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Prolog

Während meiner ganzen Existenz war ich noch nie so ungeduldig, so aufgeregt gewesen, wie in diesem Moment. Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her, ohne eine annähernd bequeme Sitzposition zu finden und sah gebannt durch die Reihen meiner Freunde und Brüder hindurch, zu dem hölzernen Rednerpult auf der kleinen Tribüne. Um mich herum herrschte strenges Schweigen, aber die Unruhe lag wie eine flimmernde Aura über der ganzen Halle. Wahrscheinlich ging gerade allen das selbe durch den Kopf: Das Ende unserer Lehrzeit an einem sicheren, hellen Ort und der Beginn des ernsten Lebens.
Ein leises Raunen ging durch die Menge, als das Licht gedimmt und ein einzelner, heller Scheinwerfer auf das Podest gerichtet wurde. Doch es verstummte sofort wieder, als eine einzelne Person aus dem Schatten heraus an das Mikro trat. Der Mann war sehr groß und durchtrainiert. Der weiße Anzug, den er trug, ließ seine breiten Schultern noch breiter erscheinen. Das bedeutendste Merkmal  an ihm war allerdings sein langes, goldblondes Haar, das um die Umrisse seines scheinwerfererhellten Körpers floss und bis zu seinen Knien reichte. Für einen Moment vergaß ich das Atmen.
Das war er! Das war Michael!
Ich brauchte nur einen Blick auf die rotgoldenen Schwingen des Erzengels werfen und mein Herz schlug vor Aufregung einen Takt schneller. Wenn ich gewusst hätte, dass mein größtes Vorbild, der Anführer der Seraphim persönlich, die letzte Rede halten würde, bevor wir alle das erste Mal auf die Erde geschickt wurden, hätte ich mich weiter nach vorne gesetzt.
Seine strengen Augen wanderten über die Menge an nervösen Engeln, als wollte er sie alle noch ein letztes Mal ermahnen, dann fixierte sich sein Blick auf irgend einen Punkt in der Halle und er räusperte sich leise.
„Ihr seid nun alle soweit, euren Dienst auf Erden zu verrichten. Oder zumindest glaubt ihr, soweit zu sein. Jedoch bin ich nicht hier, um euch dafür zu gratulieren! Der Feind wird stärker und größer, je mehr Zeit verstreicht. Ihr seid geschaffen worden, um das drohende Ungleichgewicht wieder auszupendeln.“ Michaels Stimme dröhnte durch meine Ohren und die Kraft, die er in jede einzelne Silbe legte, verursachte bei mir eine Gänsehaut. Niemals war ich einem so mächtigen Wesen so nahe gewesen. Zitternd holte ich Luft, um mich weiter auf seine Worte konzentrieren zu können. Mein Blick hing ununterbrochen an den Lippen des golden strahlenden Erzengels.
„Das gefährliche bei Dämonen ist nicht, dass sie Menschen in Versuchung führen wollen. Es ist die Tatsache, dass sie wissen, was eine Person begehrt, noch bevor sie es selbst weiß. Seit Beginn eurer Existenz kennt ihr nichts anderes als das Gute, das Rechte. Ihr wisst nichts von Leid, Bosheit und Versuchung. Sünde ist, wogegen ihr angehen sollt, doch ihr kennt sie nur als leeres Wort, vor dem man euch warnt. Deshalb spreche ich, bevor ihr aufbrecht, diese einzige und letzte Warnung aus: Versagt nicht! Wenn ihr hierher zurückkehren wollt, wenn ihr darauf hofft, nach eurer ersten Aufgabe das Himmelreich wiederzusehen, dann verliert nicht gegen das Böse. Es lauert dort draußen bereits auf euch und es wird alles daran setzen, euch zu sich hinab zu ziehen, in die Tiefen der Hölle.“

Kapitel 1 – Seelsorge

Wenn ein Engel einsam ist, dann betet er zu Gott, um seiner Wärme und Güte nahe zu sein.
Seit ich mich auf der Erde befand, betete ich beinahe ununterbrochen. Es war schwer für mich, all das Neue, das auf mich einwirkte, allein zu bewältigen. Noch nie hatte ich so viel Leid und Verderben gesehen, wie in der grauen, trostlosen Stadt, der ich zugeteilt worden war. Ob es nun die Geldsorgen einer jungen Mutter waren, der Überfall des Kiosks an der nächsten Ecke oder das junge Mädchen, dass sich in ihrer Badewanne aus Liebeskummer die Pulsadern aufschlitzte, meine unschuldigen Augen hatten noch nie etwas grausameres erblickt. Jeder Schritt den ich tat, jeder Atemzug den ich machte, unbemerkt und unsichtbar zwischen all den verzweifelten Menschen, ließ mich glauben, mein Herz würde bald in Stücke springen und ich sah mich vollkommen machtlos gegenüber der Gewalt und dem ganzen Leid um mich herum.
Gott selbst hatte mich geschaffen, um den Menschen zur Seite zu stehen, die meine Hilfe wünschten. Als ein kleines Licht in dieser finsteren Stadt. Ich kam mir dabei vor wie ein Streichholz, das versuchte ein ganzes Gebäude zu erhellen. Als Schutzengel bestand meine Aufgabe darin, zu helfen, wann immer ich darum gebeten wurde.
Doch ich wurde nie gebeten. Die Menschen hatten lange aufgegeben, zu glauben und auf Hilfe zu hoffen und so blieb mir nichts anderes übrig, als bei ihnen zu bleiben und dabei zuzusehen, wie sie verzweifelten. Ob die anderen, die mit mir auf die Erde geschickt worden waren, die gleichen Probleme hatten? Wurden auch ihre Stimmen und helfenden Hände überhört und übersehen?
Ich erinnerte mich noch deutlich zurück an Michaels Worte: Wir wüssten nicht was Sünde sei. Was Leid wirklich bedeute. Wie recht er hatte.
Ich sah es nun, da ich durch die Straßen streifte, auf der Suche nach irgendjemandem, der meine Hand annahm, wenn ich sie ihm entgegenstreckte. Unglückliche Gedanken und negative Gefühle drängten von allen Seiten auf mich ein. Und schließlich hörte ich etwas.
Ich riss die Augen auf und konzentrierte mich auf die schwache Stimme. Es war das stumme Gebet eines Menschen, der alle Hoffnung schon aufgegeben hatte.
Bitte, lass es nicht zu weh tun!
Ich sah die Dinge schneller, als sie wirklich geschahen. Ein weinendes, schreiendes Kind am Straßenrand, ein junger Mann, der mitten auf der Fahrbahn kniete, der Kleintransporter, der ungebremst auf ihn zuraste. Es würde unvermeidlich zu einer Kollision kommen.
Technisch gesehen hatte er mich nur um einen schnellen, schmerzfreien Tod gebeten, aber seine Zeit war noch nicht abgelaufen. Nach all den schrecklichen Dingen, die ich nicht hatte verhindern können, wusste ich jedoch, dass ich es nicht zulassen würde, dass dieser Mann vorzeitig starb.
Schnell wie ein Gedanke war ich zwischen ihm und dem Fahrzeug, doch es war zu spät, um den Transporter noch aufzuhalten. Er war zu nah dran. Ich sah die schreckensgeweiteten Augen des Fahrers und wie er zuckte, um noch auf die Bremse zu treten und bevor ich darüber nachdenken konnte, ob ich überhaupt die Kraft hatte, einen irdischen Körper zu bewegen, ging eine Druckwelle aus Licht und Energie von mir aus. Einen Augenblick später quietschten Reifen und es roch nach schmelzendem Kunststoff. Das dumpfe Geräusch eines Körpers, der zuerst auf Metall und dann auf Asphalt aufprallte, blieb aus.
Ich hatte die Augen geschlossen, aus Angst, noch mehr Dinge sehen zu müssen, die ich nicht ertragen konnte, doch nun öffnete ich sie wieder. Der junge Mann lag einige Meter weiter auf dem Boden und rührte sich nicht, der Transporter war schräg über die Fahrbahn geschlittert und schließlich ebenfalls zum Stehen gekommen. Das Hupen der nachfolgenden Autos setzte ein, weil ihnen der Weg versperrt wurde. Wieder schoss mein Blick zu dem Menschen zurück, den ich hatte retten wollen. Ein leichtes Beben ging durch seinen Körper, dann begann er, sich langsam aufzurappeln.
Eine Welle der Erleichterung brach über mir zusammen und die Tränen schossen mir in die Augen. Ich hatte es geschafft! Ich hatte einen Menschen gerettet! Wie in Trance griff ich hinter mich, nach meinen Flügeln, umfasste eine einzelne Feder und löste sie vorsichtig ab. Diese legte ich, ungesehen von den Menschenaugen, die nun erschrocken und neugierig auf das Geschehen gerichtet waren, dem Geretteten vor die Füße, in der Hoffnung, dass er erkennen oder zumindest ahnen würde, was ihm da geholfen hatte. Dann sank ich an Ort und Stelle auf die Knie, um erneut zu einem Gebet anzusetzen.
Während ich meine unendliche Dankbarkeit gen Himmel wisperte, sah ich aus dem Augenwinkel einen Schatten vorbeihuschen und glaubte kurz, einen kühlen Lufthauch in meinem Nacken zu spüren, doch ich war so versunken in meine Psalme, dass ich mir nichts weiter dabei dachte.

 

Nach diesem Vorfall wäre ich am liebsten bei dem jungen Mann geblieben, der sich selbst fast geopfert hatte, um das Kind vor dem herannahenden Auto zu retten, doch ich war nicht in der Lage, mich hier und jetzt auf eine einzige Person zu beschränken, und nur einen einzelnen Menschen zu schützen. Nicht, wenn so viele Menschen Hilfe benötigten. Ich konnte nicht darauf hoffen, dass plötzlich noch ein anderer Engel auftauchen würde, denn bis jetzt hatte ich keinen zweiten wahrgenommen, in dieser Stadt.Eigentlich wusste ich nicht, wie ich alleine gegen das Unglück all dieser Leute ankommen sollte, doch ich würde mein Bestes geben.  Gott hatte mich geschickt. Und Gott hatte einen Plan, auch wenn ich ihn noch nicht kannte. Darauf vertraute ich.
