Ich tastete nach meiner Jeans. Ich spürte den rauen Stoff und zog sie zu mir heran. Ich fühlte die Knöpfe, die immer so schwer zu schließen waren, und streifte sie mir über meine nackten Beine. Ich merkte es an meinem Fuß - mein Oberteil lag auf dem Boden. Als ich fertig angezogen war ging ich den gewohnten Weg ins Bad. Ich putzte mir die Zähne, wusch mein Gesicht und kämmte mir die mittlerweile lang gewordenen, welligen Haare. Die kalte Küche ließ mich jeden Morgen frösteln. Die Altbauwohnung war zwar klein und kalt aber trotzdem kannte ich sie in und auswendig. Das war ein Grund zu bleiben. Neues lag mir nicht. Und Veränderungen schon gar nicht. Umzüge würden ein unvorstellbarer Alptraum für mich sein. Die Cornflakespackung stand nicht am gleichen Platz wie gestern. Meine Mutter muss abends noch vorbeigeschaut haben. Wahrscheinlich hat sie wieder insgeheim die ganze Wohnung aufgeräumt. Ich hasse es von ihr abhängig zu sein. Ich schnappte mir meinen Stock und den Schlüssel und ging aus der Haustür. Die Luft war frisch und doch war es wärmer als in der Wohnung. Es duftete nach Pflanzen. In den letzten Tagen hatte es geregnet, doch heute kam die Sonne endlich zum Vorschein. Durch den Regen auf dem Grün wurden die Gerüche noch intensiver. Die Vögel zwitscherten um die Wette und es war Musik in meinen Ohren. Es war Samstag. Ich ging die Straße entlang und genoss den Frühling. Ich bemerkte jeden einzelnen Sonnenstrahl auf meiner Haut. Die Erinnerungen stiegen in mir hoch. Wenn man auf etwas längere Zeit verzichten musste und man es ohne danach zu suchen wiederfindet, merkt man dass es einem unheimlich gefehlt hat. Ich ging um die Ecke meines Blocks und steuerte eine enge Gasse an. Schon von weitem hörte ich die Stimmen und das Marktgeschrei das dahinter lag. Die Gasse war widerlich. Ich roch vergammelten Fisch und Straßenkatzen huschten an meinen Beinen vorbei. Ich hatte nichts gegen Katzen, doch ich wusste dass die Straßenkatzen die hier herumlungerten immer mal wieder eine tote vergiftete Ratte vernaschten und ein paar Tage später tot hier entsorgt werden mussten. Den Job würde ich nicht gerne übernehmen. Aber ich wusste, dass es jemand tat sonst würden sie sich hier schon häufen. Ich erreichte den menschenüberfüllten Marktplatz. Durch den ganzen Tumult und den hohen Geräuschpegel der hier so gut wie jedes Wochenende herrschte hörte ich Fetzen von Werbeschreien der Verkäufer: „Frischer Lachs! Frische Makrelen!“ und „Hier heute nur für 3,55¤ ein riesiger Obstkorb!“ und „Kaufen sie hier deutschen Spargel! Kaufen sie hier…“. Wie eine Endlosschleife geht das hier immer so weiter. Ich frag mich wie die Marktschreier das mit ihrer Stimme geregelt kriegen. Die müssen doch unheimlich heiser sein den Rest der Woche über. Ich ging also zu meinen typischen Ständen. Ich hörte die Menschen die sich lauthals unterhielten und lachten plötzlich verstummen wenn ich mich ihnen näherte. Die Mitleidspendenden Blicke die versuchten sich von mir abzuwenden, weil es sich nicht gehörte so zu starren. Sie denken ich sehe sie nicht – doch ich spüre sie auf mir mehr als, dass ich sie sehen könnte. Ich spüre sie überall. Auf meinem Rücken. Auf meinem Gesicht. Auf meinem ganzen Körper. Auf