „Du solltest Devon anrufen. Ich habe ihn vor zehn Minuten aus dem Schlaf geklingelt und ihm gesagt was los ist.“
„Du hast was? Aber-“
„Er ist das was Familie für dich am nächsten kommt und deshalb bin ich ihm Rechenschaft schuldig, wenn dir etwas passiert“, unterbricht er mein Aufbegehren und drückt mir sein Telefon nachdrücklich in die Hand.
Wir Beide fixieren uns eindringlich und ich komme nicht umhin zu bemerken, dass Semjon noch immer so aussieht, als sei er gerade einem Werbeplakat für eine Edelmarke entstiegen. „Ruf ihn an. Ich muss noch einiges erledigen“, sagt Semjon nach einer Weile und steht vom Bett auf.

Ihm nachsehend, vergesse ich kurz meinen Auftrag Devon anzurufen, bevor mein Blick an meinem Oberschenken haften bleibt, der mit einer Mullbinde umwickelt ist und ich mir der Tatsache gewahr werde, dass Semjon das getan hat und obgleich all meiner anderen Probleme, merke ich wie ich rot anlaufe.
Um nicht weiter darüber nachzudenken, dass Semjon mich nicht nur verarztet hat, sondern mich auch nach oben getragen hat, wähle ich mit flinken Fingern Devons Nummer. Mein bester Freund geht schon nach dem ersten Klingeln ran.
„Ja?“, schnappt er kurzangebunden.
„Ich bins. Semjon hat gesagt ich muss dich anrufen“, antworte ich ihm mit einem schmalen Lächeln.
„Lenny! Du hast mir einen Heidenschrecken eingejagt. Ich wollte gerade schon rüber zu Wina. Wie geht es dir? Semjon hat gesagt, du bist ihm zusammengeklappt, während du einen Kaffee trinken wolltest und du hättest dich verbrüht“, redet er schnell auf mich ein und ich komme nicht umhin festzustellen, dass er vollkommen außer sich ist.
„Das stimmt. Er hat mich mit zu einem Tatort genommen, weil er mich nicht allein lassen wollte und das hat wohl alte Wunden wieder aufgerissen“, seufze ich und verschweige wohlweislich, dass Semjon mich nur deshalb dabei hatte, weil die anderen mich verloren hatten.
„Er macht sich ziemliche Vorwürfe“, sagt mein bester Freund ernst. „Du kannst ihm doch nicht einfach so zusammenklappen.“
„Offensichtlich schon. Ich hatte einen echt heftigen Flashback.“
Ich höre Devon die Luft einziehen und warte darauf, dass er etwas sagt, doch er lässt sich Zeit damit.
„Ich dachte mir schon, dass das früher oder später passieren würde“, sagt er schließlich nur. „Geht es einigermaßen? Oder soll ich dich abholen kommen?“
„Ehrlich gesagt geht es mir bestens. Ich zittere zwar immer noch aber es ist irgendwie anders als sonst. Ich erinnere mich an ganz neue Sachen und naja, irgendwie finde ich das echt spitze. Es ist mir nur ziemlich peinlich, dass ich zusammengeklappt bin. Vor allem, dass es vor Semjon passiert ist.“
„Du stehst wohl immer noch auf ihn?“, hakt er mit einem Seufzen nach, das sich ziemlich mitleidig anhört.
„Ich entschließe mich zu diesem Thema zu schweigen.“
„Hör zu Kleines. Es gefällt mir zwar nicht, dass er es ist, der dein Gefühlsleben scheinbar so durcheinander bringen kann, aber wenn es nun mal er ist und kein anderer, dann hast du meinen Segen es mit ihm zu versuchen. Du bist ihm nicht egal. Also tu was du nicht lassen kannst.“
„Semjon kümmert sich nur um mich, weil ihr beide Brüder seid. Also erzähl nicht so einen Blödsinn“, fahre ich meinen besten Freund an.
„Wenn du das sagst. Ich kenne ihn nicht gut genug um das zu beurteilen.“
„Allerdings“, sage ich entnervt. „Und jetzt erzähl mir wie dein Tag war. Ich habe keine Lust mich zu streiten.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 15

 



Ich muss wohl nach meinem Gespräch mit Devon eingeschlafen sein. Denn als ich die Augen aufschlage sehe ich mich Semjon gegenüber, der sich gerade über mich hinweg beugt und mir dabei verdammt nahe kommt.
Ich blinzle verwirrt, während er sein Telefon zwischen den Kissen hervor zieht.
„Ich brauchte mein Telefon wieder. Immerhin hast du es den ganzen Tag beschlagnahmt“, erklärt er mir, bevor ich fragen kann, was er da tut.
„Hm, wird wohl langsam zur Gewohnheit, dass du einfach in mein Zimmer kommst während ich schlafe“, grinse ich verschlafen und drehe mich auf die Seite um ihn besser im Blick zu haben.
„So scheint es wohl“, sagt Semjon reserviert, lässt sein Handy in der Hosentasche verschwinden lässt und krempelt die Ärmel seines Hemd nach oben.
„Wie spät ist es denn?“, hake ich, verdutzt über die Tatsache, ihn nur in einem schwarzen Hemd und einer eleganten schwarzen Hose zu sehen und nicht in einem vollständigen Anzug, nach.
„Es ist kurz nach zehn Uhr. Abends.“
Ich reibe mir über die Augen und stelle entsetzt fest, dass ich total nass geschwitzt bin und mein Kleid im Schlaf hoch gerutscht ist. Mit fahrigen Fingern versuche ich das kurze schwarze Ballonkleid, mit den breiten eingenähten Hosentaschen an der Seite, herunterzuziehen, da es beinahe meinen ganzen Hintern entblößt hat.
„Gehst du aus?“, frage ich und versuche lässig zu wirken obwohl ich bis gerade eben halb nackt vor ihm gelegen habe. Ob er wohl meine Unterwäsche gesehen hat? Wenn er es hat, dann werde ich auf der Stelle im Boden versinken!
„Nein… Du kannst ruhig weiter schlafen. Wenigstens schienst du keine Alpträume zu haben“, antwortet er mir, während ich mich in Grund und Boden schäme.
Seine unnatürlich dunklen Augen mustern mein Gesicht eingehend.
„Ich bin wach“, seufze ich schließlich, als ich glaube seine tadelnde Musterung nicht mehr zu ertragen und setze mich auf.
Gott, was musste er auch in mein Zimmer kommen!
Semjon schweigt, bleibt aber an meinem Bett sitzen.
„Gibt es schon etwas Neues von deiner Leiche oder eine Spur von der vermissten Frau?“, will ich nach einer Weile wissen, nachdem mich seine stille, unbewegliche Anwesenheit endgültig in den Wahnsinn getrieben hat.
„Darüber mach dir keine Gedanken“, murmelt er und lässt seinen Blick aus dem Fenster schweifen.
„Tu ich aber. Wie kann ich mir denn keine Sorgen darum machen?“, frage ich verzweifelt. „Immerhin geht es dabei auch um mich.“
Semjon schenkt mir einen Blick, bevor er langsam nickt und dabei so abwesend wirkt, dass ich beginne mir Sorgen zu machen.
„Na schön. Wir werden darüber sprechen“, sagt er schließlich. „Aber nicht jetzt. Christobal und ich müssen noch einiges besprechen. Nachher nehme ich mir die Zeit dafür. In Ordnung?“
„Okay“, wispere ich erstaunt. „Geht es dir gut? Ich meine, entschuldige, aber du siehst ich weiß auch nicht- so abwesend aus.“
„Ja. Wir reden später“, verabschiedet er sich sehr knapp.


Ich fahre mir über die Augen, als er die Tür hinter sich geschlossen hat, bevor ich aus dem Bett klettere und ins Badezimmer schlendere um mir den Geruch des vergangen Tages abzuwaschen.
Ich überlege ob ich Zeit habe die abgefahrene Badewanne auszuprobieren, in welcher locker vier Personen Platz finden würden, beschließe, dass ich mir die Zeit einfach nehmen sollte und öffne erst einmal die Bodentiefen Rundbogenfenster um die angenehm kühle Abendluft in den aufgeheizten Raum zu lassen, der von langen Sonnenstrahlen durchflutet wird, bevor ich den verchromten Hebel zum Einstellen der Wassertemperatur und des Wasserzuflusses nach oben ziehe und fasziniert dabei zusehe wie sich ein plätschernder Wasserfall aus der Decke ergießt.


Als ich zehn Minuten später auf dem Grund der Wanne liege und mir mit den Fingern durch das um mich treibende Haar kämme, das wie ein blonde Wolke im Wasser schwebt, fühle ich mich total entspannt.
Wina kann es nicht ausstehen, wenn ich mich so offensichtlich unmenschlich verhalte. Sie hat mehr als einmal aus unserer Badewanne gezogen, wenn ich mit offen Augen, unter Wasser liegend, meinen Gedanken nachhing und hat mich angeschrien, weshalb ich mich umbringen will, bevor sie registrierte, dass es mir ja rein gar nichts ausmacht stundenlang unter Wasser zu sein.
Schätze für meine Schwester ist es ebenfalls ziemlich irritierend. Immerhin hat es mir zwanzig Jahre meines Lebens sehr wohl etwas ausgemacht, wenn wir uns gegenseitig getunkt haben. Doch ich nehme an für mich selbst war es anfangs am unheimlichsten.
Plötzlich kann man nicht mehr ertrinken. Nicht, dass es mich reizen würde, mir einmal die Lungen durchspülen zu lassen, aber ich habe davon gehört dass viele das schon ausprobiert haben.
Überhaupt ist die ganze Sache mit dem Vampir sein anfangs einfach nur schrecklich irritierend. Man vergisst es selbst die meiste Zeit, dass man kein normaler Sterblicher mehr ist. Doch manchmal wird es einem mit dem Zaunpfahl übergezogen. So wie jetzt gerade.


Es ist fast zwölf, als ich aus dem Bad komme. Mittlerweile ist es draußen dunkel und ich fühle mich so wach wie seit Jahren nicht mehr.
Ich bin gerade auf dem Weg zur Tür, um mir ein Glas Blut zu genehmigen, als ich gedämpfte Stimmen durch die Tür höre. Kurz halte ich inne, bevor ich die Türklinke vorsichtig herunter drücke und sie einen Spalt breit öffne.
„Wie geht es ihr?“, höre ich Christobal Casey fragen und zwar so laut, dass ich davon ausgehen muss, dass er und Semjon wohl direkt um die Ecke stehen.
„Frag sie selbst. Sie hört uns gerade zu“, antwortet der Boss der Dunklen ihm da auch schon.
Ich zucke erschrocken zusammen, bevor ich mich überwinde und aus meinem Zimmer trete um zu ihnen zu gehen.
Wenn man es genau nimmt, bin ich gerade nicht vorzeigbar. Ungeschminkt und noch nicht ganz getrocknet. Außerdem habe ich eine knappe Jeans Hotpants an und ein überdimensionalen T-Shirt von ACDC, das ursprünglich aus Devons Sammlung stammt und das ich nachlässig zu einem bauchfreien Top umfunktioniert habe, was sehr wahrscheinlich weniger sexy ist.
Allerdings kann ich zu meiner Verteidigung anführen, dass ich dachte noch etwas Zeit zu haben mich schicker zu machen, bevor ich wieder auf Semjon treffen würde.
„Es war keine Absicht euch zu belauschen. Eigentlich wollte ich nur runter um mir etwas zu trinken zu holen“, erkläre ich auch schon, bevor einer der Beiden etwas sagen kann.
Semjons unnatürlich braunen Augen, mit den unendlich langen Wimpern sehen mich ernst an, bevor er sich an Christobal wendet, der einen ganzen Stapel Akten in den Händen hält.
„Offensichtlich geht es ihr schon besser“, knurrt er knapp.
Christobal schenkt mir ein strahlendes Lächeln, nachdem sich das erste Erstaunen aus seinem Gesicht verflüchtigt hat.
Er ist wirklich ein Bild von einem Mann, dieser Christobal und dann auch noch ein echter Exot mit seinen Huskyaugen und den dunkelbraunen Haaren. Ganz zu schweigen von seinem anstandslosen Benehmen und dem hellgrauen Anzug den er heute trägt, welcher ihm wirklich fabelhaft steht.
„Es scheint wohl so. Ich hoffe das stimmt auch?“, hakt er charmant nach.
So viel Aufmerksamkeit von so einem Mann, bin ich nicht gewohnt, weshalb ich mir ziemlich sicher bin, dass ich gerade gut versteckt unter meinen langen Haaren, rote Ohren bekomme.
„Ja. Ich meine, es geht mir gut“, stottere ich überfahren.
„Das freut mich sehr. Ich hatte schon Sorge, dass dir ernstlich etwas zugestoßen wäre, nachdem Semjon mich nicht zu dir lassen wollte“, sagt er und sieht seinen besten Freund bei den letzten Worten an, als wollte er ihn erdolchen.
„Nun, ich lag in der Badewanne. Schätze es wäre peinlich geworden, wenn du herein spazierst wärst“, sage ich verdutzt.
„Oh, ich glaube das wäre es ganz und gar nicht.“ Christobals Lächeln wird noch eine Spur breiter. Es lässt seine blauen Huskyaugen strahlen und mich noch etwas verlegener werden.
„Bring sie nicht in Verlegenheit“, unterbricht Semjon seinen besten Freund, noch bevor er weitersprechen kann.
„Das tut er nicht“, lächle ich, nachdem ich mit Erstaunen bemerke, wie Semjon sich auf das Innere seiner Wangen beißt.
Eine menschliche Regung, die mich trotz besseren Wissens zu überraschen vermag. Christobal scheint das wohl ebenfalls aufgefallen zu sein, denn er legt den Kopf schief und präsentiert Semjon seinen Nacken. Eine Geste des absoluten Respekts, die mich stutzen lässt.
„Entschuldige. Es war unangebracht von mir, das zu sagen“, sagt er an Semjon gewandt.
„Das war es“, stellt dieser eisig fest.
„Es wird nicht wieder vorkommen“, versichert er ihm so ernsthaft, dass es beinahe lächerlich wirkt.
„Okay, das ist verrückt. Niemand muss meine Ehre verteidigen. Mich so zu bevormunden würde ich nicht einmal Devon erlauben“, unterbreche ich dieses seltsame Schauspiel mit einem freudlosen Lachen.
„Wie gut, dass ich also nicht Devon bin“, grollt Semjon in meine Richtung.
„Ich werde mich jetzt verabschieden. Jetzt wo ich weiß, dass du wohl auf bist, kann ich mich wieder ganz meiner Arbeit widmen“, sagt Christobal galant und geht damit über meinen Einwurf hinweg, als hätte ich ihn gar nicht eingebracht.
Ich beschließe deshalb freundlich zu nicken und nichts zu sagen, während er sich mit einem festen Händedruck von seinem besten Freund verabschiedet und mir ein „Man sieht sich.“ zuraunt, bevor er den Rückzug antritt.


Als die Eingangstür im Schloss eingerastet ist, fixiert Semjon mich eindringlich. „Tu das nie wieder“, zischt er finster, was mich zusammenschrecken lässt.
„Wovon redest du?“, frage ich verschüchtert.
„Stell meine Autorität nie wieder vor anderen in Frage. Nur weil Devon keine Erziehung genossen hat, heißt das nicht, dass alle anderen ebenfalls keine haben! Ich werde nicht zulassen, dass man dich oder ein Mitglied meiner Familie in den Dreck zieht“, presst er hervor.
Ich weiche einen Schritt vor ihm zurück. Mein Magen fühlt sich ziemlich flau an. „Ich dachte er ist dein bester Freund.“
„Auch er hat deshalb kein Recht darauf so mit dir zu sprechen“, fährt er mich an und er sieht mit einem Mal rein gar nicht mehr kontrolliert aus.
„Und du hast kein Recht mich zu bevormunden.“
Er schließt die Augen, während seine Lippen sich zu einem schmalen Strich verziehen.
„Ich kann auf mich selbst Acht geben“, füge ich an.
Seine endlos langen Wimpern flattern kurz unwillig, bevor sich die Tore zu seiner finsteren Seele erneut öffnen.
„Davon merke ich nicht viel.“
„Wieso bist du so angefressen?“, will ich mehr verdutzt, als eingeschüchtert wissen.
Der Boss der Dunklen scheint es nicht gerade eilig zu haben mit mir zu reden und als er endlich den Mund aufmacht, sieht er mich nicht einmal an.
„Das sagte ich doch bereits.“
„Eigentlich hast du das nicht gesagt. Du hast nur gesagt, dass man mich nicht in den Dreck ziehen darf“, meine ich mit einem schmalen Lächeln, da sich bei mir ein Verdacht regt, der sollte er sich bestätigen, mich sehr glücklich machen würde.
Doch ich weiß, dass er das, was ich mir zu hören wünsche, sowieso nicht aussprechen wird und ich bin nicht dumm genug ihn einfach zu fragen.
Stattdessen mache ich einen Schritt auf ihn zu und zwinge ihn so mich anzusehen. „Egal was der Grund ist. Danke jedenfalls, dass du mich heute Nacht gefunden hast. Und dafür, dass du dich um mich gekümmert hast, als ich umgekippt bin.“
Ich beobachte fasziniert wie sich Semjons Pupillen weiten, als ich ein Stückchen näher komme.
„Dafür musst du mir nicht danken“, entgegnet er mir und senkt beinahe betreten den Kopf.
Ich beobachte wie paralysiert sein Gesicht und frage mich, was wohl hinter seinen braunen Augen vor sich geht, die mich so grimmig anfunkeln.
„Ich will es aber“, sage ich und strecke meine Hand aus, um ihn daran zu hindern seinen Kopf wegzuziehen, als ich mich auf die Zehenspitzen stelle und ihm einen kratzigen Kuss auf die Wange drücke.
Meine Fingerspitzen bitzeln, genau wie meine Lippen, weil er einen nicht weniger starken Bartwuchs wie Devon hat und weil ich mich fühle, als hätte ich einen Stromschlag bekommen.
„Lass das bitte Marlen“, meint er mit seltsam monoton klingender Stimme und wischt meine Hand von seinem Gesicht.
„Entschuldige… Semjon“, wispere ich aufgelöst ob seiner Reaktion und merke wie sich die Schamesröte in meinem Gesicht breit macht.
„Schon okay. Wenn du dir etwas zu trinken geholt hast erwarte ich dich in meinem Arbeitszimmer“, wechselt er scheinbar gleichmütig das Thema, bevor er mich stehen lässt und in Richtung seines Büros davon geht.


Semjons Arbeitszimmer ist so aufgeräumt wie der Rest seines Lofts, nur sehr viel voller. Hier stehen an drei von vier Wänden, deckenhohe Aktenschränke, eine Menge Bürokram und vor der bodentiefen Fensterfront ein massiver schwarzer Schreibtisch, auf dem ein Computer geparkt ist.
Semjon selbst hockt hinter seinem vollgepackten Schreibtisch auf einem schlichten Drehstuhl und hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt, als ich eintrete, nachdem er mich hereingebeten hat.
„Setz dich“, fordert er mich kühl auf und deutet auf einen der Beiden bequem aussehenden Sessel, die vor seinem Schreibtisch stehen.
Irgendwie dachte ich, wir würden das in einer nicht ganz so neutralen Umgebung besprechen. Vielleicht in meinem Zimmer, oder unten im Wohnzimmer. Irgendwo, wo er nicht hinter einer Barrikade aus Akten sitzt und ganz der Boss der Dunklen ist.
„Also, was willst du wissen?“, fragt er mich, als ich mich ängstlich in den Sessel sinken lasse und die Hände verknote.
„Was kannst du mir denn sagen?“, stelle ich unruhig die Gegenfrage.
„Ehrlich gesagt, bin ich mir darüber noch nicht im Klaren.“
„Erzähl mir was du weißt“, fordere ich in einem Anfall von Courage, der mich selbst erschreckt.
Ich erwarte halb, dass er mir an den Kopf wirft, wie albern ich mich aufführe, doch er schweigt einfach.
„Findest du es nicht ungerecht, dass ihr alle mehr über mich selbst wisst als ich selbst?“, schiebe ich hinterher und versuche in möglichst böse anzufunkeln.
Etwas das er gar nicht zu registrieren scheint.
„Hör zu, ich habe die ganze Zeit versucht, meine Vergangenheit zu vergessen. Doch das habe ich nie geschafft. Also wird es vielleicht Zeit endlich Licht ins Dunkeln zu lassen. Aber alles was ich noch weiß besteht aus abgehakten Bildern, die mir den Schlaf rauben und dir, wie du mich aufliest und durch den Regen trägst“, seufze ich verzweifelt.
Ich versuche in seinem Gesicht eine Gefühlsregung zu finden, doch da ist nichts. Kein Vergleich zu Devon, seinem Halbbruder, dessen Gesicht mir jede noch so kleine Regung seines Herzens verrät.
„Vielleicht kann ich euch ja helfen. Ich könnte mich ja an noch mehr erinnern, wenn ihr mich-“
Semjon hebt abwehrend die Hand. „Es ist nicht deine Aufgabe uns zu helfen. Das Einzige um das du dich kümmern musst, ist nicht ohnmächtig zu werden oder uns verloren zu gehen“, unterbricht er mich.
„Ja, aber ich könnte doch wirklich nützlich sein“, schiebe ich hinterher.
„Es würde mir nie einfallen dich in diesen Fall einzubeziehen oder gar für Ermittlungen zu missbrauchen“, antwortet er mir grimmig.
„Also erzählst du mir gar nichts“, stelle ich bekümmert fest.
Semjon sieht mich eine ganze Weile an, bevor er langsam den Kopf schüttelt. „Ich werde dir zwei Sachen erzählen. Erstens: Nichts davon ist deine Schuld. Weder das damals noch das was gerade passiert und zweitens, dass ich nicht zulassen werde, dass einer von ihnen dir jemals wieder zu nahe kommt.“
„Nichts davon bringt mich weiter“, stöhne ich entnervt.
„Ich weiß, was du hören willst Marlen. Das was alle hören möchten. Weshalb wurde man entführt. Wer war es und von wem hat man dich weggeholt.“
Ich sehe vor Aufregung und Neugierde überwältigt, mit schweißnassen Händen zu ihm in der Hoffnung er würde endlich weiter sprechen.
„Ich kann dir auf diese Fragen leider nur eine unzureichende Antwort geben. Du hattest Pech. Auf dieser Welt gibt es uralte Gestalten. Gestalten die Jahrtausende Zeit hatten ihre Psychosen zu pflegen und sich ihre eigenen Realitäten zu kreieren. “
„Ich-“
Semjon hebt abwehrend die Hand. „Jemand mochte es sehr, dabei zuzusehen, wie Vampire langsam jede Menschlichkeit verloren. Wie sie in ihrem Hunger wahnsinnig wurden. Sich gegenseitig angriffen. Zerfetzten. Wie sie ihre eigenen Kinder bis auf den letzten Tropfen aussaugten, weil ihre Überlebensinstinkte danach schrien Blut zu sich zu nehmen oder weil sie das eingesperrt sein nicht mehr ertrugen. Glaub mir, du kannst froh sein, dass du dich nicht mehr an das meiste erinnerst. Andere wären ebenfalls froh darum.“
„Gibt es andere, die ihr lebend gefunden habt?“, will ich hoffnungsvoll wissen.
Semjon steht auf. „Nein. Nicht einen.“
„Woher weißt du das dann?“
„Ihr wurdet gefilmt. Eine einzige kranke, menschenverachtende Horrorshow.“
Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter, während ich ihn anstarre.
„Hast du es gesehen?“, will ich tonlos von ihm wissen.
„Nein. Nur einen sehr kleinen Teil. Das meiste haben sich Mitarbeiter mit größeren psychologischen Kenntnissen angesehen“, meint er langsam. „Ich weiß, es hilft dir nicht weiter, aber ich verspreche dir ich werde sie kriegen. Egal wer dir und den anderen das angetan-“
„Du hast sie in sechszehn Jahren nicht aufspüren können. Wie kommst du darauf, dass du es jetzt plötzlich schaffst?“
„Weil sie mich mehr als alles andere erwischen wollen“, sagt Semjon schlicht. „Sie sind diesmal nur hinter dir her, weil sie mich dran kriegen wollen. Es ist eine Jagd. Ein Spiel. All diejenigen, die verschwunden sind, sind Lockvögel. Lockvögel für uns. Für mich. Sie wollen Rache. Dafür, dass ich ihnen ihren Spielplatz umgegraben habe. Doch ihr Problem ist das Gleiche wie unseres. Man muss sie erst aus den Löchern locken um sie jagen zu können.“
Ich schließe die Augen.
„Die Leiche gestern und die Frau die verschwunden ist- waren das Lockvögel für oder von euch?“, will ich langsam wissen.
Er legt den Kopf schief. „Traust du mir wirklich so etwas zu?“
Ich schlucke schwer, bevor ich nicke. „Wenn du die verschlagene Hälfte von Devons Genen mit ihm gemeinsam hast, dann ja.“
Mein Gegenüber schenkt mir ein freudloses Lächeln, bevor er auf seine Armbanduhr deutet. „Ich muss jetzt los. Nikita wartet unten schon auf dich. Er wird dir Gesellschaft leisten. Ich hoffe, ich konnte einen Teil deiner Fragen beantworten.“


Ich fürchte, ich habe einen Schock. Zumindest kommt es mir so vor, denn ich nehme gar nicht richtig wahr, wie er mich die Treppe nach unten geleitet und bei Nikita abliefert, der auf der Couch hockt.
Erst als Amon seinen Kopf auf meine nackten Knie legt und seine Sabberfäden auf ihnen verteilt, komme ich langsam wieder zu mir.
Nikita, der eine Decke um meine Schultern gelegt hat, wie mir jetzt erst auffällt sieht mich besorgt an.
„Er hätte dir nichts davon erzählen dürfen“, meint er unglücklich.
„Ich bin froh, dass er es getan hat. Aber ich glaube, ich wollte es im Nachhinein gar nicht wissen“, bringe ich raus und lasse meinen Kopf gegen seinen Arm sinken, bevor ich mich an seiner Brust vergrabe.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 16

 



Semjons Erklärung ist nun über drei Tage her und die Jungs behandeln mich seitdem wie ein rohes Ei, allen voran Nikita. Etwas das mir gar nicht passt. Denn nachdem ich die Informationen die Semjon mir gegeben hat nach dem ersten Entsetzen gedanklich sortiert habe, habe ich unterm Strich noch mehr Fragen und noch weniger Antworten als vorher und nun keinen mehr, der mir welche geben will, weil sie Angst haben dass ich ihnen umkippe oder wieder so abwesend bin, wie nach meinem Gespräch mit Semjon. Aber ich möchte die Jungs mal sehen, wenn ihnen so etwas vor die Füße geknallt wird.
Klar ist man erst einmal schockiert und muss zusehen, dass man das alles sortiert bekommt. Wenn man nicht gerade der gefühlskälteste Mensch auf diesem Planeten ist, sollte das jeden erst mal ziemlich fertig machen.


„Ich bin nicht schwachsinnig Nikita! Ich hatte einen Flashback, weiter nichts! Ich werde nicht ohnmächtig, sobald ich meinen Grips anstrenge“, schnaube ich vollkommen entnervt am Samstagmittag, nachdem mein tätowiertes Gegenüber mir doch tatsächlich mein Lateinbuch mit den Worten entrissen hat: „Meinst du nicht, das wird dir zuviel?“
„Das weiß ich. Aber du musst auch verstehen, dass ich kein Risiko eingehen will“, murmelt er unglücklich und ich sehe seinen Blick zu Amon schweifen, der auf einem getrockneten Schweineohr herum kaut.
„Ich fasse es nicht! Du hast Angst, dass ich so werde wie Amon, oder? Ich kann mich nicht mal verwandeln!“, fahre ich ihn schärfer als beabsichtigt an.
Nikita fixiert mich entsetzt, bevor er mein Buch in den Sand pfeffert und sich neben mich auf die Strandmatte setzt. „Kannst du es mir verdenken?“, murmelt er schließlich und reibt sich über die Augen.
„Glauben die Anderen das auch? Ist das der Grund, weshalb ich jetzt nicht einmal ein Buch aufschlagen darf?“, will ich von ihm wissen.
„Ich schätze, diese Überlegung spielt durchaus eine Rolle.“
„Oh man. Ihr macht mich fertig“, seufze ich, bevor seine Hände ergreife. „Es geht mir besser als vorher. Wieso glaubt mir das nur niemand?“
Seine blutroten Augen durchbohren mich lange, ehe er mir ein ehrliches Lächeln schenkt. „Vielleicht habe ich etwas übertrieben.“
„Das hast du“, gebe ich zurück. „Darf ich jetzt bitte mein Buch zurück haben? Ich würde nämlich gern meine Vokabeln wiederholen.“
Er zögert kurz, bevor er langsam nickt. „Ich glaube ich würde jeden anderen auslachen, der jemandem ein Buch wegnimmt, weil es zu anstrengend sein könnte“, meint er dann mit einem freudlosen Lachen.
„Ich hätte ja gelacht, aber ich fürchte, dann würdest du mich einweisen lassen“, sage ich mit einem schmalen Lächeln.
Nikita belohnt mich, indem seine Lippen sich zu einem ehrlichen Grinsen verziehen. „Das wäre durchaus möglich. Allerdings könnte ich dich auch dafür einweisen lassen, weil du am Strand tatsächlich lernen willst.“
Er reicht mir schließlich mein Buch als Versöhnungsangebot und schiebt sich seine Sonnenbrille auf die Nase.
„Irgendwann muss man es ja tun“, seufze ich und klappe mein Buch auf Kapitel 32 auf- eine pure Trotzreaktion.
Unter normalen Umständen würde ich niemals auf die Idee kommen bei sechsunddreißig Grad Lufttemperatur am Strand zu liegen und zu lernen, aber ich habe keine Lust mich mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen.
Das was Semjon mir erzählt hat, habe ich langsam verdaut. Ich fürchte nur, dass ich ihn noch nicht verdaut habe.
Er ist genau so, wie ich ihn mir all die Jahre nicht vorgestellt habe. Seine Augen leuchten weder vor Liebe noch ist er stürmisch oder gutmütig. Er ist das genaue Negativbild und trotzdem kann ich nicht aufhören an ihn zu denken.
Die Sonne knallt auf uns herunter und ich verstehe wirklich nicht, wie Nikita neben mir vollständig angezogen sitzen kann, während ich schon in meinem schneeweißen Bikini einen langsamen Hitzetod sterbe. Außerdem hat mein Strohhut mit der überdimensionalen Hutkrempe einen schattenspendenden Effekt und Nikita hat nicht nur eine dunkle Jeans an, sondern auch noch ein naviblaues Shirt.
„Sag mal kann es sein, dass du noch immer wegen Semjon Frust schiebst?“, murmelt Nikita, der sich auf dem Handtuch aussteckt und wie eine Katze in der Sonne faulenzt.
„Wie kommst du denn darauf?“, will ich erschrocken wissen.
„Weil du in einem Lateinbuch liest, anstatt nach Kerlen Ausschau zu halten“, brummt er.
„Selbst wenn es so wäre, könntest du doch nichts daran ändern“, meine ich, während ich gleichzeitig versuche mir eine Vokabel zu merken.
„Nein, das kann ich wohl in der Tat nicht“, brummt er. „Aber ich kann dir sagen, dass Matt gerade auf uns zukommt.“
Ich blinzle verwirrt und blicke auf, nur um Matt, den glatzköpfigen und braungebrannten ACDC Fan auf uns zu schlendern zu sehen, der mit seinen schweren Motorradstiefeln, der pechschwarzen Lederjacke und den verwaschenen Jeans ebenfalls nicht gerade den Eindruck macht, als hätte ihn sein freier Wille an den Strand verschlagen, doch immerhin hat er eine Sporttasche dabei.
„Interessante Bademode“, grinse ich ihm entgegen.
„Ja. Ich habe die Sonne schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Also dachte ich mir, ich komme vorbei und bringe Bier mit“, grinst er breit, als er bei uns ankommt und eine offene Sporttasche in den Sand wirft, in der einige Dosen liegen.
„Cool“, stellt Nikita fest und setzt sich auf um sich eines zu nehmen. Er bläst kurz über den Deckel, bevor er es öffnet und mit Matt anstößt, der sich ungelenk neben mich setzt.
„Möchtest du auch eines?“, will er an mich gerichtet wissen.
„Nein. Danke. Dafür ist es mir noch zu warm.“
Matt schnalzt mit der Zunge, bevor er mir mein Buch vom Schoß klaut und es fixiert, als sei es eine tödliche Krankheit. „Ernsthaft Lenny? Du liegst am Strand und liest Schulbücher?“
„Ja, ernsthaft. Und nun gib mir das zurück“, fordere ich und will mein Buch wieder an mich nehmen.
„Nein. Bestimmt nicht. Wir sind an einem Strand!“, knurrt er und wirft es hinter sich in den Sand, bevor er aufsteht und sich aus seiner Lederjacke schält, die wiederstrebend knarzt. „Doch nun zu einer weit wichtigeren Frage. Wirst du mit ins Wasser kommen, oder gehörst du auch zu den Frauen, die Angst haben, dass ihr Make up verläuft?“, will er von mir wissen, während er sich ohne jede Spur von Scham bis auf die eng anliegende, karierte Boxershorts vor uns entblättert.
„Wenn Nikita sich dadurch nicht vernachlässigt fühlt, habe ich keine Probleme damit“, erwidere ich höchst amüsiert, nachdem ich ungläubig dabei zugesehen habe, wie sich vor mir mehr und mehr Muskeln entblößt haben.
„Sicher. Verschwinde schon“, brummt Nikita.
„Dann komm, auf ins Wasser!“, grinse ich und ziehe mir meinen Hut vom Kopf, bevor ich auf springe.


Das Meer ist eiskalt, doch das hält mich nicht auf unter zu tauchen und ein paar schnelle Schwimmzüge zu machen, bevor ich wieder auftauche und Matt dabei zusehe, wie er einen Köpfer in die Fluten macht und zu mir herüber taucht.

Ich quietsche erschrocken auf, als er mich einfach an der Taille packt und mich aus den Fluten hebt, nur um mich nach oben zu werfen, sodass ich mit einem großen Platscher wieder im Meer lande.
„Sehr erwachsen“, kommentiere ich und streiche mir gespielt genervt mein Haar nach hinten, bevor ich ihm einen Schwall Wasser ins Gesicht spritze und mich auf ihn hechte um ihn nach allen Regeln der Kunst zu tunken.
Ich kreische ein wenig lauter, als nötig, als er den Spieß umdreht und lasse mich lachend in die Wellen fallen, als er hinter mir her setzt.

Als er mich das nächste Mal erwischt und seine Hände mein Gesicht umfangen, höre ich auf zu quietschen.
Das Wasser reicht mir bis zu den Schultern und meine Haare kleben an meinem Nacken und meiner Stirn wie ein anschmiegsamer Tintenfisch, während seine Augen mich fixieren.

Es gibt Männer, die findet man auf den ersten Blick umwerfend. Es gibt Männer wie Nikita, an denen entdeckt man, je länger man sie kennt immer neue Kleinigkeiten die man attraktiv finden kann. Matt gehört zu keiner der Beiden Kategorien. Er gehört zu der seltenen Sorte von Männern, die du einmal ansiehst, vielleicht auch zweimal und feststellst, dass irgendetwas fehlt um sie interessant zu finden. Und dann siehst du sie nochmal an und stellst fest, dass sie klasse aussehen und du kannst den Finger nicht darauf legen, was genau du vorher nicht attraktiv fandest.

„Ich weiß, ich habe nicht das Recht zu fragen, aber wie läuft es mit Semjon?“, fragt er plötzlich und löst seine Finger von meinen Wangen, während ich noch immer die Petitesse in seinem Gesicht suche, die mich vorher gestört hat.
Ich streiche mir mein Haar aus der Stirn, weil ich mir nicht sicher bin auf was er hinaus will. „Er ist sehr unterkühlt“, meine ich schließlich, nachdem ich ausgiebig darüber nachgedacht habe und starre auf die glitzernde Wasseroberfläche.
Ich beobachte wie die Wellen schmatzend am Ufer brechen und weit hinauf über den Strand rollen.
„Das stimmt. Aber das meinte ich eigentlich gar nicht. Ich meinte, läuft da was zwischen euch?“, fragt er mit einem Grinsen und blinzelt gegen die Sonne an.
„Wie kommst du denn darauf?“, will ich ehrlich erstaunt wissen, während mir das Meerwasser das Kinn herunter rinnt.
„Weil ich gesehen habe wie er dich ansieht und weil ich weiß, dass Risto dich ebenfalls gut findet.“
„Semjon steht bestimmt nicht auf mich und was Christobal angeht, so weiß ich nicht-“
Matt reibt sich über seinen kahlen Schädel und bringt mich so dazu mich selbst zu unterbrechen.
„Also wie gesagt, es geht mich ja nichts an, aber wenn jemals jemand in Semjons Beuteschema gepasst hat, dann bist du das“, brummt er schließlich.
„In sein Beuteschema?“, lache ich freudlos. „Semjon hat mir bei unserer ersten Begegnung versichert, dass er bestimmt nicht auf blonde, hirnlose Barbiepuppen steht, die aussehen, als seien sie ein Showgirl direkt aus Las Vegas. Also-“
Matt schnaubt. „ Ich darf dir verraten, dass er sehr wohl auf Blondinen steht.“
„Natürlich“, schnaube ich und zeige ihm den Vogel.
„Du glaubst mir wohl nicht“, meint er mit einem überlegenen, hochmütigen Lächeln, bevor er mich auch schon mit sich in die Fluten reißt.
„Kein Stück! Und jetzt krieg mich doch wenn du kannst!“, lenke ich ihn vom Thema ab, indem ich kichernd davon hechte.


Wir toben durchs Wasser wie die Kleinkinder und als ich schließlich ans Ufer stolpere bin ich nicht nur erschöpft sondern auch gut gelaunt.
Die Sonne ist mittlerweile merklich schwächer geworden, doch der feine weiße Sand der Ostsee ist noch immer aufgeheizt und kribbelt unter meinen Fußsohlen, als wir zu Nikita zurück schlendern.
„Steht er wirklich auf Blondinen?“, will ich von Matt wissen, als wir uns einen Weg zwischen Sandburgen, Sonnenschirmen und spärlich bekleideten Körpern bahnen.
Matt, dem das Meerwasser noch immer über den braun gebrannten Körper rinnt und dessen Boxershorts sich wie eine zweite Haut an ihn schmiegen, beißt sich auf die Unterlippe, bevor er mir ein irres Grinsen schenkt. „Diese Frage habe ich doch bereits beantwortet.“
„Matt, jetzt veralber mich nicht.“
„Das tu ich nicht.“
„Okay. Wie sah dann seine letzte Freundin aus?“, will ich misstrauisch wissen, was Matt dazu bringt loszulachen.
„Eine Nacht ist die Obergrenze an Zeit, die Semjon für eine Frau aufbringt. Das ist schon immer so seit ich ihn kenne. Und ich glaube auch nicht, dass das jemals anders war. Also würde ich davon absehen, auch nur eine seiner Bettgeschichten, als Freundin zu titulieren“, gluckst er.
„Das hätte ich ja ahnen können“, sage ich angefressen.
„Hättest du. Ist ja auch ziemlich offensichtlich, dass Semjon nicht gerade der Typ für und sie lebten glücklich bis an der Welt ende ist“, erklärt Matt mir mit einem Schulterzucken. „Ich glaube ich will jetzt ein Eis“, fügt er plötzlich unzusammenhängend an. „Schokolade. Und Erdbeersoße.“


Ich kratze gewissenhaft die Erdbeersoße vom Rand meines Eisbechers und schlendere neben Nikita und Matt her, während die kühle Abendbrise mein Haar verwirbelt und meine Mähne in ein gelocktes Wirrwarr verwandelt.
„Sag mal, isst du auch noch dein Eis, oder beschränkst du dich auf die Erdbeerpampe?“, will Matt amüsiert wissen und ich werfe ihm einen strafenden Blick unter meinem Schlapphut zu, den er nicht wahrnimmt.
„Das sagt der Richtige. Du hast dein Eis darin ertränkt!“, gibt Nikita zur Auskunft.
„Oh, wie es aussieht werden wir bereits erwartet“, murmelt Matt plötzlich und ich drehe mich zu ihm, bevor ich meinen Hut vom Kopf ziehe und seinem Blick folge.


Semjon lehnt an einem glänzenden Cadillac und raucht genervt aussehend eine Kippe, während er uns beobachtet.
„Gibt’s Probleme, Boss?“, fragt Nikita, nachdem wir die Straßenseite gewechselt haben und mir mittlerweile nur noch das pure Zitroneneis im Becher bleibt.
„Ihr wolltet sie schon vor Stunden zurück bringen“, grollt er und ich sehe verdutzt zu ihm.
„Ich wusste nicht, dass Nik und ich eine Zeit Beschränkung haben um mit Lenny draußen zu sein“, meint Matt verdutzt.
„Ich hatte Nikita gefragt wie lange ihr gedenkt weg zu bleiben. Er sagte sechs. Jetzt ist es neun und keiner von euch hat sein Handy bei sich“, sagt er eisig. „Keiner hat dich gebeten auf uns zu warten“, meine ich verdutzt.
Semjon fixiert mich finster, bevor er die Wagentür öffnet. „Richtig. Wie unbedacht von mir. Und nun steig ein.“
Ich fixiere Semjon kritisch. „Es sind kaum zehn Minuten zu dir. Wieso soll ich einsteigen?“
„Weil ich es sage. Steig ein“, grollt er mit zusammengebissenen Zähnen und öffnet die Fahrertür.
„Aber-“, setze ich an, doch unter seinem Blick verstummt meine Beschwerde noch auf meinen Lippen.
„Tschüs Jungs, man sieht sich“, seufze ich und umarme alle Beide kurz, bevor ich auf der Beifahrerseite einsteige und die Tür hinter mir zuziehe.

Semjon, der mich dabei beobachtet hat, wie ich eingestiegen bin, wendet sich nun wieder Matt und Nikita zu und sieht mit einem Mal sehr viel entspannter aus.
„Wir reden später darüber“, höre ich ihn zu den Zweien sagen und sehe beide nicken bevor er zu mir ins Auto steigt.

„Sem-“
„Ich habe schlechte Laune. Ich suche euch schon seit einer Weile also bitte lass mich in Frieden“, unterbricht er mich.
„Aber-“
Er umfasst das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten.
„Verflucht, wie läufst du eigentlich rum? Noch weniger hättest du wohl nicht anziehen können oder? Außerdem stinkst du nach Matt und Nikita als hättet ihr euch stundenlang gemeinsam in den Betten gewälzt! Du ziehst die Männer und die Probleme an wie die Fliegen. Wie soll man dich bitte beschützen? Du bist eine Katastrophe“, grollt er plötzlich und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass Semjon versucht ist, mich anzuschreien. Und die Aussicht darauf, ihm seine Gleichgültigkeit aus dem Gesicht zu reißen, lässt mich grinsen.
„Ich weiß.“
„Das macht es nicht gerade besser.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 17

 



„Du hast uns also schon lange gesucht?“, frage ich, nur um unser Gespräch nicht enden zu lassen und spüre meinen Magen erwartungsvoll kribbeln.

Semjon wirft mir mit seinen dunklen Augen einen abschätzigen Seitenblick zu. „Das habe ich bereits erklärt, oder nicht?“, brummt er grimmig und streckt seinen sehnigen Körper, bis seine Schultern knacken.

Er schaltet in den vierten Gang und ich lehne verträumt meinen Kopf gegen den kühlen Ledersitz, während ich ihn mustere. Alles an ihm scheint schnörkellos zu sein. Schnörkellos, schwarz und elegant. Aristokratisch. Ja, aristokratisch ist eine gute Beschreibung, stelle ich für mich fest, während mein Blick an seinem ebenmäßigen Gesicht klebt. Wenn man einmal von seinen seltsam dunklen Augen absieht, ist kein Makel in seinem Gesicht auszumachen. Es gibt wohl keinen Dunklen, der besser für die Rolle als Boss geeignet ist, allein schon aufgrund seiner äußerlichen Attribute, das muss man Semjon wirklich zugestehen.
Dass dies allerdings der ausschlaggebende Grund war, darf wohl bezweifelt werden, denn hinter seinem stoppeligen Kinn und der unzufriedenen Miene, steckt ein brillanter, verschlagener Geist, der seine wahren Beweggründe und Ziele wie kein Zweiter verschleiern kann. Zumindest habe ich das aus Matt und Nikitas Erzählungen als Quintessenz herausgefiltert.

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, als Semjons Handy sich lautstark meldet und er es mit einem entnervten Gesichtsausdruck hervorzieht, einen kurzen Blick darauf wirft und es mit einem Schnauben zurück in seine Tasche wandern lässt.

„Wie lange wirst du brauchen, um Sachen für ein, zwei Tage zusammen zupacken?“, meint er unvermittelt und wirft mir einen durchdringenden Blick zu.
„Wieso?“, will ich aufgeschreckt von ihm wissen.
„Christobal hat einen Termin für mich übernommen. Doch nun wird dort meine Anwesenheit verlangt und deshalb muss ich dich bitten mich dorthin zu begleiten“, fügt er an und seine schwere, samtige Stimme lässt mein Blut schneller durch die Adern rasen.
„Was ist das für ein Treffen? Ich dachte, in der Öffentlichkeit übernimmt Christobal die Rolle des Bosses?“
„Nun, dann ist es wohl eines, bei dem die breite Öffentlichkeit nichts zu suchen hat, wie du dir dann sicherlich herleiten kannst“, sagt er mit einem überheblichen Funkeln in den Augen.
„Könntest du bitte einfach meine Frage beantworten?“, meine ich bekümmert.
„Es ist ein Treffen mit dem Abteilungsleiter der 26. angesetzt, der gleichzeitig ein Mitglied im Rat der neun ist. Er hält sich zurzeit außerhalb Helsinkis auf, weshalb wir dort vor Ort übernachten werden.“
Ich ziehe scharf die Luft ein. „Ich glaube, ich besitze nichts, was solch einem Treffen angemessen ist.“
Semjon schüttelt energisch den Kopf. „Alles was du trägst, wird der Sache angemessen sein.“
„Du brauchst nicht sarkastisch zu werden“, meine ich unglücklich.
„Ich meinte es aber nicht sarkastisch“, antwortet er mir gleichmütig und wirft mich damit vollkommen aus der Bahn.
„Was meintest du es dann?“, hake ich mit flatternden Nerven nach.
Er lässt sich Zeit damit mir zu antworten und macht mich damit noch nervöser. Die tiefstehende Sonne blendet mich, während er seinen Wagen durch die Straßenschluchten jagt und hindert mich so außerdem daran seine Gesichtsmimik zu studieren.
Schließlich lässt er ein Seufzen hören. „Es war ein Kompliment.“
„Oh“, entkommt es mir verdutzt und schlinge eingeschüchtert meine Finger ineinander.
Semjon schweigt, während ich mich über meinen bescheuerten Kommentar ärgere und der schwere Cadillac, schnurrend wie eine zufriedene Katze, in die Tiefgarage rollt.
Obgleich Semjon eigentlich ganz mit dem Einparken beschäftigt sein müsste, schafft er es gleichzeitig auf seinem Handy herum zu tippen, das sich schon wieder lautstark gemeldet hat.
„Dilettanten“, grollt er und setzt geschickt zurück, um sein Auto zwischen seinen Mercedes und einen ebenso schwarzen Lamborghini abzustellen.
„Was ist denn?“
Er zieht den Schlüssel aus dem Schloss und schnallt sich ab, bevor er sich mir zuwendet. „Wie es scheint hat Pius für uns sein protzigstes Apartment herrichten lassen. Und es wäre mehr als unhöflich dieses Zeichen der Gastfreundschaft zurückzuweisen. Weshalb ich dich nun Daraufhinweisen muss, dass wir wohl dort nächtigen müssen. Gemeinsam.“
Seine Worte kommen bei mir an, doch ich schaffe es nicht, ihm etwas zu entgegnen.
„Natürlich werde ich keinen falls im gleichen Bett wie du schlafen, keine Sorge“, fügt er an, während er aussteigt. „Denn das wäre vollkommen unangebracht und würde deinen Ruf empfindlich beeinflussen. Wie er dazu kommt, mich in diese Lage zu bringen, ist mir schleierhaft“, brummt er mehr sich selbst als zu mir.
„Da wo ich herkomme ist es egal in wessen Bett man schläft. Es geht um den Charakter, nicht um die Herkunft“, meine ich, als ich ihm zum Aufzug folge.
„Das ist wirklich idealistisch Marlen, aber hier spielen wir nach anderen Regeln“, sagt er beinahe sanft, als die Türen des zugleiten.
„Das habe ich bereits bemerkt und es gefällt mir nicht“, erwidere ich und wundere mich dabei gleichzeitig, wie normal ich mit ihm reden kann.
„Soll ich eigentlich irgendetwas Bestimmtes einpacken? Ich weiß, du sagtest, ich könne gar nichts Falsches einpacken, aber ich habe noch nie einen so wichtigen Mann getroffen. Also außer dich und… Rome“, schiebe ich nach.
Semjons Lippen verziehen sich zu so etwas Ähnlichem wie einem Schmunzeln. „Pack Sachen für zwei Tage ein. Wenn du Sport machen willst oder ins Spa, dann packst du auch dafür etwas ein.“
Ich schnaube. „Du hilfst mir nicht gerade weiter.“
„Egal was du einpackst. Beeil dich bitte“, stellt er fest und öffnet die schwere Stahltür zu seiner Wohnung.
„Kann ich das Kleid anlassen?“, frage ich unsicher, als er mich einlässt. Seine Augen streifen mein Gesicht, bevor er nickt.
„Sicher. Du wirst heute Abend ohnehin nicht bei dem Meeting dabei sein. Die Geschäfte gehen dich nichts an. Ich hoffe du verstehst das.“
„Oh ja. Denn da bin ich ganz deiner Meinung“, beeile ich mich zu sagen, da ich wirklich nicht wissen will, was sie dort besprechen.
Semjon sieht angsteinflößend aus, wie er da am Ende der Treppe und mich aus seinen pechschwarzen Augen fixiert, als ich nach oben eile.
Und vielleicht habe ich mich einmal zu oft betrunken in meinen jungen Jahren, aber ich finde es mittlerweile unglaublich anziehend, dass er niemals die Contenance zu verlieren scheint. Beinahe noch attraktiver als sein Äußeres, geht es mir durch den Kopf. Das ist allerdings ein Gedanke, den ich schnell wieder verdränge, während ich in mein Zimmer stürze.

Als ich kaum zehn Minuten später mit einem vollgestopften Koffer auf Semjon zu stolpere, streckt dieser seine Hand aus um mir diesen aus der Hand zu nehmen.
„Danke. Nimmst du nichts mit?“, hake ich erstaunt nach, ob der unerwarteten Aufmerksamkeit.
„Ich habe immer einen Koffer in meinem Auto.“
„Was ist mit Amon?“
„Nikita kümmert sich um ihn“, sagt Semjon viel zu eisig, als dass ich es wage ihn weiter auszufragen.


Die finsteren Nadelwälder und Seen fliegen an den Fenstern von Semjons Mercedes vorbei, der durch die anbrechende Nacht gleitet, als würde er auf Federn schweben, während das letzte rote Glühen der untergehenden Sonne das endlose Waldgebiet in ein beunruhigendes Dunkel taucht, das mich frösteln lässt.
Semjon hingegen scheint vollkommen gelangweilt, während ich meine High Heels von den Füßen streife und mich auf dem Beifahrersitz zusammenrolle.
„Alles in Ordnung Marlen?“, fragt er mit seiner angenehm tiefen Stimme.
Ich nicke. „Draußen sieht es aus wie in einem schlechten Horrorfilm.“
Semjons Blick bleibt an meinem Gesicht kleben. „Da draußen ist nichts vor dem du dich fürchten musst“, meint er ernst. „Da fällt mir ein, ich habe ein neues Handy für dich.“
Ich reiße die Augen auf, als er ein brandneues, schwarzes Blackberry aus seiner Anzugtasche befördert und mir in die Hand drückt.
„Alle wichtigen Nummern sind eingespeichert, alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen und der technische Schnickschnack, der das Ding zu bieten hat, ist auch nicht zu verachten.“
„Danke“, meine ich überwältigt und umschließe es mit beiden Händen.
Semjon schüttelt nur den Kopf, bevor er sich zu mir herüber lehnt und das Handschuhfach öffnet. Die Waffe, die dort liegt scheint mir so vertraut, als hätte ich sie dort schon hundertmal gesehen. Vielleicht aber habe ich auch nur einfach damit gerechnet, dass er als Boss der Dunklen bestimmt nicht unbewaffnet herumläuft. Er zieht ein Kabel hervor, das neben ihr liegt und sich bei näherer Betrachtung als Kopfhörer entpuppt. „Hier. Ich dachte, das kannst du ebenfalls brauchen…weil du Musik magst“, fügt er an und seine letzten Worte hören sich an, als sei er tatsächlich stolz darauf, dass er sich daran erinnern kann.
Entgegen meiner eigentlichen Abneigung gegen Musik, die leise gehört wird, bin ich gerührt. „Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich hatte noch nie ein Smartphone. Bis jetzt konnten meine Handys einfach nur telefonieren.“
Semjon runzelt die Stirn. „Es ist nicht wirklich lebensverändernd. Du findest bald raus wie es funktioniert“, blockt er meine Dankesbekundung harsch ab.
„Trotzdem. Es ist sehr nett, dass du mir ein neues Handy gibst und es wäre nicht nötig gewesen.“
Semjon schnaubt. „Es war längst überfällig. Dann hätte ich dich heute auch nicht so lange suchen müssen.“
Ich schenke ihm einen entschuldigenden Augenaufschlag. „Sorry nochmal.“
„Entschuldige dich nicht immer. Es ändert nichts und ich weiß, dass du es nicht mit Absicht getan hast.“


Der Mond geht gerade auf, als Semjon die Geschwindigkeit drosselt und seinen Wagen durch ein schmiedeeisernes, reich verziertes Tor rollen lässt, das plötzlich vor uns auf der schmalen Landstraße auftaucht.
„Ich möchte dich darüber informieren, dass wir uns nun offiziell im Herrschaftsgebiet der 26. Abteilung befinden“, sagt er leichthin, während er wieder einen Gang nach oben schaltet und die geschotterte Straße, durch eine alte Allee nach oben brettert.

Das Herrenhaus, das sich vor uns aus der Dunkelheit schält, sieht ebenso gepflegt wie stattlich aus. Sein helles Gemäuer und die schmalen Fenster sprechen von einem schnörkellosen Baustil, der dem Anwesen einen unaufdringlichen Charme verleiht.
„Wie hübsch“, seufze ich erleichtert, da ich ein monumentales Prunkgebäude erwartet habe, bei dessen Anblick man sich schon klein und verloren fühlt.
Semjon parkt direkt vor dem Eingang, wartet nicht, bis der Herr, der am Eingang wartet zu ihm geeilt ist um ihm die Tür zu öffnen, sondern steigt ohne Zögern aus seinem Auto.
„Sir“, begrüßt ihn der Kerl unterwürfig, während Semjon mir die Tür öffnet.
„Warte kurz“, meine ich leicht peinlich berührt, da ich erst noch meine Schuhe anziehen muss.
Semjon zieht eine Augenbraue nach oben, bevor er mir die Hand reicht. „Lass dir Zeit“, meint er und ich sehe seine Mundwinkel verdächtig zucken. Ich halte kurz inne, erstaunt über sein offensichtlich Amüsement, besinne mich dann aber wieder und schlupfe in meine weißen High Heels, deren 13 Zentimeterabsatz mich in ungeahnte Höhen hieven werden und schließe die schmalen schwarzen Riemchen am Knöchel und bewundere kurz den fantastischen Schuh, dessen schwarz abgesetzter Rand und Sole für einen aufregenden Kontrast sorgt.
Kurz zögernd, mustere ich Semjons Hand nervös. Ich fühle mich wie eine unsichere Zwölfjährige, als sich meine Finger in seine Handflächen legen, die sich viel zu rau für einen so gepflegten Mann anfühlen. Mich durchflutet ein aufgeregtes Kribbeln, das sich von meinen Fingern aus, wie eine Welle über meinen Körper schwappt und sich noch verschlimmert, als ich seinen finsteren Augen begegne.
Um Contenance ringend, lasse ich ihn schnell wieder los, als ich auf meinen Füßen stehe und lasse meinen Blick zurück zum Haus wandern, das großflächig von Efeu bewachsen ist und in dessen weit geöffneten Eingangstür nun ein schmächtiger, durchschnittlich großer Mann steht, der stolz wie ein Pfau seinen Kragen streckt und sich einen scheinbaren Fussel vom grauen Anzug pflückt.
„Bitte folgen sie mir, Mr. Cooper. Pius erwartet sie bereits“, sagt er unterwürfig und senkt den Blick, als Semjon mir zunickt, um mir zu bedeuten, ihm zu folgen.
„Nun, dann wird er sich noch etwas gedulden müssen“, meint er, als wir dem mir unbekannten Mann folgen, der Semjon einen Schlüssel in die Hand gedrückt hat.
„Wo hast du denn diese Schönheit aufgetrieben?“, höre ich plötzlich eine tiefe Stimme von oben herunter wehen, als Semjon und ich in die große Empfangshalle treten, die ganz in weißem Marmor gehalten ist und in der ein mächtiger Treppenaufgang mündet.
„Aus einem Käfig, weit finsterer als der, in dem deine Tochter gesteckt hat“, antwortet Semjon ihm undurchsichtig, während ich ihn mustere.
Er hat unglaubliche Ähnlichkeit mit Christobal. Wenn man einmal von den roten Augen absieht, ist die Familienzugehörigkeit der Beiden unverkennbar. Das gleiche kantige Kinn, der breite eckige Kiefer, dieselbe Haarfarbe und die absolut gleiche Körperhaltung, die von einer gehörigen Portion Selbstvertrauen spricht.
Er schenkt uns ein Grinsen und breitet die Arme erfreut aus. „Semjon, wie schön dich hier zu haben!“, sagt er mit einer Begeisterung, die ich erstaunlich finde.
„Es ließ sich ja scheinbar nicht verhindern“, meint Semjon weit weniger in brünstig und schüttelt ihm die Hand. „Guten Abend, Pius.“
„Ja, entschuldige die Unannehmlichkeiten“, entgegnet der ihm höflich. „Du weißt, ich halte große Stücke auf meinen Sohn, aber über manche Dinge redet man dann doch lieber mit dir.“
„Nun, dann hoffen wir mal, dass wir zu einer Einigung gelangen werden.“
„Das tun wir Beide doch immer. Und nun, würde ich gerne deiner Begleitung vorgestellt werden“, fordert er äußerst charmant.
„Pius, das ist Marlen Jacobsen. Marlen, das ist Pius Casey, Leiter der 26. Abteilung und Christobals Vater“, stellt Semjon uns einander vor und schlingt zu meinem Erstaunen einen Arm um meine Taille. Ich schaffe es, Pius freundlich zuzunicken, während mein Magen ins Nichts fällt und meine Haut sehnsüchtig zu prickeln beginnt.
Pius erwidert meine Begrüßung nicht, stattdessen fixiert er Semjon.
„Ich gebe zu du hast Geschmack. Aber das wusste ich bereits. Aber du weißt auch, dass ich dich gerne enger an diese Familie gebunden sehen würde. Enger als es nun der Fall ist.“
Semjon zuckt mit den Schultern. „Mira ist gut bei meinem Halbbruder aufgehoben. Das habe ich dir schon oft genug versichert.“
Pius schenkt ihm einen tadelnden Blick. „Als wäre sie das bei dir nicht gewesen. Du bist ein guter Mann.“
„Danke. Aber ich kenne ihre Mutter“, brummt Semjon.
„Ich weiß was du meinst. Aber das war äußerst unhöflich“, grollt Pius.
Semjon schweigt anstatt sich zu entschuldigen.
„Du könntest wenigstens so tun, als ob dir die Aussage leidtun würde.“
„Es wäre eine schamlose Lüge“, sagt mein Begleiter schlicht, während ich mich nicht wage zu bewegen, aus Sorge er könnte mich wieder loslassen oder ich würde etwas falsch machen.
Pius schüttelt den Kopf. „ Ich liebe meine Frau. Also bitte bringe ihr etwas Respekt entgegen.“
„Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Schon um Christobals Willen nicht. Und nun entschuldige mich, ich möchte Marlen noch aufs Zimmer begleiten.“
Pius und er fixieren sich lange, bevor Christobals Vater leicht den Kopf neigt. „Bitte. Wir erwarten dich unten“, erwidert er ihm. „Miss Jacobsen kann dich gerne begleiten.“
Semjon schenkt ihm ein knappes Nicken. „Wir werden sehen.“ und lässt ihn dann damit stehen.


Er beraubt mich seiner körperlichen Nähe, kaum dass wir um die nächste Ecke gebogen sind und ich bleibe leicht hinter ihm zurück, während ich ihn dabei zusehe, wie er seine Hand, die gerade noch um mich lag, zur Faust ballt.
„Habe ich etwas falsch gemacht?“, will ich bei diesem Anblick wissen und beiße mir auf die Unterlippe.
Semjon dreht sich zu mir um. „Nein“, meint er schließlich. Der harte Zug um seinen Mund glättet sich etwas und auch seine zusammengekniffen Augen weiten sich beinahe unmerklich.
„Nein. Und nun komm bitte.“
Wir biegen noch ein paar Mal ab und durchqueren noch ein weiteres Treppenhaus, bevor Semjon vor einer großen Flügeltür stehen bleibt und den Schlüssel zückt.
Er stößt die Tür auf und bedeutet mir einzutreten.
Ich sehe ihn unsicher an, bevor ich an ihm vorbei trete.

Das Innere des Raumes in den ich trete ist unglaublich. Die hohen Wände sind in einer kräftigen grünen Farbe gestrichen, die von einem silbernen Schein durchdrungen ist, der das Licht des eindrucksvollen Kronleuchters in eine fortwährende Bewegung verwandelt, die über die glatten Wände huscht. Die bodentiefen, schmalen Fenster, die von schweren Vorhängen flankiert werden und die dunklen Sitzmöbel, im barocken Stil, die inmitten des Raums stehen und der dicke, riesige Perserteppich runden den Raum auf das Vortrefflichste ab.
„Wow“, entkommt es mir und setze vorsichtig einen weiteren Schritt auf das aufwendig gearbeitete Versailler Tafelparkett aus Ebenholz.
„Wenn du einen Raum weiter gehst, kommst du ins Schlafzimmer“, brummt Semjon miesepetrig.
„Gefällt es dir nicht?“, frage ich verdutzt.
„Ich mag alten Trödel nicht. Es ist kitschig und vollkommen unpraktisch. Es dient nur dem protzen“, knurrt er.
„Ich finde es sieht gut aus“, widerspreche ich ihm und grinse breit.
Semjon verdreht die Augen und bedeutet mir, mich ins Schlafzimmer zu bewegen, was ich auch sofort tue. Dort setzt sich die Wand und Bodenfarbe weiter fort und ich steuere geradewegs auf das riesige Bett zu, dessen Bettpfosten baumstammdick in die Höhe ragen und von einer schlichten Bettkonsole eingefasst wird.
Auch hier bedeckt ein Perserteppich den Boden großflächig, ein die Fensterfront beschränkt sich auf zwei Fenster rechts und links des Bettes. Ein großer offener Kamin und ein reich geschmückter Spiegel liegen schmücken die von mir aus rechte Wand und ein übergroßer Flachbildschirm baut sich direkt neben der Durchgangstür auf.
„Links findest du das Bad. Rechts ist das Ankleidezimmer. Die Koffer sind schon nach oben gebracht worden“, erklärt er mir mit schleppender Stimme.
„Ich finde es toll hier“, seufze ich ehrlich begeistert und lass mich auf das Bett sinken.
„Wenn du das sagst. Ich muss nach unten. Wenn du hier bleiben möchtest wäre mir das außerordentlich recht. Aber du kannst auch mitkommen, wie du schon gehört hast.“
Semjons Blick ist finster, seine Körperhaltung angespannt und seine Mine spricht ebenfalls Bände.
„Geh du nur. Ich guck noch ein wenig fernsehen und gehe dann schlafen“, lächle ich ihn unsicher an.
Semjon nickt kurz angebunden. „Gut. Bitte bleib im Apartment. Ich bin möglichst schnell zurück. Oh und solltest du Devon oder jemand anderen anrufen, bitte unterlass eine genaue Ortsangabe.“
„Okay. Pass auf dich auf“, verabschiede ich mich von ihm und dann ist er auch schon verschwunden.