Schon wenige Stunden später fand ich die nächste Seele, die um Hilfe bat.
Es dämmerte bereits, doch trotz des sich immer dunkler färbenden Himmels wurde die Nacht von den hellen Straßenlaternen fern gehalten. Statt sich in ihre Häuser und Betten zurück zu ziehen, kamen immer mehr Menschen heraus.
Die Straßen waren voller Gesichter und voller Probleme. Und eines stach besonders daraus hervor. Eine Frau, Mitte dreißig mit großen, braunen Augen.
Während sie ihren schwarzen Wollmantel etwas enger um ihren Körper zog, hörte ich ihr Flehen, das sie stumm in das Universum richtete, in der Hoffnung, irgendwer oder irgendwas würde es bemerken.
Bitte... bitte nimm ihn mir nicht weg! Ich kann nicht weiterleben, ohne ihn.
Es lag so viel Schmerz in ihrer Bitte, dass ich mich ihr sofort hinterher bewegte und sanft mit meinen für sie unsichtbaren Fingern über ihre Wange strich. Einen Moment hielt die Frau inne, vorsichtig nach der Stelle tastend, die ich eben berührt hatte, bevor sie energisch den Kopf schüttelte und weiterging.
Ich aber hatte durch die Berührung ihre ganze Tragödie erfahren. Ihr Name war Marie und sie war seit über zehn Jahren glücklich verheiratet. Doch irgendwann, im Laufe der letzten Monate hatten die Ärzte bei ihrem Mann einen inoperablen Gehirntumor festgestellt. Sie hatte alles miterlebt, die Chemotherapie, die Schmerzen, die er hatte, wie er langsam die Hoffnung verlor. Und nun hatten zu guter Letzt auch die Ärzte aufgegeben.
Ihren Mann konnte ich nicht retten. Seine Zeit war tatsächlich abgelaufen und in ein paar Tagen würde es soweit sein, doch ich beschloss, zumindest dieser armen Frau zu helfen und ihr zur Seite zu stehen, bis das schlimmste vorbei war.
So vertieft in die Nöte der Frau, bemerkte ich den Schatten von vorhin kaum. Ich hielt ihn für nichts von Bedeutung und schenkte ihm keine weitere Aufmerksamkeit.
Bei ihr daheim angekommen, streifte sich die braunäugige Frau lediglich die Schuhe von den Füßen und warf sich dann weinend auf das Doppelbett. Dabei klammerte sie sich an das Kissen neben sich, sog tief dessen Duft ein und schluchzte in den Bezug.
Die Wohnung wirkte leer und trostlos, als würden selbst die Wände den im Sterben liegenden Mann vermissen.
Ich ging hinüber an den Rand des Bettes und streichelte der weinenden Marie durch die Haare, bis ihre Schluchzer verebbten und sie in einen unruhigen Schlaf abglitt. Das war meine Chance, ihr zu zeigen, dass sie nicht alleine war. Behutsam tauchte ich in ihr Unterbewusstsein ein und schuf einen Traum für sie.
Es war ein schlichtes Nachtgespinst: Eine Wiese, Sonnenschein, der Duft von frisch gemähtem Gras, den sie so mochte. Und ich. Als sie mich sah, riss sie überrascht die Augen auf. Mit einem beschwichtigenden Lächeln trat ich auf sie zu und sie hielt still, während ich ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Stirn hauchte. Tröstend legte ich ihr die Hände auf die Schultern und suchte ihren Blick.
„Mein Name ist Heshael. Ich bin ein Engel, der geschickt wurde, um dir Trost zu spenden... fürchte dich nicht, denn du bist nicht allein.“
Glitzernde Tränen traten in ihre Augen und ein leises Wimmern ließ ihre Lippen beben. Schwach schüttelte sie den Kopf. Ich versuchte, sie zu trösten, doch sie schob meine Hände weg. Etwas ratlos blieb ich vor ihr stehen und versuchte zu begreifen, wie ich ihr helfen konnte. Es war das erste mal, dass ich auf diese Art Kontakt mit einem menschlichen Wesen aufnahm. Ich war noch unsicher, aber fest entschlossen, dieser Frau zu helfen.
„Das ist eine schlimme Zeit für dich“, versuchte ich noch einmal. „Möchtest du nicht, dass dir jemand beisteht?“ Wieder erntete ich ein verzweifeltes Kopfschütteln, bevor sie weinend ihr Gesicht in den Händen barg.
„Natürlich will sie nicht, dass du sie tröstest.“ Die spöttische Stimme, die in dem von mir geschaffenen Traum eigentlich gar nicht hätte existieren dürfen, hallte dunkel, wie ein unheilvolles Grollen, über die sonnenbeschienene Grasfläche. Erschrocken fuhr ich herum, nur um geradewegs in ein rot glühendes Augenpaar zu blicken. Mein Herz setzte einen Moment aus und ich erstarrte.
Vor mir stand ein junger Mann, äußerlich nicht älter als Mitte zwanzig, mit kurzen, schwarzen Haaren. Er trug eine seltsame Kombination aus schwarzem Nadelstreifenanzug, Nietenbändern und Metallketten und hatte trotz des unheilverkündenden Blicks ein geschäftsmäßiges Lächeln aufgesetzt.
Der Mann, der eigentlich gar nicht hätte da sein dürfen, schob mich bei Seite, als würde ihm das überhaupt keine Mühe machen und trat mit einer angedeuteten Verbeugung zu der verzweifelten Ehefrau hin. Mit Entsetzen musste ich mit ansehen, wie er den Traum, den ich mühevoll hatte entstehen lassen, um Marie zu helfen, an sich riss.
Ohne dass ich irgendwas dergleichen veranlasst hatte, kam ein scharfer, kalter Wind auf. Er trieb trockene, tote Blätter vor sich her, die über die Wiese wirbelten. Der Himmel verdunkelte sich und war bald überzogen von schwarzgrauen Wolken, die die Sonne versperrten. Finstere Schatten tanzten über den Boden. Die Kontrolle drohte mir zu entgleiten.
„Nicht wahr? Sie wollen niemanden, der Ihnen Händchen hält, während Ihr Mann dahinsiecht und stirbt. Sie wollen, dass er gerettet wird.“, stellte er mit eindringlicher Stimme fest, glatt wie Öl.
In den unschuldigen Rehaugen der Frau blitzte etwas wie Hoffnung auf. Schnell nickte sie. Ich konnte nur tatenlos zusehen, wie sie von dem düsteren Eindringling ins Verderben gelockt wurde und versuchte zu begreifen, was gerade vor sich ging. Wie hatte er sich in meinen Traum einschleichen können?
„Ja!“, hauchte sie schwach.  Mit dem Handrücken wischte sie über ihre tränennassen Wangen. „Wenn er nur wieder gesund werden würde... wenn...“ Der Rest ihres Satzes ging in einem herzzerreißenden Schluchzen verloren.
Das  triumphierende Grinsen des Eindringlings jagte mir Angst ein. Ich ahnte das Schlimmste und wie um das zu bestätigen, griff er nach Maries Händen. Ich begann zu zittern. Wie konnte ich zulassen, dass er sie berührte? Wie konnte sie ihre Hände in seinen ruhen lassen, während sie mich von sich gestoßen hatte? Ich hatte ihr doch nur helfen wollen! Er versprach ihr stattdessen das Unmögliche.
„Ich weiß doch.“, meinte er. „Und Sie würden doch sicher gerne den kleinen Preis dafür bezahlen, durch den es möglich ist, dass Ihr Geliebter wieder auf die Beine kommt.“
Sie nickte und ich zuckte zusammen. Nein! Das durfte ich einfach nicht zulassen! Ich riss die Arme hoch und warf mich praktisch zwischen die beiden, versuchte, sie voneinander zu trennen und mich vor die ahnungslose Frau zu stellen.
Eine Verzweiflungstat. Noch dazu eine erfolglose, denn ich wurde mühelos festgehalten. Die Luft blieb mir weg, als der Blick seiner roten Augen mich durchbohrte und ein stechender Schmerz mit einem Mal durch meinen gesamten Körper zuckte. Wie von einer Druckwelle getrieben, wurde ich von den beiden fortgestoßen. Ich spürte die Hitze wie Flammen über meine Haut streichen, die drohten, mich zu verbrennen. Keuchend stolperte ich rückwärts. Machtlos, wehrlos. Ich konnte gerade noch verhindern, dass ich zu Boden stürzte.
Das konnte nicht sein! Nicht hier! Nicht so nahe bei mir! Nicht in einer Vision, die ich selbst geschaffen hatte! Ich sah ihn klar vor mir, doch beim besten Willen, ich wollte nicht glauben, dass sich ein Dämon in Maries Traum eingeschlichen hatte.
Dass es einer war, daran bestand kein Zweifel. Obwohl ich während meiner kurzen Existenz noch nie einem Wesen aus der Unterwelt begegnet war, so wusste ich, wie es sich anfühlte, wenn sie ihre Kräfte wirken ließen. So düster, wie die Atmosphäre, die sich nun über die Traumlandschaft gelegt hatte, so schmerzhaft, wie mich sein Energiestoß verbrannt hatte, blieb mir nicht einmal die Chance eines Zweifels.
Marie währenddessen, schien meine Anwesenheit vollkommen vergessen zu haben, so eingelullt war sie von der samtenen Stimme, die versuchte, die verzweifelte Frau auf direktem Wege in die Hölle zu reißen.
„Ja! Ja! Ich zahle alles! Ich gebe alles her, was ich habe, nur bitte... bitte!“, beteuerte sie dem Teufel mit sich überschlagender Stimme.
Ich schrie auf. Das erste mal, seit ich geschaffen wurde, spürte ich den Druck auf meinem Herzen, das Pochen in meinem Kopf. Das erste mal empfand ich etwas anderes als Liebe, Sorge und Mitgefühl. Die Wut trieb mir Tränen in die Augen.