meinen Augen. Es fühlt sich warm an, ja fast schon heiß. Doch es ist keine positive Wärme. Es ist… man kann es nicht beschreiben wenn man es nicht selbst erfahren hat. Ich ging zu Maria. Wir kannten uns schon lange. Ich kaufte jeden Samstag bei ihr Gemüse ein. Sie konnte nur ganz wenig Deutsch sprechen. Vor 8 Jahren ist sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter von Peru nach Deutschland ausgewandert. „Aaah.. ‘Holla Miiira. Heute haben wir etwas sehr lecker. Heißen Bitterguake. Wollen du Probe?“ „Ich kauf gleich zwei, danke. Hört sich wirklich interessant an.“ „Jaah..hier bitte sön“ „Danke ich wünsche dir noch ein schönes Wochenende und grüß Carlos ganz lieb von mir.“ „Natürlich!“ Und auf einmal packte mich eine kleine Hand an meiner eigene. Ich erschrak. Ein kleines Mädchen rief mit fröhlicher Stimme zu mir hoch:“Hey du komm mit ich zeig dir was. Hast du schon den lustigen Clown gesehen?“Ihre Stimme war kindlich, süß und wunderschön. Ich war so perplex, dass ich einfach nur stumm mit dem Kopf verneinte. Sie hatte so eine helle und freundliche Aura, dass ich ihr vertraute und mich von ihr mitziehen ließ. Sie drängte sich durch die Menge mit mir, ließ meine Hand aber nicht los. Wir bahnten uns einen Weg durch die Menschen. Ich fühlte mich unheimlich schnell. Wir fingen an zu laufen. Schon lange war ich nicht so schnell gewesen. Ich ließ meinen Blindenstock fallen und machte mir nicht die Mühe noch einmal zurückzulaufen und ihn aufzuheben. Er war mir egal geworden. Mit dem unbekannten Mädchen bei mir fühlte ich mich auf einmal sicher, selbstbewusst und stark. Wir rannten und jedesmal wenn wir Personen anrempelten und sie uns hinterher schrien wir sollen doch gefälligst aufpassen fing sie zu kichern und zu lachen an. Es war keinesfalls ein gehässiges Lachen. Es klang so verlockend, anziehend und köstlich zugleich, dass ich nicht wiederstehen konnte und auch mitmachte. Es kam mir wie eine wunderbar kleine Ewigkeit vor bis wir endlich beim Clown ankamen. Ich hörte viele Kinder und die Mütter die mit genervtem Ton versuchten die Kinder nach Hause zu lotsen. „Nein Mama. Biiiiiitte darf ich noch einbischen zugucken?“ fragte ein Junge. Das Mädchen an meiner Hand fing wieder an zu kichern. „Was ist denn los?“ fragte ich. „Der Clown macht so witzige Luftballons. Die blaue Giraffe ist ihm doch gut gelungen, nicht?“ „Ja. Sie ist toll.“ Ich verstand dass sie nichts von meiner Behinderung merkte und versuchte einfach mitzuspielen. „Soll ich sie dir kaufen?“ „Ouuu ja. Das wäre toll!“ Ich griff tief in meinen Beutel und kramte das alte schwarze Lederportmonee raus. „Wie viel kostet denn so einer?“ „3,00¤.“ Reine Abzocke, dachte ich. Aber ich durfte diese Harmonie zwischen uns nicht brechen. Zum ersten Mal fühlte ich mich normal. Zum ersten Mal war die Blindheit nur eine Kleinigkeit. Nur Nebensache. Ich tastete die Münzen mit meinen Fingern ab. Ich gab ihr das Geld und hörte sie davon laufen. Blitzartig machte sich ein mulmiges Gefühl in mir breit. Ich hatte Angst dass es nur ein armes Bettlermädchen war. Dass sie mich hintergangen hat und das Geld zu anderen Zwecken nutzte. Sie an ihre Familie weitergab. „Sieh doch! Er hat mir sogar zwei gegeben! Hier ist noch ein rosa Hund. Ist der nicht niedlich?