Ich lasse mich nach hinten kippen und breite die Arme aus und umfasse mein Telefon, das ich in den Händen halte etwas fester. Er war gerade so beschützerisch zu mir vor Pius, obgleich er keinen Grund hatte anzunehmen dieser würde mir etwas tun und das macht mir entgegen jeden besseren Wissens Hoffnung, dass er mich ein kleines bisschen mag, oder zumindest nicht total von mir genervt ist. Weshalb ich es wage ins Ankleidezimmer zu gehen und in meinem Koffer nach meinem zerlesenen Lieblingsbuch zu suchen.
Als ich Stolz und Vorurteil endlich gefunden habe, wandere ich zurück ins Schlafzimmer und schalte den Fernseher an, bevor ich mir meine Schuhe ausziehe und mich unter die Bettdecke kuschle.


Ich vergesse mal wieder die Zeit, während ich Mr. Darcy anhimmle und sehe erstaunt auf, als ich Semjon aus den Augenwinkeln wahrnehme und schnell mein Buch zusammenklappe.
„Ich wollte dich nicht stören. Ich wollte dir nur sagen, dass ich wieder da bin.“
„Ja. Wie spät ist es?“, meine ich verwirrt.
Semjon zuckt mit den Schultern. „Kurz nach vier, schätze ich“, brummt er. „Ich dachte nicht, dass du noch wach bist.“
„Doch. Ich habe wohl mal wieder die Zeit vergessen… Alles in Ordnung mit dir?“, frage ich besorgt, als Semjon weiterhin in der Türschwelle verharrt und seine Augen auf den Boden gerichtet hält.
„Ja“, antwortet er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit und präsentiert mir endlich seine vollkommen verschlossene Miene.
„Willst du nicht endlich ins Zimmer kommen?“
Er schüttelt den Kopf. „Nein. Ich habe noch einiges zu tun. Außerdem werde ich im Wohnzimmer schlafen. Der Anstand gebietet das.“
„Jetzt sei nicht albern“, schnaube ich. „Das Bett ist groß genug und wenn du es wünscht, werde ich niemandem erzählen, dass du im gleichen Bett wie ich genächtigt hast, wenn du die Befürchtung hast, es würde sich negativ auf deinen Ruf auswirken.“
Semjons Augenbrauen ziehen sich unheilvoll zusammen. „Es geht hier nicht um mich. Sondern um dich. Das habe ich doch vorhin schon erklärt.“
Ich zucke mäßig beeindruckt mit den Schultern. „Die Gerüchte sind längst erzählt, sollte es je welche geben. Es macht keinen Unterschied ob wir gemeinsam in einem Apartment oder einem Bett schlafen.“
„Oh doch. Denn man wird es bemerken.“
Ich verdrehe die Augen. „Ich kenne keinen außer dir, der so misstrauisch ist.“
„Ich bin mit Pius gut genug bekannt um dessen Methoden zu kennen“, antwortet er gleichmütig. „Ich bin im Wohnzimmer wenn du mich suchst“, meint er, wendet sich von mir ab und geht mit langen Schritten davon.

„Semjon, jetzt warte doch mal! Es ist mir wirklich egal was Pius oder seine Gefolgschaft von mir denken, oder ob sie uns am Ende gar für ein Paar halten. Ich will nicht, dass du auf der Couch schläfst. Du wirst dir grässliche Rückenschmerzen holen, wenn du denn überhaupt darauf schlafen kannst“, rede ich auf ihn ein, während ich ihm ins Wohnzimmer folge.
„Das ist sehr freundlich Marlen, aber ich glaube nicht, dass ich heute Nacht überhaupt zum Schlafen komme. Meine Arbeit stapelt sich“, entgegnet er mir nur und deutet auf einen Berg Akten, der sich auf dem grazilen Tischchen auftut, um das die Sitzmöbel drapiert sind.
„Na schön. Aber wenn du fertig bist, dann tu mir den Gefallen und komm ins Bett. Ich verspreche auch, brav auf meiner Seite zu bleiben.“
„Gute Nacht Marlen“, unterbindet er jede weitere Diskussion und ich nicke schließlich kleinbeigebend.
„Nacht.“


Ich werde in dieser Nacht durch meine eigenen Schreie geweckt und spüre den Schweiß meinen Rücken herunter rinnen, als ich die Augen öffne und versuche meinen zusammengekrümmten, zitternden Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Geht es wieder?“, höre ich Semjons Stimme durch das Halbdunkeln des Zimmers wehen.
Ich schaffe es den Kopf zu schütteln. „Nein. Nicht wirklich.“
„Möchtest du irgendetwas?“, hakt er nach.
„Nein. Nur das aufhört“, bringe ich raus.
„Kannst du dich an etwas erinnern?“
„Nein. Aber das will ich auch gar nicht. Ich will einfach nur durchschlafen“, sage ich verzweifelt. „Ich dachte, ich wäre endlich darüber hinweg.“
Ich höre ihn leise Fluchen, bevor sich die Matratze neben mir senkt.
Er liegt neben mir auf dem Bett, als sei er schockgefrostet worden, während ich versuche zu kapieren, was gerade passiert.
„Willst du so etwa schlafen gehen?“, frage ich leise und versuche mich an einem Grinsen. Es misslingt mir kläglich, da mir fürchterlich schlecht ist.
„Nein. Ich versuche es besser zu machen“, meint er mit spröder Stimme. „Und denke nach.“
„Über mich?“, hake ich nach und schlucke die nächste Welle der Übelkeit herunter.
Semjon mustert mich wortlos und ich wende unglücklich den Blick ab. „War nur ein Scherz“, wispere ich.
„Ich sagte doch gerade, ich versuche es besser zu machen. Für dich. Du sagtest doch, dass mein Geruch es besser macht“, brummt er plötzlich und ich wage es in erneut anzusehen, während die Nachwehen meines Traumes sich nochmals verschlimmern.
Seine unnatürlich dunklen Augen fixieren mich ernst.
Ich wünschte, er würde mich einfach an seine Brust ziehen und es zulassen, dass ich mich in einer Umarmung vergraben kann, doch ich weiß genau, dass er das niemals zulassen wird und deswegen versuche ich schließlich seine aufmerksamkeitsheischende Erscheinung so gut es geht zu ignorieren.
Er riecht nach Rauch und nach Meer.
Ein angenehmer Geruch.
„Versuch wieder einzuschlafen. Ich passe auf dich auf. Versprochen“, grollt er finster und ich spüre, wie sich meine Muskeln entgegen besseren Wissens ein wenig entspannen.
Ich linse zu ihm herüber, wo sich sein Körper wie ein Wall gegen all die schrecklichen Erinnerungen neben mir erhebt.
„Hm“, seufze ich ziemlich kläglich und rolle mich zusammen.
Nun flattern meine Nerven nicht nur wegen meines Traumes, sondern auch noch zusätzlich von seinen Worten und ich bin mir sicher, dass ich in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden werde.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 18

 



Semjon liegt neben mir auf der Matratze, als sei er versteinert worden. Selbst seine dunkelbraunen Augen sind festgefroren.
„Du musst nicht hier neben mir liegen. Ich will dich nicht von der Arbeit abhalten“, presse ich hevor, während ich mich einrolle und dabei von einer so heftigen Welle der Übelkeit überwältigt werde, dass ich glaube, mich übergeben zu müssen.
Die Hände um den Bauch geschlungen und den Kopf im Kissen vergraben, warte ich darauf, dass der Körper neben mir aus dem Bett steigt und mich mit meinen Nachwehen des Traumes allein lässt. Doch die Matratze neben mir hebt sich nicht, während ich versuche mich wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Das weiß ich“, höre ich ihn schließlich sagen. „Ich tue es auch nicht, weil ich es muss“, murmelt er, bevor sich etwas Schweres um meine Mitte legt. Ich glaube in Ohnmacht fallen zu müssen, als ich es als Semjons Arm identifiziere, der mich ohne zu fragen, einfach samt Bettdecke an sich zieht.
„Schlaf“, grollt er und es hört sich an, wie ein Befehl.
Bewegungsunfähig vor Schreck, kann ich nur daran denken, dass ich in Semjons Armen liege. Tatsächlich von dem Boss der Dunklen im Arm gehalten werde, von seiner Haut nur durch eine lausige Bettdecke getrennt.
Ich spüre die Schmetterlinge gegen die Übelkeit ankämpfen. Ob ich mich gut fühle oder einfach nur ausgeknockt, kann ich nicht so genau sagen. Auf Fälle leide ich an akuter Reizüberflutung.
Und das wird keinesfalls besser, als meine Nase eine Lücke zwischen der Bettdecke findet. Der Stoff seines Anzugs ist weich. Sein Duft überwältigend.
Dahin gestreckt von meiner Nase und meinem Hirn, das sich beinahe bei dem Gedanken daran, dass Semjon neben mir liegt überschlägt, schließe ich die Augen.

Und dann muss ich wohl ohnmächtig geworden sein, oder einfach nur erschlagen eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffne, ist da keine Bettdecke mehr um mich.
Denn da ist gar nichts mehr zwischen mir und Semjon. Ich habe mich um ihn gewickelt, als sei ich seine Bettdecke. Ich wage es nicht den Kopf zu heben, der auf seiner breiten, wundervoll harten Brust liegt. Von dem Bein, das halb über seiner Hüfte liegt ganz zu schweigen.
Meine Haare, die mir meine Sicht verdecken und sich Wasserfallartig über ihn gebreitet haben geschützt, linse ich auf meinen Arm, der auf seiner Brust liegt, als würde er dort hin gehören.
Kurz bin ich versucht, einfach weiter so zu tun als würde ich schlafen. Als würde ich nichtsahnend im Land der Träume schlummern und das Gefühl so bei ihm zu liegen aufsaugen, bis ich genug davon hätte.
Doch dann nehme ich entsetzt wahr, dass da ein Arm mein Buch in Händen hält. Mein Lieblingsbuch- meine kindische Idee von echter Liebe und fahre entsetzt hoch.
„Ausgeschlafen?“, höre ich Semjon fragen, während ich meine Haare mit fahrigen Fingern aus dem Gesicht kämme und ihn entsetzt anstarre.
„Wieso hast du nicht gesagt, dass… und wieso hast du… mein Buch?“, stottere ich wirr und betrachte ihn, wie er scheinbar seelenruhig daliegt, der Anzug heillos von mir zerknittert.
„Du schienst den Schlaf gebrauchen zu können. Und da du an diesem Buch einen Narren gefressen zu haben scheinst, dachte ich, es wäre geeignet, um mir die Zeit zu vertreiben“, erklärt er mit seiner samtig weichen Stimme, bevor er es zuklappt. „Aber ich muss sagen, dass ich deine Begeisterung nicht nachvollziehen kann. Es ist echt lahm.“
Das Buch fühlt sich seltsam fremd in meinen Händen an, als er es mir reicht.
„Ich wollte nicht… tut mir Leid, dass ich dich so…“, mir fehlen die Worte für das, was ich getan habe, weshalb ich hilflos mit den Armen fuchtle und dann den Kopf senke. „Entschuldige“, hauche ich nochmals und falle fast über meine Füße, als ich ein Klopfen an der Tür höre um vor ihm und der Situation zu flüchten.
Zu meinem grenzenlosen Entsetzen, ist es Christobal. Seine huskyblauen Augen weiten sich erstaunt, bevor er mir ein höfliches Lächeln schenkt. „Marlen… Habe ich dich geweckt? Ich suche Semjon“, fragt er langsam und ich beobachte mit erschrecken, wie sich seine Nasenflügel weiten.
Verdammt.
Sein Gesicht versteinert sich vor mir und bemühe mich um Contenance, während ich am liebsten in den Erdboden versinken würde.
„Ja. Ich habe noch geschlafen“, beeile ich mich zu sagen und mustere Christobal verstohlen.
Er trägt einen perfekt sitzenden grauen Anzug kombiniert mit einem hellblauen Hemd und einer graublauen Krawatte. Eine sicherlich verflucht teure und perfekt abgestimmte Kombination, die mich noch mehr einschüchtert.
„Komm doch rein“, wispere ich schließlich. „Semjon ist da.“
Ich beiße mir auf die Unterlippe und denke angestrengt nach, wie ich die Situation am besten erklären soll, doch in meinem Kopf herrscht gähnende Leere, während Christobal ins Zimmer tritt. Seine Augen gleiten über mich, als würde er etwas Bestimmtes suchen.
„Morgen“, brummt Semjon irgendwo hinter mir.
Ich sehe Christobals Kopf herum rucken und einen Muskel in seiner Wange verdächtig zucken.
„Semjon“, begrüßt ihn sein bester Freund und es klingt wie ein wüster Fluch.
Die Beiden taxieren sich abschätzend und in mir steigt der Wunsch zu verschwinden.
„Ich… Ich sollte jetzt duschen gehen!“, rufe ich erleichtert, als ich endlich eine Ausrede gefunden habe.

Nachdem ich die Badezimmertür hinter mir zuschlage und den Schlüssel umdreht habe, gratuliere ich mir im Geiste selbst zu meiner Entscheidung, zu verschwinden. Ich sinke erleichtert gegen die geschlossene Tür, bevor ich meine Hand zu meiner Wange wandern lasse, die sich an Semjons Brust geschmiegt hatte.
„Oh Gott…Er ist doch kein Kuscheltier“, wispere ich und stelle im gleichen Augenblick fest, dass ich mich am liebsten sofort wieder an ihn schmiegen würde. Doch dann erinnere ich mich an Christobal, der sicherlich zu ganz anderen Schlüssen gekommen ist und merke wie ich rot anlaufe.
Ich lasse den Kopf gegen die Türe knallen und schließe die Augen, bevor ich zusammenreiße und unter die Dusche klettere.
Mir ziemlich viel Zeit damit lassend mich zu duschen, schleiche ich erst eine knappe Stunde später wieder aus dem Bad, eingepackt in einen flauschigen Bademantel.
Semjon sitzt, ebenfalls frisch geduscht, im Wohnzimmer über ein paar Akten gebeugt und sieht nicht auf, als ich den Raum betrete.
„Möchtest du etwas essen?“, fragt er mich kühl, ohne von seinem Laptop aufzusehen.
„Nein…Entschuldige bitte, dass ich die Tür geöffnet habe. Ich-“, will ich mich rechtfertigen, doch er hebt nur die Hand.
„Geh dich einfach anziehen“, unterbricht er meinen Redefluss.
„Es wird nie wieder vorkommen. Versprochen“, quetsche ich hervor. „Es war wirklich keine Absicht.“
Semjon dreht sich zu mir. Die dunklen Augen zusammengekniffen, wirkt er, als wollte er einen Mord begehen.
„Ich habe es begriffen“, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen und ich beeile mich seiner Forderung nachzukommen.
Ich schaffe ein verdattertes Nicken und stelle für mich selbst fest, dass ich hier raus muss. Weg von ihm. Von seinem Geruch. Von seiner schlechten Laune. Von dem Gefühl, das mich packt, wenn ich seine breiten Schultern betrachte.
„Ich brauche frische Luft“, höre ich ihn sagen, bevor er eindrucksvoll seinen Nacken knacken lässt und mich ansieht. „Bist du schon mal auf einem Pferd gesessen?“
„Ich… ja, aber -“, fange ich verdattert an.
„Zieh dich an. Ich werde dir ein wenig die Gegend zeigen, bevor ich hier drin noch die Wände hochgehe.“
„Musst du nicht arbeiten?“, hake ich schließlich nach, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden habe.
„Ich brauche eine Pause“, seufzt er. „Wenn du nicht mit willst, kannst du natürlich auch hier bleiben.“
„Nein. Nein ich muss mich nur anziehen“, beeile ich mich zu sagen, da es mir ungeheuer unhöflich erscheint dieses Angebot nicht anzunehmen.
Nachdem ich mich in die einzige Jeans gequetscht habe und in ein schlichtes rosa Wickeltop geschlupft bin, stelle ich fest, dass ich wohl meine Lieblingsturnschuhe anziehen muss, da ich sonst keine geeigneten Reitschuhe dabei habe.
Semjon sieht zum niederknien aus. Da ich vorher damit beschäftigt war, seinem Blick auszuweichen, habe ich nicht bemerkt, dass er seinen Anzug in eine etwas Freizeitmäßigere Alternative getauscht hat. Er trägt schwarze Jeans. Ein schwarzes Shirt und ein offenstehendes, hochgekrempeltes Hemd und schwere Stiefeletten. Und als er jetzt zu der schwarzen Militärjacke greift, die auf dem Sessel liegt, merke ich, wie ich trocken schlucke.
„Nimm eine Jacke mit. Es regnet draußen in Strömen“, weist er mich umsichtig zurecht und rammt seine Hände in die Manteltaschen.

Ich folge ihm nach unten und ziehe das Genick ein, als wir nach draußen treten und eine Windböe mir den dichten, kalten Regen ins Gesicht weht. Gegen das Wasser anblinzelnd, renne ich hinter ihm her über den geschotterten Innenhof zu einem der niedrigen, hell erleuchteten Nebengebäude, die sich im Schatten des Hauptgebäudes geduckt, an den Waldrand schmiegen.
Der Geruch von frischem Heu und Stroh heißt mich herzlich willkommen, als ich hinter ihm durch die offene Schiebetür trete.
Ich mag diesen Geruch.
Zufriedenes Kauen und Schnauben und neugierige Pferdehälse die sich aus ihren Boxen recken, tun ihr übriges um mich schlagartig pudelwohl zu fühlen. Semjon streicht sich seine Kapuze vom Kopf und dreht sich dann zu mir. „Kannst du dein Pferd selbst fertig machen?“
„Was?“, meine ich erschlagen. „Welches meinst du?“
Semjon zuckt mit den Schultern. „Allgemein gesprochen.“
Ich entschließe mich schließlich nach einigem hin und her, die Wahrheit zu sagen und nicke tapfer. „Ja. Denke schon.“
Diese Antwort scheint ihn zufriedenzustellen, denn er schenkt mir ein Nicken. „Ich schlage vor du nimmst den braunen Trakehner dahinten. Ich bin ihn selbst schon ein zwei Mal geritten. Er ist am Anfang zwar ein wenig nervös, aber er hat angenehme Gänge und wird dir auch nicht durchgehen.“
Ich betrachte das riesige Pferd zwei Boxen weiter mit einer gewissen Skepsis, das seinen Kopf nun aus der Tür streckt. „Sein Name ist übrigens Baal. Bind ihn einfach in der Stallgasse an. Und Sattel, Trense und Putzzeug findest du gleich um die Ecke in der Sattelkammer unter seinem Namen. Wenn du mich suchst, ich bin im Gang nebenan“, verabschiedet er sich und lässt mich alleine zurück.

Normalerweise bin ich es gewohnt, die nicht gerade sonderlich edlen Reitponys des Hotels in der Nebensaison über die Wiesen zu jagen, oder die wendigen, aufgeweckten Isländer unseres Nachbarn ein wenig auszupowern. Auf so einem großen Pferd saß ich noch nie und ich frage mich kurz, wie es wohl ist, von dort oben herunter zu fallen, bevor ich nach dem Halfter greife und den Riegel der Box zurückschiebe.
„Hey mein Junge“, säusle ich, als er einen Schritt zur Seite macht und mich anschnaubt.
Seine weichen Nüstern weiten sich neugierig als ich meine Hand über die schmale Schippe auf seiner Nase streicht. Ich kraule ihn ein wenig am Hals, bevor ich unter seinem Kopf hindurch schlupfe, ihm das Halfter anlege und ihn schließlich aus der Box führe.

Baal ist lammfromm, während des Putzens und des Hufe auskratzens und ich finde langsam Gefallen an dem großen, dunkelbraunen Pferd.
Ich bin gerade beim Satteln, als Semjon um die Ecke biegt. Er verfolgt mein Tun schweigend. Wartet bis ich den Sattelgurt geschlossen habe und reicht mir dann Baals Trense.
„Sieht professionell aus“, kommentiert er, als ich sie über Baals Ohren ziehe, die Riemen schließe und dann seine lange Mähne unter dem Stirnriemen hervor lupfe.
„Bist du schon fertig?“, frage ich, ohne auf sein Kompliment einzugehen.
„Ja. Wir treffen uns vor der Tür“, informiert er mich und schlendert mit langen Schritten davon. Er scheint hier sehr viel entspannter zu sein, als sonst, geht es mir durch den Kopf, als ich ihm hinterher blicke.
Baal kaut ziemlich gelangweilt auf seiner Trense herum, während ich meine Fliesjacke schließe, meine Haare zu einem nachlässigen Knoten binde und dann schließlich die Steigbügel einstelle, die viel zu lang für mich sind. Als ich endlich fertig bin und mit ihm auf den Hof trete, sitzt Semjon schon auf dem Pferd. Anders als ich, reitet er keinen Trakehner, sondern einen ziemlich eindrucksvolles Vollblut, das Baal in Sachen Körpergröße in nichts nachsteht. Mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass es schwarz ist und ich muss grinsen.
Eine andere Farbe würde ihn wohl umbringen.
Ich steige schließlich auf, bin begeistert, dass Baal mir dabei nicht wegrennt, wie es jedes Pferd bis jetzt getan hat, wenn es ums aufsteigen ging und kontrolliere vorsorglich nochmal den Sattelgurt.
Semjons Pferd scheint es gar nicht abwarten zu können, endlich los zu kommen, denn es piaffiert neben Baal auf der Stelle, während ich noch den Sattel zurecht rucke.
„In welche Richtung?“, will ich von ihm wissen.
„Wald“, antwortet er mir einsilbig und lässt seine temperamentvolle Stute vorwärts gehen.

Baals Schritt ist federnd und leichtfüßig und ich muss gestehen, dass ich die Aussicht mit Semjon einen Ausritt zu machen, plötzlich ziemlich gut finde.
Der Waldweg durch den dichten Nadelwald ist breit und dank dem dichten Blätterdach ziemlich trocken. Die Schritte der Pferde werden von dem nadelbedeckten Torfboden verschluckt und ich merke, wie mein Blick immer wieder zu dem riesigen Raubtier auf dem Pferd neben mir wandert.
„Es läuft nicht gut, oder?“, will ich wissen, als sein Telefon zu meckern beginnt und er mit einem Schnauben in seine Tasche greift und zu meiner Verwunderung aus stellt.
„Wie kommst du darauf?“, fragt er und lässt seinen Blick in die schier endlose Weite der Wälder vor uns streifen.
„Du hast mir ein Handy geschenkt. Sag mir, wenn ich mich irre, aber ich glaube nicht, dass das für ein schnelles Ende der Angelegenheiten spricht“, antworte ich ihm und tätschle beruhigend Baals Hals, der nervös zu tänzeln beginnt, in Anbetracht des finsteren Gestrüpps, das sich vor uns zu beiden Seiten des Weges auftut.
Semjon will mir in die Zügel greifen, als Baal einen Satz zur Seite macht, doch ich treibe ihn energisch vorwärts und schenke Semjon ein Grinsen. „Keine Sorge. Mein Sitz ist vielleicht grottig, aber so schnell holt mich da oben niemand runter.“
„Eigentlich sitzt du ganz vernünftig auf dem Pferd“, widerspricht Semjon mir und mustert Baal abwägend, während wir weiterreiten.
„Und ja. Du hast recht. Es sieht schlecht aus“, gesteht er mir. „Es gab einige unvorhergesehene Ereignisse, die alles in ein neues Licht tauchen.“
Seine, im schwachen Licht des Tages, schwarz erscheinenden Augen ruhen kurz auf meinem Gesicht, bevor er sie wieder weiter durch die Landschaft streifen lässt. „Pius Adoptivsohn ist verschwunden. Das ist einer der Gründe weshalb ich hier bin“, fügt er schließlich schleppend an. „Es ist frustrierend. Wir machen einen Schritt vorwärts und sie machen vier zur Seite.“
Seine Ehrlichkeit finde ich, entgegen dem Inhalt seiner Worte, beruhigend.
„Danke, dass du mich nicht anlügst“, bedanke ich mich. „Und ich bin mir sicher, dass ihr sie schnappen werdet.“
Baal beruhigt sich wieder, kaum dass wir an dem dunklen Fleck vorbei sind und schnaubt zufrieden.
„Die Frage ist nur wann“, grollt Semjon, nachdem er aufgehört hat Baal zu fixieren und fügt dann an: „Lass uns einen Zahn zulegen, sonst verbringen wir in dem Waldstück noch den gesamten Nachmittag.“
Ich lasse Baal als erstes antraben, werde jedoch sofort wieder von Semjon eingeholt, der seine beinahe explodierende Stute, mit Mühe zurückhält. „Na komm. Gib Gas. Die Pferde sind warm“, sagt er, bevor er den Rappen angaloppiert.
Ich sehe ihm nach und lasse Baal ihnen schließlich hinterher setzen. Die Luft ist erfüllt vom dumpfen Trommeln der Hufe, auf dem federnden Waldboden und vom zufriedenen Schnaufen der beiden Pferde. Baals lange Galoppsprünge sind geschmeidig und raumgreifend. Er fliegt über den schmalen Pfad, den Semjon mit seiner Stute eingeschlagen hat.
Der Wald wird lichter. Ein paar einzelne Birken stehen im Unterholz und es sind immer wieder großflächige Moosbewachsene Stellen zu sehen, bevor sich die Landschaft endgültig ändert und wir in einen grasbedeckten Birkenwald kommen.
Der Pfad wird zusehens schmaler, immer wieder liegen kleine Äste im Weg herum, oder eine Wachholderbuch kriecht darüber. Semjon, der mir zwei Pferdelängen voraus ist, wirft mir einen schnellen Blick über die Schulter zu. „Kannst du noch?“
„Ja!“, brülle ich nach vorne und spüre, wie Baal unter mir den Kopf reckt und sich anschickt aufzuholen. Die umgestürzte Birke, die sich über den Weg gelegt hat, sehe ich dabei zu spät, doch Baal setzt darüber, als wäre es nur ein weiteres Ästchen auf dem Waldboden.
Semjon, der mich sehr wahrscheinlich schon fallen gesehen hat, schnellt zu mir herum.
„Na los, ich dachte du wolltest Gas geben!“, rufe ich ihm zu und gehe in den leichten Sitz, während Baal an den Beiden vorbei schnellt.
Ich nehme absichtlich ein paar kleine Sprünge über abgeknickte Bäume und werde schließlich langsamer, als ich Baals Begeisterung schwinden spüre. Semjon der ebenfalls ins Unterholz abgebogen ist, kommt in einem schwungvollen Trab zu mir herüber.
„Nicht übel“, kommentiert er und pariert seine Stute durch.
„Ebenfalls“, grinse ich und greife nach meinem Haargummi, der in meinen Nacken gerutscht ist, aber noch fest zu sein scheint. „Es ist hübsch hier“, seufze ich schließlich nach einer Weile. „Kaum zu glauben, dass du zum Arbeiten hier bist.“

Der Regen hat aufgehört und der verhangene Himmel lässt sogar ein paar einzelne Sonnenstrahlen durch die Wolken. Baals Fell schimmert in einem vollen Nussbraun, als wir weiter durch den kargen Birkenhein reiten und ich könnte ewig hier oben sitzen und neben Semjon durch das hohe Gras reiten.
„Ja. Kaum zu glauben...Ich weiß nicht, wohin sich dieser Fall noch entwickeln wird“, sagt er plötzlich. „Aber für deine Sicherheit wird gesorgt sein.“
Ich schenke ihm ein Lächeln. „Das ist sehr freundlich Semjon. Aber glaubst du nicht, dass es hier viel weniger um mich, als um dich geht?“
„Was meinst du?“, hakt er nach, während unsere Pferde im Gleichschritt nebeneinander hergehen.
„All diese Leute, die verschwunden sind. Es gibt keine Verbindung zwischen ihnen, oder?“
Semjon schüttelt den Kopf. „Nein.“. brummt er.
„Dann bist du es. Entschuldige, ich kenne mich damit ja nicht aus, aber wenn es sonst keine andere Erklärung gibt, dann zielt das alles auf dich ab, wie du bereits gesagt hast. Vielleicht geht es gar nicht um das, was damals mit mir passiert ist sondern nur darum deine Aufmerksamkeit zu fesseln. Wenn sie alle nur der Lockvogel wären- wenn ich nur einer der vielen Lockvögel wäre, wen hättest du ihm Verdacht? Wenn es nicht um damals geht sondern nur um dich?“
„Jetzt zerbrich dir nicht den Kopf. Das tun bereits genug Leute und ich die ganze Zeit“, sagt Semjon nur und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht wirklich zu deuten weiß.
„Ich sag ja nur. Meistens sind es die Leute, die man nicht auf der Rechnung hat. Verletzte Verlobte, eifersüchtige Ehemänner-“
„Ich habe es verstanden Marlen“, meint er und sieht offenkundig amüsiert aus. „Ich war nie verlobt und mit verheiraten Frauen hatte ich ebenfalls nichts. Zumindest meines Wissens.“
„Hattest du jemals einen Gärtner?“
Semjon zieht die Augenbrauen zusammen, bevor er loslacht. „Nein. Sonst noch irgendwelche Theorien?“
Sein tiefes, volles Lachen haut mich beinahe aus dem Sattel und ich kann ihn nur mit offenem Mund anstarren.
Ich schaffe es schließlich den Kopf zu schütteln. „Nein.“
„Dann lass uns jetzt zurück reiten. Denn leider habe ich neben dem Fall noch einiges anderes zu erledigen“, sagt er da auch schon wieder vollkommen ernst.

Der Rückweg ist recht schweigsam. Was vor allem daran liegen dürfte, dass ich nicht über seinen Anblick hinweg komme. Wenn er lacht, dann ist das, wie nichts, was ich bisher gesehen habe.
Ich stolpere von Baals Rücken, kaum dass wir das Stalltür erreicht haben und führe den Trakehner ohne ein weiteres Wort an Semjon zu richten zu seiner Box.
Nachdem ich ihn versorgt habe und sogar noch die Trense und den Sattel eingefettet habe, linse ich um die Ecke, doch Semjon ist schon ins Haus verschwunden.
Ich kraule Baal noch ein wenig hinter den Ohren zum Abschied, bevor ich mich ebenfalls auf den Weg nach oben mache.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 19

 



Ich falle beinahe in Semjon, als ich aus dem Bad trete. Sein schwarzer Schopf zuckt zurück und ich habe einen Schwall seines fantastischen Geruchs in der Nase.

Mein Innerstes scheint schlagartig von einer Horde Ameisen bevölkert zu sein und ich merke, wie ich nervös auf meine Unterlippe beiße, bevor ich es wage in seine dunklen Augen zu sehen. Sie durchbohren mich, wie glühende Kohlen und ich senke sofort wieder den Blick, weil ich glaube, sonst den Boden unter meinen hochhackigen Schuhen zu verlieren. Er ist einfach… zu real.

„Christobal erwartet uns unten zum Essen“, sagt er vollkommen gleichgültig. „Wie ich sehe hast du dich bereits umgezogen.“
Kurz bin ich versucht, zu erwähnen, dass ich nicht nur umgezogen bin, sondern dass ich beinahe zwei Stunden damit beschäftig war zu duschen und mich chic zu machen und das alles nur, um ein kleines bisschen seiner Aufmerksamkeit zu erhaschen. Doch alles, was ist rausbekomme, ist ein klägliches „Ja.“

Er selbst sieht mal wieder aus, als sei er in einen teuren Topf schwarzer Farbe gefallen. Seine aristokratischen Züge sind so eiskalt, wie der Winter hier oben im Norden, als ich nochmals zu ihm hochlinse.
„Marlen… ist alles in Ordnung?“, höre ich ihn plötzlich sagen und sehe mit purer Fassungslosigkeit dabei zu, wie seine langen, kräftigen Finger sich unter mein Kinn schieben.
Ich blinzle erschrocken, während ich ihn mit offenem Mund anstarre.
„J… Ja. Ich, ich glaube schon“, stottere ich vollkommen von den Socken.
Meine Augen bleiben an seinen Lippen kleben und ich wünschte, ich könnte mich einfach vor lehnen und den Abstand zwischen ihm und mir überwinden.
„Gut. Dann komm jetzt mit nach unten. Wir werden bereits erwartet“, entgegnet er mir mit schleppender Stimme und als er mich loslässt, glaube ich kurz zu sehen, dass seine Pupillen sich verformt haben.
„Semjon, hast du-“, schleicht es mir über die Lippen, bevor ich mich zurückhalten kann und mich räuspere, während er sich erneut zu mir dreht.
„Was?“, hakt er nach.
„Ach, nicht so wichtig“, winke ich ab und kämme mir meine offenen Haare nach vorn um meinen Nacken zu verdecken.
Semjon scheint meine Panikreaktion nicht wirklich aufzufallen, oder er ignoriert sie gekonnt, bevor er sich in Bewegung setzt und mir die Tür aufhält.


Ich fühle mich unwohl. Äußerst unwohl, als ich direkt gegenüber Christobal Platz nehme, der mich erneut so durchdringend mustert, als würde er nach irgendetwas suchen. Und Semjon, welcher sich ans Kopfende der riesigen Tafel setzt und damit den Gegenpart von Pius übernimmt, trägt ebenfalls nicht zu meiner Beruhigung bei.
„Ich hörte, du hast deiner Begleitung die Gegend zu Pferd gezeigt. Ich hoffe doch sehr, es hat ihnen gefallen Marlen?“, meint Pius sehr höflich und ich fühle mich genötigt, ihm ebenso freundlich zu antworten.
„Danke. Es war ein toller Ausritt… und ihr Anwesen ist wunderschön“, füge ich noch mit einem gewinnenden Lächeln an und sehe mit bangem Blick dabei zu, wie die Vorspeise aufgetragen wird. Eine exquisite Kreation aus Jakobsmuscheln und Salat, die sicherlich köstlich schmeckt, doch die Aussicht auf einen ganzen Abend mit den Dreien, lässt mich jegliche Begeisterung für das Essen verlieren.
„Das freut mich zu hören. Und nun zu einem weitaus interessanteren Thema. Woher kennen Semjon und sie sich?“, führt Pius unsere Konversation fort.
„Das braucht dich nicht zu interessieren“, antwortet Semjon ihm an meiner Stelle und lässt bei seinem Tonfall keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihn die genauen Umstände die hierzu geführt haben, rein gar nichts angehen.
„Verzeih meine Neugierde, Semjon. Ich wollte dir nicht zu nahe treten“, entschuldigt Christobals Vater sich sofort galant und ich mustere Semjon misstrauisch, während der Pius anstarrt, als hätte der ihn aufgefordert ein besonders widerliches Insekt zu verspeisen.
Für meinen Geschmack blickt Semjon etwas zu starr aus seinen braunen Augen, als es normalerweise der Fall ist und ich kann eine gewisse Ahnung, dass er zu wenig getrunken hat, nicht unterdrücken.
„Natürlich wolltest du das nicht. Wir sind hier ja unter Freunden“, murmelt Semjon und greift nach seinem Wasserglas, dessen Inhalt er in einem Zug herunter stürzt.
„Exakt, Semjon. Falls du dich erinnerst waren dein Vater Ezra und Pius die besten Freunde, also behandle ihn mit etwas Respekt“, wirft Christobal ein und ich beginne betreten in meinem Salat herumzustochern. Ich sollte nicht hier sein. Diese Familiengeschichten gehen mich nichts an.
„Familienzugehörigkeiten interessieren hier nicht. Also zügle dich. Ich habe das Recht, ihn zu Recht zu weisen“, entgegnet Semjon seinem besten Freund harsch und ich versuche so zu tun, als sei ich gar nicht anwesend.
Ich sehe Christobals Kiefer malmen, einen Muskel verdächtig in seiner Wange zucken und beschließe einzugreifen.
„Das Essen ist ausgezeichnet, Pius. Die Jakobsmuscheln sind ein Traum“, seufze ich gespielt, aber wie ich finde sehr überzeugend. Und dann tue ich das, was ich immer tue, wenn ich glaube, dass jemand gleich ausrastet. Ich rede weiter. „Wissen sie, als ich kleiner war, dachte ich immer, der Name Jakobsmuscheln würde daher kommen, dass die Muscheln einem Fischer namens Jakob gehören würden und ich fing jedes Mal an zu weinen, wenn es die zu einem besonderen Anlass gab, weil ich dachte, sie wären diesem Jakob gestohlen worden. Und ich habe immer gebettelt, dass wir sie doch diesem armen Kerl zurück geben sollen.“
Christobal starrt mich an, als könnte er es einfach nicht fassen, dass ich ihnen einfach so dazwischen rede oder aber, was ich für einen Blödsinn erzähle.
„Die Geschichte war erfunden… Ich will nicht, dass ihr euch streitet“, schiebe ich schließlich nach und nippe an dem Weißwein, der zur Vorspeise gereicht wird.
„Die Beiden sind wie Brüder. Machen sie sich wegen ihrer Reibereien keine Gedanken“, lächelt Pius offenkundig amüsiert und für eine Weile ist nur noch das klappern von Geschirr zu hören.
„Sie haben tolle Pferde in ihrem Stall stehen. Ist die Pferdezucht ein Hobby von ihnen?“, versuche ich schließlich beim Hauptgang die Stille zu durchbrechen und ein ungefährliches Thema zu beschreiten.
„Nein. Ein Hobby meiner Frau“, antwortet Christobals Vater mir mit einer gewissen Dankbarkeit.
„Bist du dann auch ein Pferdefan?“, frage ich an Christobal gewandt und höre seinen Kiefer unheilvoll knacken.
„Nein. Denn ich und diese Frau haben nicht die gleichen Gene“, presst mein Gegenüber hervor, als hätte ich ihn tödlich beleidigt und ich gratuliere mir für die zielsichere Landung in den Nesseln.
„Christobal und meine Frau hatten nie ein gutes Verhältnis miteinander. Und seit Semjons Aktion mit meiner Tochter, ist es noch mieser als es vorher war“, sagt Pius mit einem Schulterzucken und ich kann eine gewisse Neugierde einfach nicht verhehlen.
„Welche Aktion?“, rutscht es mir heraus, ohne über die grobe Unhöflichkeit weiter nachzudenken.
Pius schenkt mir ein breites Grinsen, bevor er zu Semjon nickt. „Deine Begleitung stellt die richtigen Fragen. Und ich behalte mir vor, darauf zu antworten, wenn du nichts dagegen hast?“
Der Boss der Dunklen sieht alles andere als erfreut aus, zuckt jedoch lässig mit den Schultern. „Tu was du nicht lassen kannst. Ich werde dich doch nicht aufhalten können, ihr nette Geschichten zu erzählen. Ob sie der Wahrheit entsprechen, wird Marlen für sich selbst entscheiden müssen.“
„Wie immer ein Buch mit sieben Siegeln“, lächelt Pius. „Wissen sie, Marlen, Geschichten wie diese kann man nicht vielen erzählen. Doch da sie offenbar Semjons Vertrauen genießen, müssen sie nun das Geschwätz eines alten Mannes aushalten“, beginnt er und macht sogleich eine Melodramatische Pause.
„Nun, wo soll ich anfangen? Vielleicht da, wo alle Märchen anfangen…Es war einmal in einem weit, weit entfernten Land. Dort hatte ich einst eine wunderschöne Tochter. Ein liebes, gutes Mädchen, der ganze Stolz meiner Frau und mir. Und an ihrem fünfzehnten Geburtstag beschloss ich, ihr einen standesgemäßen Ehemann zu suchen."
Christobal lässt ein Schnauben hören, das nicht abfälliger hätte sein können, während ich an Pius Lippen klebe. Egal wie lächerlich die Erzählung auch werden wird, wenn ich die Chance habe auch nur ein klein wenig über Semjon zu erfahren, dann ergreife ich sie beim Schopf.
„Nun, tatsächlich habe ich darüber nachgedacht, wer der richtige Ehemann für sie sein könnte, seit ich sie das erste Mal in meinen Armen hielt. Und meine Entscheidung hatte ich damals noch im gleichen Augenblick getroffen: Semjon.“
Ich merke, wie ich den Rücken durchdrücke und ihm ein Entsetztes „nein!“ entgegen schleudern will, doch ich schaffe es gerade noch den Mund zu halten.
„Doch Semjon ist so eigensinnig und stur, wie sein Vater es war. Ich weiß, er hasste die Vorstellung sich an jemanden zu binden. Doch ich dachte das Risiko eingehen zu können, da es ihm sein anerzogener Anstand nicht erlaubte, eine von mir geäußerte Bitte abzuweisen. Immerhin war es auch von seinem Vater Ezra stets angestrebt worden, dass sich unsere Familien verbinden. Leider habe ich Semjons Einfallsreichtum unterschätzt, denn er wusste sich anders zu helfen.“
„Vater, das sind doch nur Hirngespinste“, presst Christobal hervor.
„Entschuldige, Risto, aber das sind es nicht. Er weiß ebenso gut wie ich, dass ich ihn gebeten habe Belladonna zu heiraten. Dreh es wie du willst, aber es war ausgemacht. Auch wenn kein Papier dies bezeugt.
Und da er nicht heiraten wollte tat er das, was er am Besten kann: Er ließ sie verschwinden. Einfach so. Natürlich hat er sie nicht umgebracht oder der gleichen. Sie war nur einfach verschwunden. Und damit auch meine Chance Ezras Lieblingssohn an unsere Familie zu binden“, meint Pius mit einem Seufzen. „Doch das Leben ist mit einem seltsamen Humor gesegnet. Und so bekam ich knapp drei Jahre später einen amüsierten Anruf von Semjon, dass meine Tochter die Wandlung vollzogen hat und mit seinem Bruder Rome zusammen ist. Dem wohl größten-… nein, lassen wir das… Immerhin er ist Ezras ältester Sohn und hat wohl zumindest ein wenig Anstand gelernt, seit er mit meiner Tochter zusammen ist. Nun, wo war ich… ach ja. Meine Tochter hatte ihre Wandlung vollzogen und Semjon erklärte mir, dass ich mich einverstanden erklären sollte meine Tochter offiziell für tot erklären sollte, da er kein Interesse daran hatte sich nochmals mit meinen Zukunftsplänen auseinanderzusetzen. Und so wurde mit tatkräftiger Unterstützung von Christobal aus Belladonna, Mira Blue. Und meine einzige Bedingung, die ich Semjon damals abringen konnte, nämlich, dass meine Tochter Rome nie wieder sehen würde, hat er schlussendlich auch noch torpediert. Sodass ihm am Ende wieder einmal alles so passte, wie er es von Anfang an wollte.“
„Was Pius dir zu erklären versucht, ist: Ich bin ein Arschloch. Und noch dazu ein Mächtiges. Und nun würde ich gerne weiter essen“, brummt Semjon nur vollkommen gefühllos.


Ich habe keinen Hunger mehr. Überhaupt keinen. Ich will ihn anschreien. Was für eine fürchterliche Aktion. Und das Schlimmste, Pius schien sie ihm noch nicht einmal besonders übel zu nehmen!
Semjon hatte außerdem behauptet, dass er nie verlobt war! Und er war es doch.- Theoretisch. Mit Mira- oder Belladonna oder wie auch immer sie jetzt wirklich heißt!
„Ich fühle mich etwas unwohl. Ich sollte ins Bett gehen. Entschuldigen sie mich bitte Pius. “, meine ich kurz angebunden.
Christobal und Semjon stehen beide fast erschrocken auf, als ich aufstehe.
„Ich werde dich begleiten“, bietet sich Christobal an.
„Nein. Lass gut sein. Ich mach das schon“, räuspert sich Semjon und nickt Pius ernst zu.
Ich will irgendetwas sagen, doch mir fällt nichts annähernd Treffendes ein.
„Marlen. Du siehst nicht gut aus“, meint Christobal besorgt.
„Allerdings“, höre ich Semjon wispern, bevor sich eine Hand um meine Taille spüre.
„Lass mich“, presse ich hervor, mache mich von ihm los und so gehe davon. Sein Duft und die Schmetterlinge in meinem Bauch helfen ihm heute nicht aus der Patsche.
„Marlen, du siehst wirklich ziemlich blass aus“, entgegnet mir der Boss der Dunklen und hört sich dabei beinahe besorgt aus.
„Mir ist schlecht“, kontere ich eisig.
„Wieso bist du jetzt so zickig?“, will Christobal wissen, während ich zum Aufzug stolziere, da ich vergessen habe in welche Richtung der verfluchte Treppenaufgang liegt.
„Ich habe Neuigkeiten für dich! Für euch! Ich bin eine Zicke!“, schnappe ich, während ich den Aufzug rufe und mich von Semjon und Christobal flankiert sehe. „Wieso folgt ihr mir überhaupt?“
„Weil du so aussiehst als würdest du gleich umkippen“, meint Mr. Schwarzmaler- Cooper höchst persönlich, während sich die Aufzugtüren mit einem “Bling“ öffnen.
Ich beiße auf meine Zunge, um zu verhindern, dass mir noch ein Wort über die Lippen kommt, während wir in die Kabine steigen. Als ich jedoch auf die Edelstahltüren starre und Christobal s Lippen ein sanftes „Lenny?“ entkommt, reicht es mir endgültig.
„Nenn mich nicht so! So nennen mich meine Freunde und ihr Beide, ihr Beide zählt bestimmt nicht dazu!“, brülle ich sie an. „Ihr seid widerlich! Alle Beide! Wie konntet ihr ihm das antun? Es ist eine Sache jemanden nicht heiraten zu wollen, aber das? Ich habe dich für vieles gehalten Semjon. Aber nicht für einen Feigling! Und du, du spielst da auch noch mit Christobal! Arschlöcher!… alle Beide. Weißt du, du hättest einfach nein sagen können! Erziehung hin oder her! Und jetzt entschuldigt mich- ich muss hier raus!“, ereifere ich mich und stürme nach draußen, kaum dass sich der Fahrstuhl angehalten hat.
„Ach so, und ich fühle mich nicht unwohl! Ich fühle mich zutiefst angewidert!“, rufe ich ihnen noch im Davongehen zu.
Vielleicht wäre mein Abgang etwas dramatischer gewesen, wenn ich nicht über den elendigen Perserteppich gestolpert wäre, der auf dem Flur ausgelegt ist, doch ich bin so wütend auf Semjon und seinen besten Freund, dass ich es mit einem „Zur Hölle nochmal!“, abtue und weitertrabe.
Ich werfe die Tür des Appartements hinter mir zu und schließe ab. Soll Semjon doch sehen, wo er heute Nacht schläft! Heute Nacht werde ich mich sicher nicht um ihn schlingen, als sei er mein persönliches Kuscheltier!
Wie krank muss man eigentlich sein, den Eltern die Tochter wegzunehmen, nur weil man sie nicht heiraten will? Und dann, als wäre das nicht genug, bringen es die Beiden fertig Pius zu zwingen, Belladonna offiziell für tot erklären zu lassen. All das nur, weil Semjon sich nicht noch einmal mit dem Thema Heirat auseinandersetzen und Christobal wahrscheinlich seine Stiefmutter ärgern wollte. Eine andere Idee, weshalb er bei dieser Farce mitgemacht hat, habe ich nämlich nicht. Interessiert mich auch gar nicht, wenn ich ehrlich bin.
Aber das aller Schlimmste ist, dass Semjon mich angelogen hat, ohne mit der Wimper zu zucken. Noch nie verlobt gewesen, ha! Vielleicht nicht auf dem Papier, aber es war so ernst, dass er jemanden hat untertauchen lassen!
Jemanden hat sterben lassen!
Die Schuhe von den Füßen streifend, eile ich ins Schlafzimmer und greife nach meinem neuen Telefon. Als ich mit fliegenden Fingern die Nummer meines besten Freundes wähle, bin ich so aufgekratzt, dass ich am liebsten losheulen würde.
„Hallo?“, höre ich Devons Stimme endlich grummeln.
„Hey Devon. Ich bins. Lenny. Hast du Zeit für mich?“, bringe ich erleichtert raus und lasse mich auf das weiche Bett fallen.
„Sicher. Ist alles in Ordnung? Du hörst dich gar nicht gut an“, bemerkt er und ich verfluche kurz die Tatsache, dass er meine Gemütslage schon an meiner Stimme bemerkt hat.
„Ja, klar. Ich wollte mich nur mal wieder bei dir melden. Was machst du gerade?“, versuche ich meine schlechte Laune zu überspielen.
Ich höre es in der Leitung rascheln. „Was soll dich dir erzählen? Ich habe geschlafen, bevor ich gerade aus dem Bett geklingelt worden bin“, murmelt er dann und ich höre jemanden im Hintergrund etwas brabbeln.
„Du bist nicht allein“, stelle ich mit einem amüsierten Schnauben fest. „Wer ist es? Kenne ich sie?“, will ich neugierig wissen.
„Nein, du kennst sie nicht und du wirst sie auch nicht kennenlernen“, meint Devon nur.
„Hat sie dich nicht zufriedengestellt?“, stichle ich ein wenig.
„Mach dir mal keine Sorgen um mein Sexleben. Kümmer dich lieber um dein eigenes“, sagt mein bester Freund flapsig und ich höre aus seinem Unterton heraus, dass ich es auf den Punkt gebracht habe.
„Gräm dich nicht, Devon. Ich bin mir sicher es lag nicht an dir“, entkommt es mir lachend.
„Lenny… halt die Klappe“, höre ich ihn knurren und beiße mir auf die Unterlippe.
„Das möchtest du doch nicht wirklich.“
„Stimmt. Aber ich mache jetzt einen gekonnten Themenwechsel. Wusstest du nämlich wie stolz du auf mich sein kannst? Ich habe es mit meinen phänomenalen Fähigkeiten geschafft, endlich Winas Küchenstuhl zu reparieren“, meint er.
„Soll heißen, sie hat dir die Ohren langezogen, weil du es immer noch nicht gemacht hattest und um sie wieder zu besänftigen, musstest du das Ding tatsächlich reparieren, nachdem du dich Monatelang darum gedrückt hast.“
„So in etwa“, brummt er zustimmend.
„Ich bin so stolz auf dich.“
„Dessen bin ich mir bewusst. Aber jetzt rück raus mit der Sprache. Behandelt dich Semjon gut? Oder muss ich nach Helsinki kommen und dich retten?“, sagt er ernst, bevor ich es zischen höre und ich mir ziemlich sicher bin, dass er sich gerade ein Bier aufgemacht hat.
„Er ist ein Arschloch. Aber ein Gentleman“, informiere ich ihn. „…Aber ich will nicht über ihn reden. Erzähl mir lieber was von zuhause“, bitte ich ihn inständig.
„So schlimm?“, hakt er nach und ich kann seine roten Augen regelrecht auf mir spüren, die mich mit diesem wissenden Blick bedenken, obgleich wir ein paar hundert Kilometer voneinander entfernt sind.
„Erzähl mir einfach wie dein Wochenende war“, wispere ich. „Die Männerwelt hier geht mir fürchterlich auf die Nerven.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 20

 



Die Rückfahrt nach Helsinki habe ich vor äußerst schweigsam zu gestalten, als ich am Montagmorgen in Semjons Wagen steige. Es stinkt nach Zigarettenqualm und ich ziehe angewidert die Nase kraus, während ich die Beifahrertür zuschlage.
„Wie ich sehe hast du meine SMS mit dem Abfahrtstermin bekommen“, begrüßt Semjon mich.
Ich entgegne nichts zur Begrüßung, als ich mich anschnalle und mein bunt gestreiftes Kleid, mit den viel zu neckischen Bindebändchen im Rücken zu Recht zupfe.
„Also nur damit ich das richtig verstehe: Du redest nicht mehr mit mir, wegen der Geschichte mit Mira?“, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen und ich mustere ihn mit einem angewiderten Seitenblick. Für einen Augenblick sieht er viel zu bedrohlich aus, wie er da übernächtigt, mit seinem finsteren Bartschatten hinter dem Lenkrad hockt.
Ich fahre mir durch die Haare und stütze meinen Kopf auf meinem Handrücken ab, weil ich keine Lust habe, eine offensichtliche Antwort zu geben.
„Na schön. Deine Entscheidung“, brummt er und in mir regt sich das erneute Bedürfnis ihn anzuschreien.
So wie er es rüber bringt, wirkt es als sei es keine große Sache gewesen, was Christobal und er da abgezogen haben.
„Oh, und wie das meine Entscheidung ist. Was ihr getan habt ist furchtbar“, fahre ich ihn an. „Wie konntest du das tun? Ich würde alles dafür tun, um zu wissen, wer meine Erzeuger sind. Wie kann man Kinder ihren Eltern wegnehmen?“, rutscht es mir raus.
Ich glaube, dass hätte ich nicht sagen sollen.
Semjons Kopf ruckt zu mir herum, bevor er zwei Gänge hochschaltet. „Geht es hier um dich oder um Mira?“
„Ich rede nicht mit dir“, bringe ich schließlich schluckend raus, weil ich keine Ahnung habe, wie die Antwort auf seine Frage wäre.
Er bedenkt mich mit einem durchdringenden Blick und ich habe Angst vor ihm. Weil man ihm kein Wort glauben kann, weil sein Herz aus Stein ist, oder wahlweise auch aus verrostetem Eisen und weil diese braunen Augen mir nichts als Dunkelheit entgegen schleudern.
„Mira wollte gehen. Sie hat ihre Familie gehasst. Sie weiß bis heute nicht einmal, dass ich ihr dabei geholfen habe abzuhauen. Es war ihre Entscheidung unterzutauchen, jemand anderes zu werden. Auch wenn es eine Entscheidung war, die ich mehr als begrüßt habe“, erklärt er mir so ruhig, dass ich ihn am liebsten schütteln würde, einfach nur um zu sehen, ob er zu irgendeiner Regung fähig ist.
„Ich rede immer noch nicht mit dir“, schnaube ich schließlich aus purer Verzweiflung, weil ich die glatte Maske seines Gesichts nicht mehr ertrage, sehe demonstrativ aus dem Fenster und schlinge die graue, grobmaschige Strickjacke enger um mich.
„Ja... und nun tu mir den Gefallen und rutsch ein wenig in Richtung Tür. Du bist zu nah“, brummt er missmutig und ich stelle mit Erstaunen fest, dass seine Stimme viel lebendiger ist, als es der Rest von ihm zu sein scheint.
„Hast du schon wieder zu wenig getrunken?“, hake ich alarmiert nach, ohne in seine Richtung zu starren, weil ich keine Lust habe eventuell wieder in verformte Pupillen zu sehen.
„Nein. Ich will nur nicht schon wieder von deinem Geruch durchtränkt sein“, sagt er so ausgesucht freundlich, dass es sich wie eine Beleidigung anhört.
Ich glaube, wenn diese Stimme einem anderen Kerl gehören würde, dann hätte ich mich längst unsterblich in sie verliebt. Aber sie gehört Semjon und deshalb verfluche ich ihn noch ein wenig mehr. Einfach weil er mich fertig macht, mit allem was er hat und weil er nicht Mr. Darcy ist.
„Bitte. Aber ich glaube nicht, dass jemand außer dem Zigarettenrauch irgendetwas bemerken wird“, sage ich mit einem Schnauben und rolle mich an dem von ihm entferntesten Ende des Ledersitzes ein. Mein Kopf rumst gegen die kühle Scheibe seines Mercedes und ich betrachte mein unglückliches Spiegelbild, dessen Gesichtszüge sich im Fenster spiegeln.

Die Nadelwälder, durch die die schmale Straße führt, die Semjon sein Auto entlang jagen lässt , werden immer wieder von ein paar Seen durchbrochen und selten auch mal von einem winzigen Dorf, doch die meiste Zeit starre ich einfach nur in eine finster grüne Hölle und hänge meinen Gedanken nach.
Eigentlich mag ich die Idee, dass er Mira einfach so geholfen hat, damit sie glücklich ist. Und nur ein ganz klein bisschen deshalb, weil er eigene Pläne hatte. Aber das kann ich ihm nicht sagen. Weil ich mich dann entschuldigen müsste. Und weil ich ihm dann tatsächlich abnehmen müsste, dass er kein totales Arschloch ist.
Doch für solche Zugeständnisse ist mein Selbsterhaltungstrieb zu gut entwickelt und ich texte lieber ein wenig mit Nikita, der gerade Pause macht und gemeinsam mit Matt in Monas Café herum hockt, anstatt mein Seelenleben weiter zu ergründen. Wir schaffen es schließlich uns für heute Abend zu verabreden, nachdem wir nach einigem hin und her uns darauf geeinigt haben die Clubszene aufzumischen.

Als ich kurz nach zwölf endlich aus Semjons Mercedes klettere und fünf Minuten später die Zimmertür hinter mir zuwerfen kann, geht es mir schon bedeutend besser. Ich verbringe den Nachmittag damit ein paar Klatschmagazine zu durchforsten, mache ein paar Notizen für meine Hausarbeiten und widme mich dann der sorgfältigen Auswahl meiner Klamotten für den heutigen Abend.


„Lenny? Sorry, dass wir sind zu spät sind! Bist du schon fertig?“, höre ich Nikita von unten brüllen, als ich in meine schwarzen High Heels schlupfe und mir meine Jacke von der Couch pflücke.
„Bin da!“, grinse ich den Beiden entgegen, während ich die Treppe nach unten eile.
Die Beiden sehen gut aus.
Matt hat ein hellblaues Hemd und eine schlichte schwarze Hose an und dazu passend schwarze, auf Hochglanz polierte Schuhe. Die hellgraue Strickjacke, deren Reisverschluss nachlässig geöffnet ist, lässt ihn auf eine unaufdringliche Art zum Anbeißen aussehen. Nikita hingegen beeindruckt weniger durch Understatement als durch die faszinierenden Klunker, die in seinen Ohren stecken. Sein dunkelgrauer Anzug und sein Körperschmuck geben einen faszinierend einnehmenden Mix ab und ich strahle die Beiden noch ein wenig breiter an.
„Nehmt ihr mich so mit?“, frage ich fröhlich.
„Die Frage ist wohl eher, ob wir dich wieder mit nach Hause nehmen können“, meint Nikita mit einem schelmischen Funkeln in den Augen.
„Na das hoffe ich doch“, lächle ich die Zwei an.
Ich trage ein knallenges, rotes Etuikleid, die Haare zu einem strengen Knoten hochgesteckt, Smokey Eyes und rote Lippen. Und ich hoffe inständig, dass sich all die Mühe für heute Abend gelohnt hat und ich einen Kerl finde, der mich Semjon endlich vergessen lässt.


Der Club in dem wir unseren Abend hat gute Chancen auch der Letzte zu sein, den wir heute Abend besuchen, denn die Musik ist klasse und die Leute sind gut drauf. Die Meute tobt auf der Tanzfläche und ich rocke mit Matt und Nikita irgendwo in der Mitte das Haus. Keiner der Beiden ist ein verkrampfter Minimalist, was das Tanzen angeht. Genauso wenig wie ich. Und einsam geht es bei uns auch nicht zu. Dauernd haben Matt oder Nik eine Neue die sie antanzt oder umgekehrt und auch ich kann mich nicht beklagen. Doch nach gefühlten fünf Stunden auf der Tanzfläche brauche ich mal wieder Nachschub an der Getränkefront und ich bedeute Matt, der sich gerade sehr intensiv mit einer hübschen Brünetten beschäftigt, dass ich zur Bar gehe.

Ich bestelle mir gerade eine Cola, als ich den Mann mir gegenüber entdecke, der mich interessiert mustert.
Er sieht gut aus.
Groß.
Sein Anzug sitzt perfekt. Das dunkle Haar fällt in weichen Wellen bis in seinen Nacken und seine Augen funkeln so selbstbewusst, als würde ihm der ganze Laden gehören.
Kurzum, mir gefällt was ich sehe und so fädle meinen Strohhalm in die Cola Dose und lehne mich lässig an die Bar.
Es dauert keine fünf Minuten bis er herüber kommt.
Er bleibt in einigem Abstand zu mir stehen und bestellt sich einen Wodka Tonic, während ich Matt beobachte, der aus der Menge ragt wie ein großer, kahlgeschorener Leuchtturm.
Aus den Augenwinkeln heraus, bemerke ich, wie Mr. Wodka Tonic seinen Blick über mich wandern lässt.
Dass er mich ansprechen wird ist mir klar. Scheinbar hat er sich aber noch für keine Strategie entschieden.
Ich hingegen schon.
Mit meiner Cola bewaffnet, verabschiede ich mich von der Bar und eile zurück zu Matt und Nikita, da ich es mir kurzerhand anders überlegt habe: Ich brauche keinen Mr. Wodka Tonic in meinem Leben. Matt hingegen… jemanden wie Matt könnte ich wirklich gebrauchen… nett und ein bisschen schüchtern ...und mit dem Aussehen eines bösen Jungen.
Ich schenke Matt ein breites Lächeln, das sich vollkommen echt anfühlt und sich bis in mein Inneres frisst, als seine Hände flüchtig über meine Seite wandern.
Er hat heute Abend mit vielen Frauen getanzt, doch keiner hat er einen Arm um die Taille geschlungen und sie an sich gezogen, so wie er es gerade bei mir tut und ich gebe zu, dass mir diese Tatsache gefällt.
Meine Cola ist fast leer und mein Körper bewegt sich ausgelassen zum wummernden Beat der Musik und meine Hände finden immer wieder seine Schultern, seine breite Brust und seinen Nacken.
Es ist halb drei, als Nikita uns antreibt nach Hause zu gehen, da er um sieben schon wieder im Büro sein muss.
Wir Drei teilen uns ein Taxi und wie es der Zufall will, muss Nikita als erstes raus. Er sieht von mir zu Matt mit diesem wissenden Blick, für den ich ihn umbringen könnte und wünscht uns noch eine schöne Nacht.
Als er die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt und das Taxi anfährt, höre ich Matt, von dem ich die Fahrt über durch Nikita getrennt war, schwer seufzen. „Was für ein Abend“, brummt er schließlich.
Ich sehe zu ihm herüber. Das Handy wie ein Spielzeug in den Händen hin und her wandernd, macht er nicht den Eindruck, als sei er besonders begeistert mit mir allein gelassen zu werden.
„Alles in Ordnung?“, frage ich unsicher.
Matt legt den Kopf in den Nacken, starrt eine Weile an die Decke des Wagens und schüttelt dann den Kopf. „Nein… Ich mag dich Lenny. Du bist toll… aber du bist Semjons Kleine, egal was er behauptet, was du behauptest… er ist mein Boss und einer meiner besten Freunde. Zwischen uns kann nicht mehr laufen. Niemals.“
Ich starre Matt an. Weil er verrückt ist und weil ich nicht hören will, was er mir da sagt, auch wenn er recht hat.
Ich kann nichts mit ihm anfangen.
Es gehört sich nicht, weil er ein toller Kerl ist und ich die hartnäckige, lächerliche Hoffnung hege, dass Semjon sich irgendwann doch für mich interessiert. Irgendwann.
Jetzt ist es an mir ein Stöhnen auszustoßen und meinen Kopf auf die Lehne klatschen zu lassen. „Scheiße.“
„Wieso müssen Frauen immer auf Arschlöcher stehen?“, stellt Matt die Frage aller Fragen und ich zucke nur mit den Schultern.
„Weil wir bescheuert sind und ein bisschen masochistisch.“
Matt dreht sich zu mir und grinst. „Stimmt“, wispert er. „Aber ihr seht sehr hübsch dabei aus.“
„Gute Nacht, Matt“, lächle ich ihn dahin geschmolzen an und lehne mich zu ihm rüber um ihm einen Schmatz auf die Wange zu drücken.
„Nacht“, murmelt er in mein Haar, bevor das Taxi vor Semjons Wohnung hält und ich mit einem letzten Blick auf ihn aus dem Taxi steige.
Was für ein Kerl.
Was für eine Verschwendung ihn nicht mit nach oben zu nehmen.
Ich hebe die Hand zum Abschied, bevor ich nach drinnen verschwinde und den Fahrstuhl rufe.


Mittlerweile ist es kurz nach vier. Und als ich die Türe hinter mir zuziehe und mir meine Haarklammern löse, malt der Mond lange Schatten in das Halbdunkel des Lofts.
Die Uhr in der Küche tickt leise und ich wünsche mir einen starken Drink, während ich mit den Fingern durch meine Haare kämme. Natürlich würde kein alkoholisches Getränk der Welt gegen die Engstirnigkeit meines bescheuerten Herzens helfen, aber vielleicht würde ich ihn für kurze Zeit einfach vergessen.
Doch statt die Küchenschränke zu durchsuchen, wandere ich die Treppenstufen nach oben und gestehe mir ein, dass der Grund, weshalb ich gestern so ausgerastet bin, weder an meiner Vergangenheit liegt noch an irgendwelchen Aktionen von Semjon. Die einfache Antwort ist, dass ich eifersüchtig bin. Dass ich es nicht ertrage, dass es da eventuell eine andere Frau gibt, die ihm etwas bedeutet.