„Halt! Tu das nicht!“, flehte ich. Ihr Kopf zuckte ein winziges Stück in meine Richtung und ihr wütender Blick genügte, um mir zu sagen, dass sie mich nicht nur kaum noch hören konnte, sondern auch gar nicht hören wollte.
„Das ist es nicht wert.“, versuchte ich, weiter auf sie einzuwirken. „Es ist es nicht wert... in ein paar Jahren oder Jahrzehnten werdet ihr euch wiedersehen, du und dein Mann. Und dann werdet ihr glücklich sein. Bitte, überlege doch, was du tust!“
Der Dämon knurrte leise, doch in meinen Ohren hörte es sich mehr wie ein hämisches Lachen an. Ich konnte noch so sehr rufen und mit den Flügeln flattern. Er hatte mich erfolgreich beinahe vollständig aus ihrem Bewusstsein gedrängt.
„Ihre Seele gegen das Leben Ihres geliebten Ehemanns. Und Sie müssten noch nicht einmal sofort bezahlen. Sie könnten glücklich zusammen sein, bis an Ihr Lebensende. Wollen Sie das?“ Marie nickte hastig. Natürlich wollte sie. In ihrem seelischen Zustand dachte man nicht lange über Spätfolgen nach.
„Ja.“, stimmte sie dem gottlosen Handel zu, ohne auch nur zu zögern. Ein letztes Mal versuchte ich, mich dazwischen zu stürzen. Diesmal konzentrierte ich mich mit aller Kraft darauf, sie von einander zu trennen und es gelang mir sogar, den Dämon am Ärmel zu packen.
Doch erneut wurde ich mit erschreckender Leichtigkeit abgewehrt. Diesmal schleuderte der Teufel mich glatt zu Boden. Ich rief Warnungen, schrie die beiden Gestalten an, die zunehmend vor meinen Augen verschwammen. Aber sie ließen sich nicht beirren. Der Dämon streckte ihr die Hand hin und Marie schlug ein. Der Handel war endgültig.
Der Traum bekam Risse. Erst nur so kleine, dass man es kaum sah, doch sie verbreiterten sich mit steigender Geschwindigkeit. Die Illusion, die ich geschaffen hatte,  begann zu zerbrechen. Das Geräusch von splitterndem Glas klirrte laut durch die Luft. Es gelang mir nicht länger, die Dimension im Bewusstsein der braunäugigen Frau aufrecht zu erhalten.
In einem schmerzhaften Blitz aus grellem Licht wurde ich herauskatapultiert und fand mich vollkommen kraftlos auf der Straße vor Maries Haus wieder. Dort sank in mich zusammen, wie das kleine Häufchen Elend, als das ich mich gerade fühlte.
Das hier war das erste Mal, dass ich einem der Gegenseite begegnet war und gleichzeitig das erste Mal, dass ich eine Seele an die Hölle verloren hatte. Mir war so elend zu Mute. Elender noch, als die letzten Tage, in denen ich hatte feststellen müssen, dass es viel schwerer war, Menschen zu helfen, als ich es mir je vorgestellt hatte.
Mit geschlossenen Augen kniete ich mich auf den dreckigen Gehsteig und krampfte die Hände zusammen zu einem verzweifelten Gebet. Wie die letzten Tage kam auch nun keine Antwort, doch ich wusste, man hörte mich. Gott war auch bei mir und er würde mir beistehen, damit ich ihm half, sein Werk zu vollbringen und den Menschen zu helfen.

Kapitel 2 – Mit lieben Grüßen aus der Hölle

Seit knapp zwei Wochen war ich nun bereits in auf der Erde. Vierzehn Tage, in denen ich die Stadt durchstreifte, ohne auch nur einen weiteren Menschen zu finden, der mir gestattete, ihm zu helfen. Wo waren denn nur alle hin, die hofften? Was war mit dem Vertrauen geschehen, dass in dieser Stadt niemand mehr um Wunder bat? Wo war nur der Lichtschein in diesem finsteren Elend?
Aufmerksam sah ich mich zwischen den vielen Menschen um, die durch die Straßen hasteten, ohne einander zu beachten. Und ohne mich zu bemerken. In solchen Momenten wünschte ich mir manchmal, ich könnte mir einfach einen aus der Masse greifen, ihn packen, anschreien und schütteln, bis dass er mich wahrnahm und zuließ, dass ich ihm half. Doch ich wusste nur zu gut, dass das nicht möglich war.
Engel und Menschen befinden sich auf zwei grundverschiedenen Ebenen. Körperlich befand ich mich vielleicht am selben Ort, wie sie, aber gleichzeitig war ich auch in einer Dimension, die sie selbst nicht erreichen konnten. Es sei denn, sie suchten in Gedanken gezielt danach.
Das war es, was die erste Kontaktaufnahme möglich machte. Wenn ein menschliches Wesen so sehr glaubte, dass es irgendwo eine höhere Kraft gab, die ihn helfen konnte und wenn er seine Sinne nach dieser ausstreckte, dann gelang es ihm, mich mit seinen Bitten zu erreichen. Ein feines Band wurde geknüpft, das es mir erst ermöglichte, zu handeln. Ich war bei weitem nicht so machtlos, wie es wirkte, doch meine Kräfte konnten erst dann in die Dimensionen gelangen, in denen sich auch die Menschen befanden, wenn es dieses Band gab. Den Leitfaden, der einen Pfad für meine Energie bildete, um zu dem Notleidenden zu gelangen. Das war es, was damals mit dem Mann auf der Straße geschehen war und das hatte es mir auch ermöglicht, mich der braunäugigen Frau in ihren Träumen zu zeigen.
Aber seit Tagen suchte niemand mehr nach Kontakt. Niemand in der Stadt bemühte sich, zu der Ebene durchzudringen, auf der ich mich befand. Und so konnte ich nur meine Runden durch die Straßen ziehen, hoffen und warten.
Mein Blick fiel auf einige obskure Gestalten, die sich in einer dunklen Gasse herumdrückten und ohne meine Schritte bewusst zu lenken, kam ich näher. Die Düsternis, die sie umgab, zog mich an. Natürlich war ich nicht so naiv zu glauben, ich könnte sie irgendwie auf hellere Pfade lenken; dazu reichten meine Fähigkeiten mitnichten aus. Es war eher ein ähnlicher Effekt, wie bei einer Motte, die auf eine Flamme zuflog, nur um sich daran zu verbrennen. Ich ertrug den Anblick von Leid und Bosheit nicht und doch kam ich näher, um es mir genauer anzusehen.
Vier oder fünf der abgebrochenen Typen hatten sich um einen einzelnen versammelt. Ein ausgezehrter Mann in dreckigen, nach Urin und Schweiß stinkenden Klamotten, der mit zitternden Händen nach etwas griff, das ihm von den anderen gereicht wurde. Hastig ließ er es in seine Tasche gleiten und augenblicklich trat ein Ausdruck von innerer Ruhe in seine wässrigen Augen. Dann wollte er sich, so beiläufig wie möglich, an den anderen – allesamt Muskelprotze in Lederjacken- vorbeischieben, aber der Weg wurde ihm versperrt. Ich ahnte schon, dass ich die Szene nicht weiter verfolgen wollen würde und doch blieb ich.
Der Mann schreckte zurück und sah die anderen verunsichert an.
„Was wollt ihr denn noch?“, wimmerte er, bevor die letzte Silbe seines Satzes in einem ungesund klingenden Husten unterging.
„Nur zur Erinnerung. Du denkst an unseren Deal... die Hälfte von dem Stoff gehört dir, mit der anderen besorgst du uns ein neues Mädchen.“ Der größte und bulligste von ihnen packte den Mann grob an der Schulter, während die anderen reihum grinsten, als würden sie die Show genießen. In ihren Gesichtern stand die reine Häme.
„Wenn du es diesmal wieder verbockst, dann müssen wir uns einen anderen Weg ausdenken, auf dem wir uns die Kohle beschaffen können, die du uns dann schuldest. Wie schauen denn deine Nieren so aus?“ Der schmächtige Mann erschauderte, bei den Drohungen, während die anderen Kerle gleichzeitig loslachten. Das ganze erinnerte ein wenig an eine Szene auf einem Schulhof, nur dass es sich hierbei um erwachsene Leute handelte und die Sache wohl etwas ernster war, als Einschüchterungsversuche auf dem Pausenhof.
„Gut, gut“, keuchte der heruntergekommene Typ entsetzt. „Ich werd’s nicht verbocken!“
„Dann ist ja gut.“, erwiderte der andere kalt und ließ ihn endlich los. Der Mann flitzte schneller davon, als man es ihm zugetraut hätte. Und ich folgte ihm unwillkürlich. Zwar konnte ich nicht genau sagen warum, aber ich ahnte, dass etwas Ungutes bevorstand und dass ich zumindest versuchen musste, es zu verhindern. Wieder bemerkte ich dabei einen dunklen Schatten, der sich ebenfalls an die Fersen des Mannes heftete, doch diesmal wusste ich auch, worum es sich dabei handelte. Diesmal war ich darauf vorbereitet und ich würde mich garantiert nicht so schnell geschlagen geben, wie beim letzten Mal.