“ Als ich die frohlockende Glockenstimme wieder hörte bekam ich sofort Gewissensbisse. Wie konnte ich nur so von ihr denken? Sie nahm mich wieder an die Hand und so auch verdrängte sie die Befürchtungen in meinem Kopf. „Und jetzt? Was wollen wir jetzt machen?“ Es klang absurd und doch so selbstverständlich. Ich hatte ganz vergessen dass sie auch noch Eltern haben könnte, die sich schreckliche Sorgen machen mussten. Sie riss mich zum zweiten Mal aus meinem Unbehagen. „Komm ich zeig dir mein Viertel.“ Wir entfernten uns vom Marktlärm. Wir gingen durch eine Gasse, die mir unbekannt war. Und ich kenne meine Gegend gut, deshalb wunderte es mich umso mehr, dass ich hier noch nie entlang spaziert bin. Auf der anderen Seite offenbarte sich ein verrücktes und buntes Geräuschfeuerwerk. Es war alles so durcheinander, dass ich manchen Klang sogar nicht zuordnen konnte. Es roch nach verschiedenem Essen. Salzig, Süß, Bitter. Ich hörte Jazzmusik und aus einer Ecke drang klassische Musik zu mir hindurch. Nicht nur Musik sondern auch Menschen. Viele Menschen. Spanisch, Russisch, andere Sprachen die ich nicht kannte. Es war so außergewöhnlich fantastisch, dass ich mir die Straße unendlich lang vorstellte. „Komm ich zeig dir alles. Ich führ dich rum. Aber du musst mit mir laufen. Ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Aha. Hatte sie sich doch mit ihren Eltern abgesprochen und eine Uhrzeit bekommen, wann sie heim kehren muss. Nun war ich beruhigt. Wir liefen Hand an Hand. „Da vorne bei dem roten Schild, das ist unsere Lieblingspizzeria. Luigi macht sensationelles Essen.“ Von der rechten Seite duftete es nach Ölen und Räucherstäbchen. „Was ist hier?“ ich nickte mit meinem Kopf in die Richtung woher der Geruch kam. „ich weiß nicht genau wie man es nennt, aber hier gehen die bunt angezogenen Frauen hin. Ich glaube die sind balla balla.“ Sie lachte und ich lachte auch. Wir gingen im schnellen Tempo weiter. „Hier ist der Spielplatz.“ Ich hörte wie sie eine Pforte öffnete und bemerkte den sandigen Kiesweg unter meinen Turschuhen. Kinder spielten, weinten und kreischten von überall. „Guten Morgen Herr Taubenmann! Wie geht es den Tauben?“ „Oh hallo Tia. Wie immer - hungrig sind sie.“ Sagte eine verrauchte, freudliche Männerstimme. Tia hieß sie. Schöner Name. Er passte zu ihrer Stimme. „Das ist der Taubenmann. Wir nennen ihn so, weil er die Tauben füttert. Er ist jeden Tag hier auf dem Spielplatz und hat ein Leib Brot unter dem Arm.“ Ich wusste nicht wie diese Vögel aussahen. „Sind sie schön die Tauben?“ „Meine Mama sagt sie sind dreckig, deswegen soll ich es dem Taubenmann nicht nachmachen. Aber ich finde sie schön. Ich sammele die grauen langen Federn und bewahre sie in einer Box auf. Ich verstecke sie vor meiner Mutter.“
Ich hörte Jahrmarktmusik. „ WOW!!! Das Karussell ist da! Guck mal wie schön es ist. Letztes Jahr bin ich auf dem weißgrauen Pferd gefahren. Siehst du es? Seihst du?“ „Ich sehe es. Es ist wunderschön.“ Und ich sah es tatsächlich. Ich sah alles durch ihre Augen. Sie war mein Engel. Tia, mein Engel.
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2010
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