Ich will gerade die letzte Stufe erklimmen, als sich ein Schatten über mich legt und ich zucke erschrocken zusammen, bevor ich Semjons Umriss erkenne.
„Wieder da?“, will er eisig wissen und ich mache vorsorglich einen Schritt zurück.
„Wie du siehst“, bringe ich überrumpelt raus. „Wieso stehst du mitten im Dunkeln? Du hast mich erschreckt“, füge ich schließlich an und sehe ihm ins Gesicht, einen besonders schwarzen Fleck in der Dunkelheit, der sich leicht zur Seite neigt.
„Das könnte ich dich auch fragen“, höre ich ihn grollen und ich versuche den albernen Wunsch zu unterdrücken meine Finger auszustrecken und seine Konturen nachzufahren, wenn ich sie schon nicht sehen kann.
„Ich habe vergessen wo der Lichtschalter ist“, flüstere ich schließlich leise und reiße mich zusammen. „Was ist deine Ausrede?“, krächze ich und will mich an ihm vorbei schieben. Doch das gelingt mir nicht, denn Semjon packt mich am Handgelenk.
„Semjon?“, wispere ich vollkommen überrumpelt, während ich einen leichten Lufthauch über mein Gesicht streichen spüre, kaum stärker als der Flügelschlag eines Schmetterlings.
„Ich habe keine“, höre ich ihn plötzlich sagen und sehe schemenhaft seine Augen über mein Gesicht wandern.
Ich wage es nicht, mich zu bewegen, während durch mein Körper ein aufgeregtes Zittern läuft.
„Ich bin kein Feigling“, sagt er ganz unvermittelt. „Das war ich nie.“
„Schon klar“, schlucke ich und starre ihn mit flatternden Nerven an.
Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit und ich mache ein weißes, eng anliegendes Hemd aus, wahrscheinlich dasselbe, dass er bereits heute Morgen getragen hatte. Er hat seinen Oberkörper nach vorn gebeugt, so weit nach vorn, dass seine dunklen Augen direkt vor mir schweben.
Ich starre in seine glühenden Kohlen und versuche darin irgendetwas zu erkennen, doch es ist zu dunkel und er zu abgebrüht.
Und dann spüre ich seine Finger über meine Haare gleiten. Sie tauchen einfach so in meine vom Haarspray verklebten Locken und schlingen sie sich um den Zeigefinger.
„Dir scheint gar nichts klar zu sein“, höre ich ihn mit seiner samtweichen Stimme brummen.
Ich kann mich nicht bewegen und werde es auch nie wieder tun können, solange er nicht meine Haare loslässt.
„ Sieh dich an…du siehst aus wie eine verfluchte Märchenfee aus einem Softporno!“, flucht er ganz unvermittelt und ich zucke zusammen.
„Das ist schlecht, richtig?“, bringe ich zitternd raus.
Semjon beantwortet meine Frage indem er mich gegen die Backsteinmauer wirft und seine Arme sich rechts und links von mir gegen die Wand rammt
„Es ist extrem schlecht“, höre ich ihn hervor pressen. „Denn Märchenfeen...die sollten einfach nicht in meinem Bett landen“, grollt er heiser.
Ich schlucke, bevor ich die Augen senke und unter seinen Armen wegtauche, weil er einfach zu nah ist.
Weil mein Herz sich nie wieder davon erholen würde, wenn er mir weh tut.
„Ich sollte jetzt schlafen gehen“, murmle ich.
„Schließ ab“, höre ich ihn schleppend sagen und weiß, dass es ein Befehl ist, es schnell zu tun, als ich in seine verformten Pupillen sehe.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 21

 



Semjon starrt mich mit seinen dunklen Raubtieraugen an und ballt die Hände zu Fäusten, als ich vorsichtig einen Schritt zur Seite mache.
Der Boss der Dunklen steht vor mir, in seiner ganzen tödlichen Herrlichkeit. Seine Muskeln sind zum Zerreißen angespannt und ich kann sehen, dass seine Augen die Bewegungen meiner Finger verfolgen, die sich langsam über die Backsteinmauer schieben.
„Du hast mich heute Morgen angelogen, nicht wahr? Du hast schon wieder kein Blut zu dir genommen“, flüstere ich, die Gefahr die von ihm ausgeht vergessend.
„Ich kann es mir nicht leisten träge und unaufmerksam zu werden“, sagt er mit einem heiseren Kratzen in der Stimme, das meine Füße stoppen lässt.
„Wenn du jetzt nicht gehst, dann wirst du das bereuen!“, droht er mir leise und ich zögere.
Zögere, weil er sich beinahe verzweifelt anhört.
„Semjon“, schlucke ich schwer.
Ich höre seine Fingerknöchel unheilvoll knacken, bevor ich den schwachen Geruch von Blut ausmache.
„Geh“, presst er hervor und zeigt mir seine scharfen Fänge.
Meine Füße stolpern erschrocken einen Schritt seitwärts, während ich mit Entsetzen die dunkle Flüssigkeit aus seiner geschlossenen Faust zum Fußboden tropfen sehe.
Er riecht wie flüssiger Sex.
Vollmundig und schwer kitzelt der Duft seines Blutes meine Nase, während er sich nicht regt.
Ich sehe dem dünnen Rinnsal zu, wie es durch seine Fingerspitzen tropft und schiebe mich weiter an der Wand entlang.
Langsam. Weil ich Angst habe, dass ich ihn aus seiner Trance reiße, wenn ich zu schnell bin, aber vor allem, weil ich das Bedürfnis nieder kämpfen muss, nicht zu ihm zu gehen.
Er ist so beherrscht, dass er sich lieber selbst verletzt, als mich anzufallen und das ertrage ich kaum.
Am liebsten würde ich zu ihm gehen, sein Gesicht in beide Hände nehmen und einfach alles wegküssen, seine verkrampften Finger lösen und mich an ihn schmiegen.
Doch dazu bin ich nicht wagemutig genug.
„Du…“, höre ich Semjon ansetzen, doch er unterbricht sich, als ich neben mir ein tiefes, drohendes Knurren vernehme und schwere Schritte.
Große Pfoten kratzen über das Parkett direkt neben mir.
Aus den Augenwinkeln heraus, erkenne ich den Umriss einer mir sehr bekannten Dogge, die mit gefletschten Zähnen vor mich tritt und ich danke allen Göttern der Nyx dafür.
Aus Amons Kehle entkommt ein Laut, der wohl selbst Garm, den nordischen Höllenhund, vor Neid erblassen lassen würde und ich schaffe es, mich aus meiner Starre zu lösen und mich mit Rückendeckung von Amon um die Ecke zu flüchten und die Tür aufzureißen.
Ich zögere die Tür hinter mir zu zuziehen. Da draußen steht Semjon. Blutend. Ausgehungert. Bedrohlich. Und trotzdem alles was ich jemals wollte. Ich könnte zu ihm gehen. Wie schlimm könnte es schon werden?
Übel. Beantworte ich mir die Frage selbst.
„Amon?“, quetsche ich schließlich besorgt hervor und linse mit flatternden Nerven in die Dunkelheit.
Amons Knurren ist zu hören, welches in meinem ganzen Körper wiederhalt und ich kann beobachten, wie er mit gesenktem Kopf, rückwärts auf mich zu kommt.
Er scheint auf den ersten Blick unverletzt zu sein und gibt die Drohgebärden schlagartig auf, als er die Tür erreicht hat und ich sie hinter uns abschließe.
Der gerade eben noch so gefährlich wirkende Höllenhund sieht mit einem mal wieder wie ein treudoofer Teddybär aus und ich seufze erleichtert auf.
„Danke für die Rettung, mein Großer“, bringe ich schließlich raus und lasse meine Finger über seinen Kopf gleiten.
Seine großen Augen blicken mich an, als würden sie mich nur zu gut verstehen.
Ich höre etwas Dumpfes gegen die Wand fallen und hege die Vermutung, dass das Semjon war, während ich mit wackligen Füßen zu meinem Bett gehe und mich in die Kissen fallen lasse.
Ich zucke zusammen, als sich die Matratze senkt und ich will schon aufspringen, als ich Amons Schnauze am Arm spüre.
„Hey meine Schmusedogge“, seufze ich erleichtert und drehe mich zu ihm, um meine Finger mit seinen Ohren spielen zu lassen.
Die Schatten an der Decke tanzen unheilvoll, während ich ängstlich lausche.
Doch nach dem Schlag ist nichts mehr zu hören und ich merke, wie sich langsam die Müdigkeit in mein Bewusstsein schleicht. Amon drückt seinen Kopf in meine Haare und ich spüre seine Schnauze gegen mein Ohr stupsen.
„Das kitzelt“, kichere ich und schließe die Augen, während Amon über meinen Arm leckt. „Du bist ein guter Junge“, grinse ich und rolle mich in die Bettdecke ein.

So geht das alles nicht weiter, stelle ich schließlich für mich fest, als ich das Schattenspiel an der Balkendecke verfolge. Entweder muss ich Semjon endlich aus jeglicher romantischer Phantasie von mir verbannen oder ich muss mich trauen ihn mit allem was ich habe anzumachen und sehen, ob ich eine Chance habe. Und solange ich mich für keine der Beiden Möglichkeiten entschieden habe, sollte ich mich auf etwas Ungefährliches konzentrieren, wie zum Beispiel die anstehende Hausarbeit, die ich bis jetzt erfolgreich verdrängt hatte. Doch vielleicht ist genau jetzt der perfekte Zeitpunkt etwas über den Edelmetallhandel in der Neuen Welt zu erfahren.


Ich werde vom Duft frischen Kaffees geweckt und von Nikita, der über meinem Bett steht und eben jenen in der Hand hält. „Na? Wie ich sehe war die Nacht ja wenig ereignisreich“, lässt er verlauten und schenkt mir ein schiefes Grinsen.
„Was meinst du?“, will ich verschlafen wissen und reibe mir den Schlaf aus den Augen.
„Das weißt du genau“, meint er nur und setzt sich auf die Bettkante.
Vor meinem Inneren Auge sehe ich Semjons verformte Pupillen aufblitzen und höre seine Worte in meinem Ohren wiederhallen, bevor ich mich zusammenreiße und Nikita vorwurfsvoll angucke.
„Mh…Ist der Kaffee für mich?“, bringe ich schließlich gähnend raus.
„Nein. Wir Beide hatten ja keinen Sex“, antwortet er mir amüsiert und nimmt einen großen Schluck aus der Tasse.
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. „Du bist ein böser Mann“, schnaube ich amüsiert. „Weshalb bist du eigentlich hier? Ich dachte du und Matt müsst arbeiten?“
„Ich arbeite doch“, gurrt er. „Ich sehe bei dir nach dem Rechten.“
„Das ist kein Grund einfach so in meinem Zimmer zu stehen.“
„Ich schätze, ich habe mir Sorgen gemacht. Semjon hat heute Morgen ausgesehen, als wäre ihm ein Geist begegnet und hat Matt mit diesem Killerblick bedacht, den er sonst nur für die- … ich sollte dir das nicht erzählen“, unterbricht er sich selbst und rutscht ans Kopfende des Bettes, streckt die Beine aus und lässt, jeden Anständ vergessend, die schweren Motorradstiefel einfach an.
„Du solltest die Schuhe ausziehen, wenn du schon hier rumgammeln willst“, übergehe ich seinen Kommentar.
„Sind doch sauber.“
„Nikita, ich schwöre bei allen Göttern der Nyx, wenn du nicht gleich diese versifften, stinkenden Stiefel ausziehst, dann-“
„Sie sind von Prada.“
Ich blinzle, bevor ich nach seinem heißen Kaffee greife, den er gerade noch so in Sicherheit bringen kann. „Das ist deine Begründung? Wirklich?“, fahre ich ihn an.
„Verdammt, Lenny!“, flucht Nikita, der beinahe selbst seinen Kaffee verschüttet, als er mir ausweicht und ich grinse, während ich meinen Kopf auf dem Ellbogen abstütze.
„Zieh einfach die Schuhe aus.“
Nikita lässt ein Stöhnen hören, bevor er seine Schuhe von seinen Füßen streift und sie aus dem Bett kickt. „Du bist hoffentlich zufrieden, nun da du mich genötigt hast, mich in deinem Bett zu entblättern?“
„Sicher. Sehr… sexy Socken hast du da an“, schmunzle ich nur, weil sie echt unspektakulär dunkelblau sind und auch keinerlei Löcher oder Geschmacksverirrungen aufweisen, mit denen ich ihn aufziehen könnte.
„Ja. Sie sind noch aus meinem Leben als Spießer übrig geblieben“, feixt Nikita.
„Oh, là, là… du ohne Klunker und Farbe? Was wäre das nur für eine grausame Welt.“
„Du sprichst mir aus der Seele“, schmunzelt Nikita.
Ich streiche mir eine wild abstehende Locke hinter die Ohren und gähne herzhaft. „Sag mal, wann hat die Bibliothek hier geöffnet?“
„Wie kommst du denn darauf?“, hakt Nikita nach und verzieht das Gesicht dabei zu einem verwirrten Gesichtsausdruck.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich muss noch eine zwanzigseitige Hausarbeit über Edelmetallhandel in der Neuen Welt schreiben“, erkläre ich ihm ehrlich. „Und brauche dazu Quellen und Literatur. Ich will nämlich keine miese Note bekommen, nur weil mich irgendjemand eventuell verfolgt. Außerdem habe ich dann wenigstens etwas zu tun.“
Nikita grinst mich an. „Du bist eine Streberin, stimmt’s? Latein lernen am Strand, Hausarbeiten machen, obwohl du echt eine gute Ausrede hättest, die nicht zu machen… dir macht das Spaß.“
Ich schenke ihm einen verschwörerischen Blick, bevor ich meinen Zeigefinger auf meine Lippen lege. „Scht… verrat es niemandem, aber ich mag Bücher.“
„Ein Bücherwurm. Wie süß“, lächelt er und streicht mir übers Haar. „Irgendwas sagt mir, dass du das nicht an die große Glocke hängst.“
„Mh“, brumme ich.
„Schreibst du etwa auch noch gute Noten?“
„Ach, halt die Klappe!“, schnaube ich und klettere aus dem Bett. Fehlt mir gerade noch, dass sich jemand über mein Bestreben gut in der Schule zu sein lustig macht. Ich habe nun mal keine Familie, die mir alles in den Arsch schieben kann. Wenn ich mich nicht anstrenge gut zu sein, dann fliege ich schneller als ich „Geldbeutel“ sagen kann, aus der Schule.
„Kein Grund sauer zu werden, Lenny. Lass uns etwas Essen gehen und dann werde ich dir etwas zeigen, was dein Streberherz höher schlagen lassen wird.“
„Tu dir keinen Zwang an“, seufze ich, während ich in Richtung Bad eile.
„Ich bin nicht sauer. Ich ignoriere nur dein Geschwätz.“
„Du kannst es gern versuchen“, höre Nikita lachen.


Begleitet von Amon und Nikita, hocke ich mal wieder in Monas Café herum und frühstücke, während Mona sich zu uns gesetzt hat und auf Nikita einredet, sich doch mal die Haare abzuschneiden, weil er dann bestimmt jede Frau rumkriegen würde.
Es ist ziemlich voll und laut und Monas Kellnerinnen haben reichlich zu tun, während sie Pause bei uns macht.
„Ich mag meine Haare“, schnaubt Nikita entnervt, als Mona mit den Fingern eine Schere nachahmt.
„Ich auch. Aber du trägst sie schon seit Ewigkeiten so“, merkt sie an.
„Lenny, findest du nicht auch, er sollte mal was Neues probieren?“
„Ich mag seine Haare“, stimme ich Nikita zu. „Jede Frau beneidet ihn um die.“
Nikita sieht aus, als wollte er mich fressen. „Du findest meine Haare weibisch?“
„Das habe ich nie gesagt“, verteidige ich mich entsetzt, weil ich das echt nicht so empfinde.
„Das will ich auch hoffen“, murmelt er und es hört sich ziemlich beleidigt an.
Ich lache los, weil er einfach zu lustig aussieht, wie er Mona und mich mit einem Blick bedenkt, der uns wohl dazu kriegen soll vom Stuhl zu fallen.
„Ihr Beide seid mies“, schnaubt er schließlich, während ich verstumme, als ich Christobal vor dem Café entdecke, der am Telefon hängt und geradewegs die Eingangstür ansteuert.
Er ist mal wieder perfekt gekleidet.
Der graue Anzug, die Krawatte, welche er in der gleichen Farbe trägt und auch sein weißes Hemd lenken die Aufmerksamkeit direkt auf seine unglaublichen Huskyaugen, die mich finden, kaum dass er einen Schritt in den Laden gemacht hat.
Anstatt sich zu Nikita, Mona und mir zu gesellen, bleibt er allerdings stehen und lässt sich einen der letzen freien Tische direkt am Fenster gegeben, wirft seine Ledermappe auf die Tischplatte und telefoniert weiter, mit einem Gesichtsausdruck den man bestenfalls als vollkommen missgelaunt beschreiben kann.
Und Mona verabschiedet sich sogleich von uns, um zu ihrem neuen Gast herüber zu eilen.


„Marlen, was zur Hölle hast du angestellt?“, will Nikita wissen. „Wieso-“
„Ich könnte eventuell gesagt haben, dass Semjon und er mich anwidern“, entkommt es mir, während meine Augen an Christobals wunderschönen Profil kleben.
„Okay... Wieso?“, hakt Nikita nach, vergessend dass er eigentlich gerade noch angepisst war.
„Weil ich entsetzt darüber war, zu was sie Pius gezwungen hatten.“
„Mira?“, fragt Nikita nur.
„Mh“, stimme ich zu, während ich mich ein klein wenig mies fühle.
„Nett“, lässt Nikita verlauten.
Mein Blick wandert schlagartig zurück zu meinem Gegenüber. „Was?“, fahre ich ihn an. „Ich weiß selbst, dass ich vielleicht etwas ungerecht war.“
„Entschuldige dich einfach.“
„Er sieht echt schlecht gelaunt aus“, überlege ich laut.
„Sieht für mich eher aus, als wärst du ein wenig feige.“
Ich seufze schwer, bevor ich mir ein großes Stück von meinem Pancakes in den Rachen schiebe, „Vielleicht auch das“, gebe ich mit vollem Mund zu. „Vielleicht muss ich mir aber auch nur noch überlegen, ob ich wirklich überreagiert habe“, füge ich an, als ich heruntergeschluckt habe.
„Und wie lange wird diese Überlegung dauern?“, will er von mir wissen.
„Ich weiß nicht. Solange bis er wieder weg ist?“
„Was hältst du davon, wenn du einfach rüber gehst und ihn fragst ob er sich zu uns setzt. Und auf dem Weg nach drüben, hast du Zeit dir zu überlegen, ob du dich entschuldigen willst.“
Wir taxieren uns eine Weile.
„Na schön“, schnaube ich schließlich und stehe auf.
„Er wird dich schon nicht fressen.“
„Wie aufbauend.“
„Na los“, treibt er mich an und ich ziehe meinen kurzen Rock zu recht, einem romantischen Blümchenmuster bedruckt ist und streiche meine Haare prüfend glatt.
Die verspiegelte Wand des Cafés zeigt mir eine ungeschminkte Blondine, die nicht gerade mutig in ihr Spiegelbild starrt, doch nachdem ich mein rosa Top kritisch gemustert habe, den darüber gezogenen Rock als gut sitzend, aber reichlich unspektakulär abgestempelt habe, reiße ich mich zusammen und gehe zu ihm.

„Hmt“, räuspere ich mich und schlinge meine Finger vor meinem Schoß zusammen.
Christobal sieht mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an, als er schließlich sein Telefongespräch beendet hat.
„Setz dich doch zu uns an den Tisch“, schlage ich ihm geradeweg vor.
„Ich möchte dir nicht den Appetit verderben“, meint er ernst und wirkt nicht gerade so, als sei er bereit mir in irgendeiner Weise bereit meine Worte nachzusehen, mit denen ich ihn vorgestern so großzügig bedacht habe. Das Blau seiner Augen, wirkt wie das Jahrtausendealte Gletschereis, das nichts zu Schmelzen vermag und ich fühle mich beinahe genauso sprachlos, wie ich es zu Zeiten bei Semjon bin.
„Ja. Hör zu, ich … ich habe ein wenig übertrieben“, wispere ich schließlich. „Es ist nur, ich weiß nicht wer meine Eltern sind. Dass manche Kinder froh sind, von ihren wegzukommen, das kann ich nicht nachvollziehen“, schleicht sich meine Ausrede über meine Lippen, die gar nicht einmal so unwahr ist.
Christobals Augenbrauen wandern zusammen und er sieht noch ein wenig bedrohlicher aus.
„Ich brauche deine halbherzige Entschuldigung nicht. Ich habe Ohren im Kopf, weißt du.“
„Das ist gut. Dann missverstehen wir uns ja nicht. Ich entschuldige mich nämlich nicht dafür, dass ich wegen eurer Aktion ausgerastet bin. Ich entschuldige mich für das, was ich über euch gesagt habe. Das kannst du Semjon auch gleich ausrichten.“
Er fixiert mit seinen Eispickelaugen und ich wünsche mir für einen kurzen Augenblick Semjons verformte Pupillen zurück.
„Gut. Denn für die Sache mit Mira wirst du keine Entschuldigung von mir hören.“
Ich nicke schließlich, nachdem mir klar ist, weshalb dieser Kerl offiziell das Oberhaupt der Dunklen ist. Er ist wirklich gut darin Leute einzuschüchtern, wenn er sauer ist. Beinahe so gut wie Semjon. Und dann setzt er sich einfach so in Bewegung.
Er geht rüber zu unserem Tisch und lässt sich dort neben Nikita fallen, streckt die langen Füße aus und sieht mich auffordernd an, endlich rüber zu kommen.
„Was für ein Arsch“, stelle ich fasziniert fest, mir wohl bewusst, dass das nicht nur er sondern wohl auch das gesamte Café meinen Ausruf mitbekommen hat.
Er schenkt mir ein Grinsen um das ihn jeder Filmbösewicht beneiden würde und dirigiert Mona, die mit seinem Kaffee beladen ist, zu unserem Tisch herüber.
„Deine Pancakes werden kalt, Lenny!“, ruft mir Mona tadelnd im Vorbeigehen zu.


„Was machst du heute noch, Marlen?“, will Christobal wissen, während ich mich setze und er den Pappbecher, den Mona ihm gebracht hat prüfend in den Händen dreht. Er scheint mit einem Mal überhaupt nicht mehr nachtragend zu sein.
„Bücher wälzen. Ich muss noch eine Hausarbeit schreiben“, antworte ich ihm kurz angebunden.
„Ich wünschte meine Schwester würde mal auf die Idee kommen, sich ein Buch von Innen anzugucken und sie nicht nur zur Deko in ihren Regalen verstauen“, sagt er und nimmt einen Schluck seines Kaffees.
„Ich bin mir sicher, dass sie auch so intelligent genug ist“, seufze ich.
„Zumindest intelligent genug um mich und ihren Freund jedes Mal um den Finger zu wickeln“, grinst er. „Allerdings wäre es mir lieber, wenn sie zur Abwechslung mal hier in Helsinki wäre, anstatt schon wieder irgendwo in Chicagos Nachtleben zu stecken. Aber das wird in diesem Leben wohl nicht mehr passieren.“
„Wer will schon nach Chicago. Mir würde es schon reichen wieder zurück nach Bergen zu kommen“, murmle ich und verschlinge den Rest meines Frühstücks.
„Das kann man einrichten. Die Frage ist, wann es dir passt.“
„Haha.“
„Das war kein Scherz“, entgegnet mir Christobal und durchbohrt mich mit seinen Huskyaugen. „Sag mir wann und wo und ich entführe dich dorthin.“

„Im Augenblick solltest du das Wort entführen nicht in Bezug auf Lenny verwenden, wenn du nicht die gesamte 27. Abteilung aufschrecken willst“, wirft Nikita ein.
„Erinnere mich an dein Angebot wenn der Abgabeschluss in greifbare Nähe rückt“, tue ich seinen Vorschlag lächelnd ab und rühre meinen Kaffee um. „Apropos Entführung. Gibt es eigentlich irgendwelche Neuigkeiten von Pius Adoptivsohn?“
„Noch nicht. Semjon hat gerade ein Treffen mit der Ermittlungskommission und ich treffe mich gleich mit dem Untersuchungsstab in einem anderen wichtigen Fall. Wenn du möchtest kann ich dich auf dem Weg dorthin zur Bibliothek mitnehmen“, bietet er großzügig an. „Und Nikita, du solltest soviel ich weiß eigentlich am Schreibtisch hängen und den Papierkram deiner letzten Fälle fertig machen. Semjon wird dir ansonsten noch demnächst ein eigenes Höllenfeuer anschüren.“
„Lenny-“
„Zurzeit reicht es, Marlen Amon mitzugeben, wenn sie in Helsinki unterwegs ist. Ich dachte, das hätte Semjon heute Morgen mit euch geklärt. Also benutz sie nicht als Ausrede die Arbeit schleifen zu lassen“, fährt er Nikita an und ich sehe fasziniert dabei zu, wie Nikita Christobal anfunkelt.
„Ich finde das leichtsinnig. Und außerdem bin ich fast mit den Papiermist fertig.“
„Definiere fertig“, will Christobal ungläubig wissen.
„Die Akten liegen schon auf meinem Schreibtisch.“
„Du überbietest dich ja geradezu an Arbeitseifer“, schnurrt Christobal. „Verpiss dich ins Büro, bevor ich nachhelfen muss!“
„Boss, das-“
„Verschwinde“, wiederholt sich Christobal wenig freundlich und Nikita verzieht sich mit einem wütenden. „Ach Leck mich doch!... Ciao Lenny.“

Ich sehe ihm mit einem verdutzen „Bis dann“, bei seinem Abgang zu und blicke dann zu dem großen Vampir neben mir, der zufrieden auf seinem Stuhl faulenzt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
„Entschuldige bitte, dass du das mitbekommen musstest“, sagt er galant und schiebt sein markantes Kinn ein wenig nach vorn, als er grinst.
„Du hättest diese Rüge nicht vor mir aussprechen müssen“, antworte ich ihm leicht entnervt und entgegne den durchdringenden Blick seiner blauen Augen.
„Das vielleicht nicht, aber dann hätte ich aber deine Aufmerksamkeit weiterhin mit ihm teilen müssen“, meint er ruhig und legt den Kopf schief.
„Flirtest du etwa gerade mit mir?“, will ich perplex wissen.
Christobal schenkt mir ein schiefes Lächeln. „Wirkt es etwa auf dich, als würde ich mit dir flirten? Denkst du wirklich, ich würde mit der Frau flirten, die mich als widerlich bezeichnet hat?“, fragt er und verzieht seine Lippen zu einem Strich.
Ich senke den Blick. Weil die Antwort ein lautes „Ja.“ ist, das ich lieber für mich behalte.
„Du spielst gerne Spielchen“, stelle ich anstatt einer Antwort fest.
„Ich bin Pius Sohn“, sagt er mit einem Seufzen, und lässt seinen Blick von mir gleiten und durch das Café.
Ich blinzle erstaunt, bevor ich ihm ein unsicheres Lächeln schenke. „Ja. Ganz offensichtlich.“
„Trink deinen Kaffee aus. Dann fahr ich dich in deine Bibliothek.“


Christobal fährt einen schweren, schwarzen Audi, dessen verdunkelte Scheiben keine Chance lassen, etwas im Inneren des Wagens zu erkennen, als wir darauf zusteuern.
„Besitzt du eigentlich einen Führerschein“, will er von mir wissen, während er das Auto aufschnappen lässt und seine in ledergebundene Aktenmappe, auf der ein geprägtes H zu sehen ist, auf den Rücksitz befördert.
„Ja. Wieso fragst du?“, will ich schüchtern wissen und sehe ihn über das Dach seines Wagens prüfend an.
„Semjon könnte dir eigentlich ein Auto zur Verfügung stellen“, erklärt er mir ungerührt, während ich Amon auf den Rücksitz steigen lasse.
„Eigentlich brauche ich kein Auto. Außerdem glaube ich nicht, dass Semjon davon begeistert wäre, wenn ich eines seiner Autos mit meinen Fahrkünsten in Gefahr bringe.“
„Ich denke das ist ihm ziemlich egal, zumindest solange du unverletzt bleibst“, lächelt er mich breit an und taucht dann ins Innere seines Wagens ab.
Ich steige zu ihm, während sich ein warmes Gefühl in meinem Inneren breit macht. Ich mag die Vorstellung davon, dass Semjon sich Sorgen um mich machen könnte.
„Außerdem... in Anbetracht der Tatsache, dass Semjon ab morgen mal wieder für eine ganze Weile nicht da ist, halte ich ein Auto für eine sehr gute Idee.“
Ich spüre meine meinen Magen fallen, als hätte ich drei Treppenstufen übersehen und wäre ins nichts getreten.
„Was?“, schaffe ich es nur rauszubringen.
„Hat er dir das nicht erzählt? Er muss ein paar unschöne Angelegenheiten in der 8. Abteilung klären und wahrscheinlich kommt er nicht vor Oktober wieder zurück nach Helsinki. In der Zeit soll ich mich um deine Sicherheit kümmern.“
Das ist doch nicht wahr. Das kann er doch nicht machen. Das, das geht doch nicht. Er kann mich doch nicht einfach hier lassen und Christobal freie Bahn bei mir lassen, nachdem er gestern Nacht davon geredet hat, dass ich wie eine Märchenfee aussehen würde und dass das extrem schlecht sei. Dass Märchenfeen nicht in sein Bett gehören und dass, ich es bereue, wenn ich nicht gehe.
Mir entweicht ein hysterisches Lachen.
Das kann doch nicht sein.
Dieser Verdammte Bastard!
Von wegen nicht feige!
Schiebt er mich einfach an seinen besten Freund ab, weil Märchenfeen aus Softpornos in seinem Selbstverständnis, nicht in sein Bett gehören.
Wie überaus praktisch, dass Christobal ebenso ein Engel wie er zu sein scheint.
„Alles in Ordnung?“, höre ich Christobal verwirrt fragen.
„Ja“, bringe ich schließlich raus. „Ich hatte nur keine Ahnung davon, dass ich die nächste Zeit mit dir verbringen werde“, säusle ich, während meine Entscheidung ob ich mich kopfüber ins Verderben stürzen sollte, soeben gefallen ist.

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Kapitel 22

 



„Okay. Vielleicht hat Semjon es nicht ganz so ausgedrückt“, meint Christobal plötzlich ziemlich leise, bevor ich weiter darüber philosophieren kann, dass ich mich ganz bestimmt nicht mehr mit dem ewig schwarz tragenden Vampir beschäftigen werde, in welcher Art und Weise auch immer.
Ich sehe zu ihm herüber. „Hm?“
Er fährt sich übers Gesicht. „Eigentlich hat er nichts dergleichen gesagt. Er hat mich nur gebeten, darauf zu achten, mit wem du dich abgibst.“
„Er-“
„Ich hätte einfach nur gern eine Chance bei dir“, seufzt er und hört sich dabei fürchterlich schuldbewusst an. „Dass ich gerade gelogen habe tut mir leid.“
„Aber, wieso?“, will ich wütend wissen.
„Weil du ihn ansiehst, als sei er der einzige Mann auf der Welt für dich“, schluckt er.
„Das tue ich bestimmt nicht“, schnappe ich viel zu aufgebracht, als dass es unauffällig wäre, oder meine Worte bestätigen würde.
„Doch. Und jetzt erzähl mir nicht, dass es anders ist. Allein die Erwähnung seines Namens genügt und du bist ein Nervenbündel.“
„Ich-“
Ich werde unterbrochen, bevor ich mich ob der Unterstellung verteidigen kann. „Lüg mir bitte nicht ins Gesicht, Marlen. Ich vertrage so einiges, aber das nicht.“
„Wie- … du hast mich gerade angelogen! Also-“
„Ich habe mich bereits entschuldigt. Und außerdem wollte ich damit nur sehen, wie meine Chancen stehen“, fährt er mir über den Mund, bevor ich ihn zusammenstauchen kann. Die Arme vor der Brust verschränkend, funkle ich ihn an.
„Du bist ganz schön selbstgerecht“, stelle ich fest. „Und jetzt komm mir nicht wieder mit, ich bin Pius Caseys Sohn. Du bist alt genug, um deine eigenen Prinzipien im Leben aufgestellt zu haben.“
Christobal sieht mich an. Sieht mich an, ohne etwas zu sagen, bevor er die Schultern sinken lässt. „Damit hast du recht. Aber das habe ich auch im Bezug auf Semjon bei dir.“
„Er hat mir mein Leben gerettet“, seufze ich, einen möglichst gelangweilt klingenden Tonfall anschlagend.
„Ja. Schätze dagegen kann niemand ankommen. Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb ich dir nicht böse sein kann, dass ich keine Chance kriege“, murmelt er schließlich.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.


Christobal begleitet mich bis in den Vorraum der Bibliothek und reicht mir sogar eine Karte, von der er behauptet damit könnte ich ausleihen was ich wolle, bevor er sich verabschiedet, mir allerdings noch einimpft ein Taxi zu nehmen, wenn ich Tonnen von Bücher herumschleppen will.
Ich winke ab, weil ich einfach nur will, dass er geht. Weil ich von meinen Männerproblemen genug habe. Weil ich noch ein bisschen wütend auf ihn bin und weil ich endlich mal wieder etwas tun will, bei dem mir keiner etwas Vormachen kann.
„Werde ich machen. Mach´s gut. Pass auf dich auf“, verabschiede ich ihn mit einem freundlichen Lächeln.
„Du auch. Wenn etwas ist, melde dich.“
Ich sehe ihm nach, wie er die große, lichtdurchflutete Treppe nach unten eilt und beiße mir auf die Lippe, bevor ich durch die Glastür trete und den Ballast der Welt an der Pforte zurücklasse.

Absolut gar nichts kann mit dem Geruch einer Bibliothek mithalten. Nichts ist so beruhigend wie der Duft von Wissen, das die Jahrhunderte überdauert in Leder, Leinen und Papier. Und ich stürze mich Kopfüber mit dem Schneeballsystem in die Recherche für meine Hausarbeit. Ich will mich tief vergraben zwischen den Seiten, ohne Wegweiser aus Stichwortkatalogen, oder Tipps der Bibliothekaren und so sitze ich zwischen zwei hohen endlos langen Regalen, auf den kühlen, sandfarbenen Fließen, um mich herum ein Berg Bücher und fühle mich zum ersten Mal, seit ich in Helsinki bin, vollkommen sicher.
Amon, der irgendwo hinter der hohen Wand aus Büchern liegt, lässt ein Niesen hören, als ich ein besonders altes Werk aufschlage und das Inhaltsverzeichnis studiere.
„Gesundheit“, flüstere ich leise, während meine Finger über die vergilbten Seiten fahren und ich höre, von irgendwo zwischen den Regalreihen ein tadelndes „Scht“, herüber wehen.
„Entschuldigung“, wispere ich lächelnd.


Die gefallenen Blätter wirbeln über die leere Asphaltstraße, als ich am diesem Morgen auf dem Weg zur Bibliothek bin. Eigentlich wollte Christobal mich wie jeden Morgen dorthin fahren, wie er es in den letzten eineinhalb Monaten getan hat, seit Semjon weg ist.
Ich beeile mich die Straßenseite zu wechseln, dicht gefolgt von Amon, der hinter mir her trabt.
Die Morgensonne hat es noch nicht geschafft in die Straßenschluchten zu kriechen, während ich meine Tasche über die Schulter werfe und Amon einen flüchtigen Blick zuwerfe. „Komm, Großer“, höre ich mich selbst seufzen, als er stehen bleibt um seine Nase in den kräftigen Wind zu strecken, die vom Meer herauf weht. Die salzige Luft riecht nach Schnee. Eine schüttere Brise Winter hat sich über Nacht in das Gerüchewirrwarr der Stadt geschlichen, klirrend und vielversprechend.
Es ist Mitte Oktober und die Temperaturen kriechen seit einer guten Woche nur noch im unteren einstelligen Bereich herum. Nichts Ungewöhnliches und trotzdem fällt es mir zunehmend schwer morgens aus dem Bett zu kommen. Die warme Tasse Blut am Morgen, gefolgt von vier koffeingeschwängerten, großen Bechern Kaffee bei Mona, konnten mich heute beinahe nicht dazu bringen aus den Federn zu kriechen. Aber das liegt nicht nur am Wetter.
Seit Semjon sang und klanglos gegangen ist und mich in der Obhut der Jungs zurückgelassen hat, sind die Albträume wieder schlimmer geworden. Ich bekomme kaum mehr als zwei Stunden Schlaf in der Nacht, bevor ich schreiend aufwache und ins Bad renne um mich zu übergeben, sodass mein Unwillen aufzustehen vielleicht auch an meinem Schlafmangel liegen könnte.
Der Wind zerrt an meinen Haaren, während ich zwei großen Schlaglöchern ausweiche, die in der kleinen Seitengasse unentdeckt gediehen sind. Meine Stadtkarte Helsinkis in meinem Kopf ist in den letzen eineinhalb Monaten stetig gewachsen und mittlerweile kenne ich fast jede Abkürzung zur Bibliothek von jedem Punkt in der Stadt aus, denn Nikita und Matt haben sehr viel Wert darauf gelegt, dass ich abends mit ihnen weggehe oder bei ihnen zuhause herum gammle. Dabei habe ich nicht nur gelernt dass Matt sich eine Wohnung mit seinem Bruder Chase teilt, sondern dass dieser auch irgendwo in der Weltgeschichte zusammen mit Youri steckt, auf irgendeinem geheimen Auftrag, nachdem ich mich gewundert habe, dass ich die Beiden seit meiner Ankunft nicht mehr gesehen habe.

Die schwache Oktobersonne blitzt rot zwischen den schon recht kahlen Baumkronen hervor, als ich um die Ecke biege, in den Stadtpark und die dunklen Gässchen hinter mir lasse, die hauptsächlich von jungen, arbeitenden Menschen bewohnt werden. Der knirschende Kies unter meinen hohen Lederstiefeln, ist mit raschelnden Blättern übersät und mich überkommt ein Grinsen, weil mich die bunten Blätter an meine Kindheit erinnern. An Devon, der in Winas Garten das Laub zusammengeharkt hat und an mich selbst, wie ich immer wieder durch all die großen Blätterberge gesprungen bin, um ihn zu ärgern. An mein Kichern und seine Wut und an die Verfolgungsjagden die wir uns geliefert haben, als wir Beide noch menschlich waren. Schon damals war er klar im Vorteil. Zwölf Jahre älter zu sein, befähigten ihn stets dazu mich schneller einzufangen als es mir lieb war.
Amons Schritte schlurfen durch das Laub. Der Morgennebel, der über dem kleinen, künstlichen See wabert, taucht den anbrechenden Tag in etwas märchenhaft Irreales.
Die kühlen Winde streichen über die bunten Blätter wie unsichtbare Katzenpfoten und wirbeln immer wieder bunte Laubblätter auf, die dann in wilden Tanz in die Lüfte steigen.
Ich überquere die kleine Brücke, die über das Wasser führt und bewundere die Nebelschwaben, die ihre klammen Finger nach mir ausstrecken. Ich mag die kleinen Sachen im Leben. Die, die mir zuflüstern, dass die Welt bunt und wunderschön ist. Dass es sich lohnt hinzuhören. Dass es manchmal keine Männer und keine großen Träume braucht um sich glücklich zu fühlen. Ich mag es, wenn es sich anfühlt, als sei alles gut. Dass gestern gut war und der heutige es auch wird. Dass wach sein schöner ist, als zu träumen. Und dass Erinnerungen und Nebel manchmal reichen um sich gut zu fühlen.

Ich bringe den Weg durch den Park hinter mich und beeile mich in die Bibliothek zu kommen. Meine Hausarbeit ist mittlerweile schon fast fertig und umfasst beinahe die doppelte Anzahl an Seiten, die gefordert waren, was vor allem mit der Karte, die Christobal mir damals nach unserem wenig angenehmen Gespräch ausgehändigt hat, zusammenhängt. Mit dieser hatte ich Zugang zu den interessantesten Teilbibliotheken und zu teilweise uralten Handschriften, was meiner Arbeit ein paar exquisite Fußnoten eingebracht hat. Kurzum, ich denke, die Note die ich dafür kassieren werde, kann sich sehen lassen, auch wenn es so aussieht, als könne ich für diese Arbeit nur auf dem Papier gelobt werden, da es nicht so aussieht, als würde ich rechtzeitig zum Semesterbeginn wieder nach Bergen zurückkehren. Vielmehr ist von Christobal geplant, dass ich das neue Semester hier in Helsinki absolvieren werde.
Er hat mir sogar vorgeschlagen mich in die gleiche Schule zu stecken, die seine Schwester besucht.
St. Andrews.
Die Schule hat einen vortrefflichen Ruf. Sie ist die angesehenste Mädchenschule in allen sechsundzwanzig Abteilungen, bevölkert mit den Töchtern aus den reichsten und mächtigsten Häusern. Und ein Semester dort würde sicherlich meinen Lebenslauf aufpolieren, ganz zu schweigen von den schulischen Möglichkeiten, die dort herrschen- aber gute Noten hin oder her, eine Mädchenschule ist wirklich der letzte Ort auf diesem Planeten, wo ich mich wiederfinden möchte.

Diese Idee halte ich, wenn ich ehrlich bin zwar für annehmbar, doch am liebsten würde ich einfach ins heimische Bergen zurückkehren.
Gedankenversunken steige ich die Stufen zur Bibliothek nach oben und will nach der Eingangstür greifen, als Christobal aus eben jener tritt.
„Christobal“, entkommt es mir entsetzt. „Du hast mich erschreckt.“
„Tut mir wirklich leid. Das war keine Absicht. Aber tatsächlich bin ich hier, weil ich dich gesucht habe: Du musst noch das Anmeldeformular für die St. Andrews unterschreiben.“
„Oh.“
„Diese Begeisterung“, schmunzelt er. „Na komm schon. Wir stellen die Schulgebühr. Und so schlimm sind meine Schwester und ihre Freundinnen nicht.“
Ich schenke ihm ein müdes Lächeln. „Du willst mich wirklich überreden dorthin zu gehen, oder?“
„Es ist die beste Schule hier.“
„Es ist eine Mädchenschule“, werfe ich ein.
„Du bist ein Mädchen“, grinst Christobal so breit, dass ich ihm dafür eine Klatsche geben könnte.
„Hmpf“, schnaube ich wenig überzeugt von seinem Argument. „Na wenn das der einzige Grund ist dorthin zu gehen, dann weiß ich nicht.“
„Marlen. Jetzt sei nicht so zickig“, murrt er und hält mir die Din A4 Seite unter die Nase. „Unterschreib das endlich.“
Ich verschränke die Arme vor der Brust und vergrabe meinen Kopf bis zu den Wangen in meinem flauschigen Schal. „Dieses Haustürgeschäft hat ein zweiwöchiges Widerrufsrecht, wenn ich das hier unterschreibe, ich hoffe, das ist dir klar.“
Christobal zieht drohend seine Augenbrauen zusammen. „Du bist nochmal mein Untergang, Marlen.“
„Das sagt ihr alle. Aber noch nie musste ich einen von euch vorm Ertrinken retten.“
„Du redest dich irgendwann nochmal um Kopf und Kragen“, grollt er mit mir und plustert sich vor mir auf. „Und jetzt unterschreib das!“
„Kann ich nicht noch eine Woche damit warten? Vielleicht klärt sich ja alles, bis zum Ende der Ferien.“
„Heute ist Anmeldeschluss“, antwortet er mir nachdrücklich.
„Ich will aber-“
„Sobald dein Fall aufgeklärt ist, kannst du nach Hause. Sofern du willst“, erklärt er mir ernst.
Wir Beide mustern uns eine Weile, bevor ich meine Hand ausstrecke und ihm den Wisch aus der Hand nehme.
„Hast du einen Stift?“, will ich mit einem schweren Seufzen wissen.
„Sicher“, lächelt er und greift in seinen Mantel, um einen schweren Kugelschreiber zutage zu fördern und mir zu reichen.
Ich sehe auf den dunkelblauen Kuli, der in seiner weißen Hand liegt und muss für einen Moment die Augen schließen, weil vor meinem inneren Auge Semjons Bild aufflackert und mir sagt, ich solle gehen.
„Alles okay?“, will Christobal besorgt wissen und ich blinzle den seltsamen Augenblick davon.
„Ja. Sicher“, bringe ich raus und nehme ihm den Stift aus der Hand, um meine Unterschrift auf die Anmeldung zu setzen, wozu ich die Außenwand der Bibliothek als Unterlage missbrauche.
„Danke“, sagt Christobal amüsiert, als ich ihm das unterschriebene Stück Papier reiche und mein Blick dabei seine Augen streicht. Ich muss schlucken. Semjons bester Freund wirkt in diesem einen Augenblick, als sei er nicht von dieser Welt mit seinen Huskyaugen, den dunkelbraunen Haaren, die so seidig im Sonnenlicht schimmern und der steinernen Mamorhaut.
Ich bin wie festgefroren, während ich in sein Gesicht sehe.
„Marlen?“, fragt er und ich registriere, dass ich seinen Stift immer noch in den Händen halte und nicht loslasse, obgleich er ihn schon entgegengenommen hat.
„Entschuldige“, sage ich schnell und senke den Blick. Sein offener, brauner Staubmantel gibt den Blick frei auf eine graue Stoffhose mit breitem Ledergürtel und einen blauen, grobmaschigen Pullover, unter dem ein weißes Hemd hervor blitzt.
„Ich werde dich jetzt noch ein einziges Mal fragen. Und ich will eine ehrliche Antwort auf meine Frage“, höre ich ihn sagen und ich straffe die Schultern, um ihn anzusehen.
„Marlen… was sagst du dazu mit mir auszugehen?“, will er wissen.
Ich überlege, ob seine Frage Einbildung war, oder ob sie ihm tatsächlich einfach so über die Lippen kam.
„Sag einfach ja oder nein. “
Ich räuspere mich und sehe zu Boden. „Das kommt so überraschend“, bringe ich schließlich heraus und verknote meine Finger nervös.
„Wenn du erst darüber nachdenken willst, ich werde dich nicht drängen“, murmelt Christobal mit seidenweicher Stimme und ich wage es aufzusehen. Mir blicken funkelnde, hellblaue Augen entgegen, die mich gefangen nehmen.
„Ich weiß Semjon ist der Mann, der dich in deinen Träumen rettet, und es in deiner Vergangenheit getan hat aber das heißt nicht, dass er es auch in Zukunft tun muss. Ich könnte es tun.“
„Du fragst mich nach einem Date“, schlucke ich mit trockener Kehle.
„Ja. Ich habe noch nie eine Frau wie dich getroffen. Du bist witzig, klug und du gibst nichts auf gesellschaftliche Konventionen.“
Ich beiße mir auf die Lippen, weil ich entgegen jeder anders lautenden Regung meines Herzens, seine Worte wie ein trockener Schwamm aufsauge und weil seine Augen jede Frau in die Knie zwingen würden. Nicht aus aufgezwungener Grausamkeit, sondern aus freien Stücken.
„Das würde ich gern. Aber das kann ich nicht. Es wäre einfach nicht richtig. Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen“, wispere ich tonlos. „Tut mir leid.“
„Ich habe gefragt. Du hast geantwortet. Das ist schon okay“, meint er und wirft mir ein resigniertes Lächeln zu, bevor er sich nach vorn beugt und mir einen Kuss auf die Stirn drückt. „Ich wünsche dir noch einen schönen Tag“, murmelt er leise.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 23

 



Als ich um kurz nach halb fünf aus der Bibliothek komme, in meiner Tasche, die fertige Hausarbeit, ist der Himmel mit viel zu weißen Wolken verhangen, die mir zuflüstern, dass sie dicke Flocken im Gepäck haben, die die Stadt in eine Schneelandschaft verwandeln werden.
Ich ziehe meinen brombeerfarbenen Mantel enger um mich und vergrabe meine Nase in meinem riesigen Schal, bevor ich die Treppen des Hintereingangs heruntersteige und beschließe, einen kleinen Umweg auf dem Weg zurück zu Semjons Loft zu nehmen. Meine Füße tragen mich wie von selbst in die belebten Gässchen der Innenstadt, in denen man keine zehn Meter weit gehen kann, ohne in einem Musikladen, einer hippen Boutique zu landen, einem winzigen Café oder einem exotischen Restaurant zu landen.
Ich liebe diesen Teil Helsinkis, in der sich Vampire aus allen sechsundzwanzig Abteilungen niedergelassen haben. Hier brummt das Leben und ich verstehe langsam, weshalb alle davon reden, dass Helsinki aus allen Nähten platzt. Ich bleibe fasziniert vor einer klitzekleinen Bäckerei stehen, in deren inneren ein einziges Regal mit quietsch bunten Cupcakes steht, und in der eine ebenso farbenfrohe Dame hinter der Kasse lehnt, gebannt auf ihr Handy starrend, während zwei asiatisch aussehende Mädchen ihre Nasen an der Theke platt drücken. Unglaublich, dass man von so etwas leben kann. Noch immer von dem Laden gebannt, laufe ich beinahe in die Bücherauslage eines Antiquariats, vor dessen rot angestrichener Fassade zwei nur in Hemden gewandete Männer sitzen, jeweils einen Kaffee in der einen und eine Kippe in der anderen Hand haltend, die sich schnell und laut in einer Sprache unterhalten, die ich nicht verstehe. Ich schenke ihnen ein entschuldigendes Lächeln, versteckt hinter meinem Schal und lasse mich weiter treiben. Vorbei an einem Geschäft, das allem Anschein nach seltsame Gewürze und Heilkräuter anbietet, an einem Plattenladen, dessen Kundschaft ausschließlich zerrissene Klamotten trägt, an Blumenläden, Kitschtempeln und Boutiquen, immer wieder unterbrochen von allen möglichen Arten von Lokalen.
Ich lege einen kleinen Zwischenstopp in einem süßen Schuhladen ein, dessen Auslage ausschließlich von Highheels bevölkert ist und komme, eine Stunde später einen ganzen Batzen Geld leichter, mit einem Paar wunderschöner roter Peeptoes wieder heraus.
Gerade als ich aus der Tür trete, rieche ich es schon. Fallender Schnee. Ich recke meine Nase nach oben in die kalte Nachtluft und spüre eine Flocke auf meiner Wange landen. Sie schmilzt sofort und hinterlässt einen kleinen feuchten Fleck auf meinem Gesicht, während ich die feinen, weißen Kristalle beobachte, wie sie wie Sterne aus dem dunklen Nachthimmel stürzen.
Ich bin von dem Schauspiel gebannt, so gebannt, dass ich die an mir vorbeitreibende Menge nicht beachte und fast nach vorn auf die Knie falle, als ich angerempelt werde. Ich rudere erschrocken mit den Armen und erhasche einen flüchtigen Blick auf, einen schwarze Kappe und eine dunkle Bomberjacke. Ich will der unfreundlichen Person schon etwas hinterher schreien, als ich eine einen Geruch in der Nase habe, der mir seltsam vertraut ist. Riecht ein wenig nach Minze. Ich blinzle verwirrt, unsicher, wie ich den Duft zuordnen soll und ramme schließlich meine Hände in meine Manteltaschen. Doch zu meinem Erstaunen sind diese nicht mehr leer. Meine Finger streichen über kühles Papier, das da definitiv vorher nicht war. Verdattert ziehe ich den sorgfältig gefalteten Zettel heraus und entfalte ihn mit klammen Fingern.

Verschwinde aus Coopers Nähe,
sonst wird es dir noch leidtun.



Ich schlucke. „Was zur Hölle soll das? Und wer hat-“, murmele ich verwirrt, bevor ich die Augen aufreiße. Der Typ gerade. Er muss das gewesen sein!
Ich knülle das Papier zusammen und stoße ein paar Passanten zur Seite, als ich hinter dem schwachen Duft her stürze, den ich gerade ausgemacht hatte, als ich angerempelt wurde.
„Entschuldigung“, entkommt es mir, da ich beinahe eine alte Dame von den Füßen hole, als ich um die nächste Ecke sprinte und in sie schlittere.
„So etwas…“, höre ich sie wütend ansetzen, doch dann weht ihre wütende Beschwerde auch schon davon, während ich zwei vollbepackten Mädchen ausweiche und mich dafür verfluche, meine hohen Stiefel angezogen zu haben, die auf dem Kopfsteinpflaster denkbar ungeeignet sind.
Trotzdem habe ich den schwach süßlichen Geruch nach Minze so klar in der Nase, als würde mir jemand einen ganzen Minzestrauch unter die Nase halten.
Die Gasse entlang hechtend, registriere ich Amon, der neben mir im gestreckten Galopp über die feuchte Straße fliegt, aus den Augenwinkeln, während meine Tasche immer wieder gegen meinen Oberschenkel schlägt.
Ich dränge mich durch eine asiatische Reisegruppe, stoße an ein paar Fotoapparate und Regenschirme, und bekomme ein Ellbogen ab, doch die Schneise, die jemand vor mir schon durch die Gruppe geschlagen hat, ist noch immer grob erkennbar, während sie mir ein paar wütende vielleicht aber auch verdatterte Flüche hinterher schicken.
Als ich endlich die einengende Menschenmenge hinter mich gebracht habe, sehe ich eine dunkle Jacke um die Ecke verschwinden und ich hechte hinterher. „Hey, warte!“, schreie ich und nehme die gleiche Abzweigung, doch da ist keine Straße.
Ich stehe in einer winzigen Sackgasse.
Der Duft nach Minze ist so kräftig, dass ich mir sicher bin hier richtig zu sein, doch da ist niemand. Ich starre auf drei Backsteinwände ohne Fenster. Mit einem mulmigen Gefühl, lasse ich meinen Blick die Wände nach oben gleiten und schnappe frustriert nach Luft, als ich der Krähe gewahr werde, die im Steilflug nach oben eilt und mit raschen Flügelschlägen der Nacht entgegen fliegt.
Die Schneeflocken, die jetzt dichter fallen, lassen mich die Augen zusammenkneifen, während ich mit bebenden Muskeln dem Vogel nachsehe, der gerade noch ein ausgewachsener Vampir war.
„Verdammt“, presse ich hervor und versuche trotzdem die Spur aufzunehmen, doch ich rieche nichts mehr. Die Minze ist verschwunden. Genau wie jeglicher Mut. Stattdessen linse ich misstrauisch um die Ecke und sehe mich nach weiteren seltsamen Kerlen um. Doch da ist nur die laut lärmende Reisegruppe und die geschäftigen Passanten, die mit ihren Einkäufen die Sträßchen entlang bummeln und ihr Genick einziehen, ob des immer stärker werdenden Schneefalls.
Den zerknautschten Zettel, den ich noch immer in der Hand halte, lasse ich wieder in die Manteltasche wandern, während ich meine Tasche, die von meiner Schulter gerutscht ist, wieder zurecht schiebe und Amon, der mir gefolgt ist, über den Kopf fahre.
„Das gefällt mir gar nicht“, flüstere ich ihm leise zu. „Wirklich gar nicht.“
Amon blickt auf einen Punkt, irgendwo weit über mir, während ich mich umsehe und versuche zuzuordnen, wo ich genau bin. Holzapfelgasse 21, entdecke ich ein Schild schräg gegenüber, über einem kleinen, heimelig anmutenden Pub, dessen Scheiben so beschlagen sind, dass man kaum nach drinnen sehen kann. Schlechte Chancen also, dass einer der Gäste den Typen von vorn gesehen hat.
Mist.
Vor meinem inneren Auge ziehen die Möglichkeiten vorbei, die ich noch habe, um zu erfahren war mir diesen Zettel zugesteckt hat und woher ich diesen Geruch kenne.
„Oh man“, murmle ich weggetreten, bevor ich mein Handy zücke. Ich scrolle ganz automatisch zu Semjons Nummer, doch gerade als ich anrufen will, erinnere ich mich daran, dass er nicht da ist und entscheide mich schließlich dafür, bei Christobal vorbei zusehen, der laut meiner Erinnerung nur ein paar Straßenzüge entfernt, im Villenviertel, etwas östlich des Stadtkerns wohnt.

In meinen Haaren kleben die Schneekristalle, als ich die geschotterte Auffahrt zu Christobals beeindruckender Villa hinauf laufe, die Natursteintreppe in zwei schnellen Schritten überspringe und vor der massiven Eichentür ankomme. Meine Finger finden die Klingel, drücken sie und ich höre drinnen dumpfe Schritte.

„Lass die Kleine hier. Es macht mir nichts aus“, höre ich Semjons Stimme sagen, während ich fest gegen seine harte Brust gedrückt werde. Mein Kopf festgehalten, von langen, kräftigen Fingern.
„Abenezer kann hier noch irgendwo stecken. Findet ihn. Ich will seine Leiche vor mir liegen sehen. Und dann schaff mir Youri her“, fordert er, während er meinen durchnässten Körper näher an sich zieht.
„Semjon, deine Augen“, sagt Christobal irgendwo hinter meinem Rücken. „Du brauchst-“
„Ich werde ihr nichts tun“, hallt Semjons Stimme in meinen Ohren wieder. Es hört sich an, wie ein in Stein gemeißeltes Versprechen und ich spüre, wie meine Finger sich in seinen Mantel krallen. Sie sind klamm und nass. „…Ich brauche jetzt kein Blut. Ich brauche Abenezers Leiche.“




Ich blinzle. Blinzle nochmal. Die Fensterfront, durch die man auf ein reges Schneetreiben blicken kann, kenne ich irgendwo her, bevor ich mir der Tatsache gewahr werde, dass ich in der Horizontalen liege.
Eine warme Decke ist über mir ausgebreitet und als ich mich aufsetze, registriere ich die dunkle Couch und das zugehörige Wohnzimmer unzweifelhaft als Christobals Eigentum.
„Wie geht es dir?“, höre ich ihn da auch schon fragen und entdecke ihn auf dem Sessel zu meiner Linken, eine Tasse Tee in der Hand haltend.
„Ich bin wohl umgekippt“, krächze ich und merke, dass mein Mantel genau wie meine Schuhe verschwunden sind.
„Du bist direkt vor mir ohnmächtig geworden“, brummt er. „Und dann wolltest du einfach nicht aufwachen. Du warst fast eine ganze Stunde weg.“
„Ich hatte… einen Flashback“, bringe ich noch immer etwas weggetreten raus, bevor ich mir übers Gesicht reibe und mich wieder daran erinnere weshalb ich es so eilig hatte herzukommen. „Mir wurde etwas zugesteckt. In meine Jacke. Ein Zettel. Von einem Kerl. Er hat sich in eine Krähe verwandelt“, presse ich hervor. „Und wer ist Abenezer?“, will ich hektisch wissen, während ich aufspringe. „Wo ist mein Mantel, da ist der Zettel drin“, fahre ich ihn an.
Christobal legt mir eine Hand auf den Oberarm. „Ganz ruhig, Marlen. Setz dich“, sagt er nachdrücklich.
„Aber-“
Er schiebt mich zurück auf die Couch. „Und jetzt nochmal von vorne. Was ist passiert“, will er ganz ruhig von mir wissen.
Ich erzähle es ihm. Mein Flashback und meine Verfolgungsjagd. Sogar den Minzgeruch erwähne ich und dass er mir irgendwie bekannt vorkam. Christobal hört es sich an, ohne mit der Wimper zu zucken. Bis zum Ende.
„Du hättest das nicht tun sollen“, murmelt er, während er nach meinem Mantel greift, den er an meinem Fußende abgelegt hat und den Zettel aus der Manteltasche zieht. „Du hättest mich sofort anrufen sollen. Es war gefährlich. Du hättest verletzt oder entführt werden können.“
„Ich weiß“, bringe ich mit einem schweren Seufzen raus.
„Es riecht nach gar nichts“, höre ich Christobal fluchen, der prüfend das Papier unter seine Nase hält. „Nur nach Schattenläufer.“
„Was-“
„Schattenläufer ist eine ziemlich gebräuchliche Kräutermischung. Man benutzt sie, um den Eigengeruch wegzuwischen. Unsere Abteilung benutzt es selbst gern, wenn Aufträge zu erledigen sind. Die Mischung enthält Katzenminze. Der Duft, der dir dabei so vertraut vorkam“, erklärt er mir, während seine Augen über die enge Schrift gleiten.
„Was wollen die?“, hake ich unglücklich nach. „Es war doch so lange Ruhe.“
Christobals Blick ist seltsam abwesend, während sein Daumen über das Papier streicht. „Das kann nicht sein“, schleicht es sich über seine Lippen. „In was bist du da nur hineingeraten, Mag?“
„Wa-“
Christobal stößt die Luft aus, bevor er sich neben mir auf die Couch sacken lässt.
„Du sagst, er hat sich in eine Krähe verwandelt?“, fragt er mich vollkommen abwesend.
„Ja“, bestätige ich ihm.
Er räuspert sich, bevor er den Kopf schüttelt und mich ansieht. „Ich muss ein paar Leute anrufen. Ruh dich etwas aus, ja? Du bist ziemlich hart auf den Boden aufgeschlagen.“
„Aber-“
„Ich weiß, du hast viele Fragen. Und ich versuche sie dir später zu beantworten. Aber nun muss ich erst mal telefonieren“, entschuldigt er sich.

Das Holz, das im Kamin brennt und den Raum mit einer wohligen Wärme füllt, lässt ein lautes Knacken hören, während der Feuerschein Christobals blaue Augen mit einem gelben Glanz überzieht.
„Beeil dich, ja?“, seufze ich, während er aus dem Zimmer stürmt.