Je länger ich dem Mann folgte, desto heruntergekommener wurde die Gegend. Aus allen Häuserecken stank es nach Müll, Urin und Verwesung, weshalb auf den Straßen wohl mehr Ratten als Menschen unterwegs waren. Ich kannte dieses Viertel schon. Die schlimmste Ecke der Stadt, ein Ballungspunkt allen Leides und traurigerweise auch aller Hoffnungslosigkeit. Anfangs war ich noch oft durch die schmutzigen, vermüllten Straßen gegangen, auf der Suche nach Menschen, die meine Hilfe suchten, doch nach einer Weile ertappte ich mich, wie ich jedes Mal einen Bogen um die Gegend machte. Die zerstörten, von Trostlosigkeit und Verzweiflung zerfressenen Seelen erschreckten mich zu sehr und jedes mal, wenn ich sah, wie ein Obdachloser in einer Seitengasse zusammengeschlagen, eine eh schon arme Frau um ihr letztes Hab und Gut beraubt wurde oder ein kleines Kind vor Hunger weinte, erschütterte es mich zutiefst. Und nun, da ich seit drei Tagen zum ersten mal wieder in diese Gegend kam, tat es mir leid, dass ich sie zuvor gemieden hatte. Ich hatte das Gefühl, die Menschen hier im Stich gelassen zu haben. Auch wenn ich wusste, dass ich nichts für sie hätte tun können, selbst wenn ich dort gewesen wäre. Die Leute hier hofften schon lange nicht mehr auf Hilfe, selbst die kleinen Kinder nicht. Darum war ich machtlos gegenüber allen Unglücks.
Der Mann bog in eine schmale Seitengasse ein und hämmerte entschlossen gegen die Tür zu seiner Rechten. Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass es unter aller Menschenwürde war, in diesem Gebäude zu leben. Direkt neben dem Eingang hatte sich vor kurzem jemand übergeben und das Erbrochene vermischte sich mit den anderen ekelhaften Flüssigkeiten, die aus den überquellenden Mülltonnen neben dran sickerten, zu einer bestialisch stinkenden Brühe, die selbst mir den Atem verschlug. Von der Tür war die Farbe in breiten Streifen abgeplatzt und das Holz zeigte auf Höhe des Schlosses deutliche Spuren davon, dass sie mehr als einmal aufgebrochen worden war.
Nach den Klopfgeräuschen war es erst einmal still und sowohl der Mann, als auch ich, betrachteten erwartungsvoll die geschlossene Eingangstür. Er wollte gerade wieder den Arm heben, um erneut gegen das Holz zu hämmern, als man von drinnen ein leises Poltern vernahm. Kurz darauf wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet. Gerade so weit, wie es die Metallkette, die im Inneren zur Sicherheit eingehakt blieb, zuließ.
Durch den schmalen Streifen zwischen Tür und Rahmen blinzelte ein misstrauisches Augenpaar hindurch. Die verwischte Schminke um die Lider ließen die dunklen Ringe unter ihren Augen nur noch dunkler wirken.
„Ja?“, fragte eine dünne Stimme. Der wartende Mann vor der Tür straffte sich.
„Ich will zu Jasmine. Ist sie da?“
„Wer will das wissen?“, erkundigte sich die Frau vorsichtig. Hier, in diesem Viertel, blieb ihr auch nichts anderes übrig. Da konnte man nicht einfach jedem die Tür öffnen, der anklopfte.
„Ein Bekannter, würd’ ich sagen. Hab ein Geschenk für sie dabei.“ Grinsend klopfte er auf die Jackentasche, in der er zuvor das Päckchen hatte verschwinden lassen, das er von den zwielichtigen Kerlen in der Seitengasse erhalten hatte. Die Plastiktüte raschelte leise und ich sah durch den Türspalt, wie die Frau kurz das Gesicht zu einer Grimasse verzog. Dann zuckte sie jedoch mit den Schultern, nahm die Kette weg und ließ den Mann eintreten.
Hinter ihm schlüpfte ich in den dunklen, nach Schimmel riechenden Flur. Und auch der Schatten glitt, beinahe unbemerkt, über Boden und Wand hinein in das heruntergekommene Haus. Die Menschen achteten nicht weiter darauf. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt sehen konnten. Aber ich behielt ihn dafür genauestens im Auge. Seine Anwesenheit hier hatte nichts Gutes zu bedeuten.
Ich folgte dem Mann die Treppen hoch, bis zu einem Zimmer, aus dessen Tür sich jetzt eine schmale Gestalt schob. Ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit zerzaustem, blau gefärbtem Haar, das wie ein Heiligenschein um ihren Kopf abstand. Die zerlaufene Schminke um die Augen und die viel zu knappe Kleidung - beides vermutlich, um sie älter wirken zu lassen - machte sie dabei eher jünger. Sie sah so verletzlich aus, als sie in das dunkle Treppenhaus blinzelte, um zu sehen, wer zu ihr herauf kam.
Zuerst sah sie denn Mann ratlos an, dann blitzte Erkenntnis in ihren Augen auf und sie überbrückte mit hastigen Schritten den Abstand zwischen sich und ihm, um sich auf Zehenspitzen zu stellen und ihn in die Arme zu schließen. Trotz seines Gestankes, den sie unmöglich nicht bemerkt haben konnte, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. Stattdessen nahm sie ihn am Arm und zog ihn hinter sich her in ihr Zimmer.
Es war nicht viel mehr als ein Schlafsofa, von dem das zerwühlte Bettzeug halb auf den Boden gerutscht war, eine kahle Glühbirne ohne Lampenschirm an der Decke und ein Schrank. In einer Ecke lag ein Haufen mit dreckiger Wäsche. An den Wänden klebten Bilder von Wäldern, idyllischen Südseeinseln, großen Städten, wie Paris, Tokyo und New York. Allesamt aus irgendwelchen Zeitschriften ausgerissen.
Sie dirigierte ihn zu ihrem Sofa, wo sie Bettdecke und Kissen einfach auf den Boden fegte, damit sie sich setzen konnten.
„John“, ergriff sie nun endlich das Wort. Ihre stimme klang etwas zu tief und zu rau für das junge Ding. Als hätte eine unsichtbare Gestalt die Klauen um ihre Kehle gelegt und würde sie unablässig würgen, sodass sie die Töne nur mühsam aus ihrem Kehlkopf pressen konnte. „Was machst du denn hier?“
Sie lächelte schwach, während ihre Augen unablässig wachsam umherhuschten.
„Darf ein alter Kumpel dich nicht ab und an besuchen kommen, Kleines?“, meinte er gelassen. In meinen Ohren klang es weniger wie eine Begrüßung, als eine Drohung.
„Hab’ gehört, du bist von der Straße runter... hättest ein Zimmer hier.“ Eine Augenbraue nach oben gezogen, ließ er seinen Blick über die spärliche Einrichtung schweifen. „Nett.“
Das Mädchen, Jasmine, wie er sie genannt hatte, zog die Beine auf das Sofa hoch und umschlang die Knie mit ihren Armen. Sie nickte kurz, fuhr sich mit fahrigen Händen durch das blaue Haargewirr.
„Ich habe Arbeit gefunden. Keine gute, aber für das hier reicht’s“, erklärte sie. Nicht ohne Stolz, wie ich fand. Ich kam näher an die beiden heran, stand nun ganz dicht neben ihr. Aus der Nähe konnte ich Pflaster und Schwielen an ihren Fingern entdecken. Was immer sie tat, um Geld zu verdienen, musste schwere aber ehrliche Arbeit sein. Das imponierte mir. Dass ein Mensch in dieser bedrückenden Stadt sich aus eigener Kraft wieder aufrappeln konnte.
„Ich hab dir was mitgebracht. Als Einzugsgeschenk, sozusagen.“ Mit den Worten zog er die mysteriöse Plastiktüte aus seiner Jackentasche, fummelte den Knoten auf und kippte den Inhalt auf den  Boden vor ihnen. Mehrere noch verpackte Einwegspritzen und ein Tütchen mit hellbraunem Pulver kullerten über die zerkratzten Holzdielen. Neugierig beugte sich das Mädchen über die Sofakante, nur um sich im nächsten Moment kerzengerade aufzurichten und ihren zwielichtigen Bekannten fragend anzusehen. Dieser lachte nur und entblößte dabei eine Reihe gelblicher Zähne.
„Du weißt doch, dass ich lieber einen Bogen um so was mache“, erklärte sie mahnend.
„Also ich erinnere mich an zwei oder drei Situationen, in denen du mehr als dankbar für das Zeug warst.“ Seine Hand schob sich auf ihren Oberschenkel und er bedachte sie mit einem ekelerregenden Grinsen, das mich erschauern ließ. Das Mädchen blieb ruhig und schubste seinen Arm beiläufig weg.
„Damals ging es mir echt dreckig! Es ist echt unfair, dass du jetzt damit ankommst“, warf sie dem Kerl vor. „Ich bin nicht abhängig oder so, weißt du? Ich brauch das Zeug nicht.“
Kurz sah ich die Wut in ihrem Gegenüber aufflackern, bevor er sich wieder zur Ruhe zwang.
„Sorry, Schnecke. So war das gar nicht gemeint. Echt! Nur so... zur Feier, des Tages halt. Jetzt komm schon.“
Er hatte etwas vor. Ich sah es ihm an. Er hatte schon von Anfang an etwas geplant und je näher er seinem Ziel kam, desto nervöser, aber auch penetranter wurde er. Und er wollte unbedingt, dass dieses Mädchen sich das Zeug spritzte, das er ihr mitgebracht hatte. Ich verstand nicht, was er davon haben könnte, doch ich war mir sicher, was immer er auch plante würde mir nicht gefallen. Nur etwas dagegen unternehmen konnte ich nicht! Warum war ich nur immer so hilflos? Ich hatte es satt!
Frustriert ließ ich mich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. Der Schatten hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, in der er sich unauffällig herumdrückte und ebenfalls zusah, was die beiden Menschen so trieben.
Das blauhaarige Mädchen legte die Stirn in Falten und überlegte. Schließlich gab sie seufzend nach. Sie erhob sich, kramte in den Schubladen ihres Schrankes herum und kam schließlich wieder zurück, um dem Mann einen matt angelaufenen Löffel aus Metall in die Hand zu drücken.
„Da muss eine Flasche auf deiner Seite der Couch liegen“, informierte sie ihn und ließ sich wieder in die Polster zurücksinken.
Mit einem zufriedenen, fast erleichterten Grinsen auf dem Gesicht schob der Typ das Kissen bei Seite und zog eine noch halbvolle Wasserflasche unter dem Sofa hervor.