„Sie braucht eine Decke, Boss. Sie ist kein Vampir. Sie erfriert noch“, höre ich jemanden sagen.
„Dann bring mir eine und schwing nicht nur blöde Reden“, höre ich Semjon donnern, während er mich unter seinem Mantel schiebt. Er ist ganz warm. Ich spüre den feinen Baumwollstoff seines Hemdes und seine sehnigen Muskeln darunter, die wie Feuer glühen.
„Nicht“, höre ich ihn murmeln, als ich mich in sein Hemd krallen will und dabei in etwas Nasses, aber Warmes greife. „Nimm das nicht in den Mund“, sagt er und es hört sich beinahe erschrocken an, als ich meine Hand zurückziehen will, wozu ich jedoch nicht komme, da er sie festhält.
„Das ist giftig“, entgegnet er mir.
„Giftig?“, höre ich mich selbst wispern. Meine Stimme hört sich eingerostet und hauchdünn an.
„Ja. Giftig“, bestätigt er mir und führt meine Finger zu seinem Mund. Ich spüre ein sanftes Saugen an meinen Fingerspitzen, bevor er sie an seinem Hemd abwischt. Ich sehe sein Gesicht vor mir schweben, während mein Körper heftig erzittert.
„Wie heißt du?“, möchte er von mir wissen, die Augen fest auf meine gerichtet.
Ich zucke mit den Schultern, weil ich keine Ahnung habe, was er von mir will und versuche mich an einem Lächeln.
Ich glaube es gelingt mir nicht, denn ich höre ihn laut Fluchen, bevor er mir eine feuchte und ziemlich verklebte Locke aus dem Gesicht streicht.
„Ich bin Semjon“, stellt er sich vor und deutet mit der Hand, die gerade noch meine hielt, auf sich.
„S…John?“, höre ich mich seinen Namen unbeholfen wiederholen und tatsche ihm auf die Wange, weil er es vorgemacht hat.
Ich sehe, wie sich seine Lippen zu einem schmalen Lächeln kräuseln. „Ja. So ähnlich.“




„Marlen? Marlen, hey, jetzt komm zu dir“, höre ich dumpf Christobals Stimme flehen, während ich gegen seinen Körper gedrückt werde. „Semjon bringt mich um, wenn dir was passiert.“
„Was?“, bringe ich erschlagen raus, während ich meinen Kopf gegen seine Schulter fallen lasse, weil dieser sich einfach nur schwer anfühlt.
„Du musst ganz dringend aufhören, einfach so zusammenzuklappen. Du wirst dir irgendwann noch ernsthaft weh tun“, redet er auf mich ein, während er mich hoch hebt.
„Wie lang war ich weg?“, will ich noch immer ziemlich weggetreten wissen, während er mit mir irgendwohin wandert.
„Ich habe keine Ahnung. Als ich wieder kam, lagst du auf dem Boden, mit dieser riesigen Beule an der Stirn. Ich war eine knappe halbe Stunde weg. Wie lange du ohnmächtig warst, weiß ich nicht.“

Ich spüre einen angenehmen Nebel im Hirn und finde die Verletzung, die ich angeblich habe, überhaupt nicht schlimm. Ich fühle mich wie auf Wolken.
„Wusstest du, dass ich Semjon John genannt habe?“, grinse ich dümmlich in Christobals Pullover.
„Nein“, seufzt er. „Aber ich weiß, dass du immer noch halb im Land der Träume steckst.“
„Mh… Semjon ist total süß.“
Ich höre ihn Schnauben. „Wenn du das sagst.“
„Ich bin total in ihn verliebt. War ich schon immer“, murmle ich in den dicken Stoff seines rauen Pullovers. „Aber du bist auch süß.“
„Ich glaube du hast dir stärker den Kopf gestoßen, als ich zuerst gedacht habe“, entgegnet er mir und ich schlinge meine Arme um seinen Nacken, während mein Magen ob des schwankenden Untergrunds zu rebellieren beginnt.
„Ich glaub mir wird schlecht“, presse ich hervor.
„Versuch noch ein bisschen durchzuhalten. Du kannst dich gleich hinlegen. Ich hätte dich ja unten im Wohnzimmer gelassen, aber ich denke ein Bett ist doch sehr viel bequemer als eine Couch.“
„Andauernd werde ich durch die Gegend getragen. Lass mich das nächste Mal einfach liegen, bis ich wieder fit bin“, grinse ich, während ich einen Blick auf das viel zu helle Zimmer erhasche, in das er mich trägt. Es sieht ein wenig so aus, wie unten. Eine breite Fensterfront, ein großer Kamin, dunkle Dielen und ein kuschlig warm aussehendes Bett.
„Was hältst du davon, einfach nicht mehr umzukippen?“, stellt er die Gegenfrage auf meine Aussage und ich schaffe es zu nicken, ohne dass ich mich übergebe.
„Ich versuch´s.“
„Gute Entscheidung“, stimmt er mir zu und ich spüre, wie ich in etwas Weichem lande. „Schlaf ein bisschen. Ruf, wenn du etwas brauchst. Ich bin gleich neben an, in meinem Arbeitszimmer, wenn etwas sein sollte“, sagt er, während er eine flauschige Decke über mich zieht und meinem Gesicht dabei verdammt nahe kommt.
„Mh“, schaffe ich noch raus zu bringen, bevor der Schlafentzug und das Kopfstoßen seinen Tribut fordern und ich erneut wegdämmere.


Als ich wach werde ist es noch immer finster draußen und ich lausche eine Weile dem leisen Knistern des Kaminfeuers.
Ob Christobal schon etwas weiß?
Ich seufze schwer und reibe mir schließlich den Schlaf aus den Augen.
Die Holzdielen knarren verräterisch, als ich aus dem Bett steige und ich halte erstaunt inne, als der Gestalt gewahr werde, die in der dunklen Ecke neben dem Kamin steht. Halb versteckt in der Dunkelheit, lehnt er am Fensterrahmen, die dunklen Augen nach draußen gerichtet.
„S…Semjon?“, stottere ich verdattert.
„Guten Abend, Marlen“, höre ich ihn murmeln.
Er trägt einen schwarzen Pullover, mit V- Ausschnitt, darunter eiin ebenfalls schwarzes Hemd und in der Kombination mit seiner schwarzen Anzughose wirkt er dadurch noch ein wenig gefährlicher als sonst, während er sich zu mir dreht.
„Was tust du hier, ich dachte du wärst noch eine ganze Weile weg“, flüstere ich, unsicher ob ich noch immer in meinem Flashback gefangen bin, oder ob ich tatsächlich wach bin und er hier ist.
„Christobal hat mich angerufen und mich über die neuesten Vorkommnisse informiert“, sagt er schlicht und lässt seine Hände in die Hosentaschen gleiten. „Und auch darüber, dass du heute zweimal umgekippt bist.“
In seinen Worten schwingt etwas mit, das ich nicht recht zuordnen kann.
„Ja… Ich wollte Christobal oder dir bestimmt keine Umstände machen“, seufze ich unglücklich. „Es tut mir leid, dass ich euch von der Arbeit abhalte.“
Semjon kneift die Augen zusammen. „Geht es dir gut?“, will er nur wissen, anstatt höflich meine Aussage zu verneinen.
Ich schaffe es zu nicken und schlinge meine Arme um mich. Der dünne Stoff meiner Bluse, scheint plötzlich viel zu Kältedurchlässig zu sein. „Sicher.“
„Das war keine Frage, aus reiner Höflichkeit. Ich will die Wahrheit hören“, entgegnet er mir beinahe zornig.
Seine Pupillen fixieren mich fest, während ich erschrocken einen Schritt zurück mache und gegen den Bettkasten stoße.
„Ich bin okay“, bringe ich gepresst raus, während sein Blick über meine Wangen zu meinen Lippen gleitet.
„Das glaube ich dir nicht“, antwortet er mir und der harte Glanz in seinen Augen zeigt mir nur zu deutlich, dass mein Flashback vor ein paar Stunden nichts mit der Realität von heute zu tun hat.
„Na und? Ich bin nicht verpflichtet dir die Wahrheit zu sagen. Genauso wenig, wie du es mir gegenüber verpflichtet bist“, schlucke ich und sehe zu Boden.
„Natürlich bist du das nicht“, höre ich ihn sagen. „Aber ich würde trotzdem gern die Wahrheit hören.“
Ich linse zu ihm hoch. Ich kann einfach nicht wiederstehen, weil etwas in mir danach giert ihm in die Augen zu sehen, egal was darin zu finden ist. „Ich habe Angst. Angst davor was du mir verschweigst und vor dem was noch passieren wird.“
Sein Gesicht zeigt keine Regung. „Es ist mein Job dich zu beschützen. Und das beinhaltet auch, abzuwägen, was ich dir zumuten kann und was nicht.“
„Ich brauche deine Nachsicht nicht“, schlucke ich schwer.
„Nein. Scheinbar nicht. Offensichtlich verfolgst du Vampire, die dir Drohungen unterschieben lieber selbst, als auf Hilfe zu warten. Und scheinbar brauchst du dein Telefon auch nicht, denn du läufst lieber zu Christobal, als mich anzurufen!“, donnert er. „Das war leichtsinnig! Du hättest verletzt werden können, oder entführt oder-“, unterbricht er sich selbst, während ich unter seinen Worten zusammenzucke. „… wieso hast du mich nicht gleich angerufen?“, fügt er schließlich an.
„Du warst nicht da. Und ich wusste, dass Christobal in der Nähe wohnt und ich wusste, dass er früher aus dem Büro kommen wollte. Also bin ich her gelaufen.“
Semjons dunkle Augen spiegeln den Feuerschein wieder, als er sich zur Seite dreht. „Du scheinst ja großes Vertrauen in seine Fähigkeiten zu haben. Oder liegt es daran, dass ihr etwas am Laufen habt?“, will er abfällig wissen.
Was?!
Eigentlich setze ich schon an, ihm ein „Natürlich nicht!“, entgegen zu schleudern, doch dann besinne ich mich eines Besseren.
Stattdessen straffe ich die Schultern und schenke ihm einen kühlen Blick. „Ich wüsste nicht, was dich das angehen sollte. Denn falls ich dich erinnern darf, haben Märchenfeen in deinem Bett nichts zu suchen.“
Ich sehe ihn stocken. Sehe, wie sich seine fast schwarze Regenbogenhaut zu mir dreht, bevor sich sein Blick nach innen kehrt. „Ich habe aber auch nie gesagt, dass du in sein Bett springen solltest.“
„Tut mir Leid, dann habe ich da wohl was missverstanden!“. Schreie ich ihn nun doch an, weil ich es nicht ertrage, dass er mir das wirklich abkauft.
Bevor ich es registriere, hat er das Zimmer durchquert und packt mich hart an den Schultern. „Marlen, wieso kannst du es nicht einfach verstehen? Es ist unprofessionell“, entkommt es ihm, bevor er so hart die Zähne aufeinander krachen lässt, dass sein Kiefer unheilvoll knackt.
Mich durchläuft ein Schaudern, während seine Finger sich in meine Oberarme graben und ich das Gefühl habe, dass er sie gleich zerquetscht.
„Semjon, du tust mir weh“, flüstere ich. „Bitte, du machst mir Angst.“
Er lässt mich los.
Seine Pupillen sind im Halbdunkeln des Feuerscheins so groß, dass seine Augen wie schwarze Opale glänzen, als er den Kopf neigt.
„Es tut mir leid“, grollt er und es hört sich einfach nur verbittert an.
„Das muss es nicht“, entkommt es mir.
Seine Nasenflügel weiten sich und ich könnte ewig hier stehen und ihm einfach nur in die Augen sehen.
„Ruf einfach nach Christobal. Ich bin mir sicher, er wird mich dafür, dass ich dir zu nahe getreten bin, aus dem Haus werfen“, murmelt er heiser.
Ich schaffe es, entschieden den Kopf zu schütteln. „Nein. Das werde ich bestimmt nicht tun. Außerdem hatte ich nichts mit ihm“, schleicht es sich mir über die Lippen. „Ich könnte niemals etwas mit ihm anfangen“, sage ich mit belegter Stimme und greife nach seiner Hand, als er sich abwenden will. „Ich will nicht, dass du gehst. Ich wollte nie, dass du gehst.“
Sein Blick wandert zu meiner Hand, die seine festhält.
„Du solltest es aber wollen.“
Ich begegne seinem versteinerten Gesicht und mir ersterben jegliche Worte auf den Lippen. Er ist verschwitzt, der schwarze Pullover spannt über seiner Brust und sein harter Mund ist zu einer bleichen Linie verzogen.
Er ist gefährlich. Und ich bin so hoffnungslos in ihn verliebt, dass es mir egal ist.
„Wirklich? Ich glaube nicht“, seufze ich schließlich und lasse meine Hände auf seine breiten Schultern sinken, während er wie eingefroren dasteht.
„Du hast doch keine Ahnung, was du da tust“, spukt mir Semjon regelrecht entgegen, während ich ihm ins Gesicht sehe. „Ich werde dich nur zum Heulen bringen.“
Durch meinen Körper läuft ein siedend heiser Schauer, der mich dazu bringt die Augen zu schließen. „Ich hoffe nicht“, wispere ich.
„Ich sollte auf dich aufpassen“, flüstert er seltsam heiser, während er regungslos unter meinen Armen verharrt.
„Dann pass auf mich auf“, flüstere ich. „Sei kein Feigling und nimm mich mit in dein Bett.“
„Marlen-“, setzt er an. „Tu das nicht. Du ziehst die schlimmsten Männer an. Männer die du nicht verträgst“, murmelt er. „Und ich bin eine ganz miese Wahl.“
„Sag mir nicht wieder, dass ich gehen soll. Nicht, wenn du es nur tust, weil du glaubst, ich könnte dich nicht ertragen“, flüstere ich leise und greife in seine weichen Haare, wobei ich mich so strecken muss, dass ich der Länge nach an seinem Körper lande.
Mir entkommt ein ungläubiges Stöhnen, als ich die Beule in seinem Schritt spüre.
Bei allen Göttern der Nyx! Er ist hart. ER ist so hart, dass ich nicht verstehe, dass er mir gerade ernsthaft versucht, das hier auszureden.
„Ich will kein Ton von dir hören“, sagt er und es hört sich an wie ein Fluch.
„Sem-“
„Nicht“, sagt er nur, während ich meinen Kopf weit in den Nacken legen muss um ihn anzusehen. „Wir sind hier in Christobals Haus. Es ist spät. Du bist nicht bei Sinnen und ich sollte längst bei der Arbeit sein.“
„Bitte,- “
Er sieht mich an, mit seinen dunklen Augen, bevor er den Kopf schüttelt. „Mach das nicht, Marlen. Bitte versuch mich nicht dazu zukriegen, die Kontrolle zu verlieren. Denn das würde ich. Es hat nichts mit Feigheit zu tun, dass ich dir nicht weh tun will“, sagt er kurz angebunden.
„Dann tu es einfach nicht“, säusle ich halb weggetreten ob des unglaublichen Gefühls so gegen ihn gelehnt zu stehen und zu spüren, dass er nicht halb so abgeneigt von mir ist, wie er damals in Voss behauptet hat.
„Ich hab dich gewarnt.“ Seine Stimme ist eiskalt, als er mir die Worte ins Ohr flüstert.
„Ja“, kommt es lautlos über meine Lippen, bevor er seine Hände um meinen Hintern wandern und er mich hochhebt.
„Du hättest auf mich hören sollen“, droht er mir, während ich gegen die Beule in seinem Schritt gepresst werde und ein Stöhnen von mir gebe. Ich spüre ein sehnsüchtiges Kribbeln von dem Punkt, wo seine Erektion mich berührt, ausstrahlen und dränge mich näher gegen ihn.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 24

 



Semjons Finger fahren mein Rückgrat nach oben während seine dunklen Augen sich in mein bohren und wohlige Schauer durch meinen Körper schicken. Meine Hände streichen fasziniert über seinen kurzgeschorenen Nacken, der unter meinen Fingerkuppen kitzelt und er drängt mich mit einem gemurmelten „Letzte Chance zu verschwinden“, näher an sich.
Sein Blick gleitet über mein Gesicht, bevor er an meinen Lippen hängen bleibt.
„Werde ich nicht“, raune ich ihm tonlos zu, während er weiter meine Lippen fixiert und ich sein Gesicht näher kommen sehe.
Ich spüre das Blut in meinen Adern rauschen und starre gebannt auf seinen fein geschwungen Mund, der meinem immer näher kommt. Meine Augen schließen sich ganz automatisch, doch als ich mich ihm entgegen lehnen will, weicht er mir aus und lässt seinem Mund stattdessen auf meinen Halsbogen sinken.
Mir entkommt ein Stöhnen, als seine Bartstoppeln über meinen Hals kratzen und ich seine Zähne über die Haut fahren spüre.
Seine Lippen teilen sich, kaum dass sie meine Halsschlagader erreichen und ich bereite mich darauf vor, dass er zu zubeißt. Doch das tut er nicht. Er lässt nur ein Grollen hören, während er mich enger an sich zieht.
Ich dränge mich unruhig seiner Erektion entgegen und höre mich selbst wohlig aufstöhnen, als er meine Beine weiter auseinander treibt.
„Semjon…“, entkommt es mir heiser, als er mich beißt. Ohne Fänge, beinahe sanft zupfen seine Zähne an der weichen Haut und werden schließlich von seinen rauen Lippen ersetzt, die meinen Halsbogen nach oben wandern.
Meine Stirn wandert an seine Schulter, als er meinen Kopf weiter zur Seite neigt. Er lässt meinen ganzen Körper vibrieren. Das neckende Knabbern, gepaart mit den so liebevoll wirkenden Küssen, lassen mich langsam den Verstand verlieren und dann spüre ich plötzlich seine Fänge über meinen Nacken schürfen. Sie schicken wohlige Schauer durch meinen Körper und ich öffne meinen Mund zu einem lautlosen Schrei, als er zubeißt.
Der Schmerz der mich durchzuckt, ist überwältigend und ich ersticke mein Wimmern in seinem Pullover, während er einen Stoß andeutet und in gierigen Schlucken zu trinken beginnt. Es ist kein sanftes Saugen. Es ist grob und es ist gierig und bringt mich dazu mich in den warmen Stoff zu krallen, den er am Körper trägt.
Seine scharfen Zähne durchteilen mein Fleisch unbarmherzig und ich bringe ein staunendes „Au“, raus, ob seiner Gier und ich spüre die Haut um seine Fänge dabei weiter aufreißen, was mir die Tränen in die Augen treibt, ob des heftigen Schmerzes.
Seine Fänge ziehen sich zurück. „Was?“, will er eisig wissen, während seine Hand mir ins Haar greift und mich dazu zwingt, meinen Kopf in den Nacken fallen zu lassen.
„Nichts“, beeile ich mich zu versichern, obgleich die Wunde an meinem Hals wie Feuer brennt.
„Gut“, murmelt er. Seine Lippen finden jene Stelle wieder, die er gerade noch so grob behandelt hat, doch anders als eben, streichen nun nicht seine Fänge darüber, sondern seine Zunge, welche dem warmen Rinnsal zu meinem Schlüsselbein folgt und mich schwindeln lässt.
Meine aufgepeitschten Gefühle überschlagen sich beinahe, als seine Finger sich unter meinen Rock schieben. Rau und warm streichen sie über meine Schenkel und mir entkommt ein wenig zurückhaltendes Stöhnen, als sie meinen Slip finden.
„Hör nicht auf“, flehe ich ihn an, als er den Spitzenstoff zerreißt und seine Fingerkuppen über meine Hüfte, weiter nach oben wandern und glühende Bahnen auf meiner Haut hinterlassen.
Seine Bartstoppeln kratzen über mein Schlüsselbein, seine Härte drückt gegen meine Mitte und auch seine Finger schicken tosende Wellen durch meinen Körper. So in seinen Armen zu liegen, lässt mich schon beinahe kommen und ich nehme am Rande wahr, wie er sich die Schuhe von den Füßen schleudert, während er mit mir zum Bett wandert und ich versuche mich fester an ihn zu drücken.
Und dann hält er plötzlich inne, zieht mich mit sanfter Gewalt von sich und stellt mich auf der flauschigen Webpelzdecke ab, die meine nackten Fußsohlen kitzelt und ich bemerke erst jetzt, in was für einer Situation ich mich eigentlich befinde.
Ich bin auf dem besten Weg mit Semjon Cooper ins Bett zu steigen. Hier. In Christobals Haus.
Seine geweiteten Pupillen begegnen meinen, nachdem er sich den Pullover ausgezogen hat und mich mit seinen, vom Blut verfärbten Lippen fixiert.
Sein Blick wandert langsam über meinen Körper wie dickflüssiger Sirup und meine Hände wandern wie von selbst zum Saum meiner Bluse und lassen diese zu Boden gleiten.
Ich merke meine Nerven flattern, als seine Augen meine Silhouette nach oben wandern und an meinem pinkfarbenen BH hängen bleiben.
„Zieh ihn aus“, gibt er den kehligen Befehl und ich versuche meine Unsicherheit zu verbergen, als ich mit zitternden Fingern nach dem Verschluss des BHs greife.
Ich zögere kurz, doch Semjons Blick ist unbeugsam, als er mir bedeutet ihn auszuziehen.
Das Stück Stoff gleitet zu Boden und meine Knospen werden hart in der kühlen Nachtluft.
Ich stehe vor ihm auf dem riesigen Bett, halbnackt und ängstlich.
Aber wenn Sex die einzige Art von Liebe sein soll, die ich von ihm kriegen kann, dann werde ich mir das verflucht nochmal nehmen.
Sein Blick ist dem fallenden Stoff gefolgt, bevor er wieder nach oben zu meinen Brüsten gleitet.
Ob ihm gefällt was er sieht?
Ich unterdrücke den Reflex, meine Arme schützend um mich zu schlingen.
„Den Rest auch“, murmelt er und ich sehe ihm zitternd dabei zu, wie er damit beginnt, fein säuberlich sein Hemd aufzuknöpfen, das er unter dem Pullover getragen hat.
Mit jedem Knopf kommt ein Stück mehr der bronzefarbenen Haut zum Vorschein, die sich über ein Muskelpaket spannt, das seinesgleichen sucht. Stück für Stück kommt das Raubtier unter den teuren Klamotten hervor. Als das gutgeschnittene Hemd zu Boden segelt, strecken sich seine Muskelstränge für einen Augenblick und ich mache einen Schritt rückwärts.
An diesem Körper ist kein überflüssiges Gramm. Nichts daran sieht irgendwie aufgesetzt oder aufgepumpt aus. Vielmehr wirkt er wie eine fleischgewordene Götterstatue. Erst recht, als er eine Augenbraue hebt und in Richtung meines Rockes nickt. „Zieh das aus.“
Ich versuche ihm zu gehorchen, doch ich kann mich nicht rühren, während er seine Socken auszieht und schließlich nach der Schließe seines Gürtels greift.
„Du wirst das im Bett nicht brauchen, als zieh es endlich aus“, wiederholt er sich noch einmal und öffnet seinen Gürtel, wobei sich sein Bizeps bedrohlich räkelt.
Ich beiße mir auf die Lippen, bevor ich all meinen Mut zusammennehme und meine Daumen in den Bund meines Rockes hake. Doch ich bringe es nicht über mich, mich vor diesem Raubtier zu entblättern.
Er wird mir mein Herz rausreißen.
Mut hin oder her.
„Märchenfee...“, grollt er. „…so funktioniert das nicht.“
Ich hisse erschrocken auf, als er einem Arm ausstreckt und mich an seine Brust zieht.
„Scht“, brummt er tadelnd.
Seine Haut ist warm und fest und ich wage es meine Wange auf seiner Brust verweilen zu lassen, während seine viel zu kräftigen Finger meine Wirbelsäule herunterfahren und unter den Bund meines Rockes wandern, diesen aufs Bett segeln lassen und sich schließlich auf meine Taille legen.
„Zieh mir die Hose aus“, sagt er in einem Tonfall, der meine Panik noch weiter anheizt. Es ist keine Bitte. Es ist ein Befehl.
Meine Hände finden den Verschluss. Und ich versuche ihn zu öffnen, doch ich bin so fahrig, dass ich ihn nicht aufkriege. Es wird auch nicht besser, als ich bei meinem Versuch seine Hose zu öffnen, über seine Erektion streiche.
„Verdammt, Marlen“, flucht er ungehalten und zieht mich an meinen Handgelenken von sich.
Ich sehe ihn erschrocken an und schlucke unter seinem steinernen Blick, bevor er mich nach hinten in die Kissen wirft und sich selbst aus der Hose hilft.
„Exakt das ist der Grund, weshalb ich es nicht mit unerfahrenen Mädchen treibe“, entkommt
es ihm drohend, während er ums Bett herum geht.
Ich fühle mich wie in einem schlechten Film.
Ich will nicht, dass er so mit mir redet.
Er jagt mir eine Heidenangst ein, weil er mir immer deutlicher zeigt, vor wem ich da gerade nackt auf dem Bett liege- dass ich vor dem Boss der Dunklen liege, vor dem mich alle Welt gewarnt hat.
Doch wenn mich meine Freundschaft zu seinem Bruder eines gelehrt hat, dann das, dass man keine Furcht zeigen darf und man manchmal die Zähne zusammenbeißen muss, wenn man etwas wirklich will. Und so begegne ich seinem eisigen Blick und schenke ihm ein vertrauensvolles Lächeln, während ich mich aufsetze und meinen Rock aus meinen Kniekehlen schiebe.
„Wer sagt, dass ich unerfahren bin?“, krächze ich und es hört sich so unsouverän an, dass ich halb erwarte ob meiner Worte ausgelacht zu werden.
Doch das tut er nicht.
Sein Blick klebt an meinen Brüsten, bevor er weiter nach unten streicht und ich öffne meine Schenkel, als er tiefer gleitet.
„Verdammt, Marlen“, höre ich ihn grollen. „Du hast doch keine Ahnung, auf was du dich da einlässt.“
„Stimmt“, stimme ich ihm unsicher wie ich bin zu. „Und jetzt komm her und starr mich nicht so an.“
Semjon lässt einen wütenden Fluch hören und ich zucke zusammen.
„Entschuldige“, murmelt er. Die Stimme so tief, dass jede einzelne Silbe dieses Wortes wiederhall in mir findet.
Ich strecke meinen Arm nach ihm aus und ich sehe ihn auf die Matratze sinken und zu mir kommen.
Meine Fingerspitzen finden seine breiten Schultern, als er sich über mich legt und meine Beine weiter auseinander treibt. Seine rauen Handflächen streichen über die seidige Innenseite meiner Schenkel und lassen mich erbeben. Er ist so viel mehr, als ich gewohnt bin.
Als er meine Seiten entlang fährt und sein Mund sich auf meine harten Knospen senkt, bäume ich mich erschrocken auf, ob des unbeschreiblichen Gefühls, das mich durchzuckt.
Bei allen Göttern der Nyx, er scheint mich tatsächlich umbringen zu wollen, geht es mir durch den Kopf, als er seinen Mund über mich wandern lässt und mich dazu bringt, meinen Kopf weit in den Nacken fallen zu lassen und meine Hände sich rechts und links in die Kissen zu krallen.
Semjons Finger umkreisen meine Brüste eingehend, bevor sein Mittelfinger fest über mein Schlüsselbei, über mein Dekolleté herunter bis zum Bauchnabel fährt. Ich spüre, wie sich mein Körper genießerisch unter seinen Berührungen anspannt und beiße mir wohlig seufzend auf die Unterlippe, als ich ihn über meinen Bauch pusten spüre. Der Lufthauch ist sanft und aufreizend und lässt meine Synapsen beinahe explodieren.
„Semjon“, stöhne ich vollkommen enthemmt, während seine kräftigen Finger von der Mitte wieder nach oben wandern. „Semjon, bitte, oh Gott-“, stammle ich, als er sich höher schiebt und ich spüre, wie er nach einem der Kondome greift und es mir in die Hand drückt.
Ich begegne seinen unnatürlich braunen Augen und schlucke ob seines Anblicks.
Er ist wirklich der Boss der Dunklen. Sein beeindruckender Bizeps und die bronzefarbene Haut, gepaart mit den unbarmherzig auf mich gerichteten Augen, verhindern nicht nur, dass ich mich rühren kann, sondern auch, dass ich auch nur ein Wort raus bringe.
„Du kannst mich John, nennen, wenn du möchtest. Ich mag den Namen, den du mir gegeben hast“, höre ich ihn mit seiner finsteren Samtstimme murmeln.
„Woher-“
„Christobal hat mir davon erzählt“, antwortet er mir, bevor seine Lippen sich auf mein Schlüsselbein senken und sich über meine fast verheilten Bissspuren küssen.
Ich stöhne überwältigt auf, während seine vorwitzigen Fingerkuppen über meine aufgeheizte Haut gleiten, die Innenseiten meiner Oberarme entlang streichen und sich schließlich mit meinen Fingern verweben.
Über Semjons Gesicht huscht ein Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermag.
„Oh, verflucht..“, höre ich ihn grollen und es klingt in meinen Ohren wie ein düsteres Versprechen, während seine Hände sich in mein Haar graben.
Semjon schiebt mich tiefer in die Kissen, während er ein dunkles Grollen hören lässt, das ein unkontrolliertes Beben durch meinen Körper schickt. Ich spüre sein Verlangen, seine kräftigen Finger auf meiner Haut, seine ausgefahrenen Fänge auf meinen Brüsten und kralle mich in seinen Schopf.
Die Felldecke, die am Fußende des Bettes zusammengeknäult ist, wird von ihm rücksichtslos aus dem Bett gekickt, als eine feuchte Spur über meinen Brustkorb zieht.
Und dann hält er plötzlich inne. Ich spüre seinen Mund auf meiner Haut verharren, bevor von mir ablässt.
Ich öffne blinzelnd die Augen und erkenne, dass sein Blick sich Richtung Fenster gewandt hat.
„Was ist los?“, wispere ich unsicher.
Sein Daumen legt sich auf meine Lippen, ohne mich auch nur anzusehen und ich versuche in seinem Profil einen Hinweis darauf zu erhaschen, ob ich etwas falsch gemacht habe. Doch sein Gesicht ist eine gefühllose Maske.
„Da draußen ist jemand“, sagt er plötzlich und bevor ich mich versehe, drückt er sich von der Matratze hoch.
„Ich verstehe nicht, was-“, fange ich an, doch er unterbricht mich, indem er sich endgültig von mir löst und aus dem Bett steigt, nach seiner Hose greift und sich anzieht.
„Zieh dich an. Das hier wird warten müssen“, grollt er, während er sein Hemd zuknöpft und sein Blick weiter aus dem Fenster gerichtet ist.
„Aber-“, setze ich unglücklich an.
„Geh zu Christobal. Sag ihm, er soll dich in meine Wohnung fahren. Ich habe etwas zu erledigen“, murmelt er leise.
Ich sehe ihm unglücklich dabei zu, wie er Lage für Lage wieder zu dem unnahbaren Kerl wird, bei dem ich niemals landen kann und zucke erschrocken zusammen, als er mir meinen BH zuwirft.
„Du solltest dir jetzt wirklich etwas über ziehen. Christobal braucht dich nicht nackt vorzufinden“, grollt er, während er in seine Schuhe steigt und zum Fenster geht.
Ich bin gerade dabei meine Bluse über den Kopf zu ziehen, als er das Fenster, das am weitesten von mir entfernt ist öffnet.
„Semjon, was machst du da?“, flüstere ich fröstelnd, als eine eiskalte Windböe ins Zimmer fährt und mit ihr die weißen Flocken herein taumeln und ich mich beeile in meinen Rock zu schlüpfen und meinen zerrissenen Tanga in meine Einkaufstüte zu stopfen.
Als ich fertig angezogen bin, hat er mir noch immer nicht geantwortet.
Stattdessen steht er an offenen Fenster, mit zusammengekniffen Augen und fixiert etwas in der weißen Dunkelheit.
„Ich hab dich etwas gefragt“, informiere ich ihn tadelnd und meine Arme wandern ganz automatisch um mich, als eine schneegeschwängerte Brise durch mein Haar fährt.
„Meinen Job“, sagt er gleichmütig, bevor er einen Satz auf die Fensterbank macht. „Schließ hinter mir ab“, fordert er.
Im nächsten Augenblick ist er verschwunden und nur die ins Zimmer wirbelnden Schneeflocken bleiben von ihm zurück.


Ich starre in die Dunkelheit und kann mich nicht rühren. Gerade hat er mich noch in den Armen gehalten und jetzt stehe ich schon wieder alleine hier.
„Das ist einfach nicht fair“, wispere ich verzweifelt, während sich die Tür öffnet und Christobal ins Zimmer stürzt.
„Wo ist Semjon?“, fragt mich da auch schon der Vize der Dunklen.
„Er sagte, er müsse seinen Job machen und hat sich aus dem Fenster verabschiedet“, seufze ich frustriert, während ich verdattert Christobal mustere, dessen sonst so seidig schimmerndes, gestyltes Haar, wild vom Kopf absteht und ihn gepaart mit seinem deutlichen Bartschatten, sehr viel verwegener aussehen lässt, als dies Normalerweise der Fall ist.
„Verflucht“, entkommt es ihm, während er das offene Fenster schließt und nach draußen sieht. „Was immer da draußen lauert, wartet doch nur auf solche Gelegenheiten um ihn zu erwischen!“
Ich zucke erschrocken bei seinen Worten zusammen und besinne mich darauf, dass es Wichtigeres als seine Frisur oder den beinahe Sex Semjon gibt.
„Du glaubst, es ist eine Falle?“
Christobal fährt sich mit einem schweren Seufzen über die Stirn und schlinge die Arme etwas fester um mich. „Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass mir die Sache nicht gefällt. Außerdem hätte ich ein paar Sachen mit Semjon besprechen müssen. Aber das muss nun wohl warten“, bringt er heraus.
„Weißt du schon was Neues?“, entkommt es mir nach einer Weile, in der er nach draußen in das Schneechaos gestarrt hat und ich versuche meine weichen Knie wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Nein. Ich habe keine Ahnung“, gibt er schließlich zu und ich mustere Semjons besten Freund misstrauisch. Er sieht viel zu lädiert aus, als das ich ihm das abkaufen würde.
„Weißt du wirklich nichts, oder darfst du mir nur nichts erzählen?“, hake ich deshalb nochmal nach.
„Das macht keinen Unterschied“, murmelt Christobal. „Alles was ich weiß, ist, das all meine Vermutungen unbrauchbar sind. Mein Adoptivbruder verwandelt sich in einen Schneeleoparden, nicht in eine Krähe und Abenezer ist tot. Es ergibt einfach keinen Sinn“, sagt er schließlich und lässt seinen Kopf gegen die Scheibe knallen.
„Christobal, nicht!“, entkommt es mir erschrocken, weil es sich wirklich schmerzhaft angehört hat, als er seinen Kopf dagegen geschmettert hat. „Vielleicht findet Semjon ja etwas raus“, versuche ich ihn aufzumuntern.
„Ja, vielleicht. Vielleicht verschwendet er aber auch nur wichtige Zeit“, grummelt er und ballt die Hände zu Fäusten. „Bleibt nichts anderes zu tun als abzuwarten… bis dahin kann ich dich immerhin nach Hause bringen und danach im Büro vorbei sehen“, ruft er sich selbst wieder zur Raison und löst sich vom Fenster.
Ich schenke ihm ein wackliges Lächeln, ob seiner wenig positiven Einschätzung, bezüglich Semjons Chancen etwas rauszufinden. „Ja. Das wäre nett“, beeile ich mich schließlich zu sagen. „Und vielleicht findet er ja wirklich ein paar Spuren.“
Christobal lässt ein Schnauben hören. „Als hätten wir davon nicht genug!“
„Ach, habt ihr?“, frage ich verdattert.
„Wir haben so viele Spuren, dass wir nicht wissen wohin damit. Aber keine von ihnen passen zusammen. Es macht einen wahnsinnig!“, flucht er, bevor er den Kopf schüttelt und sich mit den Fingern durchs Haar kämmt. „Na los, gehen wir.“


Ich liege auf der Couch und blättere gelangweilt durch die Fernsehzeitschrift, während Amon zu meinen Füßen auf seiner Kaustange herum nagt.
Christobal, welcher mich pflichtschuldigst noch gestern Nacht hier abgeliefert hat, wollte mir Bescheid geben, sobald Semjon auftaucht.
Bis jetzt hat er noch nichts von sich hören lassen und so sitze ich auf glühenden Kohlen und versuche mich mit dieser Zeitschrift abzulenken. Nachdem ich jedoch schon zum dritten Mal die gleiche Zeile lese, bezweifle ich ernsthaft, dass mir dies gelingt.
Bei jedem lauten Knacken der Holzscheite im Kamin, fahre ich hoch, nur um unglücklich festzustellen, dass das Zwielicht des Abends noch genauso leer wie vor zwei Minuten ist.
„Ich hasse diese Warterei“, entkommt es mir schließlich schwer seufzend an Amon gerichtet. „Keiner erzählt mir irgendwas und Semjon ist verschwunden. Schon wieder“, meckere ich leise vor mich hin, während ich aufstehe um zur Kaffeemaschine herüber zu gehen.

Amon sieht von seinem Knochen auf, als ich an ihm vorbei laufe, nur kurz, dann beißt er weiter darauf herum.
Draußen ist es mittlerweile so weiß, dass selbst die Dunkelheit grau wirkt. Der Balkon trägt eine dicke Schneehaube, genau wie das Geländer, wie ich bemerke, als ich an der langen Fensterfront vorbei wandere, in Richtung Küchenzeile.
Im Loft herrscht eine angenehme Wärme, die mir erlaubt in einem bequemen Wickelkleid herumzusitzen und mich angemessen schlecht zu fühlen, weil Semjon irgendwo da draußen durch die Kälte jagt.
Ich stelle meine Tasse unter den Vollautomaten und warte darauf, dass die Maschine ihr Kaffeemalen beendet und die dunkelbraune Flüssigkeit endlich in meine Kaffeetasse rinnt.
Als sie endlich gutgefüllt ist und ich mich zufrieden seufzend, gegen die Küchenzeile lehne, höre ich eine Krähe krächzen.
Ich sehe erschrocken zur Fensterfront herüber, doch ich kann in der Dunkelheit keinen Vogel ausmachen. „
Wahrscheinlich habe ich es mir eingebildet und doch einmal zu oft auf den Kopf gefallen“, wispere ich schließlich und starre auf die Oberfläche meines Kaffees.

Sie wird ihm gefallen.




Ich zucke zusammen. Die Worte sind einfach so aufgetaucht und ich blinzle verwirrt.
Das ist jetzt wirklich gruselig.
Woher kam das denn?
Ich starre noch immer auf den Kaffee, dessen Dampf meine Nase kitzelt.
Ich bin definitiv nicht ohnmächtig geworden, wie ich es sonst bei meinen Flashbacks werde.
„Seltsam“, stelle ich fest, bevor ich das restliche Getränk herunter stürze und die leere Tasse in die Spüle stelle.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 25

 



„Marlen.“ Semjons Stimme, die direkt hinter mir ertönt, lässt mich zusammenfahren.
„Wieso schläfst du nicht? Es ist spät“, höre ich ihn sagen.
Sein Geruch schwappt über mich und wischt meine Unruhe, die schon den ganzen Tag an meinen Nerven gezerrt hat, weg. Die Mischung aus Zigarettenrauch und einer überschwänglichen Note Mann umfängt mich wie ein schützender Kokon, indem ich mich endlich wieder geborgen fühlen kann.
Ich drehe mich zu ihm, nachdem ich eine Weile einfach nur die leere Tasse angestarrt habe. „Bist du in Ordnung?“, stelle ich ihm die Gegenfrage.
Seine unnatürlich dunklen Augen verengen sich und lassen das Gefühl von Sicherheit, das mich bis eben noch in seiner Gegenwart überkommen hat, verschwinden.
Mir fallen seine vom Schnee durchnässten Haare auf und ein wehmütiges Kribbeln läuft bei diesem Anblick über meine Haut.
„Du hast mir nicht auf meine Frage geantwortet. Wieso bist du noch wach? Es ist mitten in der Nacht“, entgegnet er mir mit finsterer Miene und wischt sich das Rinnsal aus Schmelzwasser nachlässig von der Stirn.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, gebe ich nach einigem Zögern zu, wage es aber nicht ihn bei meinen Worten anzusehen.
„Das musst du nicht.“
Seine viel zu warme Stimme bringt mich dazu den Kopf zu heben. Sein Gesichtsausdruck spricht jedoch davon, dass er meine Sorge als Beleidigung an seine Fähigkeiten versteht.
„Ich dachte kurz, die Krähe sei wieder da“, kommt es mir schließlich über die Lippen, da ich seine eisige Mine nicht mehr länger ertrage.
„Das ist nicht mehr möglich“, murmelt er. „Der Krähenmann ist tot.“
Erschrocken begegne ich seinem Blick. Sein dunkler Wimpernkranz flattert nicht, während sich seine Augenbrauen zusammenziehen.
„Hast du ihn etwa getö-“
Sein Kinn ruckt ein kleines Stückchen nach vorn, wie zum Trotz. „Ich war das nicht. Ich kam zu spät. Ihm wurde die Kehle aufgerissen, bevor ich ihn erreichen konnte.“
Ich höre mich selbst geräuschvoll die Luft einziehen und sehe ihm dabei zu, wie sich seine Miene noch ein Stückchen verfinstert.
„Jetzt habe ich eine Leiche ohne Fingerabdrücke…seine DNA ist den Datenbanken unbekannt und sein Gesicht ebenso“, grollt er.
„Aber dir geht es gut?“, möchte ich panisch wissen und bin kurz davor ihn zu schütteln, damit er mir endlich antwortet.
Sein Blick ist während meiner Frage nach unten gewandert und klebt an meiner Kette, deren Anhänger mir einst Devon geschenkt hat, während ich alarmiert seine Haut nach verdächtigen Kratzern oder geröteten Flecken absuche.
Semjon antwortet mir nicht. Er starrt nur auf das silberne Herz, in das ein winziges D graviert ist.
„Semjon?“, hake ich nochmals nach.
„Ich denke, der Krähenkerl wollte dich tatsächlich warnen, nicht dir drohen.“
„Du hast mir nicht auf meine Frage geantwortet“, bohre ich weiter nach, obgleich es mir in den Fingern juckt, mehr über Semjons Theorie zu erfahren.
Er sieht hoch in mein Gesicht. Nur kurz, bevor er seinen Blick durch die Wohnung schweifen lässt.
„Wieso sollte es mir schlecht gehen?“, fragt er verständnislos..
„Weil jemand vor deinen Augen umgebracht wurde?“
„Das ist nichts, das mich aus der Bahn werfen würde. Keine Sorge“, sagt er mit einem schmalen, unmenschlichen Lächeln, das mein Herz gefrieren lässt. „Ich bin niemand, dem der Tod sonderlich nahe geht. Er gehört zu meinem Job. Es ist ärgerlich, mehr nicht.“
Obgleich ich ihn mittlerweile ein wenig besser kenne, lassen mich seine Worte zusammenzucken. In Semjons Augen flackert ein seltsamer Glanz.
„Was denn, Marlen? Glaubst du wirklich, ich könnte diesen Job machen, wenn ich nicht damit klar kommen würde?“
„Ich zweifle nicht daran, dass du deinen Job gut machst, Semjon“, seufze ich, bevor ich es wage meine Finger nach ihm auszustrecken. Ich sehe ihn zurückzucken und lasse meine Hand resigniert sinken.
„Das gestern Abend, das hätte nicht passieren dürfen“, platzt es plötzlich aus Semjon heraus. „Es war ganz und gar unangebracht. Und wenn ich dich bedrängt habe, so tut es mir leid.“
„Sem-“
„Ich sollte jetzt gehen. Ich wollte nur, dass du weißt, dass es mir Leid tut“, murmelt er und verpasst mir einen Schlag in die Magengrube, indem er seinen Mantel aufknöpft und ich den schwachen Duft eines Frauenparfums wahrnehme. „Es wird nicht noch einmal passieren.“
Ich taumle einen Schritt zurück und rempel gegen die Küchenanrichte. „Wo warst du?“, entrinnt es mir angewidert, während ich gegen das Bedürfnis ankämpfen muss einfach in Tränen auszubrechen.
„Auf diese Frage werde ich dir nicht antworten. Ich schätze du bist alt genug um das zu wissen.“
„Du Mistkerl!“, entkommt es mir tonlos, während er mich mit seinen dunklen Augen unbewegt ansieht.
Ich kann mich vor Enttäuschung und Zorn über ihn kaum artikulieren und brauche lange, um wieder etwas heraus zu bringen.
„Ein Einfaches, es war ein Fehler, hätte genügt“, schlucke ich schließlich schwer, doch mein Stolz verbietet es mir glücklicherweise vor ihm loszuheulen, obgleich meine Stimme nur ein Zittern ist.
Er antwortet mir nicht, sieht mich nicht mal an.
„Zieh die Tür hinter dir zu, wenn du gehst und pass auf dich auf“, verabschiede ich mich von ihm, ohne ihn noch einmal anzusehen.

Meine Sicht ist so verschwommen, dass es mich wundert überhaupt noch die Treppen nach oben zu kommen und die Zimmertür hinter mir zu schließen, ohne irgendwo dagegen zu laufen.
Als ich endlich aufs Bett falle und mein Gesicht in den Händen vergrabe, entringt sich meiner Kehle ein Schluchzen, das ich im Kopfkissen zu ersticken versuche, doch es mag mir nicht recht gelingen. Ich kann die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie strömen über meine Wangen und durchtränken die schneeweißen Kissen.
„Mistkerl!“, würge ich hervor, während ich mich zusammenrolle. „Verfluchter Mistkerl!“
Ich hätte wissen sollen, dass der Boss der Dunklen ein elendiger Hurensohn ist, dem ich rein gar nichts bedeute. Dass ich absolut austauschbar bin. „Elendiger…“
Mir ersterben die Worte im Mund, weil ich glaube vor Kummer mein Abendessen hochkommen zu spüren, doch im nächsten Augenblick schmecke ich nur den bitteren Geschmack von Enttäuschung auf meiner Zunge.
Ich starre auf das weiße Leinen bis meine Augen vor Müdigkeit brennen und das Zittern, das meinen Körper geschüttelt hat, abgeebbt ist.
Eigentlich dachte ich immer, mir würde es nie passieren, dass ich mich wegen eines Mannes so miserabel fühlen würde. Leider habe ich mich geirrt. Damals in Voss, als Semjon mir erklärt hat, dass er einfach nicht auf blonde Barbiepuppen steht, war ich verletzt, aber ich konnte es ihm verzeihen, weil ich dachte, er und ich, wir würden uns mittlerweile besser kennen. Dass er mich mögen würde. Zumindest ein bisschen… und dass er mich wenigstens ein wenig respektieren würde. Offensichtlich bin ich da aber nur meinen eigenen Wunschvorstellungen erlegen.
„Es wird nicht wieder passieren“, presse ich schließlich hervor. „Nie wieder. Du bist für mich gestorben.“

Ich krieche gegen halb sieben aus dem Bett und unter die Dusche, bevor ich mich in eine meiner zerfetzten Lieblingsjeans quetsche und mir einen ausgeleierten Pulli überstreife. Meine Augen sind noch immer gerötet, als ich mich nach unten ins Wohnzimmer stehle, begleitet von Amon, der vor meinem Zimmer gewartet hat.
Das Loft ist noch immer in Dunkelheit gehüllt, als ich in Richtung der Kaffeemaschine schleiche, nur um festzustellen, dass die Bohnen alle sind.
„Verflucht!“Entnervt bin ich schon wieder kurz davor in Tränen auszubrechen. Amon, der seinen Kopf gegen meinen Oberschenkel lehnt, verstärkt das Gefühl mich irgendwo zu vergraben und weiter wegen diesem ewig schwarz tragenden Idioten nachzuheulen nur noch mehr.
Meine Selbstachtung zusammenkratzend, fahre ich über die Ohren des großen Vampirhunds und versuche mich unter Kontrolle zu bringen.
Ich will gerade zur Couch gehen, als ich mich umentscheide. Ich werde nicht hier rumsitzen und in meinem Elend baden.
Nach dieser Nacht habe ich mir einen Kaffee verdient - egal was da draußen lauern mag.
Mit diesem Entschluss schlupfe ich in meine Winterstiefel, wickle mich in meinen langen Schal und ziehe mir meinen dicken Parka an, um den kurzen Weg von Semjons Wohnung zu Monas Café unbeschadet und warm zu überstehen.

Draußen liegt die Welt noch im Halbdunkeln, im Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen. Die schmiedeeisernen Straßenlaternen spenden auch nicht gerade viel Licht, mit ihren gelborangenen Lampen, die eine dicke Schneehaube tragen.
Ich reibe meine Handflächen aneinander, als ich die Haustüre aufziehe und mir ein Schwall klirrend kalte Luft entgegen strömt.
Amon hechtet an mir vorbei und tollt durch den tiefen Schnee, kaum dass ich die Tür hinter uns geschlossen habe. Seine langen Ohren fliegen fröhlich um seinen Kopf und im Halbdunkel des anbrechenden Morgens verschmelzen seine lackschwarzen Flecken mit der Dunkelheit und die weiße Grundfarbe seines Fells mit dem Schnee.
„Du stehst wohl auf Schnee“, stelle ich amüsiert fest, während er über die Wiese pflügt und mich alleine zurück lässt. Die Hände tief in meine Manteltaschen gegraben, lasse ich den Gartenweg hinter mir und überquere zügig die geräumte Straße. Die Dogge setzt mir in großen Galoppsprüngen hinterher und überholt mich, kaum dass ich die andere Straßenseite erreicht habe, als ich das gleichmäßige Schnurren eines Autos hinter mir höre, dessen Scheinwerfer die Nacht um mich herum erhellen.
„Mach doch dein Fernlicht aus“, brummele ich in meinen flauschigen Schal, weil mich der Lieferwagen blendet und ich Amon nicht mehr entdecken kann. Mich beschleicht ein unwohles Gefühl, während ich den Rand des sich langsam nähernden Lichtkegels nach der Dogge absuche.
Der Lieferwagen hat mich schon fast passiert, als ich endlich Amon auf mich zu hetzen sehe.
„Mach langsam“, warne ich ihn erleichtert, doch mein Ausruf erstirbt auf meinen Lippen, als ich den Lieferwagen plötzlich eine Vollbremsung vollführen sehe. Er kommt mit einem lauten Quietschen zum Stehen, wobei das ausbrechende Heck den gesamten Wagen um hundertachtzig Grad dreht.
Die Gestalt hinter dem Steuer, die vollkommen in Schwarz gehüllt ist, lässt den Motor aufheulen und den Wagen mit durchdrehenden Rädern auf mich zu schnellen. Ich kann mich nicht rühren. Das Einzige, das mir in den Kopf kommt, ist ein „Verdammt!“
„Marlen! Pass auf!“, höre ich jemanden rufen, bevor ich hart an den Armen gepackt werde und für einen kurzen Moment in stahlblaue Augen blicke, die von einer verwilderten, braunen Mähne umrahmt werden. Im Gegenlicht der Scheinwerfer, nehme ich noch seinen besorgten Blick war, bevor ein ohrenbetäubender Lärm zu hören ist und ich zu Boden gehe.

Es riecht wie in der stets überfüllten, klapprigen U-Bahn Helsinkis, die beinahe ausschließlich von Menschen benutzt wird. Muffig, abgestanden, nach schlechtem Atem und feuchten Klamotten und Desinfektionsmittel. Der stechende Geruch des Putzmittels, lässt mich würgen und ich will mich aufsetzen, doch das ist mir unmöglich.
Ich öffne blinzelnd die Augen und spüre den Schmerz durch meinen Körper zucken.
„Nun, hat sich Dornröschen von dem Aufprall erholt? Stell dich nicht so an. Dein verwilderter Freund hat das Meiste abbekommen“, höre ich eine seltsam hohl klingende Stimme sagen, während ich auf einen grauen Linoleumboden starre, auf dem sich eine dickflüssige Blutlache gebildet hat, in der ich zu meinem Entsetzen liege. Ich spüre mein Gesicht und meinen Unterkörper schmerzen und meinen Hinterkopf hämmern, während ich versuche mich aufzusetzen, doch das ist mir nicht möglich. Ich will meine Arme zur Hilfe nehmen, muss jedoch feststellen, dass sie hinter meinem Rücken zusammengebunden sind. So fest, dass all mein Reißen nur dazu führt, dass ich meine Knochen knacken höre.
„Versuch es erst gar nicht, Kleine. Wir wollen doch nicht, dass der Spaß schon jetzt ein Ende hat.“ Die Stimme ist weiblich, stelle ich benommen fest und vollkommen überdreht. „Wir wollen Semjon doch nicht so einfach davon kommen lassen.“
Ich spüre meine Panik schwinden, im gleichen Augenblick, wie die Worte an mein Ohr dringen. Nicht weil ich keine Angst habe, sondern weil ich einen Stich am Oberarm spüre und dann nichts mehr. Irgendeine Droge jagt durch meinen Kreislauf, während ich in eine aufrechte Position gezogen werde und mein Kinn kraftlos auf die Brust sackt. Was auch immer sie mit mir vor haben ist egal. Semjon interessiert sich ohnehin nicht für mich. Sie können ihm also gar nichts anhaben und diese Tatsache lässt mich ruhig werden. Wenigstens wird sich keiner wegen mir in Gefahr begeben.„Bleib wach!“, werde ich angeschrien und höre eine Hand auf nackte Haut klatschen. Dass ich geohrfeigt wurde, kommt mir in den Sinn, als mein Kopf zur Seite schleudert. Ich höre die weibliche Stimme direkt neben meinem Ohr reden, doch ich bringe nicht die Kraft auf meinen Blick in ihre Richtung zu drehen. Alles ist verschwommen, dunkel und stickig. „Sieh sie hoch! Ich will, dass du mir genau zuhörst!“, kreischt sie und ich nehme am Rande wahr, wie mein Kopf hochgerissen wird. Eiskalte Finger drücken mein Kinn nach oben und zwingen mich geradeaus zu sehen.
„Hier kommst du nicht mehr raus.“ Die Person, die mich festhält, beginnt leise zu lachen und obgleich ich nichts fühle, kann ich ein gewisses Unwohl sein nicht unterdrücken, während ich auf eine blecherne Wand starre, die grobe Ähnlichkeit mit dem Innenleben eines Lieferwagens hat. „Du wirst Semjon eine Show liefern, die selbst ihm die Haare zu Berge stehen lassen wird.“
Grobe Finger drücken sich in meine Wangen und zwingen mich schließlich meinen Mund zu öffnen. „Weißt du, Abenezer wollte noch warten, dich wieder zu sich zu holen, aber dieser verfluchte Tiger, durchstreift die Nächte schon viel zu lange und maßt sich an sich überall einzumischen… Er ist noch schlimmer als sein Vater“, brabbelt die Frau mit der hysterischen Stimme weiter und schiebt mir einen Knäul zwischen die Zähne, das mich wohl davon abhalten soll mich in irgendeiner Weise zu äußern.
Mich durchzuckt der Gedanke, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie redet, während ich mich zu entscheiden versuche, ob ich einer Halluzination erlegen bin, oder ob das hier wirklich passiert.
War Abenezer nicht tot? Sagte Christobal nicht, dass er tot sei?
Ich merke, wie meine Sicht sich eintrübt und ich nichts weiter außer Schatten vor meinen Augen tanzen sehen kann und ich kippe nach vorn, weil die Finger die mich an Ort und Stelle halten plötzlich fehlen.
„Aber jetzt hat sich Semjon mit den Falschen angelegt. Seine Tage sind gezählt, genau wie deine“, höre ich die Stimme noch ein letztes Mal vollkommen verzerrt in meinen Ohren kreischen, bevor sich die Dunkelheit über mir ausbreitet.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 26

 



Ein dumpfer Schmerz macht sich in meinem Hinterkopf breit und schickt ein Schaudern durch meinen Körper.
Erschrocken greife ich mir an den Kopf, doch ich spüre nichts Außergewöhnliches, außer mein feuchtes Haar, als ich meinen Schädel abtaste. Noch halb benommen befühle ich mein Gesicht und stelle dort ebenfalls keine Verletzungen fest, bevor ich mir der Tatsache gewahr werde, dass ich nichts sehe. Die Welt liegt im Dunkeln.
Ich fahre hoch und fasse mir an meine Augen. Meine Lieder wehren sich gegen meine Finger, die die Augäpfel untersuchen. Diese beginnen zu tränen, als ich panisch über die Hornhaut streiche. Mit ihnen scheint jedoch alles in Ordnung zu sein und eine gewisse Erleichterung will sich gerade in mir breit machen, als ich den Schmerz hinter meinen Schläfen explodieren spüre. Davon überwältigt falle ich nach vorn. Im letzten Augenblick schaffe ich es aber noch mich mit zitternden Händen abzufangen. Meine Muskeln drohen kurz unter meinem eigenen Gewicht nachzugeben, bevor ich es erneut schaffe mich hochzustemmen. Der Boden unter meinen Handflächen ist glatt, wird aber immer wieder von schmalen, rauen Bahnen durchbrochen, die sich als Fugen herausstellen, als ich sie mit meinen Fingern nachfahre. Der Schmerz klingt langsam ab, nachdem ich für eine Weile still dasitze. Doch in meinem Kopf hat sich die Dunkelheit längst mit Farbe gefüllt. Die Fugen werden dunkelgrau und die Fließen schneeweiß. Genauso, wie ich es in Erinnerung habe.
Als ich etwas über mir summen höre, zucke ich zusammen. Dem Geräusch folgend, wandert mein Blick nach oben und ich entdecke einen glimmenden Funken, der sich im nächsten Moment flackernd zu einem kalten Neonlicht wandelt, das widerspenstig brummend einen weiß gefliesten Raum enthüllt, in dessen Mitte ich auf dem Boden sitze.
Auf dem Boden ist ein großer Fleck geronnen Blutes zu sehen und mir wird schlagartig klar, dass es sich dabei nicht um meines handelt, sondern um Amons. Dass meine Klamotten durch und durch mit seinem Blut durchdrungen sind. Sein Geruch liegt so durchdringend in der Luft, als würde er neben mir liegen, aber das tut er nicht.
An den gegenüberliegenden Wänden der winzigen Zelle sind zwei Türen eingelassen. Beide scheinen aus massivem Stahl zu sein, wobei die eine offenbar eine Schiebetür ist, über der eine kleine Lampe angebracht ist.
Das kalte Licht der vergitterten Neonröhren über meinem Kopf enthüllt nicht nur meinen derzeitigen Aufenthaltsort, sondern zeigt mir auch, dass das Blut, das meine Klamotten durchtränkt hat, längst getrocknet ist.