„Dafür, dass du dir nichts vom Fixen hältst, weißt du aber noch sehr genau, wie man’s macht“, neckte er sie, während er die Flasche aufschraubte und eine kleine Menge davon in den Löffel gab. „Gibst du mir mal die Tüte?“
Sie reichte sie ihm wortlos, beobachtete ihn aber genauestens, während er etwas vom Heroinpulver im Wasser auflöste. Ich konnte nur den Kopf schütteln.
„Du hast es doch so weit geschafft! Schmeiß das nicht einfach so weg!“, versuchte ich, auf das Mädchen einzuwirken. Natürlich konnte sie mich nicht hören. Dafür vernahm ich ein leises Kichern aus der düsteren Ecke des Raumes. Ich warf dem Schatten einen verärgerten Blick zu und er verstummte.
Der Mann erhitzte die Mischung über der Flamme seines Feuerzeugs, bis sie kleine Bläschen schlug. Dann fummelte er eine Zigarette aus einer Innentasche seiner Jacke, schälte mit Hilfe seiner Zähne den Filter heraus und warf ihn in den Löffel, wo er sich sogleich voll sog und bräunlich verfärbte. Er brauchte nur fordernd die Hand auszustrecken und das Mädchen packte eine der Einwegspritzen aus und reichte sie ihm. Ich sah zu, wie das bräunliche Zeug durch den Filter und die Kanüle in die Spritze gezogen wurde und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht.
Warum war ich überhaupt noch hier? Was hatte das für einen Zweck? Ich konnte eh nichts tun. Ich konnte nie etwas tun, war kaum eine Hilfe. Je länger ich blieb, desto mehr Dinge würde ich nun zu sehen bekommen, die ich nicht sehen wollte. Die mich verletzten. Und doch rührte ich mich keinen Millimeter von meinem Platz weg.
„Machst du das mit der Spritze?“, bat sie ihn quengelnd, während sie sich mit ihrem Gürtel den Arm abband. „Ich hasse Nadeln!“
„Klar doch, Kleines.“ Der Mann wirkte überaus zufrieden mit sich selbst. Er griff nach ihrem Handgelenk und legte die Nadelspitze ohne zu zögern an ihrer Armbeuge an.
„Nein, nein, nein...“, flüsterte ich und konnte doch nicht wegsehen. Das Mädchen kniff die Augen zusammen und nickte. Kurz darauf gab sie einen leisen Quieklaut von sich, die Nadel versenkte sich in ihrer Haut und die Droge wurde in ihren Blutkreislauf gedrückt. Es ging so unglaublich schnell.
„Siehst du? So schlimm war das nicht, oder?“ Der Typ lächelte sie aalglatt an, während er den Gurt um ihren Oberarm löste und sie sich mit geschlossenen Augen zurücklehnte, die Wirkung des Heroins erwartend.
John, gegen den ich, so leid es mir auch tat, mittlerweile eine begründete Abneigung empfand, kramte seine Sachen wieder zusammen und verstaute sie sicher in seinen Jackentaschen. Lässig warf er einen Blick auf die billige Uhr an seinem Handgelenk, sah dann zu dem Mädchen hinüber, das bereits die Arme um sich geschlungen hatte und hinter geschlossenen Lidern die Augen verdrehte.
„Na also...“, murmelte er vor sich hin, stand auf und klopfte sich den nicht vorhandenen Staub aus der Kleidung. Ich sprang auf die Beine und kam wieder näher. Ich wollte wissen, was der Kerl nun vorhatte.
Unheilvoll beugte er sich über das Mädchen. Am liebsten hätte ich ihn gepackt und von ihr weggezogen. Aber ich konnte nicht! Selbst wenn ich es versucht hätte, wären meine Hände nur durch ihn hindurchgeglitten. Unbemerkt.
„Entschuldige, Jassy, aber die wollen entweder ein Mädchen oder meinen Kopf. Und ich hänge doch sehr an meinem Kopf“, lachte er, beinahe ohne Reue und schob die Arme unter den halb erschlafften Körper der jungen Frau.
Doch plötzlich gab diese ein erschreckendes Röcheln von sich. Ihre Atmung beschleunigte sich, wurde dabei flach und setzte mit einem Schlag ganz aus. Erschrocken ließ er sie einfach wieder aufs Sofa fallen.
„Scheiße! Oh verdammt, nein!“ Hecktisch fummelte er an ihrem Hals herum, auf der Suche nach einem Puls. Er legte ein Ohr an ihre Brust, konnte aber offenbar  weder Atem noch Herzschlag hören.
„Tu mir das nicht an, du egoistisches Miststück! Keine Überdosis! Oh Scheiße!“ Hektisch, wie ein gejagtes
Tier, sah er über seine Schulter, geradewegs in meine Augen. Fast glaubte ich, er könnte mich tatsächlich sehen. Stattdessen rannte er mit einem Satz glatt durch mich hindurch, stürmte panisch aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Einen Augenblick starrte ich ihm entgeistert hinterher, dann fiel mir die kleine Jasmine wieder ein, die regungslos auf ihrem Sofa lag. Noch lebte sie, aber sie stand so kurz vor dem Tod.
Ich warf mich vor ihr auf die Knie, rutschte ganz nah an sie heran und griff nach ihrer Hand. So nah, wie sie an der Schwelle zu einer anderen Welt stand, hätte sie mich vielleicht sogar sehen können. Wenn sie in der Lage gewesen wäre, die Augen zu öffnen.
Ich schloss die Augen und ließ ihr Leid auf mich einströmen. Sie war noch so jung, gerade mal achtzehn. Und dennoch hatte sie so viel durchgestanden. Eine trinkende, schlagende Mutter, einen Vater, der das eigene Kind missbrauchte. Nach ihrer Flucht dann das Leben auf der Straße, den Hunger und die Kälte. Ich sah ihre Fehler.
Es waren unzählige, große und kleine. Sie hatte gelogen, gestohlen und noch einiges schlimmeres, um irgendwie über die Runden zu kommen. Ich wusste, dass es die Not war, die sie zu all den schlimmen Dingen gezwungen hatte. Und trotzdem war ihre Seele fast vollkommen zerstört und dunkel.
Eine Hand umfasste meinen Arm, grob und schmerzhaft wie ein Schraubstock. Vom Schmerz überrascht unterbrach ich den Hautkontakt mit dem Mädchen riss den Kopf herum. Er stand direkt neben mir. Der Schatten. Der Dämon!
Mit rot glühenden Augen sah er mich an, sein Gesicht vollkommen ausdruckslos. Seine Finger gruben sich weiter ohne Rücksicht in mein Fleisch bis ich wimmernd aufkeuchte.
„Hast du genug gesehen, um mir diese Seele kampflos zu überlassen?“, fragte er mit einer Stimme wie Eis. Ich schauderte und versuchte, irgendwie meine Sprache wieder zu finden.
„Nein... ich... ich...“, stammelte ich hilflos. Sein Griff wurde noch fester, noch erbarmungsloser und er zog mich in einem Ruck auf die Beine, dass ich glaubte, er wolle mir die Arme aus den Schultern reißen. Er sah nicht aus, als würde ihn das auch nur etwas Mühe kosten. Hilflos flatterte ich mit den Flügeln, zog an meinem Arm und versuchte, mich los zu machen.
„Lass mich los! Du tust mir weh!“, zischte ich, mehr verängstigt, als wütend. Ich hatte noch nie einen Dämonen berührt. Selbst bei dem letzten mal, als wir aufeinander gestoßen waren, hatte es keinen tatsächlichen Hautkontakt gegeben. Seine Finger brannten sich förmlich in mein Handgelenk. Seine Macht war viel größer als meine. Angst stieg in mir hoch.
„Sie stirbt gleich“, erklärte er, vollkommen unbeeindruckt von meinen Befreiungsversuchen. Ein Blick auf das nun totenbleiche Gesicht des Mädchens bestätigte mir seine Worte. Sie schnappte mittlerweile wieder verzweifelt nach Atem, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Lungen erneut versagten. Dann endgültig.
Der Dämon lockerte seinen Griff und ließ mich los. Verwundert rieb ich mir das Handgelenk.
„Komm her, Engel!“ Er bellte mir den Befehl so selbstsicher entgegen, dass ich reflexartig reagierte und an seine Seite trat. Im nächsten Moment war ich erschrocken und ärgerte mich darüber, ihm gehorcht zu haben.
„Warum soll ich herkommen?“ Die Frage klang viel zu unsicher, um bedrohlich zu wirken, was eigentlich meine Absicht gewesen war. Ich wollte meinem Gegenspieler keine Schwäche zeigen. Auch wenn ich in den wenigen Sekunden, in denen er mich festgehalten hatte, bereits erkannt hatte, dass ich bei einem Kräftemessen zwischen uns beiden nie eine Chance gehabt hätte.
„Soll sie denn ganz alleine sterben? Nun mach schon, setz dich zu ihr, du Geflügel!“
Ich wollte protestieren. Wollte ihn aufhalten, als er das Mädchen hochhievte und auffordernd auf den freigewordenen Platz auf dem Sofa deutete. Ich öffnete den Mund, ohne einen Ton heraus zu bringen, schloss ihn wieder und setzte ich mich schließlich, wie ein braves Schoßhündchen.
„Ich mach das für Jasmine, nicht für dich“, stellte ich klar. Er antwortete nicht, sondern ließ das halb bewusstlose Mädchen einfach gegen mich sinken. Zögerlich schloss ich das arme, röchelnde, bleiche Ding in meine Arme.
„Als ob der alte Herr sie zu sich hoch holen würde“, zischte er verächtlich. Der Dämon baute sich vor mir auf, die Arme verschränkt und die Lippen aufeinander gepresst. Es war die erste echte Gefühlsregung, die er von sich preisgab. Verachtung.
„Pschhht...“, machte ich, strich dem Mädchen durch die nun schweißnassen Haare.
Wusste der Dämon, wie weh es mir tat, Menschen leiden zu sehen? Hatte er mich deshalb dazu gebracht, hier zu sitzen und ihr beim Sterben zuzusehen? Ich weinte stumm, während ich sie in meinen Armen hin und her wiegte. Wie konnte es nur etwas geben, das so grausam war? Michael hatte Recht gehabt. Wir wurden nicht richtig darauf vorbereitet, wie schrecklich es hier unten auf der Erde sein würde. Oder wie unbarmherzig unsere Gegner vorgingen.
Ich hörte ein genervtes knurren und blickte durch einen Tränenschleier hinauf zu dem Dämon.
„Was...?“, presste ich hervor.
„Sie ist eigentlich wertlos, weißt du“, brummte er. „Von mir aus könntest du sie haben. Aber der Boss da oben will keine kaputten Seelen bei sich haben.“
Was war das nun wieder für ein Trick um mich zu quälen? Schniefend wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen.
„Das ist nicht wahr. Jedem, der den Herrn annimmt, wird vergeben.“
„Und wie soll so ein dummer, kleiner Mensch an einen Gott glauben, der zugelassen hat, dass ihm so viele schlimme Dinge passieren, ohne ihm zu helfen? Kaum ein Mensch kommt heutzutage noch durchs Leben, ohne irgendwann unterwegs den Glauben zu verlieren. Dann müssen sie nur noch ein, zwei Fehlentscheidungen treffen und zack!“ Er schnippte mit den Fingern und ich zuckte erschrocken zusammen. „Schon hat die Hölle eine Seele mehr.“
Schweigend wandte ich mich ab. Ich durfte nicht auf diesen Lügner hören! Dämonen sagten nie die Wahrheit... Natürlich wollte Gott den Menschen helfen. Warum sonst hätte er mich und meine Brüder geschaffen und auf die Erde geschickt?
Ich küsste Jasmine auf die Stirn. Sie war ganz kalt und hatte schon wieder aufgehört zu atmen. In einer, spätestens aber in zwei Minuten würde es vorbei sein. Ein Leben, einfach ausgelöscht, durch den Egoismus eines anderen.
„Pass auf, du Schoßhund. Ich hab keine Lust, noch länger drauf zu warten, dass sie abkratzt. Währenddessen könnte ich mir eine viel wertvollere Seele suchen, Pakte schließen und anderen Höllen-Kram erledigen. Das, was ich jetzt mache, mache ich nur, weil ich eh keine Verwendung für die kleine Hure habe.“, erklärte er abfällig.
Schützend zog ich das Mädchen noch fester in meine Arme. Er würde ihr ganz bestimmt nicht noch mehr antun, wenn sie eh schon im Sterben lag! Ich verstand nicht genau, was er meinte, aber solange ich es verhindern konnte, würde er ihr nicht zu nahe kommen. Nicht, bis dass nicht endgültig entschieden war, wohin ihre Seele gehörte.
Er beugte sich über sie, sodass sein Gesicht auch meinem unwillkürlich näher kam. Ich sah seine Augen jetzt überdeutlich, wie zwei glühende Kohlen leuchteten sie im Halbdunkel des Raumes.
„Lass das! Tu ihr nichts!“, rief ich aufgebracht und versuchte, meine Furcht vor ihm zu verstecken. Er lachte nur hämisch, als wüsste er, dass ich ihm nicht gewachsen war.
Ohne auf meine Proteste zu achten, legte er eine Hand über ihr Gesicht. Ich sah ein schwaches Glühen unter seiner Handfläche und mir wurde übel vor Sorge. Was tat der Dämon da?
„Bete, Kleines!“, grollte seine Stimme durch den Raum. Es war nicht die normale Stimme, mit der er bisher gesprochen hatte sondern mehr ein tiefes Donnern, das von einem Echo hundertfach wiederholt und verzerrt wurde. Eine Stimme, die mir die Gänsehaut den Rücken herunter trieb und die Haare zu Berge stehen ließ. Es war, als würde sich mit jeder Silbe die Luft statisch aufladen. Nur nicht mit elektrischer Energie, sondern mit purer, angsteinflößender Finsternis.
„Wenn du nicht dort landen willst, dann bete um deine dreckige, kaputte Seele!“
Ich hatte kaum auf die Worte des Dämons geachtet, zu sehr versetzte mich der Klang seiner Stimme in Panik. Doch kaum war er verstummt, vernahm ich die Antwort auf seine Warnung. Ein leises, zartes, ängstliches Flehen.
Bitte, Bitte, ich will nicht in die Hölle! Ich habe solche Angst!
Jasmine! Sie betete! Sie betete, flehte und suchte förmlich nach der Verbindung zu mir. Ich reagierte sofort.
„Schon gut, ich helfe dir“, versprach ich. „Du wirst nicht in der Hölle landen.“
Kurz darauf starb sie. Ihre Seele fand das Band, das mich durch ihr Flehen mit ihr verknüpfte. Sie fand zu mir und ich konnte die Flecken und Risse sehen, die das schwere Leben auf ihr hinterlassen hatte. Ich konnte sie heilen. Zumindest ein Stück, bevor sich sie gen Himmel leitete. Es kostete mich fast all meine Kräfte, um die dunklen Flecken von ihrer Seele abzuwaschen, sie zu reinigen und zu flicken, damit sie ohne Probleme durch die Pforten gelangen konnte, durch die alle Sterblichen zu Gott gelangten.
Es fühlte sich an, als würde ich selbst mit ihr sterben, wie sie so all meine Energie aus mir heraus sog. Das war das erste mal, dass ich eine Seele hinaufschickte und es war das erschreckendste und wunderschönste Gefühl, das ich je hatte. Eine kurze Verbindung, direkt zu Gott, ein winziger Augenblick, in dem ich das Licht des Himmels wieder sehen konnte, nach der langen Zeit hier unten zwischen Hoffnungslosigkeit und Leid. Ich wollte meine Arme nach dem Licht ausstrecken, doch ich war zu schwach dafür.
Als die Verbindung abriss, saß ich zitternd, erschöpft und zugleich überglücklich auf dem Sofa in der baufälligen, kleinen Wohnung, die Leiche der jungen Jasmine im Arm. Von dem Dämon war keine Spur mehr zu entdecken. Das einzige, was er zurück gelassen hatte, war Verwirrung und eine Menge Fragen.
Warum hatte er das getan? Warum hatte er einem Engel geholfen? Warum hatte er einer eigentlich schon zum Fegefeuer verdammten Seele den Weg in den Himmel ermöglicht?
War es wirklich, wie er gesagt hatte, weil er keine Verwendung für sie hatte? Oder war es ein Gefallen für den er später eine teure Gegenleistung verlangen würde? Mir graute schon jetzt davor, ihm wieder zu begegnen.

Kapitel 3 – Tote Engel

Wohin ich auch ging, was ich auch tat, ich konnte es keine fünf Minuten mehr aushalten, ohne mich einmal ängstlich umzusehen. Jedes mal, wenn ich einen nervösen Blick hinter mich warf, erwartete ich schon, den Dämon zu entdecken, wie er als Schatten über den Boden kroch, sich langsam an mich heran pirschte.
Meine letzte Begegnung mit ihm war mir in Mark und Bein gefahren. Ich schämte mich für meine Angst und davor, dass ich aus Furcht, ihm zu begegnen, dunkle Ecken und düstere Gegenden bewusst mied. Aber nachdem er mir gezeigt hatte, wie mächtig er war und wie wenig ich gegen ihn ausrichten konnte, konnte ich kein Selbstbewusstsein mehr aufbauen.
Er hatte mir die Seele des jungen Mädchens überlassen. Und noch immer grübelte ich nach dem Grund dafür. Würde er irgendwann eine Gegenleistung dafür verlangen? Eine andere Menschenseele vielleicht? Oder hatte er es nur getan, um mir zu zeigen, wie leicht er an Ersatz kommen konnte und wie wenig ein einzelnes Menschenleben für ihn zählte?
Was auch immer der Dämon ausheckte, ich hatte nicht vor, Teil seiner finsteren Pläne zu werden. Und ich wollte ihm ganz sicher nicht noch ein weiteres mal begegnen, wenn es sich vermeiden ließ.
Ein kurzer, ängstlicher Aufschrei erreichte mich, so plötzlich und so drängend, dass ich erschrocken zusammenfuhr. Ich hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, in nächster Zeit einen weiteren Menschen zu finden, der meine Hilfe suchte. Doch nun rief eine Stimme panisch um Hilfe. Kurz und laut – dann verstummte sie mit einem Schlag.
Hatte er sie zum Schweigen gebracht? Nein, sicher nicht. Der Dämon konnte nicht hinter allem stecken, auch wenn der paranoide Teil meines Bewusstseins mir genau das einreden wollte.
Der Hilferuf war vom anderen Ende der Stadt gekommen. Und so viel Angst, wie ich darin vernommen hatte, musste ich mich beeilen. Ohne es weiter herauszuzögern, stieß ich mich vom Boden ab und schwang mich in die Lüfte.
Normalerweise benutzte ich lieber meine Beine. So war ich näher bei den Menschen, denen ich helfen sollte. Doch nun hatte ich es eilig.
Ich flog so schnell ich konnte, versuchte dabei, den Ursprung des Rufes ausfindig zu machen, doch da dieser verstummt war und auch kein weiterer folgte, tat ich mir schwer. Ich bemühte mich, das Gebiet einzugrenzen, zog immer kleinere Kreise um den Stadtteil, aus dem der Schrei gekommen war, auf der Suche nach etwas auffälligem. Aber ohne eine Stimme, die mich in die richtige Richtung führte, war das ganze so gut wie aussichtslos.
Schließlich landete ich an einer Häuserecke. Ich war mir ziemlich sicher, dass mein Ziel ganz in der Nähe sein musste. Und auch wenn ich den Menschen, der nach mir gerufen hatte, aus der Luft nicht hatte finden können, weigerte ich mich, jetzt schon aufzugeben.
Zu Fuß wanderte ich die Straße auf und ab, spähte in jeden Häusereingang und jede Seitengasse, fand jedoch nichts, das mir weiterhalf. War die Person, die ich suchte, vielleicht gar nicht mehr da?