Ich bin gerade noch dabei meine Gedanken zu sortieren, als plötzlich das Licht über der Schiebetüre beginnt rot aufzuleuchten und ich ein Schloss klicken höre.
Ein seltsam süßlicher Geruch strömt in den Raum, gepaart mit dem metallischen Geschmack von Blut. Eine widerliche Kombination. Die Luft ist vom stechenden Duft von Blut und Tod geschwängert, eine Verbindung, die sich in die Nasenschleimhäute brennt und einen altbekannten Würgereiz in mir auslöst. Das ist der Stoff aus dem meine Albträume gemacht sind, solange ich mich erinnern kann.
Das Stöhnen, das aus dem Raum hinter der Tür zu mir dringt, gräbt sich tief in Mark und Bein.
„Bitte nicht“, flehe ich leise, obgleich mir bewusst ist, dass das Kommende unausweichlich ist. Ich bin zurück in meiner persönlichen Hölle. Eine Hölle, die mich in den Nächten stets eingeholt hat und aus der ich nie wirklich ganz flüchten konnte.
Das Kratzen von Fingernägeln auf Stahl ist zu hören. Ein schreckliches Geräusch. Dazu ein leises Röcheln, das gleichzeitig Schmerz und unbändigen Hunger auszudrücken vermag.
„Verdammt“, entkommt es mir verzweifelt, während ich versuche auf die Beine zu kommen.
Das Schaben der Nägel wird lauter, als ich mich endlich auf die Füße gekämpft habe und mich schwankend an der kühlen Wand abstütze.
Ich höre die mechanischen Teile ineinandergreifen, bevor sich die Tür in Bewegung setzt und langsam das Grauen dahinter enthüllt.
Zuerst kommt eine Hand zum Vorschein, die sich durch den Spalt, den die Tür frei gibt, quetscht. Unter ihren gelben Fingernägeln hängt getrocknetes Blut und kleine Fetzen von halb verwesendem Fleisch, das unter anderem den Grund für den bestialischen Gestank darstellen dürfte. Dann folgt der gesamte Arm durch die noch recht schmale Öffnung.
Die Haut des grazilen Frauenarms ist mit Bisswunden und tiefen Schnitten übersät, die nur teilweise von Schorf überzogen sind und noch immer ein wenig bluten. Ihr nicht vorhandener Heilungsprozess ist ein Indiz dafür, dass die praktisch vollkommen ausgeblutet sein dürfte und damit so nahe am eigenen Tod ist, dass ihr Blutdurst ihr gesamtes Denken beherrscht.
Ich starre auf den lädierten Arm, der versucht die Türe schneller zu Seite zu schieben und kann mich nicht rühren.
„Nein“, presse ich entsetzt hervor und drücke damit alles aus, was mir gerade durch den Kopf geht. Nämlich, dass das nicht sein kann. Dass ich nicht sterben will. Dass ich nicht hier, in dieser Situation sein will.
Ein zweiter, kräftigerer Arm schiebt sich ein Stück weiter oben durch den Spalt und ich stolpere einen Schritt zurück.
Ich höre ein wildes Fauchen und entdecke schließlich eine verdreckte und verwundete Katzenpfote auf dem Boden, die ebenfalls mit weit ausgefahrenen Krallen versucht mich zu erreichen. Es ist keine große Pfote, woraus ich schließe, dass sie sich sehr bald in den kleinen Raum zwängen wird.
Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sich auch schon das Tier fauchend auf mich stürzt und ihre Fänge in meiner Wade vergräbt.
Der stechende Schmerz, der mich durchzuckt, lässt mich wieder zur Besinnung kommen. Ich schreie auf und packe den gierig trinkende Vampir in Katzengestalt im Genick, um ihn von mir zu schleudern. Die Zähne, die sich tief in mein Schienbein gegraben haben, reißen ein Stück Fleisch mit sich, als ich die Katze gegen die Wand pfeffere. Ich merke, wie mir die Tränen in die Augen schießen und meine frische Wunde zu bluten beginnt. Mein Bein pocht wie verrückt, während sich die Katze, die sich in meine Wade verbissen hatte vor mir zurück in eine Frau verwandelt und mit gefletschten Fängen zu mir herüber sieht. Ihre Augen sind zu Schlitzen verformt, als sie sich aufrappelt und mit schwankenden Schritten auf mich zusteuert. Ihr dunkles Haar ist ein einziges Wirrwarr. Ihre Klamotten hängen in Fetzen von ihrem scheinbar nur aus Verletzungen bestehenden Körper und ich spüre mich selbst zusammenzucken, als ich die Wunde an ihrem Kopf entdecke, die ursprünglich mal ein Ohr sein sollte.
„Scheiße“, murmle ich entsetzt, als ich sie fauchen höre und ich plötzlich nicht nur sie auf mich zuhechten sehe, sondern auch noch drei andere, die sich soeben durch die Tür gequetscht haben.
Das Nächste, das ich spüre, ist ein brennender Schmerz, bevor ich ein gieriges Saugen am Arm , am Handgelenk, am Oberschenkel und meiner Wunde am Bein spüre.
Sie haben mich zu Boden geworfen und ihre Körper nageln mich am Boden fest, sodass ich mich nicht mehr bewegen kann, während mein Blut in ihre Kehlen rinnt.
Ich versuche die stinkenden, ausgehungerten Vampire, die mehr Ähnlichkeit mit Zombie, als mit denkenden Individuen zu tun haben scheinen von mir zu stoßen, was mir nicht gelingen mag.
Die Vampirin, die sich in meinem Handgelenk verbissen hat, gibt ein wütendes Röcheln von sich, als ich versuche meine Hand wegzuziehen.
„Zurück!“, höre ich eine herrische, aber ruhige Stimme befehlen, bevor das Saugen an meinem Oberschenkel plötzlich aufhört und ein fürchterliches Geräusch zu hören ist, das brechende Knochen machen, wenn sie mit roher Gewalt auseinander bersten.
Ein dumpf klingendes Gurgeln ist alles, was noch von den Wänden widerhallt.
„Lass mich in Ruhe!“, schreie ich verzweifelt, während jemand mir ein Stückchen rechts von dem vorherigen Biss am Oberschenkel, seine Fangzähne erneut in mich gräbt.
„Ihr habt doch vollkommen den Verstand verloren!“, höre ich die Stimme von gerade eben angewidert sagen, bevor die Vampirin, die an meinem Arm hängt hochgerissen wird und ich das erste Mal freie Sicht auf den blonden Hünen habe, der der Blutsaugerin, mit bloßen Händen das Genick bricht. Der Kerl, der keinen Meter von mir entfernt steht ist von einer Wolke abstehenden Haares umgeben, das von getrocknetem Blut und anderen Flüssigkeiten verklebt und verfilzt ist.
Ich kann ihn nur anstarren, während er sie loslässt und die Nächste von mir zieht. „Tut mir Leid für den blutigen Empfang“, meint er an mich gewandt, während er die schwer verwundete Frau, die an meinem Handgelenk hing, gegen die nächste Wand donnert. „Eigentlich wäre ich schneller hier gewesen, aber ich musste deinen Kumpel noch von ein paar hartnäckigen Vampiren befreien, die sich einfach nicht von ihm losreißen wollten.“
Er pflückt einen Kerl von mir, der kaum älter als fünfzehn aussieht und wirft ihn zur Seite. Dieser landet direkt neben der Vampirin mit dem gebrochenen Genick. Der Kleine gibt ein kurzes Fauchen von sich, bevor er sich auf die Tote stürzt und seine Zähne in ihrem Hals vergräbt.
„Zurück“, sagt er noch einmal ruhig, doch die Vampirin ohne Ohr scheint ihn nicht zu hören, während ich verzweifelt strampelnd versuche, sie von meinem Bein zu bekommen.
„Verpiss dich“, murmelt der durchtrainierte Hüne, bevor er sie mit einem Kinnhaken von mir reißt und sie zur Seite kippt.
Anstatt sich jedoch nochmal auf mich zu stürzen, robbt sie ebenfalls zu dem Vampir herüber, der dabei ist die Leiche auszusaugen. Die blonde Vampirin, die schwer verletzt an meinem Handgelenk hing, macht sich über die Leiche rechts von mir her, während ich blutend und mit ungläubigem Blick auf den großen, hellblonden Kerl starre, der mir eine Hand entgegenstreckt.
Seine roten Augen blicken mich direkt an. In ihnen liegt harter Glanz, aber sie sprechen auch von einem wachen Geist.
„Ich bin Magnus. Sieht wohl ganz so aus, als hättest du meine Warnung nicht bekommen… Na los, wir sollten dich zurück zu deinem Kumpel bringen, bevor die letzten drei verbliebenen Vampire auf die Idee kommen sich noch ein weiteres Mal auf dich zu stürzen“, redet er einfach weiter und zieht mich hoch, als sei ich nichts weiter als ein blutdurchtränkter Lappen, nachdem meine Fingerspitzen seine Handflächen erreichen.
Die kräftigen Arme packen mich grob an, werfen mich über seine Schulter und umschlingen meine Kniekehlen.
Die blonde Vampirin, die über der seltsam verdrehten Leiche kauert und in gierigen Schlucken von ihr trinkt, verfolgt Magnus und mich mit ihren zu Schlitzen verformten Augen.
„Mach die Augen zu. Es ist nichts, was man sehen sollte, wenn es sich vermeiden lässt“, meint er, als er mich aus der kleinen Zelle trägt und wir die drei schlimm zugerichteten, aber immerhin lebenden Vampire hinter uns lassen.
Ich halte den Kopf oben, entgegen seinen Vorschlag, weil ich es sehen will, sehen muss, um es zu glauben, dass ich wirklich hier bin. Gefangen. Zurück in der Hölle meiner Kindheit.
Es sind nicht so viele Leichen wie früher. Vielleicht fünfzehn oder zwanzig, die verdreht auf dem Boden liegen, die Augen ins Nichts gerichtet.
„Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier bin“, schniefe ich, während er über die leblosen Glieder einer schwarzhaarigen Frau steigt.
Meine Wunden jucken. Sie heilen. Gott sei Dank.
„Ich weiß“, antwortet er mir.
„Weißt du, ich habe Semjon immer bewundert, aber im Nachhinein würde ich alles dafür geben ein langweiliges Leben zu führen“, wispert er. „Diese Ränkespiele um Macht und Ansehen, diese Jahrhunderte alte Rivalitäten… ich bin einfach nicht für diesen Blödsinn gemacht.“ Seine Stimme hört sich plötzlich alles andere als ruhig an.
Ich schließe die Augen, weil das kalte Neonlicht über meinem Kopf sich in meine Netzhaut brennt und beginnt einen wilden Reigen zu tanzen. „Ich glaube mir wird übel.“
Der Gestank dreht mir den Magen um, als Magnus mich auf dem Boden abstellt. Ich muss an mich halten, um ihm nicht direkt vor die Füße zu kotzen.
„Welche Ränkespiele?“, würge ich trocken und höre mich dabei an wie eine Katze die dabei ist ein Fellknäuel herauszuwürgen.
„Ich wusste immer, dass meine Familie ein paar dreckige Geheimnisse verbirgt, an denen ich keinen Anteil haben wollte. Doch als ich vor ein paar Wochen herausfand, was meine Adoptivmutter Eudoxia so alles verbirgt, war es zu spät. Ihre Männer haben mich beim Lauschen erwischt. Ich konnte gerade noch Michael losschicken, dir meine Warnung zukommen zu lassen. Doch offenbar war es zu spät“, erklärt er mir und hält mich davon ab, zu Boden zu sinken. „Geht´s wieder?“
Ich antworte ihm, indem ich mein Abendessen vor ihm auf den Fliesen verteile.
„Hm…scheinbar wohl nicht“, räuspert sich Magnus, während ich mir vorn über gebeugt, mit dem Handrücken über den Mund fahre.
Mich auf meine Manieren besinnend, presse ich ein „Entschuldige“ hervor.
„Schon gut. Das hier dreht jedem den Magen um.“
„Ich dachte einfach nicht, dass ich je wieder an diesem Ort landen würde. Es ist so-“
„Menschenverachtend“, beendet eine andere Stimme meinen Satz, spröde und heiser.
Ich zucke zusammen, bevor ich den verwilderten Mann entdecke, der da hinter mir an der Wand kauert. Der lange ungepflegte Bart ist von Blut verklebt, genau wie die heillos verfilzten Haare. Doch das Schlimmste an seiner Erscheinung ist weder der offene Bruch an seinem Oberschenkel, noch die übel aussehende Kopfwunde oder gar die vor Dreck starrenden Klamotten, die nur noch spärlich seinen Körper bedecken, es ist sein getriebener, unruhiger Blick, der mich Schaudern lässt und mich dazu bringt meine Nägel unwillkürlich in Magnus Arm zu krallen.
„Amon?“, quetsche ich hervor. „Bist du Amon?“
Er erwidert nichts. Tatsächlich sieht er nicht mal zu mir, als ich ihn anspreche. Stattdessen gleiten seine Augen über die Decke, doch sein mir so vertrauter Geruch beantwortet mir meine Frage von selbst.
„Du hättest nicht raus gehen dürfen. Semjon sagte, ich sollte dich nicht aus den Augen lassen“, murmelt er.
Er zieht das unlädierte Knie näher an seinen großen Körper und schließt die Augenlieder. „Wie immer habe ich es versaut“, wispert er tonlos.
Ich versuche mich zusammenzureißen, doch die Übelkeit, die mich befallen hat, will nicht schwinden. „Nein. Ich bin schuld an unserer Situation. Ich war wütend auf Semjon. Du hast nur versucht-“
„Du solltest die Letzten auch noch umbringen Magnus. Sie werden nur leiden“, unterbricht Amon mich da auch schon, in meiner Rechtfertigung. „Eigentlich sollten wir uns alle umbringen. Alles ist besser als hier festzusitzen und darauf zu warten vor Hunger wahnsinnig zu werden“, schlägt er deprimiert vor.
„Sorry Kumpel, aber ich für meinen Teil glaube an Happy Ends. Also kein dramatischer Gruppenselbstmord. Stattdessen würde ich vorschlagen du hältst einfach den Mund, bis du einen Vorschlag machen kannst, wie wir hier raus kommen!“, faucht Magnus da auch schon.
Amon wirft ihm einen kurzen Blick zu, bevor er den Kopf schüttelt, ganz so, als hätte nicht er, sondern Magnus vollkommen den Verstand verloren.
„Ich will auch hier raus“, entkommt es mir frustriert . „Aber ich fürchte es gibt keinen Weg aus diesem Loch.“
Magnus schiebt mich unbarmherzig in Richtung Amon.
„Das glaube ich nicht. Es gibt immer einen Weg. Aber ich verstehe einfach nicht, was das soll. Ich bin jetzt schon eine ganze Weile hier. Wenn sie nur Angst haben, dass ich etwas verraten könnte, weshalb haben sie mich nicht einfach erschossen oder sonst irgendwie gemeuchelt? Die Einzige, deren Entführung halbwegs Sinn ergibt, bist du.“
„Es ergibt Sinn, dass ich hier bin? Wo ergibt das bitte einen Sinn?“, will ich verdattert wissen und reiße mich von ihm los. „Ich habe niemandem etwas getan!“
„Nein, das hast du nicht. Das habe ich auch nie gesagt“, schnaubt Pius Adoptivsohn entnervt.
„Was willst du mir dann erklären? Und was, was hat deine Adoptivmutter mit unserer Entführung zu tun?“
Magnus rauft sich die verdreckten Haare. „Es ist eine Familienangelegenheit.“
„Ist es das nicht immer?“ Amon hört sich trotzig an, obgleich seine Stimmbänder scheinbar mit einem Reibeisen bearbeitet wurden.
Magnus dunkelrote Augen gleiten von mir zu Amon und wieder zurück. „Ich kann euch nur die Geschichte bieten, die ich mir selbst von meinem Gehörten zusammengereimt habe.“
Ich merke, wie ich schlucke. „Erzähl.“
„Miras Mutter Eudoxia, meine Stiefmutter… sie ist Abenezers Schwester. Die Schwester des Mannes, der einst die siebenundzwanzigste Abteilung geleitet hat. Und der dich jetzt schon zum zweiten Mal entführt hat.“
„Christobal sagte, dass Abenezer tot ist“, werfe ich ein.
„Das dachten wir alle. Doch da ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe, darf ich dir versichern, dass er lebt…jedenfalls bist du Marlen, Semjons Lockvogel.“
„Und dann darf ich dir verraten, dass Semjon sich einen feuchten Dreck um mich schert. Ihr Plan wird also nicht aufgehen.“
„Meine Stiefmutter schien das etwas anders zu sehen. Ich bin deshalb hier, weil ich sie dabei belauscht habe, wie sie das gesagt hat, weißt du“, sagt Magnus zähne knirschend.
„Ja, aber warum ich? Wieso immer ich?“, flüstere ich und merke, wie meine Knie drohen unter meinem Gewicht nachzugeben.


Die Lampe über der Tür springt wieder an. Ihr hektisches Blinken wird von einer Sirene begleitet, die Magnus ein verdutztes „Was zum Teufel?“ entlockt, dass aber in ohrenbetäubenden Lärm ertränkt wird.
Geschrei ist zu hören. Es dröhnt von überall her und ich stoße an Magnus Schulter, als ich panisch einen Schritt zurücktaumle.
Ich zucke erschrocken zusammen, als drei Schüsse kurz nacheinander durch die Luft zischen. Und ich nehme am Rande war, wie Magnus mich hinter seinen Rücken schiebt.

Zuerst ist eine Wolke Laserpunkte auf den Fliesen zu sehen, die über die am Boden liegenden Leichen gleiten, bevor eine ganze Horde schwarz gekleideter Leute in den Keller strömt.
„Keine Bewegung!“, brüllt da auch schon jemand und ich sehe die Punkte, die bis eben noch ziellos über die Fliesen geglitten sind auf meiner Stirn landen, weil die hinter seiner Schulter hervor lugt.
„Hände hoch!“, brüllt der Gleiche, der eben schon gesprochen hat.
„Hände hinter den Kopf!“, schreit ein Anderer. Ich sehe Magnus massigen Armen dabei zu, wie sie sich hinter seinem Kopf verschränken.
„Setz dich zu dem anderen!“, brüllt der Kerl und bedeutet Magnus mit der Waffe, dass er sich von der Stelle bewegen soll, was er nach einem langen Blick in meine Richtung auch tut.
„Die Frau kommt zu uns.“
Ich starre auf den Lauf, der schwarzen Waffe und überlege kurz, ob es nicht klüger wäre einfach nicht zu gehorchen und dem hier ein Ende zu setzen.
„Beweg dich!“, werde ich angeschrien und setze mich mit dem Gedanken, dass es Wina, meine liebe Adoptivmutter umbringen würde, wenn ich den Löffel abgäbe, in Bewegung.
Bevor ich weiß, wie mir geschieht, werde ich auf die Knie gezwungen und der Kerl, der mich angeschrien hat, legt mir recht grob Handschellen an, die er so eng einstellt, dass sie mir in die Handgelenke schneiden.
„Zeit schlafen zu gehen“, murmelt ein anderer und rammt mit eine Spritze in so ungekonnten, seltsam stumpfen Winkel in den Hals, dass ich glaube, er hat die Nadel bis in meine Wirbelsäule gerammt.
Was immer er mir spritzt, es ist viel. Die Flüssigkeit drückt unangenehm in meinem Gewebe. Vor allem aber hat er wohl die Kanüle der Spritze abgebrochen, denn als er längst von mir abgelassen hat, bleibt der stechende Schmerz, der zu tief gestochenen Nadel erhalten, ganz anders als bei meinen Bisswunden, die längst zu heilen begonnen haben.
Gerade als ich sie fragen will, was sie von mir wollen, verschwimmt meine Sicht und meine Glieder werden langsam taub.
„War vielleicht ein bisschen viel von dem Zeug“, höre ich den sagen, der die Spritze gesetzt hat.
„Besser zu viel, als zu wenig. Wenn sie uns abhaut, bringt Abenezer uns um. Er ist sowieso schon schlecht gelaunt, weil seine Schwester sie in ihrem Eifer hier runter gebracht hat, wo er uns doch angewiesen hat, sie zu ihm zu bringen.“
„Ich finde sie sollte einfach hier bleiben. Sie tut doch niemandem etwas. Semjon wird schon kommen“, redet wieder der Spritzenmann.
„Du solltest jetzt lieber den Mund halten, Greg“, ist das Letzte, das ich höre, bevor ich erneut das Bewusstsein verliere.


Der schwarze Baldachin des Bettes ist lässt mich für einen kurzen Moment glauben, ich sei schon wieder in allumfassender Dunkelheit gefangen, doch der helle Feuerschein, den ich im Augenwinkel entdecke lässt mich schnell erkennen, dass ich nicht mehr länger im gefliesten Keller bin.
Stattdessen liege ich auf einem monströsen Bett, an dessen mit Stahl verstärkten Bettpfosten ich mit meiner Handschelle gekettet bin. Benommen drehe ich den Kopf. Dabei durchzuckt mich erneut ein stechender Schmerz.
„Was zur Hölle?“, entkommt es mir und ich greife mir mit der nicht gefesselten linken Hand an meinen Hals, nur um meinen Finger an etwas Scharfem aufzukratzen. „Au.“
Ich taste noch einmal über die Stelle, diesmal etwas vorsichtiger und finde zu meiner Verwunderung tatsächlich die verbogene, spitze Nadel der Spritze in meinem Fleisch stecken. Ich ziehe die Kanüle, die mich so piesackt schließlich heraus und drehe sie gedankenverloren zwischen den Fingerspitzen, während mein Blick durch den halbdunklen Raum gleitet.
Das prasselnde Feuer enthüllt ein prunkvolles Schlafzimmer mit deckenhohen Bücherregalen, alten Sitzmöbeln, deren Ledergeruch meine Nase kitzelt und dem Bett, auf dem ich liege, dessen Schnitzereien am Kopfende mit reichlich Blattgold und Elfenbein verziert sind und vollkommen überladen wirken.
Der ganze Raum scheint aus einem längst vergangenen Jahrhundert zu stammen. Alles hier wirkt wie die Ausstattung eines alten Jagdschlosses, angefangen von dem dunkelgrünen Porter´s Chair bis zu den abgebildeten Jagdszenen, die an den wenigen freien Stellen an den Wänden hängen. Nichts spricht hier drin davon, dass wir im Zeitalter der Computer leben.
Meine Gedanken fangen an zu rasen und ich zerre an den Handschellen, in der Hoffnung sie oder das Bett würden nachgeben, bevor es mein Handgelenk tut. Eine trügerische Hoffnung, die sich leider nicht bestätigt. Auch nicht, als ich noch einmal energisch daran rüttle.
„Au!“, heule ich schließlich auf und pieke mir dabei ausversehen in die Finger mit der abgebrochenen Spritzenspitze. Ich starre auf meine Hand, die schon wieder von der Nadel malträtiert wurde und will das Ding gerade wegwerfen, als es mich siedend heiß die Erkenntnis überkommt, dass ich damit meine Handschellen aufkriegen könnte.
Mit zitternden Fingern fädle ich also die leicht verbogene Kanüle in das Schloss und versuche blind stochernd die Handschellen aufzubekommen. Ich war nie sonderlich talentiert in Sachen Technik. Sicher würde Devon das Ding in weniger als zehn Sekunden aufkriegen, doch ich habe keine Ahnung, ob ich es überhaupt schaffen kann.
„Verflucht!“, wispere ich panisch, als ich schwere Schritte vor der Tür höre. Gerade als ich schon aufgeben will und die kurze Nadel herausziehen will, höre ich das Schloss klicken und erstarre.
Hat es wirklich funktioniert?
Als die Zahnraste auseinander gleitet, stiehlt sich mir ein Lächeln auf die Lippen, das allerdings sofort erstirbt, als ich das Tür gehen höre. Ich schaffe es gerade noch die Kanüle neben das Bett zu werfen, bevor ich im Angesicht des blonden Mannes erstarre.

Er ist nicht übermäßig groß, aber trainiert. Nichts Besonderes. Alles an ihm scheint durchschnittlich zu sein, von den aschblonden Haaren bis zu dem gutsitzenden Anzug. Alles, bis auf seine Augen. Sie sind die eines erschreckenden Monsters. Bösartig und durchtrieben. Die stecknadelgroßen Pupillen sind von einer so hellblauen Iris umgeben, dass sie beinahe weiß erscheinen.
„Guten Abend, Marlen. Was für eine Freude dich wohl auf zu sehen.“
Da ist kein Spott in seinen Worten, aber das unheimliche kalte Glimmen in seinen Augen ist viel schlimmer als es jeder Hohn sein könnte.
„Hübsch bist du geworden... ich wusste schon damals, als ich dich sah, dass du irgendwann einmal die Männer um den Verstand bringen wirst.“
Mich durchläuft ein Schaudern, als seine Augen viel zu langsam über meinen Körper gleiten. „Oh, hab keine Angst. Ich werde dir nicht weh tun. Das gehört nicht zum Plan.“
Ich glaube ihm kein Wort.
Seine Pupillen bohren sich in meine und er beginnt zu grinsen „ …Als ich dich aussuchte, da wusste ich, dass Semjon sich irgendwann heillos in dich verlieben würde. Es sind deine Augen. Ein ganzer Ozean, indem so viel Leben tobt, dass selbst die Ewigkeit dafür nicht ausreicht.“
„Lassen sie mich gehen?“, frage ich in einem Anflug von Hoffnung.
Er lacht auf und es hört sich an, als würde jemand Eiszapfen als Xylophon benutzen. „Oh Marlen. Du bist mein Köder. Wieso sollte ich dich laufen lassen? Über ein Jahrhundert habe ich auf diesen Tag gewartet, an dem ich Semjon Cooper auf den Knien sehen würde. Ich werde mit dem Inhalt seines durchtriebenen Köpfchens die Wände streichen. Und das alles wirst du mir ermöglichen.“
„Aber wieso?“, frage ich entsetzt.
„Wieso? Bei allen Göttern der Nyx! Hat dir denn niemand etwas über mich erzählt?“, er sieht so erbost aus, dass ich Angst habe, dass er sich gleich auf mich stürzt.
Ich beeile mich den Kopf zu schütteln. „Christobal sagte nur, Sie seien tot.“
Er lässt ein Glucksen hören. „Es ist ganz erstaunlich wie viele Gliedmaßen verlieren kann ohne zu sterben. Ich wusste nicht, dass Semjon mir das tatsächlich abgekauft hat. Schätze das abgetrennte Bein war ganz eindrucksvoll.“
Seine Pupillen gleiten über mein zerfetztes Wickeltop. „Es ist wirklich eine Schande, dass du nicht weißt, weshalb ich diesen ganzen Aufwand betreibe. Aber das können wir ja ändern, nicht wahr?“
Eine Hand gleitet zu den Knöpfen seines Jacketts, die er mit flinken Fingern aufknöpft.
„Weißt du, ich dachte eigentlich, Semjon hätte dir aus seiner Vergangenheit erzählt. Wie er zu seinem Job kam. Zu meinem Job“, fängt Abenezer an zu erzählen, während er sich die Anzugjacke von den Schultern streift und auf die Lehne des Sofas wirft.
„Dass er mich hintergangen hat. Dass er mich aus dem Amt gehebelt hat mit seiner lächerlichen Idee von Fortschritt… dass er mit seiner arroganten Art unsere Traditionen mit Füßen getreten hat, genau wie sein Vater vor ihm. …Plötzlich redeten alle davon ihre Bastarde in die Erbfolge einzugliedern. Sie zu legitimieren und schlimmer noch, den Abschaum der Arbeiterklasse in höhere Positionen bringen zu wollen. Der Ältestenrat, der im Hintergrund der Dunklen die Fäden zieht, hat sich beinahe einen runtergeholt bei seinem Vorschlag…. Niemals wurde ich so schäbig von einem meiner Kampfhunde hintergangen, wie von ihm. Ich habe ihm alles beigebracht! Er war wie ein Sohn für mich!... Ich hätte ihn niemals bei uns aufnehmen dürfen! Ich hätte wissen müssen, dass sein Vater ihm diese unmöglichen Ideen in den Kopf gesetzt hat, dass jeder gleich ist, obgleich der Herkunft. Schon seine unangemessene Freundschaft zu Pius Bastard, hätte mich misstrauisch machen müssen. Kannst du dir vorstellen, was das für eine Schmach war? Abgewählt. Und mein Nachfolger für die Öffentlichkeit sollte nicht einmal ein Mann von Herkunft werden, sondern Christobal. Christobal, der unter meiner Herrschaft nicht einmal einen Job bei uns bekommen hätte! Es solle ein Zeichen setzten, hat Semjon gesagt!“, redet er sich in Rage und hört sich dabei ganz wie ein Verrückter an.
Obgleich meiner derzeitigen Situation, stelle ich fest, dass ich stolz auf Semjon bin. Auch wenn ich zur Zeit nicht gut auf ihn zu sprechen bin, so hat er zumindest Respekt dafür verdient, diesen Deppen aus dem Amt gekegelt zu haben.
Abenezer löst seine Manschettenknöpfe und legt sie auf den kleinen Beistelltisch neben dem Sofa.
„Und wäre das alles nicht genug, verschmäht er nun auch noch meine Nichte! Aber das zumindest, weißt du glaube ich“, brabbelt er weiter und mit Entsetzen kapiere ich ganz unvermittelt, dass er es sich nicht einfach nur ein wenig bequemer machen möchte, sondern dass er auf dem besten Weg ist, sich vollständig zu entblättern.
„Weißt du, ich habe meine Rache geplant. Und jedes Mal bin ich an dieser einen Sache gescheitert. Nämlich, dass Ezras Sohn nichts wirklich wichtig ist. Selbst für seinen besten Freund, würde er sich nicht kopflos in Lebensgefahr begeben. Es gab einfach niemanden für den er sich genug interessierte, als dass er damit zu ködern gewesen wäre. Er ist ein harter Hund. Und so musste ich selbst Schicksal spielen… Ich wusste, ich musste ihm etwas wirklich Furchtbares vorsetzen, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Etwas so Abstruses, Menschenverachtendes, dass es ihn wahnsinnig machen würde, nur darüber nachzudenken. Und ich schätze, das habe ich, denn du hättest ihn sehen sollen, als er dich gefunden hat. So glücklich, wenigstens ein kleines Mädchen zu retten…er wollte dich gar nicht mehr aus seiner Obhut geben! Ich liebe es einfach, wenn Pläne funktionieren“, lacht er freudlos.
„Sie hatten schon immer geplant mich als Köder zu benutzen?“, frage ich angewidert, während er seine unbehaarte, milchig weiße Brust entblößt.
„Ja“, antwortet er mir ruhig und löst den hellbraunen Ledergürtel, der seine Hose an Ort und Stelle hält. „Aber wie es eben mit komplizierten Plänen ist, ist man doch auf etwas Glück angewiesen bei ihrer Ausführung. Und wie es scheint, hatte ich mehr als Glück, als ich es in den kühnsten Träumen erhofft hatte. Er wird sich für dich opfern! Und ich werde ihn lassen! Allerdings werde ich vorher noch dafür Sorgen, dass du ein nettes Andenken an mich behältst. Wir wollen doch allen zeigen, wie wundervoll ein Bastard sein kann, nicht wahr? ... Ich denke, das wird jeden lehren nochmal über ihren sogenannten Fortschritt nachzudenken!“
„Sie sind total verrückt“, entkommt es mir angewidert.
Abenezer, der zum Bett hinüber geschlendert ist, fährt sich über den akkurat gestutzten Bart. „Oh ich denke nicht…aber du hättest dich ruhig etwas hübscher für mich machen können“, murmelt er, als er sich auf die Matratze gleiten lässt, während ich mich selbst ermahne ruhig zu bleiben.
„Keine Lust dich zu wehren? So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt“, murmelt er und leckt sich über die blassen Lippen, als er sich über mich beugt.
„Wieso sollte ich mich wehren? Es wird dadurch nur schlimmer, oder?“, raune ich gespielt unterwürfig. Meine Hand, um die die Handschelle befestigt ist, zuckt unruhig, doch ich schaffe es, ihm ein verzweifeltes Lächeln zu schenken.
Devon hat mir irgendwann einmal beigebracht, dass man das Überraschungsmoment nutzen sollte, wenn man es mit einem stärkeren Gegner zu tun hat, den man sonst nicht direkt besiegen kann.
„Das wird dir auch nicht helfen, mein Herz“, meint Abenezer abfällig und streicht besitzergreifend über meine Brüste, bevor er seine Hand nach unten wandern lässt und seine Pupillen ihr folgen.
Ich sehe die Chance so deutlich vor mir, dass ich nicht zögere. Bevor er mich aufhalten kann, habe ich die Handschelle aufgezogen und umklammert. Und dann, zielstrebiger, als ich es für möglich gehalten habe, ramme ich ihm die Zahnraste direkt ins linke Auge.
Das Gefühl, als ich das Metallstück in den Augapfel ramme, ist ekelhaft.
Sein Aufschrei halt in meinen Ohren wieder, während ich noch über mich selbst entsetzt bin.
„Du verfluchte Hure!“, brüllt er und ich springe auf, bevor er nach mir greifen kann. Ich bin schon halb durch den Raum geeilt, als die Tür aufspringt und zwei in schwarz gekleidete Männer hereinstürzen, beide ihre Waffen im Anschlag.
„Nicht schießen! Wir brauchen sie lebend“, brüllt Abenezer hinter mir.
Die Beiden sehen von mir zu ihrem Boss und starren mich unverhohlener Abscheu an und gerade als sie die Waffe sinken lassen und auf mich zu gehen wollen, löse ich mich wieder aus meiner Starre.
Ich bin schnell.
War ich schon immer.
Ich ducke mich unter den nach mir greifen wollenden Armen weg und mache einen Satz zwischen den Beiden hindurch zur Tür, die noch immer offen steht.
„Worauf wartet ihr Idioten! Schnappt sie euch! Semjon ist schon auf dem Weg zur Übergabe!“, höre ich Abenezer brüllen und renne los.

Der Gang, durch den ich hetzte, ist genauso weiß gefliest wie der Keller, in den sie mich zuerst gesteckt hatten und mir wird nach drei kopflosen Abbiegemanövern klar, dass das hier unten ein einziges Labyrinth ist, aus dem ich den Ausweg nicht kenne.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 27

 



Ich jage durch die endlosen Gänge, auf der Flucht vor den schwarzgekleideten Männern, die Abenezer hinter mir her geschickt hat. Wildes Geschrei ist zu hören. Meine Schritte hallen in den engen, gefliesten Gang wieder und weil ich keine Ahnung habe, wo ich eigentlich hinlaufen soll und keinen noch so kleiner Lufthauch zu spüren ist, folge ich dem Geruch des Todes.
Immer tiefer in die weiße Welt der Fliesen.
Mittlerweile ist das Geschrei leiser geworden, doch der Gestank wird immer Schlimmer, sodass ich mir ziemlich sicher bin Magnus und auch Amons Aufenthaltsort näher zu kommen. Um die nächste Ecke schlitternd, trifft mich der süßliche Leichengeruch, der so brechreizerregend in der still stehenden Luft wabert, mit voller Wucht. Es stinkt bestialisch. Ganz so, als würde ich direkt zwischen den toten Körpern umherwandern. Ich entdecke eine einsame Stahltüre, die mit vier massiven Riegeln verschlossen ist und bin mir sicher, die Richtige gefunden zu haben. Hektisch öffne ich die Schlösser und stemme die massive Stahlkonstruktion auf.
„Amon? Magnus!“, rufe ich gehetzt und erwarte eigentlich, sie irgendwo am Boden liegen zu sehen. Beide mit einem Kopfschuss niedergestreckt. Doch zu meiner grenzenlosen Erleichterung kommt Amon mir humpelnd entgegen gestürzt, kaum dass ich das Tor zur Hölle erneut aufgestoßen habe.
„Marlen?“, krächzt er mit seiner eingerosteten Stimme ungläubig.
„Hey“, stoße ich erleichtert aus und falle ihm um den Hals, was ihn dazu bringt zusammenzuzucken.
Magnus taucht hinter ihm in der Türöffnung auf und ich kann dabei zusehen, wie sich sein Gesicht erhellt. „Wie bist du her gekommen? Geht es dir g-“
„Wir müssen hier raus. Wir müssen Semjon warnen. Abenezer will ihn umbringen, wenn er versucht mich zu retten und er scheint schon auf dem Weg zu sein“, informiere ich sie und unterbreche damit Magnus höfliche Frage ernst.
Magnus Augen weiten sich. „Dann sollten wir uns wohl beeilen. Hast du eine Ahnung wie wir hier raus kommen sollen?“
„Wir werden sehen. Los jetzt!“, drängle ich die Beiden und schlinge einen Arm um Amons Rücken, um ihm beim Gehen zu helfen, da der offene Bruch, den er sich bei meiner Rettungsaktion vom Lieferwagen zugezogen hat noch immer nicht verheilt ist.
Magnus beobachtet uns eine Weile. Dann dreht er plötzlich seinen Schopf und eilt nach draußen.
Ich höre ihn fluchen, bevor er ein dumpfes Rumsen zu hören ist. „Alles klar! Kommt raus, der erste der Wachleute ist erledigt“, sagt er da auch schon und ich reiße erschrocken die Augen auf, als ich den Kerl am Boden entdecke.
Und Magnus, der über dem schwarz gekleideten Mann kniet, durchsucht offenbar dessen Taschen.
Offenbar ist Pius Adoptivsohn nicht die schlechteste Wahl, wenn es darum geht zu flüchten. Er scheint mit seinen bloßen Händen mehr als fähig zu sein, sich seinen Weg freizukämpfen.
„Du kannst mit einer Waffe umgehen, oder Amon?“, will er von meinem früheren Lieblingsvampirhund wissen und hält ihm den schwarzen Griff einer Glock 23 entgegen, ohne aufzusehen.
„Jepp“, antwortet Amon ihm beinahe begeistert und nimmt sie ihm aus der Hand.
„Magnus, was treibst du da?“, will ich drängelnd wissen, weil ich endlich weiter will und der blonde Hüne noch immer die Wache durchsucht.
„Ich suche- das!“
Magnus hält triumphierend ein zusammengefaltetes Stück Papier nach oben.
„Ist das, das für das ich es halte?“, frage ich ungläubig und merke, wie mich ein Hoffnungsschimmer durchzuckt.
„Es ist ein Lageplan“, bestätigt Magnus meine Vermutung. Ich will ihn gerade fragen, ob er irgendeine Ahnung hat, wo wir stecken, als Amon plötzlich den Lauf der Pistole hebt.
„Wo auch immer wir hingehen. Wir sollten uns beeilen. Da kommen mindestens drei Mann den Gang entlang.“
Magnus, der den Plan entfaltet ihn, starrt eine Weile darauf, bevor er sich umsieht und grinst. „Mir nach! Gleich um die Ecke ist ein alter Lüftungsschacht. Der sieht so aus, als könnte man durch passen.
„Bist du dir sicher? Hier drin weht doch kein Lüftchen“, frage ich ungläubig.
„Ziemlich sicher.“
„Hört sich nach einem lohnenswerten Versuch an. Wir sollten es probieren. Und zwar jetzt gleich“, gängelt mich Amon.
„Sehe ich genauso!“, bestätigt Magnus und kommt zu uns rüber. „Beiß die Zähne zusammen Kumpel.“
Ich will ihn schon fragen, was er vorhat, als er Amon auf seinen Rücken hievt. „Geh voraus, zweimal nach links!“, presst er an mich gewandt hervor, während Amon ein schmerzverzerrtes Stöhnen von sich gibt. Ich hätte Magnus nicht für einen Teamplayer gehalten. Ehrlich gesagt, hätte ich gedacht, er stürmt ohne uns noch eines Blickes zu würdigen davon. Doch das tut er nicht. Er folgt mir mit einigem Abstand, mit dem verletzten Amon auf dem Rücken.
Und zu meiner grenzenlosen Begeisterung soll Magnus tatsächlich recht behalten. In der rechten Seite der Wand sind knapp einem Meter über dem Boden, große Lüftungsschlitze zu sehen, deren Material sich als Plastik heraus stellt, nachdem ich energisch dagegen getreten habe. Ich reiße die Verkleidung herunter und starre einem recht großen runden Tunnel entgegen.
Hinter mir sind Schreie zu hören, Schüsse und dann hechtet auch endlich Magnus um die Ecke, mit Amon noch immer auf dem Rücken. Ich springe mit dem Kopf voraus in den Lüftungsschacht und krabbele so schnell mich meine Knie tragen können weiter in den Schacht. Es wird zunehmend dunkler und enger, doch ich robbe weiter voran.
Mittlerweile ist es so finster, dass ich Hand vor Augen nicht mehr sehen kann und ich schreie erschrocken auf, als ich gegen mit der Stirn gegen etwas eiskaltes und sehr hartes knalle.
„Au!“, heule ich auf und will Magnus schon zurufen, dass es eine Sackgasse ist, als ich mit den Fingern das harte etwas, gegen das ich gestoßen bin, abtaste. Es ist ein kleine, runde Eisenstange, die in etwas kühles, raues eingelassen ist.
Ich taste weiter und entdecke direkt darüber noch eine weitere dieser Stangen und darüber noch eine. Ich strecke mich weiter nach oben und kann nicht glauben, was ich da ertaste. Da ist noch eine! Ich weiß was das ist!
„Jungs, hier ist eine Leiter!“, entkommt es mir und ich höre meine eigene Stimme von den Wänden wiederhallen, während ich auf die Füße komme und beginne die Stufen nach oben zu klettern.
Ich höre mein Blut in meinen Adern rasen und spüre meine Nerven flattern, während ich es hinter mir ebenfalls aufhissen höre. Offenbar hat auch Magnus Bekanntschaft mit dem Eisengestänge gemacht.
Die Stufen immer schneller nehmend, knalle ich ein zweites Mal, diesmal mit der Schädeldecke, hart gegen eine Eisenstange. Diesmal ist es allerdings keine weitere Leitersprossen, sondern ein Drehkreuz, dessen Verschluss offensichtlich klemmt. Zumindest lässt es sich nicht öffnen. Gerade will ich Magnus entsetzt darüber informieren, als mir einfällt, dass ich es noch nicht gegen den Uhrzeigersinn versucht habe Und es funktioniert!
Mir fällt eine Handvoll Schnee entgegen, als ich die Luke aufstemme und der Schwall Frischluft, der meine Nase von dem Verwesungsgeruch befreit, lässt mich hoffen, was ich nicht zu hoffen wagte. Dass ich es tatsächlich raus geschafft habe.
Ich linse kritisch in die Schneegeschwängerte Nacht, über die hohe Schneewehe hinweg, die sich vor der verschließbaren Falltüre angesammelt hat.
Scheint so, als seien wir auf einer Lichtung inmitten des endlosen Dschungels der Taiga. Das Mondlicht wirft einen gespenstischen Schein auf die verschneite Landschaft, die viel zu still daliegt.
Ich entdecke niemanden zwischen den hohen Nadelbäumen, die dicht um die Lichtung stehen und krieche schließlich aus dem dunklen Lüftungsloch.
Die kalten Flocken, die mir von oben ins Gesicht wehen und der tiefe Neuschnee in dem meine Hände versinken, bitzeln angenehm auf meiner Haut, als ich mich aufrapple. Gerade rechtzeitig, um Magnus hinter mir aus dem Loch kriechen zu sehen und nach ihm Amon.
„Wo sind wir?“, frage ich die Beiden, während ich mich einmal um die eigene Achse drehe.
Amon kommt ebenfalls auf die Füße und starrt in den Himmel. „Ungefähr hundert Kilometer östlich von Helsinki, schätze ich“, murmelt er leise.
Magnus sieht ebenfalls nach oben, nachdem er die Luke geschlossen hat und sich daraufstellt. „Egal wo wir sind, wir sollten dringend verschwinden. Es kann nicht lange dauern und unsere Verfolger sind hier.“
Amon sieht vom Sternenhimmel zu mir. Er streckt die Nase in den Wind und schließt die Augen. Ich kann ihm dabei zusehen, wie sich seine Nasenlöcher weiten. „Riecht ihr das? Ich weiß wo wir sind.“
Alles was ich wahrnehme ist das fehlen, des Übelkeit verursachenden Gestanks.
„Zedernholz. Ein ganzer Wald voller Zedern.“
„Es sind Fichten“, meine ich verständnislos, als ich mich umsehe.
„Ja. Um uns herum. Aber dahinter fängt der große Zedernwald an. Und es gibt nur einen einzigen Zedernwald von solcher Größe in Skandinavien.“
Magnus und ich werfen uns einen verständnislosen Blick zu. Amon packt mich grob an den Schultern. „ Lenny, hör mir zu. Ich werde länger brauchen, als ihr Beide. Ich habe euch schon lange genug aufgehalten. Ich will, dass du dich in Sicherheit bringst. Lauf. Lauf so schnell du kannst. Halt nicht an und meide alle befahrenen Straßen. Und ich will, dass du nicht anhältst, egal was du hörst oder siehst. Lauf immer nach Osten. Du kennst dich mittlerweile aus in Helsinki. Ich will, dass du Nikita nach Hause gehst. Neben seiner Wohnung ist ein Club. Das Devil´s Ground. Ich will dass du dorthin gehst. Es ist einer der Eingänge zu unserem Hauptquartier. Da hängt immer jemand der Siebundzwanzigsten ab. Im Zweifelsfall, frag eines der Mädchen ob du ihr Telefon benutzen kannst! Und dann sagst du einen von ihnen, dass sie das alte Saxton Manor aufsuchen sollen.“
„Amon-“, fange ich verdattert an.
„Spiel hier nicht den Helden“, schnappt Magnus. „Wieso halten mich eigentlich immer alle, für ein selbstgerechtes Arschloch, das irgendjemanden zurück lässt?“, fragt er entnervt und greift nach Amons Arm.
„Ja“, bestätige ich Magnus Aussage. „ Sei nicht blöd, Amon.“
Magus wirft mir einen langen Blick zu. „Lauf endlich los! Wir müssen nicht alle drei langsam machen. Ich bin der Stärkste von uns. Ich kümmere mich um Amon. Und du, du solltest dich beeilen. Sofern ich mich erinnere, meintest du, du hättest jemanden zu warnen!“
Ich starre die Beiden an.
„Los jetzt Lenny, wir kommen klar!“, drängt Amon und ich sehe die Beiden ungläubig an.
„Mach!“, schreit Magnus, als die Luke unter seinen Füßen anfängt sich zu bewegen.


Ich tue wie mir geheißen wurde, nachdem Amon mir einen gängelnden Blick zuwirft. „Die Richtung, Lenny“
Meine Füße versinken im tiefen Neuschnee, als ich über die kleine Lichtung eile. Ich stolpere über einen Ast am Boden und schaffe es nur mit Glück auf den Beinen zu bleiben.
Meine Bewegungen sind recht eingerostet, zumindest kommt es mir so vor, als ich zwischen den dicht stehenden Bäumen abtauche. Die Schneedecke im Wald ist nur wenige Zentimeter tief und man kann die Unebenheiten im Boden gut erkennen, obgleich das strähnige Mondlicht hier unter dem Dach aus Nadeln sehr schwach ist.
Die Geräusche meiner Schritte werden vom Schnee verschluckt, während sich ich mich unter ein paar tief hängenden Ästen hinweg ducke und versuche schneller zu machen.
Meine Panik, die mich bis jetzt ergriffen hatte, weil ich Angst um mein Leben hatte, löst sich mit jedem weiteren Schritt. Sie wird von einer weit stärker vorantreibenden Kraft abgelöst. Der Angst zu spät zu kommen. Zu spät um Semjon zu warnen. Zu spät um Amon zu retten. Und Magnus.
Ich sauge rasselnd die klirrend kalte Nachtluft ein, auf der Suche nach Hinweisen auf eventuelle Verfolger, doch da ist nichts. Nichts weiter, als klare Luft und allumfassende Stille. Und der schwache Duft von Zedernholz. Amon hat recht. Meine Füße tragen mich durch einen lichten Zedernwald. Entgegen der weitläufigen Meinung, duften Zedern fast gar nicht. Aber sie sich wunderschön, stelle ich bewundernd fest, während ich unter ihrem weiten, schneedeckten Ästen weiter renne.
Meine Stiefel überqueren ein gefrorenes Moor, überwinden ein kleines Flüsschen, das über den Waldboden kriecht.
Wenn Abenezer recht hat, und Semjon mich retten will, dann ist muss ich mich wirklich beeilen. Wenn ihm etwas passiert, dann- nein daran kann ich nicht denken! Daran darf ich gar nicht denken! Gestern war ich noch so wütend auf ihn, weil er bei irgendeiner Frau gelegen hat und heute muss ich Angst haben, dass ich nie wieder wegen so etwas sauer auf ihn sein kann. Das wäre einfach- das könnte ich nicht ertragen! Ich will kein Leben, in dem es keinen Semjon Cooper gibt, über den ich mich ärgern kann. Den ich anhimmeln kann. In den ich verliebt sein darf. Nein! So ein Leben würde ich nicht ertragen!
Bevor ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, passiert etwas Merkwürdiges. Es geht plötzlich schneller. Sehr viel schneller. Ich renne so schnell, wie ich noch nie gelaufen bin. Wie ich eigentlich noch keinen Vampir habe laufen sehen .
Und dann bemerke ich es. Es sind nicht mehr länger meine Füße, die den Boden berühren. Es sind Pfoten. Lang und schmal. Und ich bin der Erde viel näher gekommen. Gepunktete Pfoten versinken in der Schneeverwehung, die sich direkt vor mir auftut, bevor sie sie auch schon hinter sich lassen.
Ich kenne diese Punkte, geht es mir durch den Kopf, als ich weiter durch die endlosen Wald renne, weil ich keine Zeit habe anzuhalten und meine Verwandlung genauer für mich zu begreifen. Meine Gedanken rattern. Ich habe mich verwandelt. Ich habe mich tatsächlich verwandelt. Mir war nicht klar, dass ich dazu in der Lage bin.
Meine langen Pfoten fliegen über den tiefgefrorenen Boden und lassen die Zedern schon bald hinter sich. Das endlose Schneefeld, das sich vor mir auftut, ist tief. Meine langen, dicht gepunkteten Pfoten versinken beinahe bis zu den Sprunggelenken.
Die Erkenntnis rastet in meinem Kopf ein, was ich bin, als ich einen weiten Sprung über eine Schneewehe mache und mein Schwanz im Schnee versinkt. Ich kenne nur ein einziges Tier, das sich so schnell bewegen kann und Pfoten besitzt. Ein Gepard.
Ein strenger Nordwind fegt über die scheinbar endlose Eiswüste wirbelt die frisch gefallenen Flocken wieder auf, die lose auf der Oberfläche liegen.
Die Windböen malen weiße Bilder gegen den dunklen Nachthimmel, während ich weiter durch den hohen Schnee hechte.
Mein Weg wird mühsamer. Doch ich laufe. Immer weiter.
Die Luft brennt in meinen Lungen, als ich versuche einen Hinweis auf meinen Standpunkt zu erhaschen, doch alles um mich herum ist eintönig weiß. Meine Seiten schmerzen und meine Beine fühlen sich an, als seien sie längst erfroren, doch ich renne weiter und sehe dem Himmel dabei zu, wie er plötzlich über mir herab fällt. Das Nordlicht tanzt über dem endlosen Schneefeld einen wilden Reigen in blau und grün und erhellt meinen Weg auf das Eindrucksvollste. Manche grünen Strahlen scheinen bis auf den Boden zu reichen, andere bilden wilde Formen, in denen ich stundenlang Tiere suchen könnte, wenn ich nur Zeit hätte das Schauspiel zu genießen. Das habe ich aber nicht. Und dann, nachdem ich eine Weile nur die grünen Feuer der Nacht habe tanzen sehen, entdecke ich am Horizont den rotgelben Schein, in den sich Helsinki in klaren Nächten stets hüllt.
Ich halte direkt darauf zu und durchpflüge die Schneedecke noch etwas schneller, als ich begreife, dass es nicht mehr weit ist.
Als ich die ersten Straßenzüge erreiche, kann ich mein Glück kaum fassen. Der Weg zum Stadtkern ist mit einem großen Pfeil ausgeschildert, neben dem fünf Kilometer angeschrieben stehen.
Die Straße ist frisch geschoben und ansonsten menschenleer, als ich sie entlang sprinte. Auf der geraden Strecke, die nun vor mir liegt, kommt es mir vor, als würde ich fliegen, so schnell treffen meine Pfoten nun auf den kalten Asphalt. Ich überhole einen Kleinwagen. Das Gefühl ist irre. Ich scheine immer schneller zu werden, auf meinem Weg herunter in den Stadtkern. Als ich an der Bibliothek vorbei sprinte, sehen mir ein paar Leute verdutzt hinter her, vor allem als ich scharf links abbiege und dabei fast eine Hausmauer mitnehme. Ich muss ganz schön rudern, um es noch in die kleine Seitengasse zu schaffen, von der aus nur noch einen Katzensprung bis zu Nikita ist.
Ich entdecke die rote Neonleuchtschrift, die verkündet, dass ich es zum Devil´s Ground geschafft habe, schon von weitem. Der Club sieht von außen so schäbig aus, dass die meisten Passanten einen weiten Bogen um das Etablissment machen. Auch ich habe den Club, dessen vollständiger Name irgendwann einmal The Devil´s Playground gelautet hat, bevor die Leuchtschrift an einigen Stellen ausgefallen ist, unter die Kategorie kein- Ort- für- mich, verbucht. Die einzigen Letter, die jetzt noch die Nacht erleuchten, bilden die eingängige Abkürzung Devils Ground und ich stürze wie eine Ertrinkende darauf zu.
Ich lasse die breite Treppe, die nach unten führt mit einem Satz hinter mir und lande zu meinem Erstaunen auf meinen menschlichen, nackten Füßen. Meine Klamotten hängen noch immer in Fetzen von mir, während ich auf die rote Türe zustolpere, die in eine schlichte Backsteinwand eingelassen ist.
Die Türe, deren Lack am abblättern ist, ist abgeschlossen, stelle ich entsetzt fest und rüttle mit steigender Panik daran. Jetzt wo ich aufgehört habe zu laufen, stürzt eine ganze Gedankenwand auf mich ein und auch mein Körper scheint mich mit einem Mal zu hintergehen. Meine Muskeln schmerzen und mein Schädel brummt.
Ich ruckle energisch an dem Türknopf und trommle schließlich verzweifelt gegen den rot gestrichene Stahltür.
„Wir haben geschlossen!“, höre ich jemanden rufen und weiche erschrocken zurück, als die Tür sich mit einem lauten Quietschen öffnet.
Der Bär von einem Kerl, der vor mir steht, mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. „Hast du dich verlaufen, Kleines?“
„Ich muss zu Semjon! Jetzt!“, entkommt es mir nur und kralle mich an seiner Jacke fest, weil ich den Boden unter mir schwanken spüre.
„Was machst du denn da? Lass mich- ich weiß nicht was du-„
Er reißt sich von mir los. „Wir haben geschlossen!“, sagt er nachdrücklich und schubst mich weg.
Ich sehe ihn entsetzt an. „Nein, sie verstehen nicht! Ich –“
„Marlen?“, höre ich es plötzlich hinter dem Kerl poltern und sehe Nikita aus dem dunklen Inneren stürmen. „Lenny? Um Gottes Willen, was-“
Seine Umarmung ist knochenbrechend und seine Lederjacke knarzt widerstrebend, als er mich fester umklammert. „Es geht dir gut“, murmelt er und es hört sich an, als würde er gleich vor Erleichterung losheulen.
„Semjon. Er…er ist in Gefahr“, presse ich hervor, weil ich merke, wie bunte Punkte anfangen vor meinen Augen zu tanzen. „Abenezer will ihn umbringen. Amon und Magnus, sind noch da draußen“, höre ich mich selbst hervorbringen und greife mir an die Schläfen, weil das Pochen dahinter mich beinahe umbringt. „Amon sagt, es sind… Zedern…Saxton. Anwesen“, murmle ich schmerzverzerrt und merke schließlich wie die Dunkelheit mich wie so oft in letzter Zeit einfängt.

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Kapitel 28

 



Das leise Rascheln von schwerem Stoff weckt mich sanft aus meinem Schlaf.
Ich liege in einem weichen Bett, dessen weiche Kissen mir wage bekannt vorkommen und ich weiß auch weshalb, als ich meinen Blick über die weißen Laken hinweg gleiten lasse und einen beigen Cocktailsessel vor einem mir bekannten Kamin entdecke. Die rote Backsteinwand, vor der ein hohes Regal steht vertreibt auch noch die letzten Zweifel. Ich bin zurück in Semjons Loft.
Ein Blick unter meinen halb geschlossenen Liedern hinweg, verrät mir, dass Nikita mit dem Rücken zu mir, in der offenen Zimmertür steht.
„Sag mir Bescheid, wenn sie wach ist“, höre ich Christobal leise zu ihm sagen und ich bin mir nicht sicher ob ich wache, oder träume. „Semjon wird wissen wollen wie es ihr geht, auch wenn er zur Zeit nicht hier sein kann“, fährt er ruhig fort und ich spüre meine Haut, bei der Erwähnung seines Namens aufgeregt kribbeln.
Semjon. Oh mein Gott, Semjon! Ich wollte ihn warnen. Habe ich es geschafft?
Bevor ich jedoch in Panik verfallen kann, weht Nikitas Stimme zu mir herüber, deren samtweicher Klang mich ruhig werden lässt. „Wenn du mich fragst, sollte unser Boss weniger Zeit bei Befragungen verbringen und lieber seinen Arsch hierher bewegen. Als wir ihm erklären mussten, dass Lenny entführt wurde… Ich habe noch nie jemanden so ausrasten sehen. Bei allen Göttern der Nyx! Wie er die gesamte Bar zerlegt hat… Was rede ich, du warst ja auch anwesend. Du weißt ja selbst, wie viele Männer es gebraucht hat, um ihn da raus zu zerren!“
„Fünf“, räuspert sich Christobal und hört sich dabei leicht betreten an. „Aber was soll ich machen? Du weißt genauso gut wie ich, was alles auf uns zukommt. Nicht nur der ganze Papierkram, vor allem mein Vater gibt mir zu denken. Pius hängt sehr an seiner Frau. Und Semjon wird sie nicht davon kommen lassen. Sie ist Abenezers Schwester und hat aktiv an der Ausführung seines Plans mitgewirkt.“
Ich spitze die Ohren.
„Es gehört ihr nicht anders“, erwidert Nikita und ich sehe ihm dabei zu, wie er sich gegen die Türzarge lehnt. „Auch wenn es mir für Pius Leid tut.“
Ich höre Christobal, irgendwo dahinter schwer seufzen. „Sie werden kein gutes Haar an ihr lassen bei der Verhandlung. Wenn man es so sieht, war es beinahe gnädig von Semjon, Abenezer an Ort und Stelle umzubringen.“
Nikita schnalzt mit der Zunge. „Wenn ich Matt richtig verstanden habe, war daran rein gar nichts gnädig. Er muss ihn auseinander genommen haben. Schien nicht viel von ihm übrig geblieben zu sein, als sie seine Überreste vom Anwesen der Saxtons getragen haben.“
„Ja. Aber wundert dich das? Wir hatten wirklich Glück, dass Marlen so schnell rennen kann. Ein paar Minuten später und es wäre anders herum gewesen“, sagt Semjons bester Freund langsam.
„Das hatten wir wirklich“, höre ich eine dritte Stimme kratzen, deren Klang ich seit meiner Entführung kenne. Amon. Er steht wohl genau wie Christobal vor meiner Zimmertüre und ich kann ihre dunklen Haarschöpfe sehen, nachdem Nikita den Kopf zur Seite neigt.
„Als ich das Video gesehen habe, auf der Abenezer ihr seinen Plan erklärt hat, warum sie hier ist, wollte ich ihm auch noch das andere Auge ausstechen“, höre ich Nikita leise und angewidert sagen. „Nur wegen seiner Rache an Semjon so viele Leute umzubringen, auf solch grausame Weise. Das ist einfach krank. Und das alles nur, weil Semjon seinen Job bekam“, schnaubt Christobal. „Abenezer war schon immer ein Irrer. Aber für so verrückt hat ihn keiner von uns gehalten. Wer kommt denn auf so etwas? So viele Leben zu vernichten, nur um sich für etwas zu rechen, das mehr als zwei Menschenleben zurückliegt.“
„Wir sollten es einfach vergessen. Abenezer ist Geschichte. Das ist das Wichtigste. Und die Opfer, die wir identifizieren konnten, wurden ihren Familien übergeben. Magnus wird wieder in Ordnung kommen und du, bist endlich wieder der gleiche, nervende, besserwisserische Depp, der du immer warst. Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass Marlen bald zu sich kommt und unser Boss einsieht, dass er ein Hornochse ist. Ich meine es ist doch zum davonlaufen! Er würde sich ohne zu zögern für sie umbringen lassen, aber ihr gestehen, dass er sie mag, das kann er nicht! Ich habe Lenny zwar versucht davon zu überzeugen, dass sie sich einen anderen suchen soll… aber bei allen Göttern der Nyx: Er ist doch total in sie verliebt! Wie kann er, mit all den Weibern in die Kiste hüpfen, während er so ein Klassemädchen zu Hause hat!“, ereifert sich Nikita lauthals.
„Scht, nicht so laut. Sie schläft doch noch“, murmelt Amon nicht weit von meinem Ohr entfernt. „Es wird sich schon alles finden.“
„Wann zum Geier hast du dir diese beschissene Zen- Philosophie zugelegt? Da rennst du jahrelang als Hund durch die Weltgeschichte und jetzt erklärst du mir, dass ich mich nicht angemessen verhalte?“, fährt Nikita seinen besten Freund an, allerdings so leise, dass seine Stimme nicht viel lauter als ein Zischen ist.
Amons Seufzen hört sich recht gleichmütig an.„Okay. Vielleicht habe ich keine Ahnung von der ganzen Sache, aber das Schlimmste ist vorerst überstanden. Immerhin ist Abenezer tot und die meisten seiner Lakaien ebenfalls, oder in Gewahrsam… Ich werde jetzt nach Magnus sehen, der müsste mittlerweile mit seiner Aussage fertig sein.“
„Denk nachher an deinen Termin beim Arzt“, ruft Nikita genervt und ich sehe ihm dabei zu, wie er hinter sich wieder die Türe schließt.
„Marlen!“, entkommt er ihm erschrocken und ich schenke ihm ein müdes Lächeln.
„Hey“, grüße ich ihn und sehe ihm dabei zu, wie er sich auf das Fußende meines Bettes setzt.
„Na endlich. Wurde auch langsam Zeit, dass du wach wirst.“
„Was tue ich hier, bei Semjon Zuhause?“, frage ich betreten und versuche mich zu erinnern wie ich hierher gekommen bin.
Ich muss feststellen, ich habe nicht die leiseste Ahnung.
„Du hast drei ganze Tage verschlafen. Du hast ziemlich viel Blut verloren gehabt und durch deinen Marathon einmal quer durch die Einöde, warst wirklich ziemlich am Ende.“
„Wo ist Semjon?“, frage ich ihn, bevor er fortfahren kann.
„Es geht ihm gut. Er hat dich gestern vom Krankenhaus hergebracht. Du konntest ihn noch rechtzeitig warnen.“
„Gut“, entkommt es mir erleichtert. „Aber das wusste ich eigentlich schon. Ich habe dich und Christobal reden gehört.“
Nikita greift nach meiner Hand. „Tatsächlich? Wieso hast du nicht gesagt dass du wach bist?“
„Keine Ahnung“, seufze ich und sehe ihm in die übermüdeten Augen, die von tiefen Augenringen umrandet werden. „Schätze ich fand es interessant, was ihr beredet habt..“
„So. Fandest du das“, lächelt er und legt sich neben mich aufs Bett. „Geht´s dir soweit gut?“
Ich schaffe es zu nicken, bevor ich mich an Nikitas Halsbeuge vergrabe und mich an seinen drahtigen Körper schmiege. „Ja. Mein Kopf fühlt sich nur immer noch ziemlich groggy an.“
„Ja. Das liegt an den lustigen Medikamenten, die sie dir auf unserer Krankenstation gespritzt haben“, redet er sanft auf mich ein und zieht die Bettdecke enger um mich.
„Ich hasse Krankenhäuser.“
„Ich auch. Und Amon ebenso. Er hat die Ärzte wahnsinnig gemacht, weil er gleich nach seiner OP am Oberschenkel, noch aus dem Aufwachraum geflüchtet ist“, seufzt Nikita und drückt mir einen Kuss auf die Schläfe.
„Ich bin froh, dass es ihm gut geht“, entgegne ich ihm erleichtert und kuschle mich tiefer in seine Umarmung.
„Der war noch nie tot zu kriegen, genauso wie Magnus. Pius Adoptivsohn hat wirklich ganze Arbeit da draußen geleistet. Schätze Semjon wird ihm einen Job anbieten.“
„Er ist in Ordnung“, bestätige ich Nikita. „Das sollte Semjon tun.“Wir liegen eine Ewigkeit so da, bevor Nikita sich mit einem unwilligen Stöhnen von mir losmacht. „Ich sollte jetzt wirklich weiterarbeiten“, murmelt er und deutet auf den Aktenstapel vor dem Kamin, den er auf dem Rentierfell verteilt hat und in dessen Mitte ein Laptop thront. „Der Papierkram macht mich total fertig. Er scheint einfach kein Ende zu nehmen.“
„Du Armer“, grinse ich. „Aber ich bin mir sicher, du wirst das schon schaffen.“
„Na das hoffe ich doch. Ansonsten reißt Semjon mir den Kopf ab. Übrigens, wenn ich gerade beim Kopfabreißen bin- du solltest deine Mutter anrufen. Und Devon. Die Beiden haben sich große Sorgen gemacht. Sie wollten, dass wir sie anrufen, sobald du wach bist. Semjon musste ihnen bestimmt hundert Mal versichern, dass du in Ordnung bist. Und deine Mum- naja also auch wenn sie kein Vampir ist, man will sich nicht mit ihr anlegen, wenn du verstehst was ich meine.“
„Sie hat euch also zur Sau gemacht?“
Er nickt heftig und hebt die Hände, um eine hilflose Geste zu machen. „Wo hat sie gelernt, Leute so fertig zu machen? Sie war der Hammer.“
„Sie hat zwei Mädels und Semjons dickköpfigen Halbbruder erzogen. Sie weiß, wie man es schafft, ihre Kinder davon abzuhalten sich in Probleme zu bringen. Sie tut, was sie tun muss. Wina ist super“, bestätige ich ihm. „Hast du ein Handy für mich?“
Nikita greift mit einem Grinsen in seine Jeanstasche und fördert ein Telefon zu Tage. „Hier. Lass dir Zeit. Ich geh mir mal kurz was in Semjons Arbeitszimmer ausdrucken“, damit geht er davon und überlässt es mir, mich mit Wina auseinanderzusetzen, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

Ich musste noch nie so oft wiederholen, dass es mir gut geht. Dass noch alles an mir dran ist und ich auch sonst keinen psychischen Knacks von meiner Entführung davon getragen habe, wie bei meinem Gespräch mit Wina und Devon. Vor allem Devon scheint der festen Überzeugung zu sein, dass ich am Ende bin, während Wina mich zwingt, auf ihre typisch analytische Weise, alles was ich erlebt habe nochmals genau zu schildern, sodass ich beinahe vier Stunden am Telefon hänge und Nikita dabei zusehe, wie er sich weiter durch den nicht kleiner zu werdenden Stapel von Akten quält, nachdem ich es schließlich geschafft habe aufzulegen.
Nikita befeuert den Kamin gerade mit einer weiteren Ladung Holz, als ich unten die Tür gehen höre. Wahrscheinlich ist es Matt, der nachher noch kurz vorbei sehen wollte.
Ich sehe Amons besten Freund in der Bewegung stocken.
„Ich mache mir noch einen Kaffee. Möchtest du auch einen?“, fragt er mich unvermittelt, bevor er die Kamintüre schließt.
„Gerne“, meine ich verdattert, weil ich gerade eine wenig spannende Ausgabe, einer Fernsehsendung, die sich den Sensationsjournalismus auf die Fahnen geschrieben hat verfolge.
Ich sehe ihm dabei nach, wie er aus der offenen Türe verschwindet und die Treppe nach unten trabt und sinke tiefer in die Kissen.
Deshalb zucke erschrocken zusammen, , als ich Semjon entdecke.
Er steht auf der Türschwelle und wirft mir diesen langen, kritischen Blick zu, den ich mittlerweile zu Genüge kenne. Er trägt einen geschnittenen Staubmantel mit breitem Kragen, unter dem ein blütenweißes Hemd und eine akkurat gebundene Krawatte zu sehen sind. Bis auf sein Hemd ist alles tiefschwarz. Auch seine Lederhandschuhe, die er sich von den Fingern streift, bevor sich bevor ich ihm dabei zusehen kann, wie sich seine Schultern straffen, bilden da keine Ausnahme.
„Guten Abend, Marlen“, begrüßt er mich und tritt in mein Zimmer, schließt die Türe hinter sich..
Er bleibt an dem Platz, direkt neben der Tür stehen und sehe ihm dabei zu, wie sich seine Hände fest um seine Lederhandschuhe schließen.
„Hast du gut geschlafen?“, fragt er da auch schon so höflich, dass ich ihm keine Szene machen kann, selbst wenn ich gewollt hätte. „Ja“, antworte ich ihm knapp, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll..
„Das ist gut. Ich bin froh, dass du wohlauf bis“, presst er hervor und lässt die Schultern sinken.
Ich mustere ihn aufmerksam. Sein Gesicht zeigt keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Im Wärmenden schein des Feuers, erkennte ich nur seine grimmige Mine, die nichts über seine Gefühle verrät. Auch ansonsten wirkt er genauso wie immer. Er trägt wie immer einen schwarzen Anzug unter seinem Mantel und in den schwarzen Haaren hängen ein paar Wassertropfen. Er scheint vollkommen in Ordnung zu sein. Und das lässt mich erleichtert seufzen.
„Tut mir Leid, dass ich raus gegangen bin“, sage ich nach einer Weile, nachdem das Schweigen schon beinahe unangenehm geworden ist.
Semjons Blick gleitet zu Boden. „Ja.“
Seine Stimme ist schleppend.
„Ich wollte niemanden in Gefahr bringen es tut mir wirklich Leid“, entschuldige ich mich bei ihm, weil ich weiß, dass ich selbst Schuld war.
Semjons Fingerknöchel treten weiß hervor, bei meinen Worten.
Ich glaube, er ist wirklich wütend auf mich, weshalb ich mich beeile zu sagen, was ich zu sagen habe.
„Ich hatte kein Recht dir eine Szene zu machen und ich habe mich kindisch verhalten. Dadurch habe ich Leute, die nichts dafür konnten in Gefahr gebracht. Verzeih mir, bitte“, flüstere ich.
Sein Kiefer knackt unheilvoll. „Entschuldige dich nicht.“ Seine Worte sind leise, aber so klar und deutlich, dass ich Angst habe, er fängt an mich anzuschreien.
„Ich will es aber“, entgegne ich ihm unglücklich.
Semjons Augen finden meine und das erste Mal, seit ich ihn kenne, sehe ich etwas anderes, als eine Maske. Er ist wütend.
„Halt den Mund… bitte. ... Der Einzige, der Schuld an der ganzen Sache hat, bin ich. Ich hätte mit dir reden sollen. Aber ich war so arrogant zu glauben, dass ich alles bedacht hätte.“
Ich entdecke den Fehler in meinem Denken, als er seinen Blick wieder zu Boden wandern sehe.
Er ist nicht wütend auf mich. Er ist wütend auf sich selbst.
„Ich hätte wissen müssen, was er vorhat. Es ist mein Job so etwas zu wissen. Nicht deiner. Ich trage die Verantwortung dafür. Für jede einzelne Leiche, die wir gefunden haben.“
Dass er wütend auf sich selbst ist, macht ihn in meinen Augen zu einem so rechtschaffenden Kerl, dass ich ihm so ziemlich alles verzeihen könnte und mir juckt es in den Fingerspitzen, die Hand nach ihm auszustecken. Ihm Trost zu spenden. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit meinem Körper. „Ich sollte jetzt gehen“, murmelt er, bevor ich tun kann, nach was es mir verlangt. „Erhol dich. Schlaf noch ein wenig.“
Ich schaffe es zu nicken, obgleich sich alles in mir danach sehnt aufzustehen und mich in Semjons Armen zu vergraben.
„Übrigens hat Devon mich vorhin angerufen und gefragt, ob er am Wochenende vorbei kommen kann. Willst du das?“, fragt er mich plötzlich.
„Klar. Wenn er Zeit hat.“ Ich spüre mein Lächeln auf die Lippen zurückkehren. „Sehr gerne.“
Semjons Blick verschließt sich vor meinen Augen und ich komme nicht umhin festzustellen, dass ich offenbar das Falsche gesagt habe.
„Gut. Ich werde mich darum kümmern.“ Mit diesen Worten lässt er mich allein in meinem Zimmer zurück und ich höre Nikita, der offenbar hinter der Tür gestanden hat laut Fluchen.
Scheinbar ist gerade sein Kaffee flöten gegangen.
„Hast du nichts zu tun?“, fährt er den armen, gepiercten Kerl an.
„Oh doch…Boss“, höre ich Nikita antworten, bevor er sich durch die Tür schiebt und er mich verdattert ansieht. „Was war das denn?“, bilden seine Lippen die stille die Frage.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung“, stöhne ich frustriert, nachdem er meine Zimmertür geschlossen hat und die übergelaufenen Kaffeetassen auf meinem Nachttisch abstellt.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 29