Ich war schon kurz davor aufzugeben, als ich, beim dritten Straßenabgehen, in einer schmalen Sackgasse etwas Helles hinter einem Altpapiercontainer hervorragen sah. Es handelte sich um einen menschlichen Fuß. Einen nackten, menschlichen Fuß, unter dem sich langsam eine dunkle Flüssigkeit ausbreitete. Die Lache kroch langsam über die Ritzen und Vertiefungen im Boden entlang und benetzte die blasse Haut. Färbte sie rot.
Mein Herz pochte schmerzhaft in meiner Brust. Ich glaubte zu wissen, was mich erwarten würde. Und ich ahnte bereits, dass ich es lieber nicht ansehen sollte.
Trotzdem setzte ich weiter einen Fuß vor den anderen und trat vorsichtig in die Gasse hinein. Obwohl es helllichter Tag war, war es zwischen den Häusern düster. Ratten huschten im Schatten von Mülltonnen hin und her.
Mit weichen Knien umrundete ich den Papiercontainer und glaubte, auf das schlimmste gefasst zu sein. Doch ich irrte mich.
Es brauchte eine Weile, bis alles, was meine Augen wahrnahmen auch bis in mein Gehirn durchgesickert war. Dann traf mich die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. Zitternd und bleich wich ich vor dem grauenvollen Anblick zurück, bis ich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Häuserwand stieß. Kraftlos rutschte ich an ihr herunter auf den Boden, Arme und Flügel fest um meinen bebenden Oberkörper gelegt, als könnte ich mich so vor der grausamen Wirklichkeit schützen. Lautes, unmenschliches Kreischen dröhnte schmerzhaft in meinen Ohren und verdränge jedes andere Geräusch, jeden vernünftigen Gedanken aus meinem Kopf. Und ich merkte, dass dieses Kreischen von mir selbst kam. Ich schrie.
Schrie so laut, dass mir die Kehle schmerzte und sich ein metallisch schmeckender Film über meine Zunge legte und ich konnte einfach nicht aufhören.
Mir gegenüber lehnte eine junge Frau an der Wand. Ihr kopf hing schlapp auf ihre Brust, wie bei einer Puppe. Sie war tot. Doch das allein war es nicht, was meinen Zusammenbruch verursacht hatte. Es war ihr Anblick, das ganze, groteske Bild, das sie bot.
Sie trug nur ein knappes, weißes Kleid, in dessen Mitte, auf Höhe ihres Bauches ein Riss klaffte, von dem aus sich das Blut durch die Fasern des Stoffes fraß und es rot färbte. Auch die Hände der Frau waren, in Blut gefärbt, auf die riesige Wunde gepresst, als wolle sie die Eingeweide drin behalten. Dennoch quollen die Gedärme aus ihr heraus, wie bei einem halb ausgeweideten Tier. Ihre Finger hatten sich während ihres Todeskampfes darin verheddert und verkrampft. Dank der langen, dunklen Haare, die mir wie ein Vorhang die Sicht verhüllten, blieb mir zumindest der Anblick ihres sicher schmerzverzerrten Gesichts erspart.
Ich  bemerkte die Schnüre, die um ihre Schultern führten und ein paar riesiger, weißer Vogelflügel an ihrem Rücken befestigt hielten. Flügel, die den meinen nicht unähnlich waren. Wäre sie keine Frau gewesen, wären die Seile, die die Schwingen an ihrem Rücken hielten etwas mehr in den Falten ihrer Kleidung versteckt gewesen, hätte ich sie für einen grausam dahingeschlachteten Engel gehalten.
Zwischen verzweifelten Schluchzern, meinen fruchtlosen Versuchen, mich wieder aufzurappeln, brachen immer neue Entsetzensschreie aus mir hervor. Schließlich gab ich jeden Versuch auf, mich zu beruhigen. Ich gab es auf, zu denken, lehnte meinen Kopf nach hinten an die Wand und schrie meine ganze Unverständnis und meine Angst vor dieser grausamen Welt aus mir heraus, während heiße Tränen über meine Wangen strömten.
Eine schmerzhafte Ohrfeige riss mich aus meiner Schockstarre und ließ mich augenblicklich verstummen. Mit aufgerissenen Augen starrte ich auf das schwarze Hemd, das mich vom Anblick der Toten abschirmte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass sich jemand vor mich geschoben hatte.
Mit zitternden Händen betastete ich meine brennende Wange. Er hatte sich bei dem Schlag nicht zurückgehalten.
„Wieder da?“, fragte eine tiefe, gereizt klingende Stimme.
„W-was...?“, stammelte ich hilflos. Meine Kehle fühlte sich beim Sprechen an, als hätte ich Glasscherben verschluckt.
Eine Hand griff grob hinter mich in mein Haar und zog meinen Kopf in den Nacken, sodass ich dazu gezwungen war, meinen Gegenüber anzusehen. Ich war nicht einmal überrascht, durch den Tränenschleier hindurch den Dämonen wiederzuerkennen, der mir schon die ganze Zeit Probleme machte.
Ich wehrte mich nicht und versuchte auch nicht, mich aus seinem Griff zu befreien. In meinem Kopf war kein Platz für noch mehr Angst. Da war nur die tote, grausam zugerichtete Frau - sonst nichts.
Ich konnte nicht klar denken, starrte einfach nur in die glutroten Augen, die auf einmal einen etwas weicheren Ausdruck annahmen. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen glättete sich. Das alles nahm ich wahr und bemerkte es doch nicht bewusst.
„Ich fragte, ob du dich nun wieder beruhigt hast. Bei deinem Geschrei bekomme ich noch Migräne!“
Ich schwieg.
Er warf einen beiläufigen Blick über seine Schulter. Sein Gesicht, als er die Tote betrachtete, konnte ich nicht erkennen, aber ich spürte, wie sich sein Griff um den Haarbüschel, den er immer noch in der Faust hielt, fester wurde. Es tat weh, als würden sich hunderte Nadeln in meine Kopfhaut bohren, doch ich gab keinen Laut von mir.
Als er sich wieder mir zuwandte, ließ er von selbst los.
„Bist du hier, weil du ihr helfen wolltest?“, wollte der Dämon wissen. Ich biss mir auf die Unterlippe.
War ich das? Hatte ich sie retten wollen?
Diese tote Frau musste den Hilferuf nach mir ausgesendet haben. Aber ich war offensichtlich zu spät gekommen, um ihr zu helfen. Matt zuckte ich mit den Schultern.
„Das ist schon die dritte, die so aussieht. Muss irgendein Irrer sein...“, brummte er weiter vor sich hin. Ich hörte ihm nicht einmal richtig zu. Ein Mensch war gestorben! Eine junge Frau, die ich vielleicht noch hätte retten können. Und dann hatte sie auch noch ein derartig grauenvolles Ende gefunden.
Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was für Ängste sie hatte durchstehen, welche Schmerzen sie hatte ertragen müssen. Warum hatte sie auch erst so spät nach mir gerufen? Erst im Augenblick ihres Todes.
Ich ließ meinen Hinterkopf gegen die Mauer hinter mir fallen, schloss die Augen und wünschte mir, ich könnte den pochenden Schmerz in meiner Brust und in meinen Schläfen abstellen. Oder zumindest weinen, bis jegliches Gefühl aus mir herausgespült wurde. Aber keine weitere Träne fand ihren Weg nach draußen. Stattdessen fühlte es sich an, als würden sich die Tränen in meinem Rachen sammeln, verklumpen und versuchen, mich zu ersticken.
Wieder wurde ich geohrfeigt. Nein, diesmal war es mehr ein Tätscheln, als ein Schlag.
„He, Engel, krieg dich wieder ein!“ Mit einem leisen Stöhnen öffnete ich die Augen wieder. Mir war schlecht.
Der Dämon streckte mir seine Hand entgegen. Eine große, kräftige Hand, in einer willkommen heißenden Geste dargereicht. Ich verstand nicht.
Ich wollte ihm sagen, er solle mich in Ruhe lassen. Wollte ihn wegschieben. Stattdessen schob ich meine Hand in seine und wurde sogleich mit einem Ruck auf die Beine gezogen.
„Besser, ich bringe dich erst mal hier weg.“
Ich protestierte nicht. Nicht einmal, als er mir einen Arm um die Schultern legte und mich, immer bedacht darauf, mir den Blick auf die in der Ecke kauernde Leiche zu versperren, aus der Gasse schob. Er musste mich dabei stützten, denn meine Beine wollten bei jedem Schritt einknicken. Der Anblick eben, diese Demonstration menschlicher Grausamkeit und das Versagen meinerseits war zu viel gewesen. Es war mehr, als ich ertragen konnte.

Kapitel 4 – Ein Deal mit dem Teufel

Er wohnte anders, als erwartet. Ich hatte geglaubt, der Dämon würde mich in eine düstere Kellerwohnung schleppen. Vielleicht auch in irgendwelche finsteren Katakomben mit Schimmel an den feuchten Wänden und Ratten überall.
Stattdessen saß ich nun in einem riesigen, braunen Ledersessel, in dessen weichen Polstern ich halb versank. Vor mir, auf einem kleinen Glastisch, stand eine dampfende Tasse Kamillentee. Misstrauisch beäugte ich abwechselnd die geräumige, helle Dachwohnung, das heiße Getränk vor mir und meinen Gastgeber, der es sich mir gegenüber in einem identischen Sessel, wie der, auf dem ich saß, gemütlich gemacht hatte.
Der Dämon gab sich nicht einmal Mühe, sein Grinsen zu verbergen und beobachtete mich amüsiert. Ich fühlte mich unwohl, rutschte auf meinem Platz hin und her, knetete meine immer noch zitternden Finger. Aber ich war froh, aus dieser Gasse raus zu sein. Und selbst, wenn der Mann, der mir gerade Gesellschaft leistete, ein Dämon war, so war ich doch erleichtert, nicht allein sein zu müssen.