 



Ich entdecke meinen besten Freund sofort und ich mustere seine ganze Erscheinung kritisch. Seine quietsch grüne Surfermütze, mit einem einsamen türkisfarbenen Streifen sticht aus der Menschenmenge beinahe schmerzhaft hervor. Seine hellbraune Wildlederjacke, die mit Lammfell gefüttert ist, klafft auf, als er seine Tasche über die Schulter wirft und gewährt einen Ausblick auf das Muskelpaket, das sich unter der dicken Jacke verbirgt, als er mir mit einem Grinsen entgegen kommt.
Es ist wirklich kein Wunder, das die Frauen auf ihn Fliegen. Die Rippstruktur seines Pullovers betont seine Körperform auf das Vorteilhafteste und seine verwaschene Jeans, die nachlässig in seine hellen Bergsteigerstiefel gesteckt ist, tut ihr übriges um die herumstehenden Frauen geschlossen seufzen zu lassen.
Ein Schauspiel, das ich eigentlich schon gewohnt sein sollte, doch ich finde es jedes Mal aufs Neue bewundernswert, wie unglaublich gut er ankommt.. Nikita lässt die Autoschlüssel von Semjons Wagen in seine Manteltasche gleiten und scheint noch nicht geschalten zu haben, dass unser Gast bereits in Sichtweite ist, während ich ich mich von meinem Platz neben Nikita losreiße und auf meinen besten Freund zustürme.
„Hey Lenny!“, lacht Devon mit seiner herrlich tiefen Stimme überrascht, als ich mich auf ihn stürze. Die Arme fest um seinen Nacken geschlungen, spüre ich, wie seine Hände sich um meine Taille legen und er meine Umarmung herzlich erwidert.
„Ich habe dich vermisst“, bringe ich glücklich raus. „Es ist so schön, dass du da bist.“
„Was denkst du denn von mir? Wie könnte ich denn nicht her kommen?“, will er verständnislos wissen und drückt mich noch ein wenig fester.
„Du hättest mir trotzdem glauben können, dass es mir gut geht. Das tut es nämlich. Ich habe nicht mal mehr Albträume“, seufze ich viel zu zufrieden.
Er riecht nach Wald und Motorenöl. Ein guter Geruch, weil es seiner ist. Er gehört zu ihm, wie zu Semjon die Farbe schwarz.
„Das ist schön. Aber was wäre ich für ein bester Freund, wenn ich mich nicht mit eigenen Augen davon überzeugen wollte, dass du in Ordnung bist, hm?“, brummt er gutmütig und entlässt mich schließlich aus seiner Umarmung.
„Gut siehst du aus“, sagt er mit einem kritischen Blick in mein Gesicht.
„Du auch. Coole Mütze“, stelle ich amüsiert fest und klaue ihm das grüne Prachtstück vom Kopf, bevor er sich dagegen wehren kann.
Er lässt ein Schnauben hören und fährt sich durch die wild abstehende Lockenpracht, die unter seiner Mütze zum Vorschein kommt. Der Irokesen Schnitt, den er zurzeit trägt ist total zerzaust, da hilft es auch nicht, dass er seinen Schopf mit den Fingen durchkämmt..
Er sieht mit der Frisur wie ein kleiner Schuljunge aus. Total goldig.
„Könnte ich sie bitte wieder haben?“, fragt er entnervt, während ich sie mir weit über die Ohren ziehe und ihn angrinse.
„Nö. Ich glaube, die behalte ich. Der türkisfarbene Strich ist voll… toll. Außerdem ist sie so schön grün. Steht mir doch oder?“
Devon entzieht mir meine neueste Errungenschaft wieder, ohne auf meine Frage zu antworten und lässt seine tollen Haare wieder darunter verschwinden. „Mir steht sie besser... Wer ist der Kerl dahinten, der sich als Blitzableiter tarnt?“, will er ernst wissen und ich drehe mich verdattert um.
„Nikita. Er ist total cool. Du wirst ihn mögen. Also sei nicht fies.“
Devon schenkt mir ein schiefes Grinsen. „Nikita, hm? Ich habe ihn mir irgendwie… größer vorgestellt.“
Ich gebe ihm einen Klaps gegen die Schulter. „Es kann nicht jeder einen Schrank ausfüllen, Mister!“
Er schlingt einen Arm um meine Schultern und drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. „Hab dich wirklich vermisst.“
„Du kratzt“, meckere ich aus alter Gewohnheit und löse mich glucksend von ihm.„Na komm, ich stell dir Nikita vor“, lache ich und schlängle mich durch die Menschentraube, die sich in der Mitte der Wartehalle gebildet hat.
Nikita hat die Hände tief in seiner Lederjacke vergraben, während sein Blick auf Devon und mir ruht. Seine Piercings glänzen im schwach einfallenden Tageslicht, das es durch die dicht verhangen Himmel geschafft hat.
„Hey. Du musst Devon sein“, begrüßt Nikita Semjons Halbbruder kurz angebunden.
„Yeah… und du bist Nikita. Schon viel von dir gehört“, entgegnet Devon ihm genauso wortkarg.
„Nikita hat mich hergefahren. Weil ich ja kein eigenes Auto hier habe“, erkläre ich meinem besten Freund, weil er Nikita so kritisch mustert, aber ich schätze das liegt vor allem daran, dass Devon Piercings albern findet. Und wahrscheinlich gerade den Drang zu unterdrücken versucht, ihm an seinem Nasenpiercing einmal durch die Wartehalle zu schleifen. Zumindest erklärt mir Devon regelmäßig, dass er bei Nasenringen immer an die Bullen denken muss, die von den Bauern bei ihren Ausstellungen im Kreis herum gezogen werden.„Nett von ihm“, stellt er schließlich mit einem Grinsen fest und ich sehe seine Mundwinkel zucken, während seine Augen auf dem stabilen Silberring in Nikitas Nase liegen.
Ich pieke ihn zwischen die Rippen und werfe ihm einen warnenden Blick zu, den er sehr gut kennt. Ich muss das „Ich-weiß -was- du- denkst!- Halt- bloß-die- Klappe“ nicht mehr aussprechen.
Devon verdreht auch so die Augen.
„Entschuldige, Nikita. Er ist nicht immer so“, entschuldige ich mich für meinen unmöglichen besten Freund.
„Jaja… schon verstanden. Er ist ein echtes Herzchen. Genau wie sein großer Bruder. Manchmal kann man echt glauben, du leidest an Geschmacksverirrung“, stellt Nikita kaltschnäuzig fest.
„Nett!“, entkommt es Devon grinsend. „Ich mag ihn“, informiert er Nikita und mich über sein Urteil, was Nikita dazu bringt eine Augenbraue nach oben zu ziehen.
Devon ist schnell darin, sich ein Urteil über eine Person zu bilden und Nikita hat sich soeben in die Schublade, kann ich gut leiden katapultiert, auch wenn er sehr wahrscheinlich, den Spitznahmen Blitzableiter in unseren Gesprächen behalten wird.
„Alles klar. Wollen wir dann los?“, fragt Nikita schließlich, nachdem Devon wie angewurzelt neben mir steht.
„Sicher“, meint er Schulterzuckend.
„Ist mein Bruder zu Hause?“, möchte er wissen, als wir in Semjons Mercedes steigen und Nikita sich hinter das Steuer klemmt.
„Nein. Er ist schon die ganze Woche weg“, informiere ich ihn.
„Er hat einiges zu tun. Aber er sagte, du kannst dich bei ihm wie zu Hause fühlen.“
„Ich dachte eigentlich, ich übernachte in einem Hotel. Ich habe mir schon ein Zimmer gebucht“, antwortet Devon ihm erstaunt und ich sehe Nikita ebenfalls verdattert an.
„Semjon meinte irgendetwas davon, dass du Familie wärst und so weiter“, erklärt Amons bester Freund uns, während er aus der Parklücke steuert. „Außerdem hat er noch ein oder zwei ungenutzte Gästezimmer in seinem Loft“, grinst Nikita.
Ich höre Devon, der auf der Rückbank Platz genommen hat, leise Schnauben und lehne meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe, während der Wagen wie auf Federn über die Straße schwebt.
„Na schön, dann penn ich bei ihm. “, stellt Devon hinter mir fest.
„Cool“, entgegne ich ihm, bevor Nikita ihm antworten kann. „Dann bin ich wenigstens mal nicht allein zuhause.“
„Oh… arme, kleine Lenny. . Naja… jetzt bin ich ja da.Dann müssen wir uns eben alleine einen schönen Abend machen. Wir finden schon was, um uns die Zeit zu vertreiben“, höre ich Devon schmunzeln.
„Das finden wir doch immer“, stimme ich ihm zu und kann Nikita dabei zusehen, wie er die Augen zusammenkneift.
Der restliche Weg zu Semjons Wohnung ist recht schweigsam, da Devon traditionell nicht so viel redet und Nikita sich scheinbar aufs Fahren konzentriert.

Devon lässt seine Tasche vor mein ungemachtes Bett gleiten und sieht sich grinsend um. „Hast du etwas dagegen, wenn ich hier penne?“
„Nö. Weißt du doch“, schmunzle ich und lasse mich auf die Matratze sinken. „Also, was gibt´s Neues?“
„Nichts. Nicht viel. Ich habe viel zu tun in der Werkstatt. Da bleibt nicht so viel Zeit zum Feiern. Außerdem habe ich eine beste Freundin, die kürzlich entführt wurde, weshalb ich auch keine so große Lust auf Party machen hatte... übrigens Grüße von Ade und Tim. Die haben sich auch ganz schöne Sorgen um dich gemacht.“
„Eigentlich solltest du nebenan schlafen“, höre ich Nikita, der in der Tür steht, sagen.
Devon wirft ihm einen kurzen Blick zu, während ich die Schultern zucke. „Ist doch egal, wo er schläft. Wir werden sowieso nicht viel zum Schlafen kommen.“
Nikita runzelt die Stirn, erwidert aber nichts, außer ein „Das ist wohl eure Sache. Ich muss los. Arbeiten.“
„Hey Kumpel, wenn du nachher Zeit hast, kannst du auch mit ins Nachtleben Helsinkis eintauchen“, schlägt Devon ihm vor, als Nikita schon fast aus der Tür ist.
„Mal sehen“, verabschiedet dieser sich mit einem wenig überzeugenden Grinsen und ich werde das blöde Gefühl nicht los, dass Amons bester Freund es bescheiden findet, dass Devon hier in Semjons Wohnung ist und noch dazu in meinem Bett schlafen wird.
Devon, der davon nichts mitzubekommen scheint, wirft sich neben mir aufs Bett und breitet die Arme aus. „Schicke Wohnung, hat mein Bruder da. Aber das Bett gefällt mir bei Weitem am Besten. Es ist echt bequem.“ Er schließt die Augen und gibt ein Keuchen von sich, als ich mich mit dem Oberkörper auf seinen Bauch fallen lasse.
„Ich wusste, dir alter Schlafmütze würde das so gefallen. Aber geschwächelt wir nicht. Wir gehen heute Abend weg“, drohe ich ihm und tippe nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf seine Brust.
„Mh…“, macht er nur und nimmt mich in den Schwitzkasten. „Schätze dann müssen wir wohl doch auf das Death Dayne Konzert, für das ich zwei Karten habe.“
Ich drücke mich hoch und starre ihn entgeistert an. „Nein! Du hast nicht-… nein!“, stottere ich vollkommen aus dem Häuschen.
„Doch. Gestern noch online bestellt!“, grinst er mich aus den Kissen breit ein.
Ich kann es nicht fassen. Manchmal weiß ich einfach, weshalb der Kindskopf in meinem Bett, mein bester Freund ist.
Mein Bruderersatz.
Meine Familie.
„Ich liebe diese Band!“, quietsche ich und springe auf. „Ich dachte, das Konzert wäre seit Monaten ausverkauft!“
„Unter der Hand nicht. Aber verrat es niemandem“, schmunzelt er. „Ich hoffe irgendwo in deinem Schrank befindet etwas, das für dieses Event tauglich ist?“
Ich grinse ihn an, weil ich genau weiß, auf was er hinaus will. „Du meinst ein rosa Kleidchen und hochhakige Schuhe? Oder vielleicht doch dein altes AC/DC-Shirt und meine Bikerstiefel?“
Devon stützt sich auf die Ellbogen und kneift die Augen zusammen. „Ich werde dich nicht aufhalten, solltest du in einem rosa Minikleid und mit hohen Stelzen auf dieses Konzert gehen. Denn das würde ich nur zu gern sehen.“
Ich strecke ihm zu Zunge raus. „Das könnte dir so gefallen.“
„Klar!“, stimmt er mir zu „Außerdem hätte ich gerne mein AC/DC Shirt zurück. Von dem ich weiß, dass du es entführt hast!“
„Du hast es mir geschenkt.“
„Habe ich nicht. Ich habe es dir geliehen. Ein Mal. Und dann war es weg!“
„Blabla“, sage ich nur abwinkend. „Es ist jetzt meines. Ich leihe es dir aber heute Abend, wenn du möchtest.“
Devon fixiert mich eine Weile, bevor er schließlich nickt. „Deal.“


Ich bin vollkommen fertig. Das Konzert war der absolute Wahnsinn und ich hänge glücklich an Devons Arm, als wir nach draußen in die kalte Winterluft treten. Meine Overkneestiefel, die ich über eine enge Lederhose gezogen habe, versinken im tiefen Schnee, als wir uns durch die umher stehenden Metaller quetschen und ich merke, wie ich das Gleichgewicht verliere.
„Oha!“, entkommt es mir erschrocken und ziehe Devon beinahe mit zu Boden.
„Du bist manchmal so talentiert“, bringt Devon gepresst raus, nachdem er es geschafft hat uns Beide vor einer unschönen Bruchlandung zu bewahren.
„Da war Glatteis“, informiere ich ihn. „Ich konnte nichts dazu.“
„Was auch immer du sagst. Ich glaube trotzdem, dass an dem über zehn Zentimeter hohen Absatz lag“, gibt Devon gleichmütig zurück. „Das lag nicht an meinen Schuhen. Du weißt, ich kann auf ihnen laufen!“, ereifere ich mich. „Außerdem hast du gesagt, wir gehen danach noch weg. Also habe ich mich chic gemacht“, meckere ich, weil ich es hasse wenn er mich indirekt mal wieder als Barbie bezeichnet.
„Ich habe doch kein Wort darüber verloren, dass-“
Ich schnaube. „Du vergisst, dass ich dich kenne!“
Devon lässt ein entnervtes Stöhnen hören. „Na schön! Ich finde man sollte sich zumindest ein wenig dem Wetter anpassen! Es liegen fast dreißig Zentimeter Schnee. Also sagt der gesunde Menschenverstand einem doch, dass man Schuhe mit Profil anziehen sollte und nicht… das da!“, ereifert er sich.
„Oh… Männer!“, fluche ich, weil mir keine halbwegs gute Entgegnung einfallen will, die ausdrücken könnte, weshalb ich sie angezogen habe. Außer die eine: Ich könnte doch vielleicht Semjon begegnen. Und dann will ich umwerfend aussehen!
Devon umfasst mich an der Taille, als ich ein zweites Mal ins Schlittern gerade. „Jaja. Ist schon gut“, sagt er sanft. „Versuch einfach, dir nicht den Hals zu brechen. Während du mir an die Gurgel gehst.“
„Du bist blöd“, seufze ich wenig überzeugend und zücke mein brandneues Smartphone, das mir Matt gestern zugesteckt hat, um zu kontrollieren, ob Nikita mir geschrieben hat, der später vielleicht noch zu uns stoßen wollte.
Das Display ist leer.
„Hat sich unser Blitzableiter noch nicht gemeldet?“
Ich gebe ihm einen Knuff in die Seite. „Nenn ihn nicht so! Außerdem stehen ihm seine Piercings“, verteidige ich meinen Nikita.
„Tut mir Leid. Aber den Spitznamen lass ich mir nicht nehmen. Es geht nichts über einen guten Spitznamen.“ Im gleichen Augenblick, wie er diese Worte ausspricht, weiß ich, was er als nächstes erwähnen wird. „Nicht wahr, Pumpkin?“, hakt er da auch schon nach.
„Das hast du jetzt nicht gesagt!“, entkommt es mir wütend. „Ich war ein toller Kürbis, bei unserem Erntedankfest! Außerdem war ich damals höchstens sieben, also hör auf mich damit immer noch aufzuziehen! Ich fand meinen grünen Zylinder toll!“
„Du sahst umwerfend aus. Ich habe nie wieder einen so eindrucksvollen Kürbis gesehen. Deshalb bist du ja mein kleiner Pumpkin“, schnurrt er, als ich meinen Kopf an seiner Seite vergrabe.
„Wenn ich dich nicht mögen würde, würde ich dir jetzt einen Tritt in den Allerwertesten geben“, brumme ich in seine weiche Wildlederjacke.
„Da habe ich aber Glück“, höre ich ihn sagen und mache mich von ihm los, weil das 24/7 mit seiner grünen Leuchtschrift in Sichtweite rückt. Der Club, in dem ich Mr. Wodka Tonic kennengelernt habe und in den ich am liebsten mit Nikita und Matt gehe, weil dort einfach immer gute Musik läuft.
„Wir sollten dort rein gehen“, seufze ich, unsere kleinen Differenzen vergessend. „Da drin geht immer was.“
Ich packe Devon an der Hand und schleife ihn an der anstehenden Menschenmenge vorbei. „Guten Abend, Boris“, strahle ich den Türsteher im Vorbeigehen an und genieße, die warme Luft, die mir entgegen strömt, als wir in Foyer kommen.
„Du bist hier öfter?“, will mein bester Freund wissen, während ich mir meinen kurzen Mantel ausziehe und an der Garderobe abgebe.
„Ziemlich oft“, bestätige ich ihm. „Und kann ich mich so auf Männerfange begeben?“
Devons Blick wandert von meinen Schuhen aufwärts, bleibt kurz an meinem knappen Oberteil hängen, das im Rücken nur von zwei schmalen Bändchen zusammengehalten wird unter denen ich die Schnur meines Neckholder-Bikinis versteckt habe.
„Schätze mal, damit wirst du auch auf jeden Fall etwas angeln. Nur ob du das auch haben willst, wird die Frage sein“, meint er mit einem Schulterzucken.
Devon war schon immer vollkommen resistent gegen meine Reize. Für ihn bin ich einfach nur seine kleine Schwester, die manchmal keine Ahnung hat, was gut für sie ist.
Beinahe frustrierend.
„Lass uns rein gehen“, schlage ich ihm vor, nachdem auch er seine Jacke abgegeben hat. Evelyn, winkt uns einfach durch und ich grinse Devon amüsiert an, als er mich diesmal an der Hand nimmt, um mich durch die dichtgedrängte Menge zu lotsen. Ich sehe die Laser über seinem aufgestellten Iro tanzen und folge ihm mit gutgelaunt die breite Stahltreppe nach unten auf die Tanzfläche.
„Trinken wir ein paar Kurze?“, schreie ich ihm über ein paar Köpfe hinweg zu.
„Ja!“, brüllt er laut zurück und zieht mich näher zu sich, als wir uns durch die tanzende Menge schieben.
Sein AC/DC Shirt und die dunkle Jeans, deren Lässigkeit eigentlich so gar nicht in den Club passen will, trägt er so selbstverständlich, dass ich die Blicke der umher stehenden Frauen hinter ihm her schweifen sehe.
„Ist das Mädel seine Freundin?“, höre ich eine hinter mir ihrer Freundin zuraunen.
„Wäre rauszufinden. Aber du weißt, solange da kein Ring hängt, ist das Spiel offen“, giggelt ihre Gesprächspartnerin aufgeregt und ich stelle mal wieder fest, dass ich neben Devon unsichtbar werde.
Die Männer, die uns entgegen kommen wenden sofort den Blick von mir ab, als sie unsere ineinander verschlungenen Hände sehen und beeilen sich, sich an ihm vorbei zu schieben und wie immer weiß ich nicht, ob ich diesen Zustand als angenehm oder als störend empfinden soll.
„Zwei Tequila!“, schreit Devon dem Barkeeper über drei Leute hinweg zu und zu meinem Entsetzen nimmt dieser auch noch seine Bestellung ohne zu murren entgegen.
Devon ist manchmal so ein unverschämter Rüpel und die Welt lässt es ihm wie immer durchgehen.

Es ist kurz nach fünf Uhr morgens und Devon und ich sind mehr als gut angetrunken. Die vereiste Straßen sind rutschig und ich schiebe deshalb meine Finger in Devons Handflächen um nicht auf den Hintern zu fallen. Wir schlendern lachend durch die hell erleuchteten Straßenschluchten, vorbei an den geschlossenen Läden und schon wieder geöffneten Bäckereien und ich muss zugeben, ich bin glücklich.
„Ich hoffe, dass es die ganze Woche so kalt bleibt. Ich will unbedingt auf die Eisbahn“
„Du Tollpatsch willst du auf die Eisbahn? Das halte ich für keine gute Idee“,erwidert Devon mir grinsend und umfasst meine Hand fester.
„Ich weiß nicht... Unglücklich verliebt zu sein, lässt mich immer Blödsinn anstellen.“
Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. „Ist Semjon der Grund, weshalb du keinem heute Nacht deine Nummer gegeben hast?“
Ich schnaube entnervt. „Es haben mich nicht gerade viele angesprochen, da du den halben Abend neben mir standest! Aber ja! Er macht mich fertig! Es ist einfach nichts zwischen uns geklärt! Alles was ich gehört habe… was passiert ist… die ganze Welt scheint sicher zu sein, dass Semjon meine Gefühle erwidert. Aber er… er hat kein Ton gesagt! Er macht mich wahnsinnig! Klar, er hat viel zu tun- Ich meine Abenezers Tod und Eudoxias Verhaftung…all die Opfer- es hat einen gewaltigen Medienrummel verursacht. Dass sie mich vollkommen aus der ganzen Sache raus halten finde ich toll, aber ich wünschte mir Semjon würde sich ein paar Minuten für mich Zeit nehmen.“
„Christobal Casey ist zur Zeit wirklich sehr oft in den Medien, wegen dieser Sache“, stimmt er mir zu und zieht mich in seine Arme. „Dass Semjon, als eigentlicher Boss vor Arbeit keine Zeit findet mit dir zu sprechen, finde ich da schon fast logisch.“
Ich will gerade erwidern, dass mir das vollkommen egal ist, als ich Semjon entdecke, der gerade in Monas Café abbiegt.
Mein Blick folgt Semjon ins Innere des hell erleuchten Cafés.
„Ich denke jetzt wäre ein guter Zeitpunkt mit Semjon zu reden. Findest du nicht?“, redet da auch schon Devon auf mich ein.
„Aber-“
„Mach schon! Ich gehe schon mal das Bett vorwärmen. Den Schlüssel habe ich ja“, verabschiedet sich Devon von mir, bevor ich ihn aufhalten kann und lässt mich einfach alleine unter einer der schmiedeeisernen Straßenlaternen zurück, deren gelborangefarbener Lichtkegel mich frösteln lässt.
Na schön. Was soll´s.
Ich sollte die Gelegenheit beim Schopf packen.


Die klirrende Kälte hinter mir lassend betrete ich mit unsicheren Schritten das schon gut gefüllte Café , schüttle den Schnee von meinem Mantel, umsegle die Beiden gewichtig aussehenden Herren die direkt neben dem Eingang stehen, in einem geschickten Ausweichmanöver und steure zielstrebig den freien Barhocker neben Semjon an, der am Tresen lehnt.
„Einen Kaffee, Lenny?“, fragt mich Mona mit einem Strahlen.
Ihr frecher Kurzhaarschnitt der offenbar frisch gefärbt ist, leuchtet in einem durchdringenden Tiefrot und die stark geschminkten Augen, wandern derweil über mein Outfit.
„Gerne. Tolle Haarfarbe“, begrüße ich sie ebenfalls mit einem Lächeln.
„Das ist nichts im Vergleich zu deinem Aufzug. Sehr heiß“, sagt sie gutgelaunt und wischt sich die Handflächen, an ihrer Schürze ab. „Findest du nicht auch, Semjon?“
Der Boss der Dunklen ist in seinen Mantel, einen dicken Wollschal und in seine teuren Lederhandschuhe gehüllt und sieht ganz und gar nicht aus, als sei er in der Stimmung mir ein Kompliment zukommen zu lassen. Eher so, als würde er mich gleich beschimpfen wollen.
Ich hätte nicht reinkommen sollen.
Seine unnatürlich dunklen Augen gleiten über meinen kurzen roten Mantel und bleiben schließlich an meinem Gesicht hängen.
„Sie sieht wie immer sehr gut aus“, murmelt er plötzlich und ich kann nicht glauben, was ich da höre.
„Das stimmt“, bestätigt Mona ihm und stellt Semjon eine Tasse schwarzen Kaffee unter die Nase.
„Warst du bis eben mit meinem Bruder weg?“, fragt er mich ganz unvermittelt, während ich noch immer sprachlos auf seinen Kaffee starre und er sich seine Handschuhe auszieht.
„Ja“, entkommt es mir schüchtern.

Semjons Finger finden den Henkel seiner Tasse. „Er hätte dich nicht allein nach Hause gehen lassen sollen. Hat niemand ihm Manieren beigebracht?“
„Hier, dein Kaffee Liebes! Mit Sahne und Zimt. Genau so, wie du ihn magst“, unterbricht Mona mein betretenes Schweigen, weil ich ihm unmöglich sagen kann, dass ich nur alleine hier rein gestolpert bin, weil ich wissen will woran ich bin.
„Guck nicht so, Semjon. Es ist lecker!“, meckert Mona den Boss der Dunklen an, während ich mein Getränk entgegen nehme. „Ich gebe ihr kein Gift zu trinken. Du darfst auch gerne probieren.“
Er hebt abwehrend die Hände. „Danke. Aber nein. Nicht wenn es sich verhindern lässt.“
„Du verpasst etwas“, seufzt Mona und ich lasse derweil meinen Gaumen den Geschmack von Zimt und zart schmelzender Sahne erkunden.
„Es ist wirklich lecker“, bestätige ich und will nach meinem Portmonee greifen.
„Lass. Ich mach das“, sagt Semjon und hält meine Hand, die zu meiner Umhängetasche gewandert ist, fest.
Seine Handfläche ist angenehm warm und ich merke, wie mein Magen ins Nichts fällt. „Ich kann doch die Freundin meines Bruders nicht bezahlen lassen… das gehört sich nicht.“
Meine Eingeweide verkrampfen sich. „Was?“, presse ich hervor und sehe ihm entsetzt ins Gesicht. „Ich bin nicht mit Devon zusammen.“
Seine Augen bohren sich in meine und seine Finger, die noch immer um meine Hand liegen umfassen diese fest.
„Du riechst aber so.“
„Du tust mir weh“, bringe ich nicht gerade sonderlich redegewandt raus, weil seine Finger sich Schraubstockartig um meine geschlossen haben.
„Oh…“, murmelt er und entlässt mich aus seinem Griff. „Ich wollte dir nicht-“
„Schon gut“, meine ich unglücklich. „Ich weiß, du hältst mich für eine Schlampe. Das ist nichts wirklich Neues.“
Semjons unnatürlich dunkle Pupillen, die noch immer auf mir ruhen, verengen sich.
„Ich hätte gar nicht erst hier rein kommen sollen“, schlucke ich und gleite von meinem Hocker. „Ich sollte jetzt-“
Er packt mich am Handgelenk, bevor ich es schaffe an ihm vorbei zu stürmen.
„Wirf mir sowas nicht etwas an den Kopf und verschwinde dann wieder. Nicht schon wieder!“, poltert er und ich zucke zusammen, ob seiner Lautstärke.
Um uns herum ist es still geworden. Semjon scheint es egal zu sein, denn er lässt mich erst nach einer gefühlten Ewigkeit los, bevor er in seinen Mantel greift und Mona einen Fünfziger auf den Tresen wirft. „Behalt das Wechselgeld.“
Ich sehe ihm mit flatternden Nerven dabei zu, wie er seinen Kaffee in einem Zug austrinkt und sich wieder seine Handschuhe überstreift. „Komm mit nach draußen.“

Ihm mit hochrotem Kopf folgend, ob der Peinlichkeit vor den anderen Gästen angefahren zu werden, senke ich betreten den Blick auf meinem Weg nach draußen. Ganz davon abgesehen hatte ich noch nie mehr Panik vor einem Gespräch. Draußen liegt die Welt noch immer vollständig im Dunkeln, als er die Eingangstür öffnet und mich vor sich hindurch treten lässt.
„Wohin willst du?“, bringe ich raus.
Semjon zuckt mit den Schultern, während er seinen schwarzen Mantel schließt. „Dorthin wo du auch hin möchtest.“
Ich wage es ihn anzusehen.
Er lässt sich davon nicht stören, sondern tritt nur an mir vorbei die zwei Treppenstufen nach unten und sieht mich auffordernd an. In seiner Manteltasche kramend wirft er mir einen kurzen Seitenblick zu, als ich hinter ihm die verschneiten Stufen herunter laufe.
„Ich nehme an, du wolltest zum Loft?“, möchte er wissen und zieht schließlich ein Päckchen Zigaretten hervor, schlägt es einmal gegen seine Handflächen, pflückt sich dann die hervor lugende Zigarette heraus und steckt sie sich in den Mundwinkel.
„Eigentlich wollte ich vor allem weg von dir“, informiere ich ihn, während er ein schweres silbernes Feuerzeug zückt, stehen bleibt und sich seinen Klimmstängel anzündet. Die einfache Geste, die sein Gesicht für einen Augenblick in einen orangeroten Schein hüllt, bevor der Tabak zu glimmen beginnt, zieht mich in seinen Bann, obgleich ich rauchen eigentlich nicht ausstehen kann.
Er stößt eine graue Qualmwolke aus „Ich bin also so schlimm, hm?“
Semjon schenkt mir einen kurzen Blick, bevor er abascht und seine Kippe zurück in seinen Mundwinkel wandert.
Ich schaffe es nicht, irgendetwas auf diese Frage zu erwidern. Weil ich nicht in Worte fassen kann, was er für mich ist. Die Frage ist gemein. Weil ich nichts halbwegs Vernünftiges darauf antworten kann.
„Entschuldige“, murmelt er leise, als wir über den Schneeberg steigen, den die Stadtarbeiter beim Gehweg schieben hinterlassen haben und habe das Gefühl, er entschuldigt sich gerade für so viel mehr als nur für die unhöfliche Frage.
„Danke“, meine ich vollkommen überfordert.
Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor seine Zigarette im Schnee landet und er seine Hände in die Manteltaschen rammt.
„Ich vergesse immer, dass du es nicht magst wenn ich rauche.“
„Ist schon in Ordnung“, seufze ich leise und wage es meinen Blick auf seinem Profil ruhen zu lassen. Zu lange.
Denn ich merke wie ich erneut das Gleichgewicht verliere und diesmal ist da kein Devon, der mich mit einem blöden Spruch zurück auf die Beine stellt.
Diesmal ist da Semjon, der mich in seinen Armen hält, bevor ich überhaupt weiß, dass ich fallen werde.
„Alles klar?“, will er von mir wissen, während seine durchtrainierten Arme um meine Taille liegen.
Ich schlucke schwer.
Sein unnachahmlicher Geruch schwappt über mir zusammen und seine dunklen Augen fixieren mein Gesicht besorgt.
„Marlen?“, fragt er noch einmal.
„Es geht mir gut“, bringe ich gepresst raus.
Semjon sieht mich noch immer an und ich schlucke schwer, als seine Finger mein Haar aus dem Gesicht streichen und auf meiner Wange zum Liegen kommen. „Ich habe gelogen. Damals“, murmelt er. „. Du bist alles, was sich ein Mann wünschen kann. Ich habe noch nie jemand wie dich kennengelernt.“
Ich sehe in seine Augen und kann mich nicht rühren. In ihnen steht soviel mehr, als sonst während seine Fingerspitzen über meine Haut streichen. „Und deshalb musst du jetzt aufhören mich so anzusehen.“
Meine Gedanken rasen. „Wieso?“, bringe ich raus.
Semjon schüttelt den Kopf und lässt mich dann frei.
„Semjon?“, entkommt es mir unglücklich.
Sein Blick schweift in die Ferne.
„John? Ich brauche eine Antwort auf die Frage. Wieso?“, flehe ich ihn an.
Er schweigt und ich mache einen Schritt auf ihn zu und sehe zu ihm hoch, weil ich eine Antwort brauche. Weil ich die Antwort kenne. Weil ich sie hören muss.
„Bekomme ich jetzt nicht einmal mehr eine Antwort auf so eine einfache Frage?“, hake ich nach und will ihn am Liebsten schütteln.
Semjons Augen wandern über mein Gesicht, bevor er mir einen kühlen Kuss auf die Stirn drückt.
„Du solltest mit Christobal ausgehen. Er ist verrückt nach dir.“
Er will an mir vorbei treten, doch ich halte ihn auf, indem ich nach dem Revers seines Mantels greife.
„Das interessiert mich nicht. Weil ich in einen anderen verliebt bin“, entkommt es mir entnervt. „Weil ich in dich verliebt bin.“ Ich spreche die Worte aus, bevor ich darüber nachdenken kann und bin über meine eigene Courage erstaunt.
„Ich muss jetzt gehen“, bringt Semjon nach einer scheinbaren Ewigkeit hervor.
„Semjon!“, fahre ich ihn an. „Wie kannst du-“
Semjons Hände wandern in mein Haar. „Wieso Marlen? Wieso, hm? Ich habe nie etwas anders getan, als dich unglücklich zu machen! Wegen mir wurdest du entführt und du quälst dich seit sechszehn Jahren mit der Erinnerung daran. Und jetzt schon wieder!“
Er schluckt schwer und sieht das erste Mal wie ein Mensch aus und nicht wie der Boss der Dunklen. Unglücklich.
„Für dich wäre ich gern ein besserer Mensch. Aber ich bin es nicht. Und deshalb kann ich das hier einfach nicht machen. Ich weiß, Nikita und die anderen warten darauf, dass ich meine Gefühle für dich erkenne und wir glücklich bis an unser Lebensende sind. Ich kenne meine Gefühle. Aber es gibt kein Happy End. Nicht mit mir…und deshalb werde ich jetzt gehen“, sagt er zögernd.
Und damit lässt er mich stehen. Verschwindet in der Dunkelheit, wie ein Schatten, bevor ich ihm etwas erwidern kann.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 30

 



Das ist doch bitte nicht sein Ernst! Entgeistert hinter ihm her starrend, balle ich die Hände zu Fäusten. „Du verfluchter… “, fange ich an zu fluchen, doch mir mag nicht so recht einfallen, mit was ich ihn betiteln soll.
Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ich heillos verwirrt bin. War Semjon gerade vorhin eifersüchtig auf Devon, oder nur wütend darauf, dass er mich alleine gelassen hat? Und er kennt seine Gefühle?
„Was zum Teufel soll das heißen? Liebst du mich auch und bist nur zu feige oder haben sie alle unrecht und du stehst einfach nicht auf mich?“, schreie ich in den anbrechenden Morgen hinein.
Ich betrachte den vereisten Asphalt unter meinen Füßen und schnaube frustriert. „Du hättest mich wenigstens noch nach Hause bringen können!“, schimpfe ich, während ich versuche auf den Beinen zu bleiben.
„Würdest dich für mich umbringen lassen, aber nimmst in Kauf, dass ich mir hier den Hals breche! Ein wahrer Gentleman“, rede ich mich in Rage und lande, kaum dass die Worte meinen Mund verlassen haben auf meinem Hintern.
„Au“, hisse ich auf und fahre mir übers Gesicht. „Das ist einfach nicht fair.“
Da der Boden doch recht kalt ist, stehe ich schließlich mit einem tiefen Seufzen auf und klopfe mir den Schnee vom Hintern.
Keine Happy Ends. Nicht mit ihm.
„Dieser Kerl macht mich verrückt“, schnaube ich entnervt und trete mit vorsichtigen Schritten den weiteren Heimweg an.


Als ich zehn Minuten später endlich die Zimmertür hinter mir zuziehe und mir meinen Mantel ausziehe, der dank zwei weiterer Ausrutscher ein paar Matschflecken abgekommen hat, stelle ich fest, dass mein Bett belegt ist.
Mein bester Freund liegt zwischen den Kissen, nur mit Boxershorts und meinem AC/DC- Shirt, von dem er behauptet, es würde ihm noch immer gehören, bekleidet. Einen der durchtrainierten Arme auf die Brust gelegt, die andere unter das Kissen gestopft, schläft er tief und fest.
Ich seufze bei seinem friedlichen Anblick, ziehe mir mein Top über den Kopf und pfeffere es in die Zimmerecke. „Dein Bruder ist ein Arschloch“, informiere ich den schlafenden Devon, während ich mir meine Schuhe ausziehe, obgleich ich mir ziemlich sicher bin, dass er sowieso nicht aufwachen wird, egal wie laut ich schimpfen werde. Neben Devon könnte eine Bombe explodieren und er würde weiter wie ein Stein schlafen.
„Ich habe ihm gesagt, ich liebe ihn und seine Antwort war, er geht jetzt!“, erzähle ich meinem schlafenden besten Freund, während ich um die Ecke wandere um mir mein Ich- liebe- Kekse- Shirt aus dem Schrank zu fischen.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, du ignorierst mich“, murmle ich leise.
Ich ziehe mir mein Keks-Shirt über und werfe Devon einen kritischen Blick über die Schulter zu. Seine vollen schwarzen Locken liegen wie ein Hahnenkamm auf dem Kissen, während seine recht kurz geschnittenen Seiten gesittet am Kopf anliegen und ich verstehe den Aufriss, den der Rest der Frauenwelt um ihn macht in dem Augenblick ein wenig.
Er sieht so gut wie seine Halbbrüder aus.
Vielleicht sogar besser.
Aber ich bin fürchte ich voreingenommen.
Mich aus meiner Lederhose pellend wandert mein Blick über Devons breite Brust. Seine muskulösen Arme und den Waschbrettbauch.
Ich empfinde nichts dabei.
Er ist einfach mein bester Freund, während mein Herz und selbst mein Körper nach Semjon hungern.
„Wieso kann ich nicht in dich verliebt sein? Es wäre so viel einfacher mit dir“, entkommt es mir frustriert.
Devon bewegt sich nicht. Auch nicht, nachdem ich neben ihn unter die Decke krieche, die ich vorher mühsam unter ihm hervor ziehen musste.
„Du würdest sogar den Weltuntergang verschlafen“, schmunzle ich amüsiert und breite die Decke über uns aus, bevor ich ihm einen Kuss auf die Wange drücke und versuche ebenfalls ins Reich der Träume zu gelangen, in dem mein bester Freund schon längst angekommen ist.


Ich werde von einem lauten Poltern geweckt. Gefolgt von einem ausgiebigen Fluch.
Devon.
Ich öffne müde die Augen und brauche ein paar Augenblicke um zu kapieren, dass er wohl irgendwo im Bad steht und ihm etwas runtergefallen ist.
„Alles klar bei dir?“, will ich mit einem Gähnen wissen.
„Ja. Mein Rasierer ist nur abgestürzt.“ Devon hört sich noch ziemlich verschlafen an. So verschlafen, wie ich mich fühle.
„Ein gewisser Magnus hat vorhin auf deinem Handy angerufen. Lange. Davon bin ich wach geworden. Hat ewig gedauert, bevor ich es gefunden habe. Hab´s auf den Nachttisch gelegt.“
Ich gähne nochmals in mein Kissen und taste nach meinem Telefon.
Ein verpasster Anruf.
Schien also nicht sonderlich wichtig zu sein, sonst hätte er es wohl noch ein zweites Mal versucht. Trotzdem entschließe ich mich zurück zu rufen, da ich ihm einiges verdanke.
Er meldet sich schon nach dem zweiten Läuten. „Ja?“
„Hey, ich bin´s… Lenny.“
„Schön dass du zurück rufst. Ich hoffe ich habe dich nicht gestört?“, fragt er mich höflich.
„Nein. Ich habe bis eben geschlafen… was gibt´s denn?“, möchte ich neugierig wissen.
„Eigentlich nichts. Ich wollte mal hören… wie es dir so geht. Mich bedanken, dass du zurück gekommen bist… und so“, murmelt er zögerlich und scheint fast ein wenig verlegen zu sein.
„Diesen Dank kann ich nur zurückgeben Magnus. Alleine hätte es niemand da raus geschafft.“
Magnus schweigt eine Weile. „Tut mir sehr Leid, was passiert ist. Ich hätte meiner Adoptivmutter viel früher auf die Schliche kommen müssen. Schon bei der Sache mit Mira hätte mir klar sein müssen, dass sie vollkommen den Verstand verloren hat… genau wie ihr Bruder. Ich hätte schon damals etwas sagen müssen.“
„Welche Sache?“, hake ich neugierig wie ich bin nach.
Magnus lässt ein schweres Seufzen hören. „Nicht wichtig. Ich versuche diese Sache schon eine ganze Weile zu vergessen, denn sie wirft kein gutes Licht auf mich... Hat mich zu jemandem gemacht, der ich nie sein wollte… jedenfalls wollte ich dich fragen, ob… wir uns mal zum Kaffee treffen wollen?“ Sein Zögern verrät mir, dass es sich nicht zu einem lauschigen Plausch unter Freunden einlädt, sondern dass mehr dahinter steckt.
Und deshalb weiß ich nicht, was ich antworten soll, während Devon mit freiem Oberkörper um die Ecke gebogen kommt und die Augen zusammenkneift.
„Ich frage dich nach einem Date, Marlen. Falls du es noch nicht-“
„Ich habe dich schon verstanden“, unterbreche ich ihn. „Ich bin nicht auf den Kopf gefallen.“
Devons Gesicht verzieht sich zu einem dreckigen Lächeln. „Das bezweifle ich manchmal“, formen seine Lippen lautlos und ich werfe ein Kissen nach ihm.
„Also… was sagst du?“ Magnus lässt es sich nicht nehmen, noch einmal nachzuhaken, während meine Gedanken rasen.
Ich sollte ihm eine Chance geben. Er hat das Gleiche wie ich durchgemacht. Er hat Amon getragen. Er hat versucht mich zu warnen. Und im Gegensatz zu Semjon hat er mich nach einem Date gefragt. Wenn Semjon mich nicht haben will, andere hätten mich nur zu gerne.
Meine Entscheidung fällt endgültig, nachdem ich mir Semjons Reaktion auf mein Ich liebe dich, nochmal vor Augen führe.
„Ich sage ja“, beende ich schließlich Magnus Qual des Wartens.
„Klasse. Hast du nachher Zeit?“
„Ich weiß nicht. Wie spät ist es denn? Mein bester Freund ist nämlich zu Besuch und ich wollte eigentlich den Tag mit ihm verbringen.“
„Es dürfte noch genug vom Tag übrig sein. Es ist erst halb drei.“
Devon lässt sich neben mich auf die Matratze fallen. „Ich bin alt genug um mich selbst zu beschäftigen, meinst du nicht?“
„Okay. Sagen wir halb sieben. Du suchst das Café aus.“
„Einverstanden. Ich schreib dir die Adresse. Ich freu mich.“
„Ich mich auch.“
Mein Smartphone weglegend, begegne ich Devons kritischem Blick. „Da du gerade offenbar ein Date mit Magnus klar gemacht hast, scheint deine Aussprache mit Semjon nicht so verlaufen zu sein, wie du dir das vorgestellt hast.“
Kurz überlege ich, einfach die Decke über mich zu ziehen bei dem Thema, doch da es sich bei meinem Gesprächspartner um Devon handelt, würde das wohl nicht viel nützen.
„Richtig“, antworte ich ihm daher ergeben. „Es war eine Katastrophe. Immerhin weiß er jetzt, dass ich ihn liebe.“
„Ja und?“, fragt Devon und ich könnte ihm für seine Begriffsstutzigkeit ohrfeigen.
„Ja und was?“, fahre ich ihn an.
„Was hat mein Bruder genau gesagt?“
Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihn stellvertretend für seinen Halbbruder zu schütteln.
Devon rauft sich die Haare, bevor er den Kopf schüttelt und eine Hand um meine Schultern schlingt. „Lenny, du musst schon mit mir reden. Ich kann keine Gedanken lesen.“
Er riecht nach Rasierschaum und Seife, als er mich zwingt ihm in die blutroten Augen zu sehen. „ Also?“?“
„Ich will nicht darüber sprechen. Ich habe in knapp vier Stunden ein Date“, würge ich meinen besten Freund ab, bevor ich heulend zusammenklappe.
„Dieser Magnus, scheint keine schlechte Partie zu sein. Ich hoffe sehr, ich muss ihm nicht den Hals umdrehen“, grinst Devon milde und lässt mir meine schwache Ausrede einfach so durchgehen, nachdem er eine Weile ins Nichts gestarrt hat.
„Das hoffe ich auch. Denkst du, du kannst dich nachher ein oder zwei Stunden allein beschäftigen?“
Devon wuschelt mir durch das heillos verwirrte Haar. „Lenny, sag mir einfach wann ich dich wieder abholen soll. Ein Kindermädchen hab ich noch nie gebraucht.“


Ein kalter Wind bläst mir ins Gesicht, als ich in Richtung des hell erleuchteten Hafenbeckens schlendere. Die Wellen brechen schmatzend an der hohen Hafenmauer, deren schmiedeeisernes Geländer sich vor mir auftut.
Es herrscht geschäftiges Treiben, das hin und wieder von gut gelauntem Gelächter durchbrochen wird oder von hektisch in ein Telefon quasselnden Passanten, die mir entgegenkommen.
Das alte Fachwerkhaus, in dem die Windjammerbar untergebracht ist, quetscht sich zwischen zwei große Jugendstilhäuser und die Bodentiefen Fenster, hinter denen viele kleine, vollbesetzte Tische stehen, lassen die kleine Bar noch charmanter wirken.
Ich betrete das scheinbar vollbesetzte Lokal mit einem Lächeln, das von dem Vollbartträger hinter dem auf Hochglanz polierten Tresen erwidert wird, als er gerade einem Gast ein frisch gezapftes Bier unter die Nase stellt.
Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und lasse meinen Blick durch die Bar gleiten.
Die dunkle Holzvertäfelung, die Seemotive an den Wänden und die schummrige Deckenbeleuchtung, genau wie der Wind, der ums Haus pfeift, lassen diese Bar wie ein Überbleibsel aus einer längst vergangen Zeit wirken.
„Hey Marlen!“, höre ich Magnus da auch schon rufen.
Er sitzt am gegenüberliegenden Ende der Bar vor einem großen Fenster, an einem kleinen Tisch. In der einen Hand ein Buch, die andere hat er zum Gruß erhoben. Er lächelt mir entgegen und ich kann einfach nicht fassen, dass er das sein soll.
Als ich entführt wurde, da hatte er eine Menge Gestrüpp im Gesicht. Sein blondes Haar war total verdreckt und seine Klamotten hingen in Fetzen von ihm.
Und jetzt sieht er aus, wie ein verfluchtes Supermodel. Sein hellblondes Haar ist kurz geschnitten, sein Gesicht glatt rasiert und seine beeindruckenden Ausmaße stecken in einem grauen Strickpullover und einer dunklen Hose.
Ich quetsche mich an den vollbesetzten Tischen vorbei, entschuldige mich höflich bei zwei Damen für die Unannehmlichkeiten, die ich ihnen bereite, als diese Aufstehen müssen um mich durch zu lassen und schaffe es schließlich zu Magnus zu kommen, der aufsteht um mir den Stuhl zurück zu schieben.
„Danke. Wartest du schon lange?“, begrüße ich ihn höflich, als ich Platz genommen habe.
„Nein. Ich hatte was zu lesen“, meint er mit einem Schulterzucken und klopft auf eine verlesene Ausgabe von die Kunst des Krieges. „Lag dahinten rum.“
Er deutet auf ein kleines Regal, indem ein paar abgegriffene, in die Jahre gekommene Schmöker stehen, die man gemeinhin als unverzichtbares Kulturgut beziffert.
„Und steht was interessantes drin?“, frage ich höflich.
„Nicht mehr. Pius hat mich schon früh genötigt Sunzi zu lesen. Ich kann das Ding nicht mehr sehen, auch wenn ein paar intelligente Sachen drin stehen.“
„Du hast es trotzdem herausgezogen. Scheint also, du würdest daran hängen.“
„Scheint wohl so“, stimmt er mir nach kurzer Bedenkzeit zu und schiebt das Buch zur Seite. Seine dunkelroten Augen fixieren mich neugierig, während ich seine gleichmäßigen Gesichtszüge bewundere.
Er zieht eine Augenbraue nach oben. „Was ist?“, möchte er wissen.
„Nichts. In meiner Erinnerung sahst du nur nicht so gut aus“, erwidere ich ihm mit einem Schmunzeln.
„Das Kompliment kann ich zurück geben.“
„Und trotzdem hast du dich entschlossen mit mir auszugehen“, lächle ich.
Magnus legt den Kopf schief. „Ja. Ich dachte ein Versuch könne nicht Schaden.“
„Das dachte ich auch. Ich habe schon viel schlimmeren Typen eine Chance eingeräumt. Also erschien es mir nur fair, dir auch eine zu geben.“
Er schüttelt den Kopf und lässt ein Glucksen hören. „Du bist wirklich unglaublich charmant.“
„Ich bin nur ehrlich. Ich halte nicht viel von diesen gestelzten Konversationen, in denen es nur darum geht ein möglichst positives Bild von sich selbst zu zeichnen.“
Magnus Augen glitzern amüsiert, bevor er ein Stücken vom Tisch zurück rutscht und sich plötzlich seinen Pullover über den Kopf zieht und über seinen Stuhl hängt. Darunter trägt er ein dunkelgrünes Shirt, mit einem ausgewaschenen AC/DC Aufdruck.
„Ich hasse Strickpullover. Sie kratzen und sie sind viel zu warm. Der einzige Grund, weshalb ich ihn trage ist der, dass ihn mir ein ach so modebewusster Stilberater aufgeschwatzt hat. Er sagt, er würde lässige Eleganz ausstrahlen. Was mir eigentlich vollkommen egal ist. Ich interessiere mich nicht für Mode. Ich glaube sogar ich bin farbenblind. Wenn du also vorschlägst, wir sollen ehrlich sein, solltest du das wissen.“
Ich kann mein Lachen nicht unterdrücken. „Lässige Eleganz, hm? Ich kann zwar nicht viel zu deinem Pullover sagen, aber dein Shirt mag ich. Und wenn du farbenblind bist, naja… Hauptsache, du hast überhaupt was an.“
„Hm, also ich schätze manchmal ist es auch besser nichts anzuhaben.“
„Ich glaube soweit sind wir noch nicht, mein Lieber“, lache ich gut gelaunt.
„Wer sagt, dass ich das auf uns Beide bezogen habe?“, fragt er stichelnd.
„Ich wollte nur sicher gehen. Ehrlichkeit und so.“
Er deutet auf die Getränkekarte, die noch unberührt unter dem Buch liegt. „Hast du etwas, das du immer trinkst, oder musst du erst nachsehen, ob du etwas findest?“
„Großer Kaffee. Viel Milch. Zwei Zucker“, erkläre ich ihm ohne nachzudenken. „Und du?“
„Viel Kaffee. Schwarz“, entgegnet er mir. „Ich gebe mal kurz unsere Bestellung auf.“
Magnus kommt recht schnell, mit zwei riesigen Tassen bewaffnet zurück an unseren Tisch und stellt die beinahe randvolle Kaffeetasse unter meine Nase. „Eine der Bedienungen ist krank. Ich war so frei und hab daher gleich die Laufarbeit übernommen.“
„Wenn du dich benimmst, lasse ich mich vielleicht sogar dazu breit schlagen, dir nachher Trinkgeld zu geben“, grinse ich.
Er kneift die Augen zusammen. „Hm. Das muss ich mir noch überlegen. Immerhin willst du ja, dass wir ehrlich sind.“
„Bist du etwa so schlimm?“, hake ich nach und umfasse den Henkel meiner Tasse.
„Eigentlich nicht… zumindest dachte ich das immer“, er räuspert sich. „Aber man lernt immer wieder etwas Neues über sich.“
„Wie meinst du das?“
Er sieht mich eine Weile an, bevor er den Kopf schüttelt. „Es ist keine gute Geschichte für ein erstes Date. Schätze, danach willst du nichts mehr mit mir zu tun haben.“
„Versuch es doch einfach. Du hast eine ganz schön große Anzahl an Pluspunkten, die du verballern kannst und den Inhalt einer ganzen Tasse Kaffee. Wenn das was zwischen uns werden sollte, wirst du mir es ohnehin erzählen müssen.“
Magnus fährt sich durchs Haar. „Na schön. Aber lass mich wenigstens zu ende erzählen, bevor du gehst, okay?“
Ich nicke verdattert.
„Du weißt doch, dass Semjon einst Pius Tochter Mira hätte heiraten sollen, oder? Sie aber weggerannt ist und durch einen faszinierenden Zufall bei Rome Darren, Semjons älterem Halbbruder und Chef der 24. Abteilung gelandet ist, oder?“
„Ja. Das ist mir bekannt“, bestätige ich ihm.
„Nun ja. Was allerdings kaum jemandem bekannt ist, ist das Eudoxia, Abenezers Schwester, ihre Tochter Mira gefunden hat. Und es sollte an mir sein, sie wieder nach Hause zu holen. Ich sollte sie verführen, weil sie schon immer eine Schwäche für mich gehabt hatte.“
Ich umfasse den Henkel etwas fester und fixiere ihn nachdenklich. Er sieht nicht weg. „Sie hat mir gedroht mich zu enterben und ich muss gestehen, diese Drohung war ziemlich eindrucksvoll für mich, wenn man mal davon absah, dass ich ihr gefallen wollte. Immerhin war sie meine Adoptivmutter. Ich habe also versucht Mira zu verführen. Was mir nicht gelang, obgleich ich ihr sogar angedroht habe, ihren Aufenthaltsort zu Hause zu verraten. Hab sie beschimpft. Hat nicht gewirkt. Sie ist zurück zu Semjons Halbbruder gerannt. Und ich dachte damit sei nicht nur mein Erbe gelaufen, sondern auch dieser seltsame Auftrag von Eudoxia. Und für mich war er das auch. Für Abenezers Schwester aber nicht. Während ich zuhause einen Heiden Ärger hatte, hat Eudoxia größere Geschütze ausgefahren. Sie wollte ihre Tochter um jeden Preis, nach Hause holen. Dazu hat sie sogar eine Bombe unter Romes Auto installieren lassen. Wollte ihn umbringen. Dachte dann kommt ihre Tochter zurück nach Hause gekrochen. Rome ist aber nicht gestorben. Niemand ist gestorben... Aber aus unerfindlichen Gründen, haben die meisten geglaubt, ich sei das mit der Bombe gewesen. Allen voran Mira. Hat irgendetwas von einem Zettel geredet und ist wie eine Gestörte auf mich los gegangen.“
Ich sehe ihm in die Augen. Sehe ihm in die Augen und entdecke die Schuld in seinem Blick. Er ist wirklich kein schlechter Kerl.
„Hört sich für mich an, als hättest du ein echt mieses Jahr hinter dir“, sage ich schließlich.
„Nenn es wie du willst. So will ich auf jeden Fall nie wieder enden. Dass Rome mich zum krönenden Abschluss auch noch ins Krankenhaus befördert hat, war nur ein weiterer Tiefpunkt eines beschissenen Folge von Ereignissen.“
Ich lege meine Hand auf seine und schenke ihm ein Lächeln. „Scheint so, als hättest du deiner Adoptivmutter einiges zu verdanken.“
„Willst du nicht gehen?“, möchte er unglücklich wissen.
„Nein.“
„Manchmal frage ich mich, wie mein Leben ohne all die Verrückten gelaufen wäre und ich mehr Rückgrat hätte“, seufz er.
„Für mich hört es sich so an, als wärst du auf dem besten Weg dir ein Rückgrat zuzulegen“, lächle ich ehrlich und nippe an meinem Kaffee.
„Bist du sicher, dass du nicht Gehen willst?“
„Ja.“

Ich weiß nicht, wie lange wir Beide schon über unserem Kaffee sitzen, oder wie lange wir uns in die Augen gesehen haben, während wir über Gott und die Welt geredet haben, als wir uns schließlich entschließen noch ins 24/7 zu gehen. Devon, den ich vorhin kurz an der Leitung hatte, schien schon beschäftigt zu sein, weshalb ich nicht weiter nachgefragt habe, ob er Lust hat mitzukommen.


Magnus zieht mich in seine Arme. Einfach so. Ich stehe an seine Brust gelehnt da und sehe die Laser über mich hinweg zucken.
„Du siehst gut aus“, murmelt er in mein Haar. „Wenn ich dich nerve, sag es einfach. Ich bin nämlich betrunken.“
„Ist schon in Ordnung.“
„Gut. Ich will nämlich niemandem auf den Schlips treten“, nuschelt er und zieht mich noch ein wenig näher an sich.
„Ich kuschele gerne mit gutaussehenden Männern“, sage ich amüsiert und lege meine Hände auf seine. Meine Finger reichen kaum bis zu seinem zweiten Fingerglied und ich streiche fasziniert über seine weichen Handrücken.
Er zieht mich ein Stückchen näher und lässt meine Finger wie von selbst zwischen seine gleiten. „Ich kuschele auch gern mit schönen Frauen“, erwidert er mir leise.
Es ist spät und obgleich ich Magnus sehr gerne mag spüre ich kein Kribbeln, bei seinen Berührungen. Da sind keine Funken, kein Drang mich enger an ihn zu schmiegen, meine Lippen auf seine zu drücken und mit ihm in wildem Liebesspiel in die Kissen zu sinken. Alles was ich denken kann ist, dass er nicht Semjon ist. Dass Semjons Hände mich nie so umschlingen werden, dass seine Lippen nie so über meine Ohrmuschel streifen werden.
Ich spüre die Tränen in meinen Augen stehen und mache mich von Magnus los. „Tut mir Leid. Ich… kann das nicht. Ich… ich muss jetzt gehen.“
„Lenny!“ Mein Spitzname, den er in den letzten Stunden so oft gebraucht hat, drückt Entsetzen aus. „Wenn ich dir zu nahe-“
„Es liegt nicht an dir. Du bist toll. Ich muss nur… weg“, ende ich lahm.
„Ich fahr dich nach Hause“, bietet er mir an. „Ich schwöre, ich lasse die Finger von dir.“
Gott, der Kerl ist ein echter Gentleman, er ist nett, er ist gebildet und er sieht gut aus. Wieso muss ich an dieser katastrophalen Geschmacksverirrung leiden?
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange. „Du hast eine grandiose Frau verdient, Magnus. Du bist toll. Aber ich…bin in ein Arschloch verliebt. Und deshalb muss ich jetzt gehen.“
Ich hätte lügen können. Aber ich bringe es nicht über mich, diesem Mann ins Gesicht zu lügen. Dazu mussten wir Beide zu viel durchmachen.
Magnus breite Schultern straffen sich. „Semjon.“
Diese Feststellung überrascht mich nun doch etwas. „Ist es etwa so offensichtlich, dass ich in den Boss der Dunklen verliebt bin?“
Mein Gegenüber schüttelt den Kopf. „Nein. Aber da ist er.“
Ich fahre wie von der Tarantel gestochen herum.
Semjon steht inmitten der Tanzenden, wie ein bedrohlicher Schatten. Seine hochgewachsene Gestalt überragt die zappelnden Menge um einen ganzen Kopf. Sein tintenschwarzer Schopf, die aristokratischen Züge, der schwarze Anzug - ich hasse in diesem Augenblick jedes einzelne seiner Attribute, die mich so anziehen. Doch allem voran, hasse ich die unnatürlich dunklen Augen, die zu uns herüber sehen.
„Mach´s gut, Magnus.“
Wie ich festgestellt habe, bin ich ganz gut im weglaufen und ich bin gerade dabei zu flüchten, als er plötzlich vor mir steht.
Er sieht unfassbar wütend aus. „Du hast dir erstaunlich schnell einen neuen Spielgefährten zugelegt.“
Seine Pupillen sind Stecknadel groß, obwohl es hier drin wirklich finster ist und ich höre seinen Kiefer knacken, als sein Blick an mir vorbei zu Magnus schweift.
„Was willst du hier?“, presse ich hervor und unterdrücke das Bedürfnis mich gegen seine breite Brust fallen zu lassen.
Meine Finger krallen sich um das Treppengeländer.
„Devon hat mit mir gesprochen.“
Semjons Stimme fliest unter dem dröhnenden Bass dahin. Jede einzelne Silbe so verständlich, als wären wir vollkommen allein. Er sieht mich nicht an. Magnus scheint seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln.
„Wie schön für dich. Lässt du mich bitte vorbei. Ich möchte gehen“, entgegne ich ihm eisig.
Er reagiert nicht. „Empfindest du etwas für ihn?“, fragt er schließlich und ich sehe erschrocken dabei zu, wie sich seine Hände zu Fäusten ballen. Er wirkt wie ein Raubtier, das sich gleich auf seine Beute stürzen wird.
„Marlen?“, höre ich Semjon knurren und ich zucke zusammen, als ich mehr der Tatsache gewahr werde, dass er zittert. Und zwar vor Wut.
„Ich … mag ihn und jetzt… sag mir, was du hier willst“, wispere ich und werde von der Laserbeleuchtung geblendet, die gerade über unsere Köpfe hinweg zuckt.
„Ich werde mich nicht wie ein trotziges Kind benehmen, wenn du Magnus gern hast“ spukt er. „Offenbar scheinst du sehr gut ohne mich klar zu kommen.“
Ich sehe ihm in sein schönes unbewegtes Gesicht, das noch immer auf Magnus hinter mir gerichtet ist.
„Semjon, was willst du von mir? Du kannst hier nicht einfach auftauchen und mürrisch Magnus anstarren und irgendwas vor dich hin brabbeln, dessen Logik nur du verstehst! Es reicht!“
Seine Augen finden meine, bevor er den Kopf schüttelt und noch einmal zu Magnus sieht. „Geh mir bitte aus den Augen. Ich will dir nichts brechen müssen.“
„Was zum Teufel-“, fange ich an, während Pius Adoptivsohn das Genick einzieht und sich an uns Beiden vorbei duckt.
Semjon sieht ihm mit zusammengekniffenen Augen hinterher, dreht sich dann zu mir und streicht mir eine Strähne aus der Stirn. „Er hat dich zum Weinen gebracht“, stellt er eisig fest.
„Nein“, antworte ich ihm und spüre mein Kinn zittern. "Das warst du."
Ich kann ihm dabei zusehen, wie seine Lippen sich weiß verfärben. „Das wollte ich nie… deshalb bin ich auch hier“, sagt er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Mein Halbbruder hat ein paar ziemlich kluge Sachen gesagt. Und … ich schätze ich habe mich wie ein totaler Idiot verhalten.“
Ich kann mich nicht rühren.
„Ich glaube ich schulde dir noch eine Antwort auf deine Frage.“
Mein Blut rauscht in meinen Ohren und ich glaube den Boden unter den Füßen zu verlieren.
„Du hast mich gefragt, weshalb ich gelogen habe. Die Antwort ist: weil ich dich von mir fern halten wollte. Weil es gefährlich in meiner Nähe ist.“
„Und weshalb bist du heute Morgen gegangen, als ich sagte, ich liebe dich?“, flüstere ich heiser.
„Weil ich Schuld daran habe, dass du entführt wurdest. Zwei Mal. Und weil es nicht das letzte Mal gewesen war, dass sie versuchen werden dichzu benutzen um mich zu kriegen. Ich will dir nicht dein Leben kaputt machen. Nicht noch einmal.“
Meine Brust fühlt sich an, als wolle sie gleich explodieren. „Und weshalb bist du dann hier?“
„Weil dein bester Freund sagt, ich wäre ein Idiot. Dass du dich wehren kannst und ich dich mit meinen Worten mehr verletze, als es ein Typ wie Abenezer jemals könnte.“
Verdammt. Mein bester Freund ist ein verfluchtes Genie! Wie konnte ich ihm jemals Begriffsstutzigkeit unterstellen?
Irgendwie schaffe ich es zu nicken. „Aber wieso interessiert dich das überhaupt? Ich meine, weshalb kümmert es dich ob-“
Semjons Hand wandert auf meine Wange. „Außerdem solle ich mich nicht anstellen wie ein zurückgebliebener Dreizehnjähriger und endlich kapieren, dass du ohnehin in Gefahr bist egal ob du mit mir zusammen bist oder nicht. Und ich gebe zu, da hat mein besserwisserischer, kleiner Bruder schon wieder recht. Und nun zu deiner eigentlichen Frage. Die Frage, weshalb mich das alles kümmert was mit dir passiert.“
Er sieht zu Boden und ich kann ihm dabei zusehen, wie seine Schultern sich straffen, bevor seine braunen Augen meinen begegnen. „Es interessiert mich, weil du nicht irgendein Mädchen für mich bist. Ich meinte es ernst, als ich sagte, dass ich noch nie jemanden wie dich getroffen habe… du bist mein Mädchen. Und wenn dein Date nicht gegangen wäre, hätte ich ihn nach allen Regeln der Kunst zerlegt. Nicht weil er dich vielleicht zum Weinen gebracht hat, sondern weil er dich angefasst hat.“
„Semjon“, entkommt es mir vollkommen sprachlos.
„Und wenn wir schon dabei sind, will ich nicht, dass Devon in deinem Bett schläft. Wenn ihr nichts am Laufen habt, dann hat er darin nichts verloren. Keiner-“, setzt er nachdrücklich an „hat darin irgendetwas verloren. Wenn ich jemanden nochmal darin erwische, dann…“, er räuspert sich. „Entschuldige. Ich weiß, ich habe kein recht Ansprüche zu stellen.“
Er lässt seine Hand sinken und weicht meinem Blick aus. „Ich verstehe wirklich, wenn du erst mal genug von mir hast-“
Seine Worte ersterben, als ich meine Lippen auf seine presse und gegen ihn sinke. Meine Hände schlingen sich um seinen Nacken, während sein Mund noch immer starr auf meinem liegt und ich will mich schon von ihm losmachen, als er mich plötzlich an sich reißt.
Seine rauen Lippen verstärken den Druck auf meine und seine Arme haben sich so fest um meinen Brustkorb gelegt, dass ich keine Chance habe zu entkommen.
Er schmeckt nach Kaffee und Schnee und ich glaube, ich verliere demnächst den Boden unter den Füßen.
Gott, kann der Kerl küssen!
Ich spüre seine Fänge unter seinen Lippen. Lang und scharf und ich merke, wie mein eigenes Zahnfleisch zu bitzeln beginnt, während er mich hungrig in seinen Armen hält und mir den letzten Rest Verstand mit diesem Kuss stielt. „Ich werde dich jetzt nach Hause bringen.“
Es ist keine Frage, die er mir da gegen meinen Mund wispert.
„Du schläfst heute Nacht in meinem Bett.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 31

 



Semjons Hand liegt auf dem Weg durch den Club auf meinem Rücken. Die schlichte Berührung lässt meinen ganzen Körper sehnsüchtig kribbeln und ich erwische mich dabei, wie mein Blick immer wieder über meine Schulter schweift um sicherzugehen, nicht zu träumen.
„Hattest du einen Mantel dabei?“, möchte er wissen, als wir in den hellen Eingangsbereich des Clubs treten.
Ich schaffe es zu nicken und krame mit fahrigen Fingern in meiner kleinen Handtasche nach der kleinen runden Marke mit der Nummer für meine Lederjacke, die ich aus unerfindlichen Gründen nicht in meinen Geldbeutel gestopft habe. Das kleine Edelstahlding finde ich zwischen einer längst vergessenen Packung Kaugummi, einem nicht funktionierenden Feuerzeug und einem Lippenstift an dessen Kauf ich mich nicht erinnern kann. Woraus ich schließe, dass meine kleine Schwester sich diese Tasche irgendwann einmal ausgeborgt hat, ohne mich darüber zu informieren. „Das Genie überblickt das Chaos das es selbst produziert hat“, meine ich triumphierend und kann Semjons Augenbraue nach oben wandern sehen.
Er schweigt und ich beeile mich meine Jacke entgegen zu nehmen.
„Das ist doch kein Mantel.“ Semjons braune Augen fixieren meine kurze Lederjacke. Ein Schnäppchen aus einem der unzähligen Secondhandläden, die sich im Stadtzentrum tummeln und ich finde sie passt äußerst gut zu meinem restlichen Outfit. Sowohl zu dem schlichten hell rosa Kleid, als auch zu den schwarzen Wildlederstiefeln und den schwarzen Strümpfen.
„Es ist eine Jacke“, widerspreche ihm verwirrt. „Das stand auf dem Preisschild, da bin ich mir doch recht sicher.“
„Nein. Ist es nicht“, sagt er entschieden und ich sehe ihm verdattert dabei zu, wie er aus seinem Sakko schlupft. „Auch wir Vampire können uns eine Erkältung einfangen. Das scheint dir offenbar nicht klar zu sein. Dass du dir bei deiner Flucht keine Lungenentzündung geholt hast, war wirklich ein Wunder.“
Bevor ich den Mund öffnen kann, hat er seine Anzugjacke um meine Schultern gelegt und ich werde von seinem Geruch umhüllt. „Mein Wagen steht gleich vor der Tür. Solange wird es wohl so gehen.“
Sein Arm wandert um meine Mitte und ich kriege keinen Ton raus, weil er mich mit dieser Geste vollkommen fertig macht.
„Das kannst du nicht machen“, stelle ich fest, als er mich durch die Tür nach draußen dirigiert und dabei nicht von meiner Seite weicht.
„Von was sprichst du?“ Semjons Kopf neigt sich ein wenig und ich mache mich von ihm los, weil er einfach zu viel ist.
„Das hier! Das geht einfach nicht! Du warst ein Arschloch! Du hast mir weh getan und jetzt- jetzt bist du so ein verfluchter Gentleman! Und sagst solche Sachen, wie du bist mein Mädchen. Das ist verrückt! Das ist vollkommen…unwirklich.“
Semjon schiebt die Hände in die Hosentaschen und zuckt mit den Schultern. „Ich denke ich habe dir lange genug vorgegaukelt, du seist mir egal. Findest du nicht? Ich bin ein Arschloch. Das stimmt schon und damit wirst du klar kommen müssen, denn letzten zwei Jahrhunderte hat das blendend funktioniert und habe nicht vor etwas daran zu ändern.“
Ich will ihm irgendetwas Kluges entgegnen, doch mir fällt nichts ein.
„Ich will dich nirgendwo stehen lassen. Ich will nicht, dass du in Armen von irgendwelchen Möchtegern Rockstars liegst oder dich mit irgendeinem anderen Arschloch in den Kissen wälzt, das nicht ich ist. Ich habe dir gesagt, ich bin kein guter Kerl. Ich bin ein Egoist. Das heißt aber nicht, dass ich nicht versuchen werde dich gut zu behandeln.“
Na toll. Sobald dieser Kerl mehr als drei Sätze an einem Stück sagt, verkauft man ihm seine Seele. Ach, was denke ich denn da? Ich würde sie ihm schenken mit einem Schleifchen drum, wenn er mich darum bitten würde.
„Lass uns endlich zum Wagen gehen“, befiehlt er mit seiner tiefen Stimme ernst, legt mir seinem Arm um die Schulter und schiebt mich einfach mit sich.
„Aber-“
„Du kannst mit mir diskutieren, sobald du im Warmen sitzt“, unterbricht er mich und öffnet die Beifahrertüre seines Mercedes.
„Semjon, das ist doch-“
„Bitte“, entgegnet er mir schlicht und ich begegne erstaunt seinen braunen Augen. „Steig ein“, wiederholt er sich höflich und ich tue mit einem Schnauben, was er verlangt.
„Du magst es nicht, wenn ich dir sage, was du tun sollst. Richtig?“, fragt er, die Fahrertür hinter sich schließend und ich sehe ein Lächeln über seine Lippen huschen. Nur kurz, aber doch so verschmitzt, dass ich ihn nur ungläubig anstarren kann.
„Ja“, bringe ich schließlich raus. „Ich bin kein kleines Kind mehr. Außerdem bin ich ein Vampir. Ich glaube kaum, dass mich eine Erkältung umbringen kann.“
„Es gibt einen sehr interessanten Artikel von der menschlichen Journalistin Ann Jones. Er heißt „Am Ende auch nur tot“, in der es um genau jene ignorante Arroganz geht, an der unsere gesamte Art zu leiden scheint.“
„Kommst du mir jetzt ernsthaft mit einem Zitat von irgendeiner Tussi, während wir über die ausgesprochen unwahrscheinliche Möglichkeit diskutieren, dass ich mir eine Erkältung einfange?“, entkommt es mir vollkommen von den Socken und schnalle mich an, da er schon den Wagen startet.
„Ja. Denn irgendwie scheint der gesamten Welt entgangen zu sein, dass wir für etwas prinzipiell Unsterbliches, eine verdammt hohe Sterblichkeitsrate haben. Ich zum Beispiel kenne keinen einzigen Vampir, der älter als zweitausend Jahre geworden ist.“
Ich mache den Mund auf und wieder zu, bevor ich die richtigen Worte finde. „Und was willst du damit sagen?“, fahre ich ihn schließlich an, während er aus der Parklücke steuert und seinen Motor hochjagt.
Semjon schaltet zwei Gänge hoch und ich schlupfe in die viel zu langen Ärmel seines Jackets. „Um Jones weiter zu zitieren, hat es nicht nur etwas zutiefst Deprimierendes an sich, mit Gewissheit durch wiedernatürliche Umstände sterben zu müssen, sondern auch etwas zutiefst Sadistisches an sich mit der ständigen Angst zu leben, seine Unsterblichkeit schon im nächsten Augenblick, wie ein gewöhnlicher Mensch verlieren zu können. Tatsächlich seien wir Vampire doch eher zu bemitleiden, da unser Volk sich konstant selbst zerstören würde“.
„Semjon… sag doch einfach gerade heraus, dass du Angst hast mich an eine Grippe zu verlieren. Dann kann ich dir sagen, dass das Blödsinn ist. Außerdem solltest du, wenn du Angst hast, mir könne etwas zustoßen, mich das nächste Mal vielleicht nicht einfach in einem Eisfeld stehen lassen.“
Er wirft mir einen schnellen Blick zu, bevor er den Blinker setzt und in die nächste Straßen einbiegt. „Unter normalen Umständen, hätte ich dich nie dort stehen lassen. Aber ich hätte dich geküsst, wenn ich noch eine Minute länger geblieben wäre.“
„Und was wäre so schlimm daran gewesen mich zu küssen?“
Er lässt sich Zeit damit mir etwas zu entgegnen. „Nichts. Ich hätte danach nur nie wieder die Finger von dir lassen können.“ Er hört sich so ernst an, dass ich nicht recht weiß, was ich darauf antworten soll.
„Gute Antwort“, lächle ich schließlich milde gestimmt. „Und nun zu dem vorherigen Thema. Ich werde mein Leben nicht damit verbringen, jegliche Gefahren zu vermeiden. Es wäre kein Leben. Sterben müssen wir alle irgendwann einmal, ob vampirisch oder menschlich.“
„Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass du versuchen wirst unnötige Lungenentzündungen zu vermeiden?“
„Schätze schon.“
Wir Beide schweigen.
Erst als wir in die Tiefgarage einbiegen und Semjon seinen Mercedes abstellt, wage ich es wieder den Mund auf zu machen. „Puh, schon ganz schon spät.“
Er zuckt mit den Schultern. „Eigentlich nicht. Zumindest nicht für mich. Ich schlafe nicht gerade viel.“
„Ich finde schon. Außerdem habe ich was getrunken. Mir fallen beinahe die Augen zu“, flunkere ich, weil ich austesten will, ob er heute Abend mehr als nur schlafen will.
Semjon fixiert mich durchdringend und stellt dann den Motor aus. „Wie viel hast du getrunken?“
Ich zucke mit den Schultern, obwohl ich es ziemlich genau weiß. Praktisch nichts. Einen Kurzen.
Semjon steigt aus, umrundet den Wagen und öffnet mir schon wieder ganz Gentlemanlike die Wagentür. Er bedeutet mir meine Lederjacke und meine Handtasche liegen zu lassen. „Das kannst du morgen aus dem Auto holen.“
Seine Hand ist hält mich ein wenig zu lange fest, als ich aussteige und wir zum Aufzug herüber gehen. „Du solltest nicht mit jedem trinken“, sagt er unvermittelt und sieht mich an. Seine Augen sprühen beinahe Funken. „Ich mag es nicht, wenn du trinkst.“
Ich will schon etwas erwidern, doch seine Finger landen in meinen Haaren, kaum dass wir den Aufzug betreten haben. „Ich hasse es, wenn sie dich betrunken machen“, murmelt er gegen meine Lippen. „Das letze Mal, als du betrunken warst, hast du mit diesem Rocker rumgemacht. Ich war damals kurz davor ihm den Schädel einzuschlagen.“
Ich stöhne ungläubig auf, als seine Hände sich unter meinen Hintern wandern und er mich an der Wand hochschiebt. „Mach das nicht nochmal. Ich weiß nicht, ob ich mich das nächste Mal zügeln kann“, droht er mir, während ich gegen die Beule in seinem Schritt gepresst werde.
Durch meinen Körper läuft ein siedend heiser Schauer, der mich dazu bringt die Augen zu schließen und verzückt aufzustöhnen. „Das liegt ganz bei dir.“
„Ich meine das ernst, Marlen.“
„Das tue ich auch“, wispere ich und schlinge meine Beine um ihn. „Bring mich nicht dazu es auszuprobieren.“
Semjon lässt einen Laut hören, der mich dazu bringt bis auf weiteres zu diesem Thema den Mund zu halten. Stattdessen dränge ich mich gegen ihn und genieße die Wirkung die ich so offensichtlich auf ihn habe.
„Küss mich“, flüstere ich heiser, während seine Hände mich fester an ihn pressen.
„Marlen-“
„Küss mich, John“, wiederhole ich säuselnd, das Aufgleiten der Aufzugtüren ignorierend.
Semjons Körper quetscht mich zwischen sich und den Spiegelwänden des Aufzugs ein, bevor sein Mund den meinen findet. Meinen findet und hungrig plündert. Seine Arme schließen sich um mich, halten mich gefangen, während seine Lippen sich öffnen. Es ist kein sanfter Kuss. Er ist grob und gierig und ich schmecke die Eifersucht darin, als seine Zunge sich zwischen meinen Zähnen hindurch schiebt. Meine Beine weiter auseinander treibend, deutet er einen Stoß an und ich stöhne erschrocken in seinen Mund, während seine Hände sich um meine Handgelenke schließen.
„Sag mir, dass du es nicht ausprobieren wirst“, raunt er und in diesem Augenblick spricht das Raubtier zu mir, das mir in Christobals Haus so viel Panik eingejagt hat. „Spiel nicht mit mir, Marlen.“ Sein Daumen streicht über meine Lippen, bevor er ihn zwischen sie rutschen lässt und mir über die Zähne fährt. „Wag es nicht.“
Ich sollte mich wohl bei seinen Worten fürchten, doch das tue ich nicht. Die Erkenntnis, dass Semjon Cooper verrückt nach mir ist, lässt mich vor Glück fast heulen. „Nimm mich mit in dein Bett und lass mich heute Nacht nicht allein.“
Er lässt von mir ab und ich rutsche zitternd zurück auf meine Füße, die drohen unter mir nachzugeben während er die Tür zu seinem Loft aufschließt.
Ich spiele mit dem Feuer und ich gebe zu, ich finde es erregend. „Du kannst sicher sein, dass ich heute Nacht mit keinem anderen herummache, wenn du bei mir bleibst.“
Semjon fährt zu mir herum und ich weiß, ich bin zu weit gegangen, als ich in seine Augen sehe.
„John, so meinte-“ Er schiebt mich grob durch die Tür und lässt sie hinter uns ins Schloss fallen, bevor sein Kiefer hart gegen meinen Mund kracht.
„Halt den Mund!“, presst er hervor und er hört sich dabei so wütend an, dass ich nicht wage ihm zu wiedersprechen.
Er schiebt mich weiter in die große Diele. Ich stolpere erschrocken rückwärts, während seine Lippen meinen Mund plündern und er mich aus seiner Jacke befreit, die er ohne Federlesens auf den Boden pfeffert.
Seine Hände landen auf meinem Po und hindern mich erfolgreich daran, weiter vor ihm zurückzuweichen und er muss ich ob unseres doch beträchtlichen Größenunterschieds von zwei Köpfen weit herunter beugen. Ich hätte High Heels anziehen sollen, schießt es mir durch den Kopf, während mein Körper unter seiner Berührung aufgeregt summt.
„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mit mir spielen.“ Mich an sich reißend, ist seine Stimme ein wütendes Knurren, das mich um den Verstand bringt.
„John“, stöhne ich in seinen herrlichen Mund und nehme das köstliche Versprechen war, das aus jeder seiner Poren zu Quellen scheint. Heute nach wird er nicht gehen.
Seine Finger wandern tiefer. Packen mich an den Schenkeln und heben mich hoch. Ich kann ihn spüren. Hart und groß, als ich meine Beine um seine Hüften schlinge und uns Beiden entkommt ein heiseres Stöhnen. Er trägt mich die Treppen nach oben und das Schwanken, bei dem unsere Leiber immer wieder so erregend aneinander stoßen macht mich vollkommen verrückt.
„Ich hab´s dir gesagt“, grollt er gegen meinen Hals und lässt die empfindliche Haut zwischen seine Zähne gleiten. Der Schauer der durch meinen Körper jagt, lässt mich erbeben und ich reibe mich nach mehr lechzend an seiner Erektion.
Irgendwie haben wir es vor sein Schlafzimmer geschafft.
Meine Finger in sein Hemd gekrallt bäume ich mich ihm entgegen, während er über meine Kehrseite streicht, die Wirbelsäule hinauf nur um die Schleife, die dort mein Kleid zusammenhält aufzuziehen.
Der leichte Stoff rutscht raschelnd mein Dekolleté herab und entblößt den Spitzenbustier, das es nur knapp schafft meine Brustwarzen zu verdecken.
Seine rauen Handflächen streichen hungrig über meinen Rücken, finden den Verschluss des schwarzen Spitzenstoffes und befreien meine Brüste von der störenden Unterwäsche. Meine harten Knospen pressen sich an seine Muskeln.
„Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen nie-“
Ich unterbreche seinen Redefluss, indem ich meine Arme um seinen Nacken schlinge und seine schmalen Lippen verschließe. Seine Bartstoppeln kratzen über meine Wange, als er seinen Kopf wegdreht.
„Komm nicht auf die Idee, dass ich vorsichtig mit dir sein werde. Wenn du nur jemanden willst, der dich besteigt kannst du haben“, quetscht er mit seiner finsteren Samtstimme hervor, die mich ganz fiebrig werden lässt.
Ich kann nicht fassen, dass ich ihm mit meiner blöden Neckerei so eifersüchtig machen kann. Er muss doch wissen, dass ich für keinen anderen auch nur einen Gedanken übrig habe, wenn er in meiner Nähe ist. Dass ich glaube unter seinen rauen Fingern zu zerfließen, wenn er mich so anpackt.
Ein erschrockenes Keuchen von mir gebend, greife ich in seinen vollen Haarschopf, als seine Fänge über meine Schulter gleiten und mein Rücken gegen die Holztür seines Zimmers rumst.
„Ich will dich. Nicht irgendjemanden.“ Viel mehr als ein Flüstern bekomme ich nicht heraus. Seine Finger finden meine Knospen und umfangen sie wenig sanftmütig. Umkreisen sie grob und nehmen sie schließlich unbarmherzig in Besitz. Die Hände kommen auf meinen Seiten zum Liegen, bevor er die Tür aufstößt und mich mit sich in sein Reich nimmt. Er kickt sich nachlässig die Schuhe von den Füßen, während er mit mir den Raum durchquert.
Ich war noch nie hier, aber es passt zu ihm. Sein Schlafzimmer ist von indirekter Beleuchtung erhellt und bis auf einen Kamin, zugezogene Vorhänge und ein großes Bett und einen riesigen Flachbildschirm gibt es rein gar nichts in dem schnörkellosen Raum.
Er lässt mich auf sein Bett sinken und ich ziehe ihn mit mir. Zwischen meine Schenkel. Halte ihn fest.
„Bleib bei mir, John“, flehe ich ihn an und lasse meine Arme über seinen steinharten Rücken gleiten. Das Raubtier das ich so sehnsüchtig umfangen habe, kniet wie erstarrt über mir und ich weiß nur zu gut, auf welch dünnen Eis ich mich bewege.
Ich zerre an seiner Krawatte herum.
Doppelter Winsor.
Viel zu akkurat gebunden und braucht viel zu lange, bevor er endlich auf geht. Fahrig an seinem Hemd zupfend, das ich nach etlichen Versuchen endlich aus seiner Hose bekomme, bemerke ich zu spät den viel zu harten Glanz in seinen Augen.
„Ich-“, fange ich an, doch zu mehr komme ich nicht. Semjon reißt mir mein Kleid herunter und mein Höschen gleich mit, bevor er sich gegen mich drängt und seine Finger ohne Vorbereitung in meine Spalte fahren. Eintauchen und ich muss ein zufriedenes Stöhnen unterdrücken. Sie plündern ohne Nachsicht und ich hisse erschrocken auf, als er viel zu grob über meinen Kitzler reibt.
„John-“
„Nenn mich nicht so! Für die unbedeutende Nummer, die du haben willst, heiße ich immer noch Semjon!“ Der Boss der Dunklen kann seine Wut bei seinen Worten nicht verhehlen. Ich habe wohl ein wenig bei meiner albernen Neckerei übertrieben.
Er treibt mich weiter voran und ich muss ein schmerzhaftes Aufkeuchen unterdrücken, nachdem er mit zwei Fingern in mich stößt. „Mach die Beine breit. Ich will die Rockstars ja nicht warten lassen.“
Oh Fuck. Was habe ich denn da bloß angestellt?
Mich zusammenreißend, schlinge ich die Arme um seinen Nacken und tue was er von mir verlangt.
„Ich wollte dich nur ärgern. Ein wenig eifersüchtig machen.“ Weil er meinen Lippen ausweichen will, lege ich meine Hände auf seine Wangen. „Sei nicht mehr böse auf mich“, flehe ich ihn an und schaffe es schließlich ihm einen Kuss aufzudrücken.
Sein Groll verraucht in dem Aufeinandertreffen unserer Lippen und ich spüre seine Hände von meiner Mitte ablassen, die Seiten hinauf wandern, in mein Haar,
„Ich werde mit keinem anderen rum machen“, bringe ich raus, während seine Finger mein Haar zerwühlen.
„Das will ich hoffen.“ Er ist überall. Die wohligen Schauer, die seine Fingerspitzen vor sich her treiben, die sein Mund auslöst, wenn er sich über mein Schlüsselbein küsst oder die seine Fänge auslösen, wenn sie über meine Brüste kratzen, sind einfach zu viel für mich.
Mir rinnt der Schweiß über die Haut. Mein Haar klebt im Nacken.
Ich fühle mich wie im Fieberwahn und Semjon hört einfach nicht auf.
Ich liege zitternd vor Wonne unter ihm und bäume mich Erleichterung suchend seinen Bewegungen entgegen.
Als Nikita mich damals davor gewarnt hat, dass er nicht meine Liga wäre, da hatte er Recht und nun, da Semjon mich in die Laken drückt und seine Bartstoppeln über die die seidige Haut meiner Schenkel kratzen, weiß ich, das ich nie eine reelle Chance gegen das Raubtier über mir hatte.
Er wirft meine Wildlederstiefel aus dem Bett und streift meine Strümpfe ab, bevor diese ebenfalls auf den Boden wandern.
„Eine Frau wie du braucht nicht so viel Verpackung. Merk dir das“, raunt er gegen mein Knie und gibt mir dann den Gnadenstoß, indem er seine Zunge über die Innenseite meiner Schenkel gleiten lässt. „Das nächste Mal bist du gleich nackt, wenn ich hier rein komme.“
Ich muss zugeben, ich bin froh, dass er mir bei diesem Satz nicht ins Gesicht sieht, denn ich glaube, trotz der gegenwärtigen Situation ist mein Kopf gerade recht rot. Doch meine Scham verschwindet in dem Augenblick, in dem er seine Finger dorthin zurück gleiten lässt, wo sie vorhin noch so rücksichtslos gebrandschatzt haben. In mich.
Ich gebe ein Wimmern von mir, das so lusttrunken ist, dass er zu mir hochsieht. Die Pupillen groß und das Grinsen, das auf seinem Gesicht liegt, so selbstzufrieden, dass ich ihm es am Liebsten wegküssen würde. „Arschloch“, entkommt es mir stöhnend, weil er innehält und sich sein Werk betrachtet. Er weiß viel zu gut was er da tut.
„So heiße ich nicht“, stellt er fest und bestraft mich indem er aus mir gleitet und seine Fingerkuppen langsam von meinem Eingang nach oben wandern lässt.
„Du bist grausam“, schlucke ich und schiebe meine Hüfte nach vorn um ihn dazu zu bringen endlich wieder da weiter zu machen, wo er stehen geblieben ist. „Bitte…“
Semjon lässt sich von meinem gehauchten Flehen nicht beeindrucken. Überhaupt nicht beeindrucken. Er leckt über seine viel zu feuchten Finger und kneift die Augenbrauen zusammen.
„Sag meinen Namen, Marlen.“ Seine Stimme hallt in meinem ganzen Leib wieder und ich sehe ihm gebannt dabei zu, wie er sich auf mich legt. „Sag es“, fordert er und stößt dabei mit seiner Härte an mein Geschlecht.
„John du bringst mich um.“
„Das würde ich niemals tun, Kleines“, murmelt er, während ich mich um ihn schlinge und versuche jegliche Entfernung zwischen uns auszumerzen.
„Dann zieh endlich den Rest deiner Klamotten aus und hör auf mich zu quälen.“
„Ich quäl dich doch nicht. Quäl ich dich etwa?“ Seine Taten strafen seine süßen Worte lügen, wandert doch eine Hand wieder hinunter zu meiner Spalte.
„Oh bitte.“ Ich reibe mich verzweifelt an ihm. „Bitte John.“
Irgendwie schaffe ich es sein Hemd auf zubekommen, auch wenn dabei vielleicht ein paar Knöpfe verloren gegangen sein könnten und lasse meine Handflächen hingerissen unter sein Hemd gleiten. Auch ihm stehen die Scheißtropfen auf der Brust und er glüht unter meinen Händen, wie ein normaler Mensch. Viel zu warm für einen Vampir. Genau wie ich selbst.
Seine herrlichen Muskeln sind hart und wundervoll und ich kann das Bedürfnis nicht unterdrücken meine Fingernägel ein wenig zu fest über das durchtrainierte Kunstwerk seiner Brust gleiten zu lassen.
Semjons Finger finden ihren Weg nach oben. „Nicht“, stößt er aus und ich nehme das unterdrückte Stöhnen nur zu deutlich war. „Du bringst dich so um deinen Spaß.“
„Ich will dich. Richtig. Jetzt“, fordere ich mit belegter Stimme und streiche seine definierten Seiten, während die Beule in seiner Hose mich halb wahnsinnig werden lässt.
Sein Gürtel drückt gegen die sanfte Wölbung meines Bauches, als er ein Stück höher rutscht. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, knurrt er gegen meine Lippen.
„Ist der Boss der Dunklen etwa ein Feigling?“, flüstere ich gegen seinen Mund und knabbere an seiner Unterlippe. „Hast du etwa Angst vor Blondinen in deinem eigenen Bett?“, necke ich ihn weiter kann ihm dabei zusehen, wie er die Kissen zerknautscht. „Lass mich nicht betteln. Sonst muss ich mir am Ende doch noch einen Rock-“
„Wag es nicht, diesen Satz zu Ende zu bringen.“
Ich streiche aufreizend über sein Brustbein. „Sonst was?“
„Marlen.“
Oh, ich liebe es, wenn er diesen drohenden Tonfall hat. „Was denn? Vielleicht hat der ja den Mumm-“
Ich komme nicht mehr dazu, ihm zu sagen, zu was ein anderer den Mut haben könnte, weil er mich unter sich begräbt. Seine Hände sich um meine Handgelenke schließen und er mich tiefer in die Kissen schiebt. „Ich habe dich gewarnt.“
Seine Drohung macht mir keine Angst und deshalb bin ich es, als er sich weiterhin nicht bewegt, die ihre Arme aus seiner Umklammerung befreit und sie auf Wanderschaft in Richtung seines Gürtels schickt.
„Wenn du das tust, gibt es kein-“
Ich streiche über seinen erigierten Penis, der sich so verheißungsvoll an meine Handflächen schmiegt und sehe ihn schlucken.
„Du willst das wirklich?“, grollt er in mein Haar und ich schaffe es zu nicken, bevor er mich allein im Bett zurück lässt.
Sein Hemd verschwindet, gefolgt von seinen Socken. Und diesmal ist es an mir trocken zu schlucken, während ich ihn dabei beobachte, wie er seinen Lebergürtel öffnet und zum Nachttisch herüber schlendert. Die Schublade aufreißt und ein Kondom heraus holt.
Sein Blick klebt an meiner intimsten Stelle und ich öffne die Knie ein wenig weiter für ihn. Sein Bizeps bewegt sich, wie damals in Christobals Haus eindrucksvoll unter seiner recht dunklen Haut, die in dem dumpfen Licht die Farbe von dickem, klarem Honig hat. Die dünne Haarline, die sich von seinem Bauchnabel abwärts zieht und sein beeindruckender Oberkörper lassen mich jegliche Scham vergessen. Soll mich dieses Raubtier doch kriegen. Soll es mich zerfetzten, es ist mir egal.
Seinen Gürtel aus den Schlaufen ziehend, gleitet sein Blick über mich. Arrogant und besitzergreifend. Ganz wie es sich für das Raubtier gehört, das sich seiner Beute sicher ist.
Das Geräusch des sich öffnenden Reißverschlusses lässt mich kribbelig werden und dann steht er plötzlich nur noch in schwarzen Boxershorts vor mir. Noch immer genauso unwirklich und raubtierhaft.
Seine Hüftknochen und seine so verschwenderisch definierten Muskeln, lassen mich wissen, dass ich morgen definitiv zwei blaue Flecken haben werde, aber diesen Gedanken schiebe ich beiseite, weil er die Finger in seine tief sitzende Boxershorts unterhakt und mir einen ersten Vorgeschmack auf das gibt, was folgen wird.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schlucke. Schlucke nochmal und bin ernsthaft versucht aus dem Bett zu flüchten. Er wird niemals in mich passen. Nie im Leben. Er ist viel zu groß. Viel zu groß.
„John. Ich glaube nicht, dass er in mich passt“, bringe ich raus, während der Boss der Dunklen zu mir zurück ins Bett kommt und sich zwischen meine Schenkel sinken lässt.
„Oh doch“, höre ich ihn sagen und es hört sich fast liebkosend an. „Keine Sorge.“
Anstatt mich endlich zu nehmen, fängt sein Mund meine Brustwarzen ein. Spielt mit der harten Knospe und entlässt sie, nachdem sie sich für ihn geöffnet hat, nur um sich an der anderen gütlich zu tun. Hingestreckt von seinen Lippen, reagiere ich zu spät auf das Geräusch, das mir verrät, dass er die Kondompackung geöffnet hat und dass seine Hände nicht auf meinem Körper liegen.
„Sch… mach die Beine auf für mich, Kleines“ Seine Stimme so nah an meinem Ohr, lässt mich vertrauensvoll den Kopf zu ihm drehen. „Alles gut“, brummt er beruhigend und kämmt mir mit den Fingern ein paar verschwitzte Strähnen aus der Stirn. „Ich weiß schon, was ich tue.“
Semjons Fingerspitzen finden erneut meine pochende Mitte und ich keuche auf, weil sie beginnen mich zu reiben. Mich unruhig werden lassen. Flehen lassen würden schneller zu machen und fester, wenn ich nur ein Wort hervor bringen könnte. Ich beiße mir auf den Zeigefinger und stöhne erstickt auf.
„Nicht.“ Seine Stimme ist sanft, als er meine Hand wegzieht und sie mit seinen Lippen ersetzt.
„J…“ Seine Zunge verschluckt mein Wimmern nach mehr und ich nehme am Rande war, wie meine Beine seine Hüfte umschlingen und versuchen ihn enger an mich zu ziehen. Ich spüre den Druck an meinem Eingang und merke, wie er über mir erstarrt.
Und dann stößt er plötzlich zu und zerteilt mein Fleisch rücksichtslos. Der erste Schrecken verfliegt, als er sich weiter in mich schiebt und wird von eine tosenden Woge der Lust davon getragen. Er bohrt sich tiefer in mich und ich komme ihm entgegen. Wölbe meinen verschwitzten Körper gegen ihn, nehme ihn auf und lasse mich von seinem erfahrenen Mund in Sicherheit wiegen.
Seine Finger streichen über meine Wangen, während er sich tiefer schiebt und er gibt ein zufriedenes Stöhnen von sich, als er sich bis zum Anschlag in mich rammt.
Ich hisse erschrocken auf.
„Gott.“ Selbst in meinen Ohren hört sich Semjons Ausruf eher wie ein Fluch an. Seine Augen bohren sich in meine.
„Entschuldige. Ich habe dir weh getan.“
„Nein“, bringe ich raus und bewege mich gegen ihn. „Nein. Das fühlt sich perfekt an.“ Meine Fingernägel landen in seinem Rücken und ich stoße ein genießerisches Seufzen aus. Seine Schulterblätter sind weit gespreizt und zittern herrlich ob der Anspannung.
Er scheint mir noch etwas Zeit geben zu wollen. Zeit die ich nicht brauche. Doch mein Raubtier wartet weiter. Lässt meine Finger auf Wanderschaft gehen. Und wartet weiter.
„John“, flehe ich und schreie überwältigt auf, als er mir endlich nachsetzt.
Drängend.
Gierig.
Hart und tief sind seine Stöße und ich bebe unter seiner Kraft, die mich so einfach zermalmen könnte, wenn er denn wollte. Aber das tut sie nicht. Seine Arme in die Kissen gestemmt, treibt er mich in die Wellen der Lust und beobachtet dabei jede meiner Bewegungen.
Ich pulsiere unter ihm. Brenne Lichterloh. Eng mit ihm verschlungen.
„Nicht weg sehen.“ Er zwingt meinen Kopf nach oben, indem er mein Kinn anhebt. Es war kein Befehl, der da über seine Lippen kam. Es war eine Bitte. Das wird mir in dem Augenblick klar, wo seine Pupillen meine finden.
In ihnen tobt ein ganzer Sturm voller Gefühle.
Ich spüre, wie ich den Halt verliere. Wie er mich mit sich reißt. Tief in mich hinein hämmert und mich direkt auf die Klippen zuhalten lässt. Sich aufbäumend, rammt er fester in mich und ich merke, die der herannahende Orgasmus alles mit sich nimmt. Meine Welt auflöst und sie im nächsten Augenblick wieder zusammensetzt. Mich federleicht über allem schweben lässt, während er in mich pumpt und mit meinem Namen auf den Lippen kommt.


Was für ein Lügner. Von wegen er bringt mich zum Weinen, oder er wäre nicht vorsichtig mit mir. Die zärtliche Liebkosung seiner Lippen auf meiner Stirn, straft jedes seiner Worte lügen. In seinen Armen liegend genieße ich ermattet seine unerwartete Zärtlichkeit und schmiege mich an seinen harten, kantigen Körper, dessen sehnige Muskeln unter seinen Bewegungen tanzen.
Er hat die Bettdecke über uns ausgebreitet und streicht wie weggetreten mit dem Zeigefinger über meinen Seite. Dass seine bloßen Hände Leute umbringen können, ist für mich in dieser Sekunde so unwirklich, dass ich es wahrscheinlich schlichtweg nicht glauben würde, wenn es mir jemand erzählen wollte.
Ich seufze zufrieden und schmiege meine Wange an seine Brust.
„Alles okay?“, möchte er wissen und scheint sich dessen wirklich nicht sicher zu sein.
„Hm“, stimme ich glücklich, aber fertig zu.
„Gut.“ Seine wundervolle, tiefe Stimme lässt keinen Zweifel offen, dass jede andere Antwort schlichtweg inakzeptabel wäre.
„John?“
„Was denn?“, murmelt er träge in mein Haar.
„Ich werde keinen Rockstar mehr brauchen. Nie wieder.“
Er zieht eine seiner Augenbrauen nach oben- „Gut zu wissen“, sagt er nach einer kleinen Weile und nimmt mich fester in die Arme. „Für die wäre es ohnehin verdammt ungesund, es bei dir zu versuchen.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 32

 



Irgendetwas vibriert hier. Ich sehe mich verdattert um, während Semjon über mich rollt und in die Nachttischschublade greift. Dass er sein Telefon dort rein gestopft hat, ist mir vorhin gar nicht aufgefallen, doch jetzt wo er sein Smartphone zückt und mit einem herrischen „Ja?“, wen auch immer begrüßt, ist es plötzlich da und zerstört meine kleine, perfekte Seifenblase. Er lässt mich allein im Bett zurück und verschwindet durch die Tür zu meiner rechten ohne ein weiteres Wort. Mein perfekter Augenblick ist unwiderruflich vorbei.
Den Kopf in das Kissen grabend, das so herrlich nach ihm duftet, seufze ich frustriert. Dass er gehen würde wusste ich insgeheim. Nur nicht, dass ich es so grausam finden würde.
Ich greife nach der Fernbedienung, die auf seinem Nachttisch liegt und erwecke den riesigen Flachbildschirm an der Wand zum Leben.
Zweihundertfünfundsechzig Kanäle und kein einziger kann mich davon ablenken, dass Semjon mich verlassen hat. Nach einigem hin und her lande ich schließlich bei einem Musiksender auf dem gerade das Video einer Band läuft, die schon seit den Siebzigern nicht mehr existiert und rolle mich unglücklich zusammen.
Zehn Minuten später starre ich noch immer auf den Fernseher und brauche daher ein paar Sekunden um ihn neben dem Bett zu entdecken.
Er ist angezogen. Zumindest trägt er eine schwarze Jogginghose und steht wie festgefroren neben mir, während ich die Daunendecke fester um mich wickle, weil er schon wieder diesen gefühllosen Blick drauf hat.
„Gehst du?“, möchte ich schluckend wissen.
Sein Blick schweift zum Bildschirm. „Nicht vor morgen früh… aber es gibt einige Entwicklungen, die meine Anwesenheit erfordern“, meint er schließlich schleppend, lässt sich zurück in die Kissen fallen und mustert mich eingehend.
„Wieso bist du dann angezogen?“
Semjon zuckt mit den Schultern. „Ich telefoniere nicht gerne nackt.“ Seine breite Brust, deren Muskeln sich langsam unter seiner Haut bewegen, als er über mich hinweg greift um die Fernbedienung zu angeln, lässt mich schon wieder ganz kribbelig werden.
Der Fernseher springt auf ein anderes Programm.
Die Kamera ist auf einem geschniegelten Herrn gerichtet, der vor einem hohen Säulengebäude im Stil der Neorenaissance steht und mit ernster Miene sein Mikrofon umklammert hält.
„…weiterhin bleibt unklar, ob der Leiter der 26. Abteilung sofort sein Amt räumen muss, oder ob der Rat der Neun ihm noch Zeit gibt, die Geschäfte für seinen Nachfolger zu regeln. Eine Entscheidung wird in den nächsten Minuten erwartet und die Welt blickt gespannt auf das Ergebnis...“ Der Moderator schaut, seine Melodramatische Pause weiter ausdehnend in die Kamera. „Wie auch immer der Rat entscheidet, fest dürfte zu diesem Zeitpunkt nur stehen, dass Pius Caseys Amtszeit nicht mehr lange fortbestehen wird. Zu energisch hat der mittlerweile seit zweihundertsiebzig Jahren im Amt Verweilende, die ungeheuerlichen Taten seiner Frau verteidigt...Sein designierter Nachfolger, Magnus Casey, bleibt derweil weiterhin verschwunden. Doch… wir dürfen gespannt sein, wie sich das Ganze weiterentwickelt.“
„Meine Güte, dieser Moderator ist ja fürchterlich“, bringe ich raus und versuche gleichzeitig zu verarbeiten, was mir dieser Lackaffe da mitteilt.
„Mh.“ Semjon rutscht ans Kopfende des Bettes und verschränkt die Arme vor der Brust, während er den Typen fixiert. Sein Telefon beginnt erneut zu klingeln, doch er drückt den Anrufer einfach weg.
„Muss Pius wirklich seine Position als Boss der 26. Abteilung aufgeben?“, frage ich ihn unglücklich.
„Ja. Es ist nur eine Frage der Zeit.“
„Und du kannst nicht dagegen tun? Ich meine, du bist der Boss der Dunklen.“
Semjon zieht eine Augenbraue nach oben. „Versuchst du gerade mir einzureden, Pius im Amt zu halten?“
Ich beiße mir auf die Unterlippe. „Vielleicht.“
„Es geht mich nichts an. Es gibt Regeln. Und selbst ich kann ihm nicht mehr dabei helfen, da heraus zu kommen.“
„Das scheint dich nicht sehr zu stören.“
Er wirft mir einen langen Blick zu, bevor er neben mich rutscht, in mein Haar greift und die Strähnen durch sein Finger gleiten lässt.
„John?“, hake ich nach einer Weile nach. „Bekomme ich eine Antwort?“
„Alles hat seine Zeit, Marlen und er war lange genug Abteilungsleiter.“ Semjon streicht mir über den Arm und schenkt mir die Andeutung eines aufmunternden Lächelns.
„Es ist dir also wirklich egal?“, frage ich ihn ungläubig.
„Das habe ich nie gesagt.“
Ich befreie mich von meinen Deckenberg, den ich um mich gewickelt habe. „Was sagst du dann? Wie geht es weiter?“
Semjon drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. „Wirst du schon sehen“, sagt er und zieht mich in seine Arme. „Sei nicht so neugierig.“
„Hm“, schmolle ich und beobachte Semjons Augen, die über mein Gesicht gleiten.
„Ich werde dir nichts verraten, egal wie verführerisch du deine Lippen nach vorn schieben kannst“, murmelt er schließlich und lässt seinen Daumen über meine Unterlippe gleiten.
„Komm schon, sei nicht so“, flehe ich ihn an. „Weiß Christobal zumindest Bescheid? …und was ist mit Magnus?“
Semjon umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und drückt mir einen Kuss auf den Mund, begräbt mich mit einer schnellen Bewegung unter sich und seine Zunge schiebt sich zwischen meine Lippen. „Ich möchte mich nicht über die Arbeit unterhalten…nicht jetzt“, raunt er und ich lasse meine bebenden Finger, die auf seiner breiten Brust liegen zu seinem vollen Schopf wandern.
Die nackte Haut seines Oberkörpers presst sich gegen meine Brüste, als er mir meinen schmollenden Gesichtsausdruck weg küsst und ich wickle meine Beine um ihn. Seine harten Muskeln bewegen sich aufreizend unter meinen Handflächen, nachdem ich sie wieder zurück auf seine Brust habe gleiten lassen.
„Oh John“, keuche ich hingerissen.
„Wie ich gesagt habe, es ist so viel besser, wenn du gleich nackt bist“, murmelt er lusttrunken gegen meine geschwollenen Lippen und lässt seine großen Pranken auf meinen Schenkel wandern, um mich näher an sich zu ziehen.
Er ist schon wieder hart.
Meine Lippen öffnen sich für ihn, genau wie meine Beine und ich gebe ein frustriertes Seufzen von mir, als er plötzlich von mir ablässt, weil sein Telefon erneut zu schimpfen begonnen hat.
Semjon hält inne, bevor er mit einem derben, langen Fluch zu seinem Smartphone greift. Doch anstatt den Anrufer erneut einfach wegzudrücken, geht er dieses Mal ran.
„Was gibt es?“
Ich will protestieren, doch er legt mir einen Zeigefinger auf die Lippen und starrt abwesend auf das Kopfkissen.
„Nein… Nein. Ich verstehe… ich komme sofort ins Büro… nein…Ich werde es Christobal sagen.“
Semjon macht sich von mir los und setzt sich auf die Bettkante. „Wie konnte das passieren?...offensichtlich nicht… er hätte auf mich hören sollen… bis gleich.“
„John? Was ist los?“, frage ich alarmiert, als er sich zu mir umdreht. Ich weiß nicht weshalb, aber in dem Augenblick als seine braunen Augen meinen begegnen, weiß ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Er hat sich in den unantastbaren Boss der Dunklen verwandelt. Kalt und gefühllos. Kurzum, in jemanden, vor dem ich eine Heidenangst habe.
„Pius wurde ermordet.“
Ich kann ihn nur anstarren, während er aufsteht. „Verzeih mir, aber ich muss wirklich gehen“, entschuldigt er sich bei mir.
„Wer-“
Semjon sieht mich über die Schulter hinweg an. „Eudoxia.“
„Nein“, bringe ich ungläubig heraus.
„Doch. Mehr kann ich dir auch noch nicht sagen. Ich gehe kurz duschen.“
Irgendwie bringe ich es fertig zu nicken. Wie konnte sie das tun? Dieser Mann hat sie nach allem was sie getan hat noch immer verteidigt. Er hat doch sogar praktisch seinen Job für sie geopfert, wenn ich es richtig verstehe. Wie kann jemand so krank im Kopf sein?
Ich beiße auf den Fingernagel meines Daumens und drehe den Fernseher lauter, doch scheinbar scheint diese neue Information noch nicht bis zu dem Kerl mit Mikro durchgedrungen zu sein.


Semjon kommt keine zehn Minuten später frisch geduscht und fast vollständig angezogen zurück ins Schlafzimmer. „Sie werden heute Nacht nichts mehr von diesem Vorfall berichten, Marlen. Wir haben vorerst eine Informationssperre verhängt.“
Ich sehe verwirrt zu ihm herüber, noch immer in der gleichen Position wie vor ein paar Minuten verharrend. „Wieso?“
„Es müssen wesentliche Dinge geklärt werden aber vor allem muss ich es Magnus, Christobal und Mira sagen“, erklärt er mir gelassen und ich sehe ihm fasziniert dabei zu, wie er sich geschickt die Krawatte bindet. „Es ist schon spät, du solltest versuchen ein wenig zu schlafen oder zumindest unter die Decke schlupfen… und wenn Devon hier aufkreuzt, sag ihm bitte, dass ich mit ihm sprechen möchte.“ Er nimmt das Telefon vom Nachttisch und lässt es in seiner Anzugtasche verschwinden. „Ich versuche morgen früh wieder da zu sein.“
Mit dieser Aussage geht er zur Tür und ich öffne protestierend den Mund, weil ich wenigstens noch einen Abschiedskuss möchte, doch ich besinne mich. Es ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt um auf so etwas Rücksicht zu nehmen, weshalb ich ihm ein schlichtes „Pass auf dich auf“, hinterherschicke und dafür mit einem kurzen Blick belohnt werde.
„Werde ich“, sagt er ernst und schließt die Schlafzimmertüre hinter sich.


Ich lasse mich zurück in die weichen Kissen fallen und seufze schwer. Ich mochte Pius, auch wenn er irgendwie gruselig war. Ein wenig so wie Semjon. Ich starre an die dunkle Holzdecke, über die die Schatten des Fernsehers huschen. Gott, sowas darf ich gar nicht denken. Semjon ist nicht Pius. Semjon geht es gut. Und ihm wird es auch weiterhin gut gehen.
Meine Finger landen auf dem Kissen, auf dem er vorhin lag und ich inhaliere seinen Geruch ein.


Ich erwache erst gegen halb zwölf und schleiche, mein Kleid von gestern übergestreift über den Gang in mein Zimmer herüber.
„Oh, na sieh einer an. Wer versucht denn hier ungesehen in sein Zimmer zu kommen?“
Ich stocke ertappt in der Bewegung und lasse den Blick nach unten Schweifen.
Devon liegt auf der senfgelben Chaiselongue, die am unteren Ende der Treppe platziert ist und sieht mit einem breiten Grinsen zu mir hoch, bevor er seine Zeitschrift zuklappt. „Hey“, presse ich ertappt hervor und versuche mich an einem unbeholfenen Lächeln. „Lasst stecken“, flehe ich ihn an, da ich nun wirklich keine Lust auf ein wie ist mein Bruder im Bett Gespräch habe..
„Wie du willst“, grinst mein bester Freund. „Dann eben kein Sexgespräch.“
„Vielen Dank… vor allem, dass du mit ihm gesprochen hast. Das war sehr lieb von dir.“
„Na ich kann doch nicht untätig danebensitzen, während meine beste Freundin vor Liebeskummer halb wahnsinnig wird“, schmunzelt er und fährt sich durch die dicken offenbar noch ungekämmten Locken, die wild vom Kopf abstehen. „Oh…Hast du schon das mit dem Leiter der 26. Abteilung gehört? Seine Frau hat ihn umgebracht und dann sich selbst mit einem Stück Fensterglas aus ihrer Zelle.“
„Eudoxia ist auch tot?“, hake ich verdattert nach.
„Jupp. Echt heftig. Kam gerade vorhin in den Nachrichten, als ich mit dem Taxi nach Hause gefahren bin.“
Ich runzele die Stirn. „Wann war das?“
„Vor ein paar Minuten. Ich warte gerade noch auf mein Mittagessen, bevor ich auch duschen gehe“, erklärt er mir mit diesem Grinsen, das mir verrät, das ich nicht die einzige heute Nacht war, die unanständige Sachen angestellt hat.
„Wer war denn die Glückliche?“, möchte ich neugierig wissen und stütze meine Ellbogen aufs Treppengeländer.
„Wenn du mich nach einem Namen fragst, fürchte ich, kann ich dir nicht antworten, da ich keine Ahnung habe wie sie hieß, aber ich darf dir verraten, sie war heiß.“
„Soso… Ich spring auch mal kurz unter die Dusche. Semjon wollte übrigens mit dir reden, soll ich dir sagen. Aber frag mich nicht wieso. Eigentlich wollte er auch schon längst wieder da sein.“
Devon zuckt mit den Schultern. „Wird schon noch auftauchen. Möchtest du auch was vom Essen abhaben? Ich habe eine Riesenpizza bestellt“, meint er als die Klingel ertönt.
„Nein. Das Wasser ruft“, seufze ich. „Aber danke für das Angebot.“


Ich bin gerade dabei mich anzuziehen, als es an der Tür klopft.
„Kann ich rein kommen?“, höre ich Semjons tiefe Stimme durch die Tür wehen.
„Bitte“, bringe ich raus, während ich gerade dabei bin meine knappen Shorts zu schließen.
Semjon ist unrasiert und sieht ganz und gar unnahbar und finster aus, während er die Tür hinter sich schließt und zu mir tritt.
„Morgen“, meine ich fröhlich und schlupfe in meine weiße Bluse.
Semjons Augen kleben an meinen Fingern, die die Knopfleiste schließen.
Er scheint nicht gerade gesprächig und stinkt nach Christobals Schwester, als wäre sie es gewesen, mit der er sich heute Nacht in den Kissen gewälzt hat.
„Hast du es ihnen gesagt?“, frage ich schärfer als beabsichtigt.
„Habe ich“, brummt Semjon, tritt einen weiteren Schritt auf mich zu und legt einen Arm um meine Taille.
„Du stinkst nach einer Frau“, meine ich angewidert und drücke ihn von mir weg, als er sich zu mir herunter beugen will um mir einen Kuss auf die Lippen zu drücken.
„Du weißt, weshalb“, grollt er und packt mich etwas fester um zu verhindern, dass ich mich von ihm löse.
„Hm“, murmle ich und werde noch etwas näher gezogen. Ist mir doch egal, ob Christobals Schwester ihren Vater und ihre verrückte Mutter verloren hat. Semjon ist nicht ihr Kuscheltier. Er ist mein Kerl.
Seine Finger gleiten über meine Schulter, hoch zu meinem Nacken, bevor seine kühlen Lippen auf meinen landen.
Sein Kuss holt mich vollkommen von den Füßen und ich sinke gegen ihn.
Er packt mich hart an. Beinahe grob und ich stöhne hingerissen in seinen Mund, der mich so besitzergreifend küsst. Mein ganzer Körper prickelt unter seinen Berührungen und ich folge seinen sich entfernenden Lippen sehnsuchtsvoll.
„Kannst du mir einen Gefallen tun?“, raunt er gegen meine geschwollenen Lippen.
„Kommt drauf an“, entgegne ich ihm träge und mit geschlossenen Augen. „Was ist das für ein Gefallen?“
„Ich muss irgendwie Magnus auftreiben. Er wollte sich heute Morgen melden und mir sagen, ob er Pius Nachfolge antritt. Aber das hat er nicht. Und ich brauche langsam eine Entscheidung von ihm“, erklärt mir Semjon leise.
Ich öffne frustriert die Augen und sehe zu ihm hoch. Seine Pupillen sind geweitet und färben seine braune Regenbogenhaut fast schwarz. „Ich habe keine Ahnung wo er steckt“, sage ich verwirrt. „Ich kann dir höchstens seine Handynummer geben, wenn du eine andere hast. Auf dem Regal liegt das Telefon.“
„Danke.“ Semjon drückt mir noch einen Kuss auf die Lippen und holt dann mein Telefon aus dem Regal. „Hm…okay. Andere Nummer. Darf ich mir das mal ausborgen? Vielleicht geht er bei dir ran.“
Ich zucke mit den Schultern. „Sicher. Wo… willst du hin?“, frage ich ihn verdutzt, als er Anstalten macht aus meinem Zimmer zu verschwinden.
„Arbeitszimmer. Das wird ein langes Gespräch.“ Semjon schenkt mir einen entschuldigenden Blick. „Mit Devon habe ich bereits gesprochen, wenn ihr also heute Nachmittag irgendetwas tun wollt… lasst euch nicht aufhalten. Ich habe ohnehin zu tun.“
Ich verziehe schmollend die Lippen.
„Sei nicht sauer“, sagt er und lässt mich alleine in meinem Zimmer zurück.


Devon und ich hatten unseren Spaß beim Einkaufen in der Innenstadt. Wobei, eigentlich stimmt das nicht so ganz. Ich hatte Spaß beim Einkaufen. Devon hatte Spaß daran, Telefonnummern einzusacken, ohne dass er dafür etwas anderes tun musste, als sich auf ein Sofa zu setzen oder wahlweise genervt, an einer Wand zu lehnen, während ich Klamotten ausprobiert habe.
Das in Helsinki die Shops auch sonntags geöffnet haben ist wirklich zu praktisch und ich habe es mir nicht nehmen lassen, Devon zwei coole Pullover aufzuschwatzen, in denen er einfach Hammer mäßig aussieht. Aller Ortens reden die Leute von Pius Tod und dem seiner Frau und rätseln laut darüber, wann Magnus wohl seine Nachfolge antreten wird.


Als wir zurück in Semjons Loft kommen, ziehe ich erstaunt eine Augenbraue nach oben, weil ich Semjon vor einem Laptop vorfinde. Das Loft ist hell erleuchtet, da es mittlerweile draußen dunkel geworden ist und seine schwarze Silhouette spiegelt sich in den Fenstern wieder.
„Hey. Wir sind wieder da.“
Er sieht vom Esstisch auf und klappt seinen riesigen Laptop zu. „Schön“, entgegnet er, doch seine Miene verrät mir, dass er gerade nicht darüber nachgedacht hat, wann ich nach Hause komme.
„Hast du Magnus erreicht?“, frage ich neugierig, während Devon stöhnend die Tüten abstellt.
„Ja“, er reibt sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. „Das habe ich.“
„Ja und wann tritt er Pius Job an? Alle reden davon“, hake ich nach und laufe zum Kühlschrank, um mir eine Flasche Blut zu genehmigen.
„Gar nicht.“
Ich lasse beinahe die schwere Glasflasche fallen.
„Wie… gar nicht?“
„Er möchte nicht die Nachfolge seines Adoptivvaters antreten“, seufzt Semjon und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. „Es wird in den acht Uhr Nachrichten bekannt gegeben. Danach wird da drüben die Hölle losbrechen… so eine Position wurde seit Ewigkeiten nicht mehr frei… Ich werde Devon gleich mit zum Flughafen nehmen, da ich ohnehin besser jetzt als später in London sein sollte“, fügt er an.
„Du gehst?“ Ich starre ihn unglücklich an.
„Ja. Irgendwie läuft an diesem Wochenende alles drunter und drüber.“ Er erhebt sich und vergräbt seine Hände in meinen wirren Locken, in denen noch die Schneeflocken hängen. „Aber ich werde versuchen es alles möglichst schnell zu regeln. Mach dir keine Gedanken.“

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Kapitel 33

 



Semjons Pupillen wandern über meine Lippen und ich kann mich nicht rühren unter seinem intensiven Blick, während Devon lautstark die Treppe nach oben poltert.
„Ich will nicht dass du gehst“, wispere ich heiser. „Das ist Wahnsinn…du begibst ich freiwillig nach London, wo sich eine ganze Abteilung darüber die Köpfe einschlagen wird, wer sie regieren soll.“
Semjons Fingerspitzen gleiten über meine Wangen. „Es ist mein Job dafür zu sorgen, dass niemand einen Mord begeht außerdem habe ich bei der Entscheidung wer Pius Nachfolger wird, auch noch ein paar Takte mitzureden.“
Ich runzele die Stirn. „Semjon …Ich bin mir sicher, sie werden auch ohne dich zu einer akzeptablen Lösung kommen“, versuche ich ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
„Ich will aber nicht nur eine akzeptable Lösung“, erwidert er mir kühl.
„Was immer du dort auch zu finden glaubst, lass es sein“, flehe ich ihn an.
Seine dunklen Augen fixieren mich ernst und ich schlucke schwer, während sich meine Finger um den kühlen Flaschenhals, der längst vergessenen Flasche Blutes, krallen. Ein Muskel zuckt in Semjons Wange und scharf geschnittenen Gesichtszüge, um die ihn jedes Model beneiden würden, versteinert und mit einem dunklen Bartschatten bedeckt, lassen ihn noch gefährlicher als sonst erscheinen. „Du bist zu intelligent. Hat dir das schon mal jemand gesagt?“, raunt er plötzlich mit seiner herrlich tiefen Stimme, die so gar nicht zu diesem scheinbar gefühllosen Äußeren passen will. Doch seine Worte schaffen es nicht mich heute Abend um den Finger zu wickeln. Dafür stinkt er einfach zu bestialisch nach Christobals Schwester.
„Du solltest mir nicht so viel Honig um den Mund schmieren und dir lieber Miras Gestank abwaschen“, entgegne ich ihm und wende meinen Blick von ihm ab.
„Sie hat die ganze Nacht geheult“, sagt Semjon nach einer Weile zögerlich und bin ob seiner Auskunft recht erstaunt. „Es gibt keinen Grund eifersüchtig zu sein.“
„Nein? Ich finde es nur wenig schmeichelhaft Komplimente zu erhalten, wenn der Mann der sie ausspricht bei nach einer anderen riecht“, entgegne ich ihm schnippisch und stelle die Glasflasche, die ich die ganze Zeit in den Händen gehalten habe auf die Küchenanrichte.
„Ich habe jetzt wirklich nicht die Zeit diese Art von Gespräch zu führen“, höre ich ihn hinter mir sagen und straffe die Schultern.
„Ich weiß“, presse ich trotzig hervor. „Ich entsinne mich auch nicht, dich darum gebeten zu haben. Pass einfach auf dich auf. Wir reden darüber, wenn du zurück bist.“
„Marlen.“ Seine Hand findet mein Handgelenk und hindert mich so daran, vor ihm zu flüchten.
Wie angewurzelt stehe ich da und spüre seine breite Brust an meinem Rücken. Nehme seine übermächtige Aura war, die sich über mir zusammenballt. „Ich meinte, was ich im Club sagte… sei nicht wütend auf mich“, murmelt er in mein Haar und ich habe das dringende Bedürfnis in Ohnmacht zu fallen. „Bitte“, fügt er leise an und ich schließe die Augen. Mein ganzer Körper prickelt unter seiner Berührung und mein Bauch spielt vollkommen verrückt.
„Schlaf nicht mit anderen“, entkommt es mir schließlich, bevor ich es verhindern kann. „Und wenn du es tust, dann erspar es mir, sie an dir zu riechen“, schlucke ich um Contenance ringend, als sein Blackberry sich erneut leise, aber unüberhörbar meldet.
„Entschuldige, da muss ich ran gehen“, murmelt er, nicht auf meine Bitte eingehend und im nächsten Augenblick hängt er am Telefon, redet etwas von irgendwelchen Terminen und legt mir eine Hand auf die Seite. „Die Pläne haben sich geändert. Hast du etwas dagegen Devon zum Flughafen zu bringen?“, fragt er und ich kapiere erst nach ein paar Sekunden, dass die Frage an mich gerichtet war und nicht an seinen Gesprächspartner am Telefon.
„Nein“, entkommt es mir verdattert.
„Gut“, brummt er nur und lässt seine Finger über meine Hüfte gleiten, bevor er sich in Bewegung setzt und in Richtung Diele verschwindet, mich alleine vor dem Kühlschrank zurück lassend.
Ich vergrabe das Gesicht in den Händen, als ich die Tür ins Schloss fallen höre und seufze frustriert. Ich hasse es einfach stehen gelassen zu werden. Sind meine Gefühle etwa so nebensächlich im Vergleich zu Miras? Für sie hat er Zeit und für mich kann er nicht mal fünf Minuten erübrigen und kann sich dann nicht mal richtig verabschieden? „Mistkerl“, entkommt es mir frustriert und straffe schließlich die Schultern um meinem besten Freund beim Packen zu helfen.


Devon sieht von seiner Reisetasche auf, als ich in sein Zimmer komme. „Bist du okay? Du siehst aus als wolltest du gleich losheulen.“
„Ich weiß“, schlucke ich schwer und beobachte ihn eine Weile beim Packen.
Schließlich schließt er den Reisverschluss seiner Reisetasche und kommt zu mir um mich in einer Knochenbrechenden Umarmung zu begraben.
„Was hat mein Bruder angestellt, hm?“
„Nichts… er hat mich nur gerade einfach stehen lassen, ohne sich richtig zu verabschieden, ich weiß nicht wo er hin ist… ich will nicht, dass er nach London geht und ich bin eifersüchtig auf eine Frau, die gerade ihre Eltern verloren hat… Ich kenne Mira nicht mal wirklich und würde ihr am liebsten meine Krallen in sie rammen, weil er nach ihr riecht. Was läuft falsch bei mir?“, bringe ich raus und lasse mich gegen seine breite Brust sinken.
„ Hey du hast eine echt üble Zeit hinter dir. Niemand kann dir irgendetwas vorwerfen“, murmelt Devon in mein Ohr und reibt mir beruhigend über den Rücken. „Du darfst dich wie ein Miststück aufführen.“
„Und nun fühle ich mich wirklich mies. Miststück… schätze das habe ich verdient.“
Devons Arme geben mich frei, nur um mich an den Oberarmen festzuhalten und mir ein breites Grinsen zu schenken. „Nein. Aber ich gebe dir einen Rat… wenn sie ihm so wichtig ist, solltest du sie näher kennenlernen.“
Ich erwidere sein breites Lächeln zögerlich. „Werde ich ohnehin nächste Woche.“
„Na siehst du“, meint Devon aufmunternd.
„Ich sollte wahrscheinlich mal ihren Bruder anrufen und ihm mein Beileid aussprechen“, fällt mir da ein. „Ihm kann es nicht wirklich besser als seiner Schwester gehen.“
„Na siehst du. Das ist meine Lenny“, sagt Devon viel zu sanft, für so einen Muskelprotz von Kerl. Unsere Augen treffen sich und das funkeln in seinen großen Pupillen lässt mich ruhig werden. Darin ist so viel Zuneigung zu lesen, dass ich mir sicher bin, einfach alles zu überstehen. Weil ich ihn als meinen besten Freund habe.
„Ich habe dich nicht verdient“, stelle ich überwältigt fest.
„Mach mich nicht fertig, Kleines“, seufzt Devon.
„Es ist aber so. Ohne dich wäre mein Leben leer. Du machst jeden schlimmen Tag besser und jeden guten Tag grandios. Du bist auch da, wenn ich es nicht verdient habe…ich weiß nicht, ob das mit mir und Semjon was wird, aber ich weiß, dass du und ich… dass das für immer ist. Du bist mein bester Freund. Meine Familie…und ich liebe dich.“
Ich sehe ihn schlucken. „Ich dich auch… und das alles“, brummt er und ich sehe seine Unterlippe zucken, bevor sich seine Arme um meine Schultern schließen und er mir einen ruppigen Kuss ins Haar drückt. „Du musst jetzt dringend damit aufhören solche Sachen zu sagen, sonst fange ich an zu heulen… und das ist… einfach nicht cool.“
Ich schnaube halb lachend, halb weinend in seinen brandneuen Pullover. „Das mit dem Heulen übernehme ich schon… du ganzer Kerl.“


Mit einer großen Packung Schokoladeneis und einer Schachtel Cookies bewaffnet, stehe ich vor Christobals Tür und weiß selbst nicht so genau, was ich hier eigentlich tue, aber nachdem ich Devon am Flughafen abgeliefert habe, hatte ich plötzlich das unbezwingbare Bedürfnis herzukommen.
Es ist Christobal, der die Tür öffnet. Sein Gesicht verrät keinerlei Gefühlsregung. Nur die Ringe unter seinen Huskeyaugen verraten, dass er eine schlaflose Nacht hinter sich hat.
„Marlen“, er hört sich vollkommen erstaunt an. „Was tust du denn hier?“
„Ich habe gehört was passiert ist. Herzliches Beileid“, erwidere ich und umarme ihn, bevor er es verhindern kann. „Ich kannte Pius nur kurz, aber ich mochte ihn gern.“
Er rührt sich nicht unter mir und murmelt nur ein schlichtes „Danke“, was mich dazu bringt mich schließlich von ihm zu lösen und mir ein bisschen blöd vorzukommen.
„Ich weiß, es gehört sich nicht einfach so vorbei zu kommen, aber ich habe gerade Devon mit Semjons Wagen zum Flughafen gefahren und wollte dich danach eigentlich nur anrufen, um dir telefonisch mein Mitgefühl auszusprechen, aber dann kam ich an der Tankstelle vorbei und dann dachte ich, du könntest vielleicht ein wenig Nervennahrung brauchen… und jetzt wo ich es ausspreche hört es sich total bescheuert an“, ärgere ich mich über meine eigene Blödheit und senke mit glühenden Wangen den Kopf. „Ich sollte jetzt wohl geh-“
„Nein. Bitte. Komm doch rein“, unterbricht mich Christobal und ich sehe betreten hoch.
„Bist du sicher?“
Er nickt, bevor er sich an der Schläfe kratzt „Es war sehr nett von dir herzukommen. In Anbetracht der Tatsache, wie du Eudoxia kennengelernt hast, sogar beinahe unmenschlich…Nikita und Matt sich auch hier.“
„Cool“, bringe ich raus, als ich ihm ins Haus folge. Hier drin hat sich rein gar nichts verändert, nur das es nach zu vielen Tränen riecht. „ Ist deine Schwester auch hier?“
„Oben. Heult sich die Augen aus dem Kopf“, antwortet er mir kurz angebunden.
„Entschuldige. Ich-“
„Ist schon okay. Ich kann nur nicht gerade gut damit umgehen, wie ähnlich sie ihrer Mutter sieht… ich bin so wütend auf Eudoxia. Und es tut mir leid, dass ich Mira gerade nicht einmal ansehen kann… ich weiß, ich bin ein scheiß Bruder.... Semjon hat vorhin Rome angerufen und ihn gebeten her zu kommen, aber der schafft es erst morgen früh hierher... und ihre Freundinnen hier wissen nichts von ihrer Herkunft“, murmelt er und hört sich so deprimiert an, dass ich es nicht einmal über mich bringe ihn dafür anzufahren, dass er seine eigene Schwester nicht trösten will.
Ich folge Christobal ins Wohnzimmer, aber nicht ohne ein gewisses Mitleid für Mira zu empfinden. Er kann sie doch nicht dafür bestrafen, was ihre Mutter angerichtet hat.
„Hey Lenny“, entkommt es Nikita, der neben Matt breitbeinig auf der dunklen Ledercouch lungert, so verdattert, dass ich grinsen muss.
„Hey Jungs“, begrüße ich die beiden und entdecke, die halbleere Wodkaflasche auf dem Tisch, die neben drei gebrauchten Schnapsgläsern steht. „Wie ich sehe habt ihr euch bereits schon anderweitig weitergeholfen und braucht nicht so unbedingt Schokolade.“
Matt schüttelt energisch den Kopf. „Ein Keks geht immer“, informiert er mich und nimmt mir die Cookie Packung aus der Hand, noch bevor ich mich neben ihn setzen kann.
„Vielfraß“, schnaubt Nikita. „Aber nun zu dir, Lenny. Was machst du hier? Solltest du nicht in Magnus Armen liegen und viele kleine süße goldgelockte Kinderchen machen?“
Ich runzele die Stirn. „ Sollte ich?“ Weiß etwa keiner über mich und Semjon Bescheid? Dieses Arschloch!
„Na hattest du kein Date mit Magnus? Amon sagte, ihr beide hättet gestern Abend ein Date gehabt“, hakt er nach und seine roten Augen durchbohren mich kritisch, während Matt lautstark die Kekspackung aufreißt und sich einen großen Schokokeks heraus nimmt.
„Schon, aber-“ Ich überlege, wie ich das sagen kann, ohne zu verraten, dass Semjon und ich miteinander geschlafen haben. „…Ich bin nicht mit ihm nach Hause gegangen.“
Christobal, der gerade dabei ist, sich zu setzen, zögert und sieht mich an, bevor er schnaubt. „Sie ist mit Semjon nach Hause gegangen. Und damit meine ich nicht, dass er ihr einfach nur eine Fahrt nach Hause angeboten hat.“
Matt, der gerade dabei war, sich einen Keks in den Rachen zu schieben, verschluckt sich und fängt an zu husten. Nikita scheint derweil einen Haufen Gold oder so entdeckt zu haben, denn er grinst wie ein Irrer. „Das ist umwerfend! Das ist… ich hatte ja zuerst echt Angst um dich, aber er ist echt in dich verliebt.“
„Ja“, stimmt Matt krächzend zu und gibt noch einmal ein Husten von sich, bevor er sich nach vorn beugt und sein Portmonee hervor zieht. „Allerdings hätte er damit ruhig noch zwei Tage warten können. Verdammt!“, regt er sich auf und Klatscht Nikita, der die Hand aufhält einen zwanziger in die Hand.
„Ihr habt gewettet?“, frage ich vollkommen perplex, aber durchaus amüsiert.
„Was soll ich sagen, Lenny. Wir haben einfach keine Hobbies. Außerdem haben echt fast alle mitgemacht. Also guck mich nicht so an“, grinst Nikita. „Ha…Ich hab dir gesagt, Semjon lässt Magnus nicht mit ihr ins Bett steigen“, lacht er in Matts Richtung und lehnt sich zu ihm herüber, um seine Hand ebenfalls nach der Kekspacklung auszustrecken.
„Lass mir wenigstens meine Kekse“, beschwert sich Matt und bringt die Packung vor Nikita in Sicherheit.
Christobal zieht eine Augenbraue nach oben, bevor er die Schultern zuckt. „Entschuldige“, murmelt er, bevor auch er seinen Geldbeutel zückt und Nikita einen zwanziger in die Hand drückt.
„Mehr waren wir euch nicht wert?“, frage ich anklagend.
Matt gibt ein Glucksen von sich, wobei die Kekskrümel fliegen. „ Hast du eine Ahnung…weißt du, wie viel Geld wir wegen euch schon in die blöde Urlaubskasse gesteckt haben? Ich sag dir unser fünf Sterne Urlaub ist schon dreimal Mal bezahlt.“
„Oh Jungs“, seufze ich und klaue Matt auf diesen Schock, einen Cookie.
„Ich dachte, die sind für uns“, meint Matt und schirmt seine Kekse besitzergreifend vor uns ab.
„Eigentlich sind die für Christobal und seine Schwester“, informiere ich ihn. „Apropos… schätze ich sollte ihr auch was anbieten von dem Eis, bevor schmilzt. Matt scheint die Kekse ja nicht mehr her geben zu wollen. Mira mag doch Schokoeis, oder? “
Christobals Augen verengen sich kurz, bevor er nickt. „Ja. Danke, das ist wirklich… danke. Löffel sind in der Küche, erste Schublade links. Ich glaube den Weg zu ihrem Zimmer findest du auch so, die Tränenspur ist unverkennbar.“
„Okay. Bis gleich“, verabschiede ich mich. „Versucht auf nichts zu wetten, bis ich wieder da bin.“


Ich klopfe an Miras Tür und warte darauf, dass ich herein gebeten werde.
„Geh weg, Christobal!“ Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst. Gestern hast du sogar Semjon vorgeschickt, weil du es nicht ertragen konntest mir in die Augen zu sehen!“
Ich zucke von der Türklinke zurück, bei ihrem Schluchzen, bevor mir das was sie das sagt bis in die letzte Gehirnwindung vordringt.
„Ich bin es…“, sage ich noch immer von Christobals Aktion schockiert, bevor mir klar wird, dass sie mich wohl kaum an meiner Stimme erkennen wird. „Marlen... Nicht Christobal.“
„Marlen?... Was tust du denn hier?“, höre ich es, von einem Heulkrampf fast unmöglich zu verstehen, durch die Türe dringen.
„Kann ich rein kommen?“, möchte ich sanft, ohne auf die Frage einzugehen,
„Ja“, kommt es nach einer schieren Ewigkeit von ihr.

Mira hockt auf dem Boden vor ihrem Bett. Die Arme um die Beine geschlungen, die dunkelbraunen Haare in Gesicht hängend, um sie herum ein Haufen Kleenex Tücher liegend, gibt sie ein Bild des Elends ab und ich schäme mich dafür Semjon eine Szene wegen hier gemacht zu haben.
„Hat Semjon dich geschickt?“, bringt sie schluchzend hervor und wischt sich über die rotgeweinten, zugeschwollen Augen und zieht dabei eine schwarze Kajalspur über ihr Gesicht.
„Nein.“ Mich von meinem Fleck an der Tür lösend, umfasse ich meine Schokoeispackung etwas fester. „Möchtest du Schokoeis? Dein Bruder sagte, du magst Schokolade“, frage ich, weil ich mit der Situation überfordert bin.
Mira schüttelt den Kopf und schnäuzt sich geräuschvoll in ein weiteres Taschentuch.
„Dann nicht“ Ich stelle die Eipackung auf ihre Kommode. „Es tut mir sehr leid wegen deinem Dad.“
Ich sehe ihre Schultern heftiger erbeben und hole tief Luft. „Und auch wegen deiner Mum. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist seine Eltern mit einem Schlag zu verlieren.“
Mira gibt ein Schnauben von sich, während ihr dicke Tränen über ihre Wangen rollen und ihr Kinn zittert und ich frage mich, ob ich das Falsche gesagt habe.
„Und das kommt von dir“, bringt sie aufheulend raus. „Meine Mum wollte dich umbringen und du sagst es tut dir Leid… entweder bist du der netteste Mensch auf Erden, oder du bist einfach nur blond.“
Ich zucke die Schultern und schenke ihr ein schwaches Lächeln. „Schätze, das ich blond bin, kann ich nicht leugnen.“
Sie beißt sich auf die Unterlippe. „Verdammt! Wieso musst du so nett sein? Ich wollte dich nicht mögen.“
Die Augenbrauen zusammenziehend, lasse ich mich ihr gegenüber auf den Boden fallen und schiebe die gebrauchten Taschentücher zur Seite. „Wieso?“
„Rome hat so viel von dir erzählt“, schnieft sie und schnäuzt sich erneut.
„Wenn es dich tröstet. Mir ging es mit dir genauso. Ich war eifersüchtig auf dich, weil Semjon dich so gerne hat“, gebe ich offen zu und verschlinge meine Beine zu einem Schneidersitz.
Mira gibt so etwas Ähnliches, wie ein Glucksen von sich. „Semjon ist total in dich verliebt. Wie jeder der Kerle hier… Und dann habt ihr es endlich geschafft und dann muss er herkommen und mich trösten, weil mein eigener Bruder mir nicht in die Augen sehen und mir sagen kann, dass meine Mutter unseren Vater getötet hat!“, ereifert sie sich und fährt sich übers Gesicht. „Das ist einfach nicht fair… einfach nicht fair.“
Sie verschmiert sich ihre Schminke noch weiter und ich kann nicht verhindern, nach dem Kasten mit Kleenex Tüchern zu greifen und ihr eines zu reichen. „Er hat es dir erzählt?“, hake ich ungläubig nach.
„Natürlich hat er das… du hast deinen Devon… ich habe meinen Semjon“, heult sie. „Weiß auch nicht, wie das passiert ist, aber…wir haben einfach irgendwann angefangen uns Sachen zu erzählen. Hat mir das Auto fahren beigebracht, weißt du. Konnte ich nicht. …und irgendwie… irgendwie ist er mein bester Freund geworden. Rome glaubt mir das nicht… aber es ist so.“
Sie verwischt sich ihre Schminke noch weiter und ich kann mir dieses Elend einfach nicht weiter mit ansehen. „Mira, stopp. Du bist ganz verschmiert im Gesicht“, seufze ich und nehme ein weiteres Tuch, um mich vorzubeugen und ihr die schwarzen Spuren wegzuwischen. „Wie hat das Zeug eigentlich so lange gehalten? Du heulst doch schon eine ganze Weile.“
„Habe mich nachgeschminkt. Ich wollte eigentlich runter gehen, aber dann habe ich das hier gefunden.“ Sie hält ein Feuerzeug und eine Packung Zigaretten nach oben. „Die sind von Rome. Und der ist nicht da. Und da habe ich wieder angefangen zu flennen. Und jetzt sitze ich hier und sehe scheiße aus und kann nicht aufhören zu heulen“, ereifert sie sich, während ich sie abschminke.
„Der kommt morgen früh. Semjon hat ihm Bescheid gesagt, sagt dein Bruder“, informiere ich sie in dem Versuch, sie aufzumuntern.
„Ich weiß“, heult sie und lässt das Feuerzeug aufschnappen. „Ich vermisse ihn nur so… er war derjenige, der mich damals aus dem Loch geholt hat, in dem ich gesteckt habe, als ich von Zuhause weggelaufen bin. Ich dachte ich könnte keine Freunde haben und müsste mein ganzes Leben vor meiner Familie versteckt dahinvegetieren.“ Sie lässt das Feuerzeug wieder zuschnappen und sieht mir in die Augen. „Weißt du, ich liebe Rome. Er hat mir gezeigt, wie das Leben sein sollte. Und deshalb, ist es so schwer um meine Eltern zu trauern. Weil ich so wütend auf sie bin… weißt du, um was ich am meisten trauere? ... Um mich. Und das ist echt gemein. Ich sehe nicht die Schlimmen Dinge, die dir meine Mutter angetan hat,… die sie meinem Vater angetan hat, sondern die sie mir angetan hat. Indem sie sich einfach nie um mich gekümmert hat.“
Ich rutsche neben sie. „Ich finde, du hast das Recht dazu.“ Mira zieht die Nase hoch und ich stupse mit meiner Schulter an ihre. „Man sagt Erinnerungen wäre das einzige das bleibt, wenn alle anderen gegangen. Was die meisten Leute bei diesen klugen Worten meist nicht bedenken ist, dass es nicht die guten Dinge sind, die dich in den Nächten überfallen und schreiend erwachen lassen“, sage ich leise und beobachte ihre Finger, die ruhelos das Feuerzeug wenden. „Ich verstehe dich also durchaus. Das ist schon okay.“
„Ich habe mir so oft gewünscht, sie würden verschwinden…schlussendlich habe ich bekommen, was ich mir so sehnlichst gewünscht habe und ich hasse mich dafür. Ich hasse meine Mutter dafür, dass sie nie für mich da war und meinen Vater dafür, dass er immer wichtigeres zu tun hatte. Dass er die Befindlichkeiten meiner Mutter im Zweifelsfalle immer den meinen vorgezogen hat. Verzeih mir meinen Egoismus… ich weiß sie hat dir so viel schrecklichere Dinge angetan und ich denke hier von verpassten Geburtstagen und-“
Ich schlinge einen Arm um ihre Schultern. „Es gibt wirklich keinen Grund sich schlecht zu fühlen. Du bist nicht deine Mutter und du darfst um deine Eltern und um dich trauern ohne dich schlecht zu fühlen…okay?“
Mira nickt aufschluchzend. „Danke.“
Wir beide starren auf, die Schachtel Kippen in ihren Händen. „Hast du schon mal geraucht?“
„Nein.“
„Ich auch nicht“, schluckt Mira und öffnet die Schachtel Zigaretten mit zitternden Fingern. „Aber irgendeinen Grund muss es doch geben, dass Rome und auch Semjon die Dinger so toll finden.“

Das Husten, das sie von sich gibt, als sie den ersten Zug nimmt, lässt mich grinsen und ich nehme ihr das Ding aus den Fingern. „So schlimm?“
„Probier´s aus… boah ist das eklig.“
Ich lehne das Angebot dankend ab und Mira gibt nach dem nächsten Zug auf und steht auf, um die Zigarette in den Aschenbecher zu werfen, der auf dem Tisch steht, bevor sie zur Kommode läuft und die Eispackung an sich nimmt. „Schätze, wir sollten uns doch auf die Schokolade verlegen.“

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 34

 



Mira und ich sind Beide irgendwann eingeschlafen, denn als ich aufwache ist es dunkel. Christobals Schwester liegt zusammengerollt neben mir auf dem Boden. Die Arme hat sie unter dem Kopf zusammengefaltet und die langen Haare fallen ihr wirr ins bleiche Gesicht.
Ich setze mich auf und fahre mir über die Augen. Das Feuer im Kamin, das uns vorhin so viel Licht gespendet hat, ist erloschen und die kümmerliche Glut in der Feuerstelle, strahlt nicht einmal mehr genug Wärme ab um den Raum zu heizen. Es ist kühl hier drin und meine Schultern schmerzen von meinem Nickerchen auf dem Fußboden, als ich mich aufrapple, über den Haufen verbrauchter Taschentücher steige und in Richtung Fenster gehe, um die Vorhänge zu schließen, weil der Wind gehörig an den Fenstern rüttelt.
Dicke Flocken fallen aus der dichten Wolkendecke und gesellen sich zu der hohen Schneedecke im Vorgarten und hüllen die Nacht in einen weißen Schleier, unter dem die Welt nur schemenhaft zu erkennen ist. Ich gebe ein Seufzen von mir, da ich wohl Semjons Wagen werde freikratzen müssen. Und je länger ich warte, desto mehr Schnee werde ich zur Seite räumen müssen. Und so reiße ich mich schließlich von dem friedlichen Anblick los, der sich mir bietet, ziehe die schweren Vorhänge zu und streiche meine Klamotten glatt.
Als ich aus der Türe trete und mich verschlafen der Treppe zuwende, steigt mir plötzlich Semjons Geruch in die Nase und ich bin schlagartig wach.
Verdattert bleibe ich stehen, noch bevor ich die Türe ins Schloss gezogen habe.
„Ich habe bereits einen Job und ich mag ihn“, dringt Christobals Stimme nach oben aus dem Wohnzimmer.
„Das weiß ich und du bist wirklich gut darin. Aber das ist eine einmalige Chance.“ Semjons Stimme ist leise und eindringlich und ich spüre, ein Zittern durch meinen Körper gehen. Semjon. Er ist hier! Es geht ihm gut.
Bevor ich weiter darüber nachdenke, ziehe ich die Tür hinter mir ins Schloss und eile die knarzende Treppe nach unten.
„Wir sind im Wohnzimmer“, höre ich Semjon sagen und merke, wie sich ein Lächeln auf mein Gesicht schleicht, das noch etwas breiter wird, als ich ihn auf der Couch entdecke. Er ist nur ein Schatten im gedimmten Licht des Wohnzimmers. Sein schwarzer Anzug verschmilzt beinahe mit dem Sofa, während er gelangweilt seinen Knöchel auf sein Knie legt hat. Und ich gestatte mir für einen kurzen Augenblick auf der Türschwelle zu verharren und einfach nur erleichtert zu sein.
„Ich habe schon gehört, dass du hier bist.“ In seiner Stimme schwingt etwas mit, das ich nicht zu deuten vermag und Christobal, dessen Umriss ich vor der großen Fensterfront ausmache, regt sich nicht.
„Ja, ich dachte ich könnte mal vorbei sehen. Mein Beileid aussprechen“, sage ich nach einigem Zögern, weil ich nicht so genau weiß, was ich sagen soll.
Semjon antwortet nichts darauf und ich ziehe erschrocken die Luft ein. Es riecht nach Blut. Viel Blut. Der metallische Geruch durchtränkt den ganzen Raum, jetzt wo ich nicht mehr das Salz von Miras Tränen in der Nase habe.
„Semjon?“, quetsche ich hervor und löse mich aus meiner Position an der Tür, um zu ihm zu eilen. „Geht es dir gut?“
„Nicht. Ruinier dir nicht deine Klamotten“, fährt er mich an, als ich nach ihm greifen will. Und ich reiße erschrocken die Augen auf. Im Halbdunkel glänzt dickflüssiges Blut auf seinen Klamotten, in seinem Gesicht, in seinem Haar. Es durchtränkt einfach alles an ihm. Er hat ein paar tiefe Schnittwunden im Gesicht, doch ansonsten kann ich keine Wunden an ihm entdecken.
Sein dunkler Blick liegt starr auf mir und seine Finger haben sich grob um mein Handgelenk geschlungen.
„Das interessiert mich nicht“, flüstere ich heiser. „…Was hast du gemacht?“
„Das meiste davon gehört nicht mir und ich will nicht, dass du dich damit einsaust.“
Wie festgefroren stehe ich da.
Die vier tiefen Schnitte, die parallel über sein Gesicht verlaufen und über halb seiner rechten Augenbraue beginnen und sich durch seine Augenbraue, über seinen Nasenrücken und seine Wange ziehen, haben bereits begonnen zu heilen, doch nässen sie noch immer bei genauem hinsehen.
Ich keuche erschrocken auf, als sich seine Pupillen zu Schlitzen verformen. Das Zittern, das mich durchläuft, lässt Semjon blinzeln, bevor er mich loslässt. „Es ist nichts.“
Es sieht nicht, nach nichts aus.
„Setz dich doch bitte, Marlen“, höre ich Christobal sagen. „Möchtest du etwas trinken?“
Irgendwie schaffe ich es den Kopf zu schütteln. „Nein…danke“, presse ich hervor, während ich weiter Semjon anstarre.
Dieser erhebt sich mit einem eindringlichen Blick in meine Richtung und greift nach der halbleeren Glasflasche, die auf dem Wohnzimmertisch steht. Ihr honigfarbener Inhalt, verbreitet einen stark alkoholischen Geruch als er sich ein Glas einschenkt. „Setz dich“, meint er schließlich und bedeutet mir sich ihm gegenüber auf das Sofa zu setzen.
„Schenk mir auch einen ein“, fordert Christobal und ich straffe meine Schultern, bevor ich mich auf die Polstermöbel sinken lasse und versuche das Ausmaß seiner Verletzungen von Weitem abzuschätzen.
Seiner Augenbraue fehlen ein paar Haare und natürlich ist auch sein sonst so regelmäßiger Dreitagebart, der sein aristokratische Gesicht bedeckt, über seinen Wunden verschwunden, doch ansonsten kann ich keinerlei Kratzer oder Löcher in seinen Klamotten finden.
Ich wünschte wir wären allein in seinem Loft. In seinem Bett. Dort könnte ich meine Hände über ihn gleiten lassen. Sicher gehen, dass alles noch an ihm dran ist. Meine Lippen solange auf die blutenden Striemen drücken, bis sie verheilt sind.
„Danke“, höre ich Christobal plötzlich neben mir sagen, der mich aus meinen Gedanken reißt. Ich habe nicht einmal bemerkt, wie er neben mich getreten ist, so beschäftigt war ich damit Semjon zu mustern. Offenbar hat er tatsächlich fast nichts abbekommen, aber ich muss zugeben, ich fühle mich nicht ganz wohl bei dem Anblick. Schätze das macht das ganze Blut.
Semjons Nasenflügel weiten sich, während Christobal sich neben mich auf die Couch fallen lässt.
„Wem gehört das ganze Blut, das an dir klebt?“, möchte ich schließlich wissen.
Er schweigt und ich beobachte gebannt seine Iris, die zuerst in meine Richtung, dann in die seines besten Freundes und wieder zu mir zurück wandert. Seine Schultern strecken sich und seine Miene wird noch etwas finsterer. „Ich denke nicht, dass es angebracht ist, darüber zu sprechen.“
„Du stehst praktisch darin. Ich finde schon, dass es angebracht ist danach zu fragen.“
Mein Gegenüber gibt ein Grollen von sich. „Es geht dich nichts an.“
Die Finger ineinander schlingend, mustere ich den Boden und höre dem Feuer zu, das die Holzscheite im Kamin leise knacken lässt. Die Stille ist unangenehm.
„Semjon hat heute Nacht jemanden umgebracht. Deshalb das ganze Blut“, sagt Christobal ganz plötzlich.
Ich schlucke schwer.
Was? Wieso hat er denn jemanden umgebracht?
Semjons Augen weichen meinen aus, als ich zu ihm herüber sehe.
„Wieso?“, will ich schließlich wissen, nachdem ich eine Weile auf Semjons lange, kräftige Finger gestarrt habe, die um sein Glas geschlungen sind.
„Ich glaube nicht, dass wir darüber sprechen sollten. Es ist kein Thema, das dir Freude bereiten wird“, murmelt er und strafft die Schultern. Ganz offensichtlich ist ihm das Thema unangenehm.
„Das interessiert mich nicht… ich will kein Small Talk führen. Du bist verletzt. Und ich möchte wissen weshalb.“ Meine Stimme hört sich fest und ein wenig wütend an. Eine Kombination, die den Boss der Dunklen dazu bringt sich über den Kiefer zu reiben und einen großen Schluck aus seinem Glas zu nehmen.
„Ich habe wohl jemanden provoziert und der ist auf mich los gegangen“, antwortet er mir kurz angebunden und ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass er darauf wartet, dass ich aufstehe und gehe. Doch den Gefallen tue ich ihm nicht so einfach.
„Ich habe dich nicht gefragt, was du getan hast. Ich habe nach dem Grund gefragt. War es etwas persönliches, oder war es Teil deines Jobs?“
Nach einer Weile zuckt er schließlich mit den Schultern. „Es war nur ein Job“, grummelt er leise und sieht mich nicht an.
„Ein Job, den jemand anders hätte erledigen können“, schnaubt Christobal. „…Du hast hunderte von Männern für so etwas.“
Semjons Miene lässt mich unruhig werden. Sie ist berechnend und eisig, als er mich direkt ansieht. „Es gibt Spiele, die ich alleine spielen muss. Das war eines davon“, sagt er und jagt mir damit einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Christobal greift nach seinem noch vollen Glas und fixiert seinen besten Freund finster. „Ein Spiel, von dem ich dir gesagt habe, dass es vollkommen unnötig ist.“
Ich komme nicht umhin zu bemerken, dass sich sowohl Semjons wie auch Christobals Aufmerksamkeit nicht länger auf mir liegt. Die Beiden scheinen mich von jetzt auf nachher vollkommen vergessen zu haben, während ich meinen eigenen Gedanken nachgehangen habe.
„Du solltest die Sache nicht einfach so abweisen. Du bist Pius Sohn. Sein eigen Fleisch und Blut. Es ist dein rechtmäßiger Platz“, entkommt es Semjon und mir fällt es wie Schuppen von den Augen.
Ich schlage mir gegen die Stirn.
Natürlich! Wie konnte ich gestern Morgen so Begriffsstutzig sein? Natürlich will Semjon mehr als ein paar Takte bei der Nachfolgeregelung Pius mitsprechen… nicht weil es sein Job ist, sondern weil er Christobals bester Freund ist. Er will nicht einfach eine akzeptable Lösung, wie er sagte, sondern er will Christobal als Nachfolger seines Vaters durchsetzen!
„Ich bin ein Bastard. Als solcher, mag man der offizielle Kopf der Dunklen werden können… aber nicht Boss der 26. Abteilung“, ereifert sich Miras Bruder wütend. „Wieso willst du das nicht verstehen?“
„Weil ich nicht vergessen habe wer du bist“, erwidert Semjon ihm nachdrücklich und lehnt sich zurück. „Du aber scheinbar schon… sonst müssten wir diese Unterhaltung nicht führen“, grollt der Boss der Dunklen.
„Ich weiß, was man da drüben von Bastarden wie mir hält. …Ich habe nichts vergessen. Genauso wenig wie die Schmach, als mein Vater lieber einen anderen adoptiert hat und zu seinem rechtmäßigen Nachfolger aufgebaut hat, nur weil dieser von tadelloser Herkunft war. Sollen sie da drüben doch glücklich werden mit ihren Stammbäumen…. Ich habe genug davon“, knirscht er und ich werfe ihm einen erstaunten Blick zu. Ich wusste nicht, dass er so wütend auf seinen Vater war. Ich dachte immer, er könnte ihn gut leiden.
Semjon reißt mich aus den Gedanken, als er seine Stimme erhebt. „Das ist keine Option. So könnten wir unseren Job gleich an den Nagel hängen.“
„Ich bin es einfach leid für etwas zu kämpfen, von dem ich immer wusste, dass es mir eigentlich zusteht. Ich will es nicht mehr. Nichts davon. Ich bin jetzt glücklich mit dem was ich erreicht habe.“ Doch Christobal straft noch im gleichen Augenblick seine Worte lügen, zerbricht er doch das Glas, das er in seinen Händen hält. Die Scherben fallen klirrend auf den Boden und ich sehe Blut, aus seiner Handfläche tropfen.
„Ich werde dich nicht vor dieser Chance davon laufen lassen“, meint Semjon nachdrücklich und fesselt mich mit seinen Worten an meinem Platz, während Christobal seine Hände anstarrt. „Du wolltest immer als Pius rechtmäßiger Sohn angesehen werden. Jetzt hast du die Möglichkeit dazu… du kannst dir holen, was dir zusteht. Die einzige Frage, die du dir stellen musst, ist ob du damit klar kommst, dass sie diejenigen, die dich einst Bastard nannten, dann Boss nennen.“
Christobals Hände ballen sich zu Fäusten, ohne dass er mich oder seinen besten Freund ansieht. „Ich will nichts mehr davon hören.“ Seine Huskyaugen fixieren den Haufen aus Glasscherben, Alkohol und Blut vor sich auf dem Holzboden. In ihnen steht der Schmerz geschrieben. Schmerz und ungehörige Wut.
„Ich weiß. Aber darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. So eine Chance kommt nie wieder“, sagt Semjon nachdrücklich.
Christobals Knöchel treten weiß hervor. „Ich will nichts mehr davon haben. Rein gar nichts.“
Ich höre Semjon Schnauben. Es ist nicht niedergeschlagen oder gar verzweifelt. Es ist belustigt. „Sieh mich an und sag es, als würdest du es auch so meinen.“
Er schließt die Augen, bevor er Semjons Forderung nachkommt und seinen Blick hebt. Ich kann dabei zusehen, wie sich sein Mund öffnet, doch seiner Kehle entkommt kein Wort. Die Beiden mustern sich lange. Sie geben ein blutendes Bild des Schreckens von sich. Der eine von oben bis unten in fremdem Blut gebadet, der andere hat sein eigenes an den Händen kleben. Und plötzlich ist es vorbei. Christobal gibt ein dunkles Lachen von sich. „Zur Hölle mit dir Cooper… Wie hast du dir das vorgestellt?“
Semjon legt den Kopf schief. „So wie immer…du bist lange genug dabei um zu wissen, was du tun musst. Es ist einfachste Politik. Es gibt nicht viele Variablen zu beachten... aber das sollten wir nicht weiter besprechen. Du weißt die Dunklen müssen neutral bleiben…“
Neutral bleiben. Das ich nicht lache. Semjon ist so voreingenommen wie man nur sein kann, aber das muss niemand erfahren.
Christobal streckt prüfend seine Finger aus, bevor er sie zusammenballt. „Natürlich…Ich schätze ich muss noch ein paar Leute anrufen… und die Sauerei beseitigen“, murmelt er schleppend.
Semjon leert sein Glas und erhebt sich. „Tu das. Ich werde jetzt Marlen nach Hause bringen.“
Ich blinzele, verwirrt darüber, dass diese Zusammenkunft so plötzlich zu Ende ist und stehe verdattert auf.


Der eisige Nordwind wirbelt die dicken Flocken wild durcheinander, während ich die wenigen Stufen zur Auffahrt hinunter nehme. Ich fröstele etwas in meiner Strickjacke und dem dünnen Top bei den zweistelligen Minusgraden und wickele den Stoff meiner Jacke fester um mich. Dass ich damals so gar nicht bei meiner Flucht vor Abenezer gefroren habe, erscheint mir heute Nacht beinahe unwirklich. Unglaublich was Adrenalin alles möglich macht.
Semjon geht neben mir. In einer Hand hält er seinen Autoschlüssel, die andere hat er in seiner Hosentasche vergraben. „Du frierst“, stellt er ernst fest. „Du hast schon wieder keine Jacke dabei.“
„Sie liegt auf dem Rücksitz deines Wagens“, bringe ich raus und reibe mir über die Oberarme. Von den drei Wagen die in der Auffahrt stehen sind zwei bereits mit einer dicken Schneehaube überzogen. Der dritte, dessen schwarze Lackierung nur leicht überzuckert ist, entriegelt sich, als Semjon den nächsten Schritt tut. „Du fährst bei mir mit“, informiert er mich und wirft mir Seitenblick zu. „Steig schon mal ein, ich hole deine Sachen.“
„Aber-“, setze ich an. Doch ich komme nicht dazu, mehr zu sagen, weil er mir die Autotür aufhält.
„Bitte“, brummt er und betrachtet meine zitternden Schultern kritisch. „Auf der Rückbank liegt mein Mantel. Er ist sauber.“
„Soll ich deinen Wagen wirklich nicht nach Hause fahren?“, frage ich überrumpelt und ein wenig unsicher.
Semjon schüttelt den Kopf. „ Er läuft nicht weg… Ich schicke morgen jemanden vorbei, der ihn abholt.“
Ich muss zugeben, dass ich wirklich dankbar darum bin. Wenn ich nur daran denke, dass ich jetzt noch Autokratzen muss, verwandeln sich meine Fingerspitzen schon in Eisblöcke.
„Und jetzt steig bitte ein. Du zitterst wie Espenlaub.“
Das kann ich wohl nicht leugnen und ich tue wie mir geheißen wurde. Angele mir seinen Mantel vom Sitz und verkrieche mich darin. Der breite Aufschlag des dunklen Mantels ist weich und riecht so durchdringend nach ihm, dass ich für einen Augenblick meine Nase dagegen drücke, bevor ich mich auf dem Sitz zusammenrolle.
Er verschmilzt mit der Nacht um ihn herum und nur mein himbeerfarbener Mantel, der er in den Händen hält gibt Auskunft darüber, dass es sich bei dem Schatten, der durch die Mondlose, verschneite Finsternis wandert um eine Person handelt.
Als er die Fahrertür öffnet und mir meine Jacke zuwirft, murmele ich ein leises „Danke“, das mir etwas wacklig von den Lippen kommt. Ich will ihn so vieles Fragen. Will mich für gestern entschuldigen. Aber ich weiß einfach nicht wo ich anfangen soll.
„Ist die Sitzheizung so warm genug?“, möchte er wissen und ich bin einfach nur überfordert. Mit ihm. Mit mir und der ganzen Situation.
Schließlich reiße ich mich zusammen. „Ja, danke.“


Er startet den Motor und während 650 Pferdestärken mich auf verschneiten Straßen nach Hause tragen, lehne ich meine Stirn gegen die Fensterscheibe und sehe den Lichtern zu, nachdem ich es aufgegeben habe irgendwas Sinnvolles hervorzubringen. Es ist spät und mein Schädel dröhnt.
„Darfst du Christobal wirklich nicht dabei helfen, Abteilungsleiter zu werden?“, hake ich schließlich doch nach.
Semjon wirft mir einen Seitenblick zu, bevor einen Gang nach oben schaltet. „Das habe ich bereits… Ich werde es leugnen, solltest du oder jemand anders mich je wieder danach fragen, aber das habe ich.“
Ich runzele die Stirn. „Der Kerl, den du heute umgebracht hast-“
„Streng genommen habe ich den Kerl heute nicht umgebracht. Ich habe nur ein wenig an den Fäden gezogen… es war ursprünglich eigentlich nur eine einfache Festnahme wegen Steuerhinterziehung. Die Anklagepunkte hätten nicht einmal ausgereicht um ihn die Nacht über in Gewahrsam zu nehmen… aber das wusste er natürlich nicht. Ein paar Drohungen, eine spitze Bemerkung und schon hatte ich eine Waffe auf der Brust… der Rest… nun ja, man legt sich einfach nicht mit einem Dunklen an, wenn der einzige Trumpf eine mickrige Handfeuerwaffe ist. Nachdem ich ihn in die Ecke gedrängt hatte… blieb ihm nichts anders übrig, als zu versuchen mich zu erschießen… und das konnten Matt und Nikita einfach nicht zulassen.“
„Ein wenig an den Fäden gezogen, hm?“, hake ich tonlos nach, weil ich einfach nur unfassbar wütend bin.
Er sieht mich nicht an und ich versuche nicht durchzudrehen. Wie kann er nur! Dieses verfluchte Arschloch! Wie kann er das nur machen? Ich fahre mir über den Mund und starre nach draußen. An den Fäden gezogen, dass ich nicht lache! Er hat sich in diese Fäden geworfen, mit allem was er hatte. Ich presse die Lippen zusammen und schließe die Augen.


Als ich neben ihm aus dem Aufzug steige und ins Loft trete, kann ich nicht länger schweigen. Eingekuschelt in seinen Mantel, weiß ich so genau was ich sagen will, dass es mich selbst erschreckt. Und ich weiß, es macht mich zu einem schlechten Menschen, so zu denken, aber ich kann nicht anders.
„Wen hast du ihm aus dem Weg geräumt? Magnus? Oder jemand Wichtigeren?“
Semjon, der die stählerne Schiebetür hinter uns zuziehen will sieht zu mir mit seinen dunklen Augen und ich glaube, ich fange gleich an zu heulen.
„Magnus war maßgeblich an deiner Rettung beteiligt. Er hat bei mir ein paar Steine im Brett, ich tu ihm nichts, solange er sich nicht an dich ran macht“, murmelt er.
„Fantastisch. Wenigstens Magnus ist gerettet“, schnappe ich. „Dann ist ja alles Bestens!“
Semjon knallt die Tür in die Angeln. „Ich habe dir gesagt, was für eine Art Job ich mache. Heute Nacht hat es keinen Falschen erwischt. Der Kerl war ein selbstherrlicher Tyrann, der die 26. Abteilung in eine Diktatur verwandelt hätte. Wenn du nicht damit klar kommst, dass mein Job es erfordert manchmal auch über Leichen zu gehen, dann sollten wir wohl lieber gleich die Bremse ziehen“, presst er hervor und ich fahre mir kopfschüttelnd übers Gesicht, weil ich meine nächsten Worte kaum selbst glauben kann, aber es ist leider die traurige Wahrheit. Und es ist nichts Romantisches daran.
„Mich interessiert nicht, wen du in deinem Job umbringst! Außer wenn es sich um dich handelt!“, schreie ich ihn schließlich an. „Du bringst dich wissentlich in Gefahr und lässt eine Waffe auf dich richten nur um Christobal einen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen! Hast du vollkommen den Verstand verloren?“, presse ich hervor.
Er starrt mich regungslos an.
„Es interessiert mich nicht, wie edel deine Gründe waren!“, meine ich unglücklich. „Ich zweifele nicht dein Urteilsvermögen an! Ich zweifele auch nicht deinen Job an, wenn es das ist, was du sagen willst“, unterbreche ich ihn, noch bevor er seinen Mund öffnen kann. „Aber ich zweifele an, dass du dabei auch nur eine Sekunde an mich gedacht hast“, bringe ich frustriert raus. „Was wenn er tatsächlich abgedrückt hätte?“
Er sieht zu Boden und strafft die Schultern „Marlen, das war wirklich keine-“
„Geh dich waschen, Semjon“, fahre ich ihn an, während ich seinen Mantel ausziehe und ihn an die Garderobe hänge, genau wie meinen eigenen „ Und ich werde jetzt schlafen gehen… Wir wollen ja nicht, dass ich mir meine Klamotten ruiniere.“
Ich merke, wie mir die Tränen aus den Augen laufen. Wie meine Sicht verschwimmt und wende mich ab. Vorhin wollte ich ihm noch so vieles sagen. Vor allem, dass mir die Szene wegen Mira leid tut, das er recht hatte und dass er ein echt guter Kerl ist, aber jetzt kann ich einfach nicht sagen, weil ich so stink wütend bin. Diese Entschuldigung ist für den Mann bestimmt, mit dem ich gestern ins Bett gestiegen bin, nicht für den Kerl, der sich heute beinahe hat umbringen lassen.
Und so wandere ich die Treppen nach oben und lasse die Zimmertür hinter mir ins Schloss knallen, ohne auch nur ein weiteres Wort an ihn zu richten.

♣ ♣ ♣

 

 

Kapitel 35

 



Mein Zimmer wird vom kalten Mondlicht dieser Winternacht in einen gespenstischen Schein gehüllt und ich bringe es nicht über mich nach dem Lichtschalter zu greifen.
Wie oft bin ich schon weinend in mein Bett gekrochen wegen ihm? Wie oft, habe ich mich in den Schlaf geheult?
Zu oft, gebe ich mir selbst die Antwort. Seit ich ihn kenne, bin ich nicht mehr ich selbst. In seiner Gegenwart bin ich so unsicher. Alles was ich tue kommt mir falsch vor. Es ist, als hätte mir jemand meine Vernunft gestohlen, sobald er vor mir steht. Jede Empfindung in meinem Körper steigert sich in seinem Beisein in ein schmerzhaftes Extrem.
„Das ist einfach nicht gesund“, schnaube ich und fahre mir über die Augen. Mein Herz fühlt sich an, als wollte es bersten und zwar nicht auf eine gute Art und Weise. Früher habe ich nie wegen einem Mann geheult. Niemandem bin ich hinterher gelaufen. Nach nichts habe ich gehungert. Nichts gewollt. Aber es hat auch nichts weh getan.
„Du machst mich wahnsinnig“, schnaube ich entnervt und schäle mich aus meinen Klamotten. Pfeffere meine Unterwäsche in die nächste Ecke und schlupfe in etwas Bequemeres, bevor ich mich aufs Bett fallen lasse und unter die Bettdecke krieche, nur um schlaflos die hohe Balkendecke anzustarren und Semjon zu verfluchen.


Ich werde von Christobal aus dem Bett geklingelt, der mich darüber informiert, dass Rome wegen der anhaltenden, starken Schneefälle in London festsitzt und mich durch die Blumen fragt, ob ich vielleicht heute Morgen nochmals bei ihnen vorbei sehen würde. Da die Alternative darin besteht sich weiter über Semjon aufzuregen, verspreche ich ihm in einer Stunde da zu sein und beeile mich, mich fertig zu machen.
Im Loft ist es still und so aufgeräumt wie immer, als ich an den Kühlschrank laufe um mir mein Frühstück bestehend aus zwei Gläsern Blut drei Tassen Kaffee zu gönnen. Nur die leere Flasche Cognac und das zerbrochene Glas, das im Mülleimer liegt, sprechen davon, dass Semjons Nacht wohl weniger erfreulich war, doch da er sich das selbst zuzuschreiben hat, weigere ich mich Sorgen um ihn zu machen. Stattdessen beeile ich mich, zu Christobal und Mira zu kommen.


Mira sieht miserabel aus. Total verquollen und übermüdet, aber sie bringt ein Lächeln zu Stande, als ich mich zu ihr aufs Bett setze.
„Hey.“
„Morgen“, seufze ich und lasse mich neben ihr in die Kissen fallen. „Konntest du einigermaßen schlafen?“
„Ja. Ein wenig. Warst du zuhause?“
Ich nicke und lenke schließlich das Thema auf sicheren Grund, da ich keine Lust habe über Semjon und mich zu reden. Stattdessen frage ich sie über das St. Andrews aus und ihre Freundinnen dort. Mira ärgert sich gerade über eine gewisse Pamela, als es an der Tür klopft.
„Mira? Kann ich rein kommen?“ Die Stimme kenne ich noch von Voss. Das ist Rome.
„Rome?“, antwortet Mira ihm da auch schon ungläubig und wischt sich verstohlen über die Augen, was nun wirklich nicht verschleiern kann, wie fertig sie ist. „Komm… komm rein.“
Semjons Bruder gleicht einer Götterstatue, als er ins Zimmer tritt. Mit seinem dicken, schwarzen Haar, das beinahe genauso kurz gehalten ist wie Semjons, seinen unglaublichen Körpergröße und seinen dunkelroten Augen, die besorgt auf seine Freundin gerichtet sind, wirkt er wie ein unumstößlicher Fels in der Bandung.
„Rome!“, quetscht Mira neben mir hervor. „Ich dachte, du sitzt in London fest.“
„Hey, Baby“, begrüßt Rome sie so zärtlich, dass ich am liebsten laut aufseufzen würde, bevor er zum Bett herüber kommt und sich durchs Haar fährt. „Für was bin ich denn Abteilungsleiter, wenn ich es nicht einmal schaffe zu meiner Freundin zu kommen.“
Miras Kinn zuckt verdächtig, bevor sie mit einem gewisperten„Rome“, in seine Arme kriecht.
Seine große Pranken umschlingen sie fest, als sie heulend an seine Brust sinkt.
Die Beiden sind perfekt, stelle ich schmachtend fest und ärgere mich mal wieder darüber, dass ich mich ausgerechnet in Semjon verliebt habe, den wohl am wenigsten romantischen Kerl auf Erden.
„Hey Lenny“, begrüßt mich Rome leise, während ich am Aufstehen bin, da ich hier nicht länger gebraucht werde.
„Morgen“, entgegne ich ihm und schenke ihm ein Lächeln, als seine Lippen ein stummes „Danke“, formen.

Ich schlupfe gerade aus der Tür zu Miras Zimmer, als ich es unten laut scheppern höre und Christobal einen lauten Fluch hören lässt. Mir schleicht sich ein Grinsen auf das Gesicht, weil das Fluchen eindeutig aus der Küche kommt und mich das an Devons katastrophale Kochkünste erinnert und nehme die Treppe nach unten. Und ich will gerade dazu ansetzen ihm einem flapsigen Spruch von wegen Männer und Kochen an den Kopf werfen, als ich ihn vor der Kaffeemaschine stehen sehe.
Den Oberkörper entblößt und noch immer herzhaft fluchend, wischt er sich mit seinem Shirt den Kaffee von Bauch und Hose. Das ist allerdings nicht, was mich in der Bewegung hat erstarren lassen.
In all meinen blöden Liebesromanzen, die ich mit unersättlicher Gier, in meinem Leseeifer verschlungen habe, existiert diese Szene. Jedes Mal ist die Frau hin und weg von dem stattlichen Kerl, der da vor ihr steht und verfolgt mit hungrigem Blick einen einzelnen Tropfen, der über die Alabasterhaut des Mannes rinnt und seine Muskelstränge nach fährt. Ich wünsche mir gerade verzweifelt diesen Tropfen her, oder irgendetwas anderes, das mich vom Anblick der alten Narben auf seinem Rücken losreißen kann. Das Tatoo, das den meisten Teil des Narbengeflechts überdeckt und wohl irgendeine Chimäre darstellt ist auch nicht dazu in der Lage, dieses enge, ungleichmäßige Netz aus Narben zu verschleiern. Manche sind weiß und kaum von der normalen Haut zu unterscheiden, andere so tief, dass sie sein Fleisch zerschneiden und an anderen Stellen steht das Narbengewebe wulstig hervor.
„Christo-“, fange ich an und ende wieder, als er beim Klang meiner Stimme zusammenzuckt und erschrocken zu mir herumfährt.

Er ist bleich im Gesicht, während sich mir der Grund seiner Schimpftriarde erschließt. Er hat sich verbrannt. An seiner wirklich ansehnliche Vorderseite, ist kein Makel auszumachen, außer die roten Stellen, wo der Kaffee ihn verbrührt hat. Die beeindruckenden Muskeln unter der hellen Haut spannen sich an, wie zur Verteidigung, Die definierten Wölbungen seiner Brust zeichnen ein anderes Bild von ihm, als sein Rücken und ich erwische mich dabei, wie ich mich dabei erwische mir zu wünschen, dass er sich noch einmal umdreht. Ich öffne gerade den Mund, um ihn zu fragen, was da passiert ist, als er abwehrend die Hand hebt.
„Nicht“, unterbricht er mich noch bevor ein Wort meine Lippen verlässt. „Ich weiß, es sieht schrecklich aus.“
Sicher, es sieht übel aus, es sieht aus, als hätte er viel Scheiße erlebt aber es macht ihn bestimmt nicht hässlich. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ihn das für mich nur umso interessanter macht. Ihn zu einem Kerl macht, über den ich gern mehr wüsste.
Christobal, der sein Kaffee durchtränktes Shirt noch immer wie festgefroren umklammert hält, starrt mich an, als hätte ich vor ihn umzubringen.
„Das war nicht, was ich sagen wollte“, erwidere ich schließlich und mache einen Schritt auf ihn zu, was ihn dazu bringt zurückzuzucken. „Eigentlich wollte ich nur fragen, wie- “
„Ich will nicht darüber reden“, unterbricht er mich harsch und ich begegne seinen blauen Huskeyaugen, die mich abweisend fixieren und so schiebe ich die Hände in die Hosentaschen und zucke ergeben mit den Schultern.
„Du solltest das kühlen“, erteile ich ihm schließlich seufzend den Ratschlag, nachdem ich schon nichts zu seinem Rücken sagen darf.
„Hm“, brummt er zustimmend mit zusammengebissen Zähnen. „Möchtest du einen Kaffee?“
Ich schüttle den Kopf. „Nein danke. Ich werde jetzt nach Hause gehen …schlafen.“
Christobal fährt sich über die Augen. „Ich wollte gerade nicht unhöflich sein.“
„Ist schon gut“, versichere ich ihm, obgleich mich meine Neugierde fast umbringt.
Er legt sein versautes, nach Kaffee stinkendes Shirt neben sich in die Spüle und stemmt die durchtrainierten Arme auf die Anrichte. „Danke für alles“, kommt es ihm schließlich zwischen den Zähnen hervor und ich sehe einen Muskel in seinem kräftigen Kiefer zucken. Seine kantigen Gesichtszüge, die so viel Ähnlichkeit mit seinem verstorbenen Vater Pius aufweisen, werden noch ein wenig finsterer. Die Augen zu schlitzen verengt, starrt er auf einen Punkt vor mir in der Luft und ich muss zugeben in diesem Augenblick ist er genauso furchterregend wie Semjon zu seinen besten Zeiten. Von dem Gentleman, den er sonst immer Vollendung verkörpert, ist nichts mehr zu sehen.
„Ruf mich an, wenn du etwas brauchst“, wage ich es zu sagen und reiße ihn damit aus seinen Gedanken.
Die blauen Augen blinzeln einmal und noch ein zweites Mal, bevor er seufzt und sich übers Gesicht fährt. „ Danke, das werde ich“
Ich schenke ihm ein letztes Lächeln und greife nach meinem himbeerfarbenen Mantel, der über dem Küchenstuhl hängt. „Mach´s gut“

Ich lasse gerade die Haustüre hinter mir zufallen, als ich mich Semjons breiter Brust gegenüber finde.
„Lässt du mich bitte durch?“, frage ich mit monotoner Stimme.
Die dunkle Wand aus Muskeln und Blutdurchtränkten Klamotten antwortet mir nicht. Sie baut sich nur wallartig vor mir auf und rührt sich nicht.
„Semjon, lass mich bitte durch?“, wiederhole ich nochmals und sehe hoch in sein Gesicht. Er schüttelt nur miesmutig den Schnee von seinem Mantel und zieht sich seine Handschuhe aus. In seinen langen Wimpern und seinem tintenschwarzen Haar hängen ebenfalls ein paar Flocken, wie ich erkenne, als sein Blick über mich wandert.
„Nein“, brummt er schließlich und verschränke abwehrend die Arme vor der Brust.
„Spitze. Und weshalb darf ich nicht an dir vorbei? Soll ich dir einen Rechenschaftsbericht ablegen, was ich hier tue, oder was?“
Seine Augen verengen sich. Er fixiert mich befremdet, bevor er die Schultern zuckt. „Ich weiß, was du hier tust. Es gibt keinen Grund das Offensichtliche zu hinterfragen“, gibt er mir schließlich zur Antwort.
„Das Offensichtliche?“
Semjon fährt sich durch sein Haar. „Du bist hier, weil du dir Sorgen um Christobal gemacht hast und um seine Schwester.“
„Ach wirklich“, entkommt es mir schnippisch. „Woher willst du das wissen?“
„Weil du nett bist, weil du dir Sorgen machst…. Weil…du dauernd sowas machst …und ein bisschen verrückt bist.“
Für einen Augenblick bin ich sprachlos. Einfach nur sprachlos, bevor ich mich darin erinnere, dass ich wütend auf ihn war.
„Dann kannst du mich ja jetzt auch durchlassen“, antworte ich ihm schnippisch.
„Nein“, höre ich ihn sagen, mit seiner schweren Samtstimme und ich zucke erschrocken zurück, als sich seine Hand um meinen Oberarm schlingt. „Das werde ich nicht.“
Ich schlucke ob seiner Berührung und sehe zu Boden. „Ich habe keine Lust dich weiter anzuschreien und mich in deine Aktion von gestern weiter hineinzusteigern“, wehre ich jegliche Diskussion ab und mache mich von ihm los, um die Treppen nach unten zu stiefeln.
Ich bin schon fast die Auffahrt herunter, als Semjon mich an der Hand packt und zu sich zieht.
„Ich muss mit dir reden“, sagt er ernst und ich nehme am Rande war, wie sich auch seine zweite Hand um meinen Arm schlingt, um zu verhindern, dass ich verschwinde. „Bitte hör mich an, bevor du gehst.“
Ich sehe verdattert nach oben in sein Gesicht. Seine Pupillen wandern unruhig über mein Antlitz und ich merke, wie sich seine Muskeln anspannen, während ich einfach nur überfordert bin. Was will er denn?
„Bitte“, schiebt er nochmals hinterher und ich zucke überrascht mit den Schultern.
„Dann rede.“
Er lässt mich los, greift in seine Manteltasche und zieht ein Stück Papier hervor. Entfaltet es, sieht zu mir, sieht nochmals zurück auf den Zettel, bevor er ihn zerknüllt und ein „Verdammt“, murmelt. „Nach einer halben Flasche Cognac hat sich das besser angehört.“
Mit wachsendem Erstaunen stehe ich da und starre ihn an, während er sich durch die pechschwarzen Haare fährt. Schließlich strafft er die Schultern und wirft das zerknüllte Papier auf den Boden.
„Ich bin total verkorkst“, fängt er unvermittelt an. Seine unnatürlich dunklen Augen finden meine. „Ich habe mich in dich verliebt… Und das macht mir Angst. Du machst mir Angst, Marlen…meine Gefühle für dich jagen mir eine Scheiß Angst ein. Ich weiß, ich sage immer, ich bin kein Feigling, aber im Bezug auf dich bin ich das. Ich bin ein Feigling.“
Mein Kopf ist wie leergefegt, während sich seine Finger sich wieder um meine Arme legen.
„Als ich damals nach Voss zu meiner Bruder kam, war ich auf alles vorbereitet, aber nicht auf dich. Wirklich auf alles, aber nicht auf dich… Ich bin vollkommen und unwiderruflich in dich verliebt, seit ich dich vor dem Haus meines Bruders gesehen habe. Das ist mir noch nie passiert…und es tut mir leid wie ich mich benommen habe. Ich hatte keine Ahnung, was ich tue… ich habe vollkommen die Nerven verloren…Ich wusste nicht, was es war. Ich wusste nur, dass es aufhören muss, weil ich in deiner Nähe nicht klar denken konnte. Meine primitivsten Instinkte meldeten sich, sobald du einem anderen Kerl deine Aufmerksamkeit geschenkt hast, während ich eigentlich nur um deine Sicherheit hätte besorgt sein sollen. Ich wollte, dass es aufhört… aber das hat es nicht“, bringt er raus. „Ich hatte nie Gefühle für irgendwas. Für mich gab es immer nur meinen Job, den ich so gerne mache, weil es nicht um große Worte, Ruhm und Ehre dabei geht, sondern um Gerechtigkeit. Man macht sich dreckig dabei… und um den Dreck abzuspülen braucht man notgedrungen noch mehr Dreck, aber ich mache mich gerne dreckig, wenn man dadurch etwas erreichen kann. Aber dich will ich soweit wie möglich von dieser Seite meines Jobs fernhalten. Weil es viel zu gefährlich ist und weil ich Angst habe, dass du erkennst was für ein Monster ich bin und gehst….Das gestern…Ich bin gut darin keinerlei Gefühle zu haben. An nichts und niemanden zu denken, während ich meinen Job erledige. Aber Liebeserklärungen zu machen… darin bin ich miserabel“
„Semjon“, presse ich vollkommen erschlagen raus, weil mich sein plötzlicher Schwall an Worten total überrumpelt hat.
„Dein blödes Buch war überhaupt keine Hilfe, dabei“, ereifert er sich. „Sie lehnt den armen Kerl ab, obwohl er total in sie verliebt ist… und ich fand seine Liebeserklärung echt gut.“
Bei allen Göttern der Nyx. Er ist in mich verliebt.
Ich brauche einen Augenblick um das sacken zu lassen. Sein sonst so selbstsicheres Auftreten, die eisige Aura um ihn herum ist verschwunden. Vor mir steht ein vollkommen aufgelöster Semjon Cooper, in dessen dunklen Augen Unsicherheit geschrieben steht.
„Würdest du bitte irgendetwas sagen?“, presst er hervor.
Bei seinen Worten überkommt mich schließlich die Erkenntnis, was genau er mir da gerade eigentlich mitgeteilt hat. Dass er in mich verliebt ist. Dass er von Anfang an in mich verliebt war.
„Du bist ein Idiot“, entkommt es mir schließlich, ohne groß darüber nachzudenken.
Sein Gesicht verfinstert sich Zusehens und er sieht zu Boden. „Das weiß ich.“
Noch immer prangen die die vier verkrusteten Kratzer auf seiner Wange und erinnern mich daran, was Semjon gestern getan hat. Mich überkommt ein Schaudern. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Mr. Darcy jemals so malträtiert ausgesehen hätte“, antworte ich ihm schließlich schleppend und vollkommen erstaunt von seiner Gesprächigkeit, bevor ich meine Hand über seine Wange wandern lasse um mit den Fingern die verkrusten Kratzer nachzufahren.
„Tut aber nicht weh“, murmelt Semjon, der sich gegen meine Handfläche lehnt. „ Und ich weiß, ich bin nicht das was du dir als Retter vorgestellt hast.“
„Nein. Das bist du wirklich nicht aber du bist ein guter Kerl, wenn es darauf ankommt… auf eine sehr anstrengende Weise.“
Semjons dunkle Augen bohren sich in meine und ich kann seine Anspannung beinahe greifen. „Wenn du jetzt gehen willst werde ich dich nicht aufhalten.“
Ich schiebe mir eine Strähne hinter die Ohren. „Ich glaube nicht, dass ich das tun möchte.“
Seine Nasenflügel weiten sich. „Möchtest du nicht?“
Mein Kopfschütteln zaubert ihm einen Ausdruck wilder Freude ins Gesicht, das mich erschrocken aufkeuchen lässt, als er mich an sich zieht. In seinen schwarzen Augen lodern sämtliche Höllenfeuer. Sie schicken sich an, mich zu verschlingen und sein Geruch nach Meer und Rauch lässt mich trunken vor Glück in unseren Kuss sinken, als sich seine eigensinnigen Lippen endlich auf meine legen.
Einen Arm um meine Mitte schlingend, drückt er seine Lippen auf meine und wischt mir damit mein Lächeln aus dem Gesicht. Sein Mund mag nicht gut darin sein mir mit Worten zu versichern, dass ich ihm wichtig bin, aber er kann es mir sehr überzeugend zeigen. Ich gebe ein leises Seufzen von mir, während seine freie Hand sich in meinem Haar vergräbt.
Jedes Mädchen träumt von diesen großen Küssen, bei denen die Welt für einen Augenblick stehen bleibt. Melodramatisch und leidenschaftlich wie einer dieser legendären Filmküsse aus den Vierzigern und der hier hat das Zeug jeden davon verblassen zu lassen. Meine weichen Knie lassen mich gegen ihn fallen und seine starken Arme halten mich eng umschlungen. Sein unglaublicher Mund presst sich hungrig auf meinen. Es ist kein neckender Kuss, keine kurze, gehauchte Zärtlichkeit. Das hier ist ein richtiger Kuss. Dunkel und überwältigend, wie der Mann der ihn mir gibt. Meine Fänge pulsieren in meinem Zahnfleisch, mein ganzer Körper summt unter seinen Berührungen.
„Ich liebe dich“, grollt er mit seiner viel zu dunklen Samtstimme und ich muss wohl das Gleiche zurückgemurmelt haben, denn auf sein Gesicht schiebt sich ein Lächeln. Ein verdammtes Lächeln von Semjon Cooper. Eines, das dich alles um dich herum vergessen lässt.
„Du solltest deinen Mantel schließen. Ich bin nämlich zu Fuß hier und ich habe keine Lust, dass du gleich erfrierst, nachdem ich es endlich geschafft habe dir zu sagen, dass ich in dich verliebt bin“, tadelt er mich.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein ganz schöner Langweiler bist?“, amüsiere ich mich, während ich meine Jacke zuknöpfe.
„Nein“, entgegnet er mir und rammt die Hände in die Jackentaschen, nur um seine Handschuhe zu Tage zu fördern und mir entgegen zu strecken.
„Dann sage ich es jetzt gerne noch einmal“, schmunzele ich und schlendere neben ihm die Auffahrt hinunter.
Semjon, der mich dabei beobachtet hat, wie ich seine dargebotenen Lederhandschuhe angezogen habe, lässt meine Finger einfach so in seine Handfläche gleiten und hält sie fest.
„Schätze damit komme ich klar“, brummt er.
Und dann laufen wir einfach durch das Schneechaos nach Hause.
Wie ein ganz gewöhnliches Paar.
Eine chaotische Blondine und ein großes Raubtier.
Beide mit einem irren Grinsen im Gesicht.

 



 ~+~+~+~+~ Ende ~+~+~+~+~


Ich habe mir lange überlegt wo und wie ich diese Geschichte enden lassen würde und ich danke allen Lesern und vor allem Reviewer für ihre Anmerkungen, Ideen und Kritiken. Als ich damals mit dem Schreiben dieser Geschichte angefangen hatte, wusste ich überhaupt nicht, wohin diese führen würde und hat unglaublichen Spaß gemacht sie zu schreiben (Vor allem dank eurer zahllosen Kommentaren !!!)

Jetzt bleibt mir eigentlich nur euch viel Spaß zu wünschen, bei allem was ihr treibt!

 

Liebe Grüße

 

eure Shatiel

 

Impressum

Bildmaterialien: Das Cover hat mir die wundervolle papem23 erstellt! Danke vielmals dafür!!!
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte widme ich Den erfrischend sarkastischen Den direkten, geradlinigen Den naiven, liebevollen und kreativen Genies Endlosen Freitagabenden Lauen Sommernächten Und der Gewissheit, dass es niemanden wie euch gibt.

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