„Trink schon“, forderte mich mein Gegenüber auf. Wie automatisch gehorchte ich und griff nach der Tasse. Erst, als sich meine Finger schon in den Henkel eingehakt hatten, zögerte ich und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
„Ich muss nichts trinken“, flüsterte ich. Zu mehr war ich nicht in der Lage, da mein Hals noch immer brannte wie Feuer.
„Nur weil du weder essen noch trinken musst, bedeutet das nicht, dass du es nicht tun darfst.“
Er stützte seine Ellenbogen auf die Knie und sein Kinn auf die ineinander verschränkten Finger. Dadurch kam er mir plötzlich viel näher, sodass ich mich reflexartig, die Teetasse in der Hand, gerade hinsetzte, um weiter von ihm weg zu kommen.
„Trink. Das beruhigt“, wiederholte er bestimmt.
Vorsichtig nippte ich an dem Getränk. Es schmeckte süß, nach den würzigen Blüten und nach Honig. Angenehm rann der Tee mir die Speiseröhre hinunter und wärmte meinen verkrampften Magen. Ich seufzte, nahm noch einen Schluck und stellte die Tasse wieder vor mir ab. Der Dämon schien damit zufrieden zu sein.
„Besser?“, erkundigte er sich. Ich nickte und sah, wie er sofort ernster wurde. „Gut. Dann können wir uns jetzt ja in Ruhe besprechen.“
Besprechen? Verwundert blinzelte ich ihn an, bis mir klar wurde, dass ich wie ein Idiot aussehen musste und wandte meinen Blick lieber wieder meiner Teetasse zu. Die ganze Situation war zu seltsam. Das war schon das zweite mal, dass er mir, einem Engel, half. War es jetzt an der Zeit, dass er seinen Lohn dafür forderte?
Was konnte ein Dämon, der so viel stärker war, als ich, überhaupt von mir wollen? Eines stand für mich fest: Sollte er von mir verlangen, Menschen zu schaden oder ihm gar ihre Seelen kampflos zu überlassen, würde er bei mir auf Granit beißen! Niemals konnte ich zu meinem Nutzen eine Seele opfern!
Ich hatte ihn nicht um seine Hilfe gebeten. Und er würde von mir auch nichts bekommen!
„Was willst du?“, fragte ich gereizt, die Stimme noch heiser vom schreien. Auch wenn der Tee den Schmerz bereits etwas gelindert hatte.
Ich hörte ihn lachen und warf ihm einen verärgerten Blick zu. Er war das erste und einzige Wesen in meiner ganzen bisherigen Existenz, das ein so negatives Gefühl wie Wut aus mir herauskitzeln konnte. Und er benahm sich, als wäre das alles nur ein einziger Scherz für ihn.
„Woho!“ Beschwichtigend hob er die Hände in die Luft. Für mich sah diese Geste aber mehr aus, als würde er sich über mich lustig machen. Sicher tat er das auch. „Behandelt man so einen großzügigen Gastgeber? Nicht gleich so feindselig!“
„Hab ich denn nicht grund dazu?“, zischte ich zurück.
„Keineswegs.“ Seine Augen blitzen rot und schelmisch. „Vor mir hast du nichts zu befürchten. Hätte ich dich loswerden wollen, dann wärst du schon längst erledigt. Aber du bist noch nicht mal Konkurrenz für mich. Die Stadt hier ist groß genug, um einander aus dem Weg zu gehen, aber selbst wenn wir im letzten Kuhdorf festsäßen müsste ich mir keine Sorgen machen, dass du mir auch nur eine Seele wegschnappst. Keiner glaubt mehr wirklich an Hilfe von oben.“
Die Worte trafen mich wie eine Ohrfeige und ich musste mir Mühe geben, dass mir die Kinnlade nicht herunterfiel. Ich konnte nicht einmal sagen, was verletzender war. Dass er mich nutzlos nannte und damit auch noch recht hatte. Oder dass er es in einem so süffisanten Tonfall sagen konnte, dass es fast klang, wie ein Kompliment.
„Du armer, kleiner Engel...“
Ich saß da, wie versteinert, während der Dämon sich vorbeugte und seine Hand nach mir ausstreckte.
„Unschuldiges, naives Ding. Ganz unvorbereitet auf diese grausame, herzlose Welt. Wehrlos gegen all die bösen, bösen Monster. Und ganz allein.“
Mit den Fingerspitzen strich er mir über die Wange, seine Nägel waren so scharf, dass ich nicht einmal merkte, dass sie mir die Haut aufschnitten, bis etwas warmes über mein Gesicht lief und mir das Kinn herunter tropfte.
Mit einem erschrockenen Aufschrei wich ich zurück. Am liebsten hätte ich mir danach die Hände vor den Mund geschlagen, weil ich schon wieder schwäche gezeigt hatte. Spielte das mittlerweile überhaupt noch eine Rolle? Wir wussten bereits beide, dass ich schwach war. Wehrlos. Und er war viel, viel mächtiger als ich. Meine Finger begannen erneut zu zittern.
Selbstzufrieden lehnte sich der Dämon wieder in seinen Sessel. Er hob die Hand, mit der er mich verletzt hatte und betrachtete, wie sich ein einzelner Blutstropfen einen Weg von seinem Nagel zu seiner Fingerkuppe bahnte. Provokativ leckte er ihn ab.
„Mh“, schnurrte er genüsslich. „So ein verletzliches Ding.“
„Ich... ich bin kein Ding“, stammelte ich. Als ich mir vorsichtig das Blut von der Wange rieb, war die Wunde schon fast wieder verheilt. Es war nur ein oberflächlicher Schnitt gewesen. Mir war ganz elend zu Mute, aber ich versuchte alles, um mich zusammen zu reißen. Vor allem vor ihm, vor allem jetzt.
„Ich bin Heshael, ein Engel, von Gott geschaffen, um den Hoffnungslosen zu dienen und die Verzweifelten zu retten. Und ich bin nicht nutzlos!“ Ich gab mich damit zufrieden, dass es überzeugter klang, als ich es tatsächlich war.
„Von Gott geschaffen, um als Kanonenfutter zu dienen“, korrigierte er mich mit beinahe ehrlich klingendem Mitleid. Nur sein unaufhörliches, kaltes Lächeln strafte ihn Lügen. „Nicht einmal so viel Wert, wie ein Bauer, auf diesem Schachfeld. Du bist nur eine Zahl, Heshael, mit der Er versucht, unsere wachsende Streitmacht auszugleichen. Ein Wunder, dass du überhaupt einen Namen bekommen hast.“
Der Dämon streckte mir die Hand hin, als hätte er mich eben höflich begrüßt. Dabei trieben mir seine Worte die Zornesröte ins Gesicht.
„Dennoch ist es interessant, dich kennen zu lernen, Engel Heshael. Du kannst mich Machol nennen.“
Ich starrte seine Hand an, ohne sie zu ergreifen. An seiner Fingerspitze klebte immer noch ein Rest meines Blutes. Nur ein Grund mehr, ihn nicht berühren zu wollen. Er widerte mich an, machte mich wütend, provozierte mich. Ich wusste nicht einmal, warum ich noch blieb.
Der Schock, nachdem ich die zugerichtete Leiche der toten Frau gesehen hatte, war mittlerweile verflogen. Warum also war ich noch nicht aufgestanden und gegangen? Spätestens nach der letzten Beleidigung hielt mich doch nichts mehr hier. Außer der Dämon selbst, vielleicht. Was, wenn er mich nicht gehen ließ?
„Das ist nicht dein richtiger Name“, vermutete ich schließlich und gab auf - fürs Erste. Noch hatte er mir nicht ernsthaft geschadet und vielleicht würde er mich bald von sich aus gehen lassen, wenn ich noch eine Weile mitspielte.
„Natürlich nicht!“, lachte er. „Es wäre schon ziemlich leichtsinnig von mir, einem Engel meinen wahren Namen zu verraten. Du bist ein Schwächling, da mache ich mir kaum Sorgen, aber wer weiß, wen du sonst noch anlockst, wenn du erst meinen Namen kennst.“
„Unterschätze mich nicht!“, versuchte ich zu drohen, was er nur mit einer wegwerfenden Geste quittierte.
„Ich denke, ich schätze dich genau richtig ein. Du bist so gut wie nutzlos... zumindest, solange du meine Hilfe nicht annimmst.“
Ich wollte nicht wütend sein. Ich mochte das Gefühl nicht, das mich von innen heraus fast verbrannte. Es fühlte sich nicht richtig an. Ich war nicht dafür geschaffen, so zu empfinden. Und dennoch gelang es mir nicht, mich zu beruhigen.
„Ich will keine Hilfe von dir!“, fauchte ich. „Es gibt nichts, was du mir geben könntest, Dämon! Ich spiele nicht mit bei deinen Spielchen!“
Ich sprang auf und fegte dabei meine Tasse vom Tisch. Heißer Tee ergoss sich zu meinen Füßen. Meine Hände hatte ich so fest zu Fäusten geballt, dass meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handballen drückten.
„Ich werde jetzt gehen.“ Ohne einen weiteren Blick an Machol -oder wer auch immer er wirklich war- zu  vergeuden, drehte ich mich um und ging auf die Tür zu. Er würde mir nichts tun. Ich war zu wenig Gefahr für ihn, um sich überhaupt die Mühe zu machen, mich zu vernichten. Auch wenn er mit Leichtigkeit dazu in der Lage wäre, da war ich mir sicher.
Eine Hand packte mich grob am Arm und hielt mich zurück. Wie versteinert blieb ich stehen, meine Wut augenblicklich in Schrecken verwandelt. Sollte ich mich geirrt haben? Angespannt hielt ich den Atem an.
„Ich weiß, was du brauchst, Heshael“, säuselte er an meinem Ohr. Ich versuchte, mich wegzudrehen, mit dem Ergebnis, dass sich sein Griff um meinen Arm noch verstärkte. Es tat weh. „Du willst einen menschlichen Körper.“
„Warum sollte ich das wollen?“, fragte ich erstickt.
„Damit die Menschen dich endlich hören.“ Ich schluckte schwer, aber der Klumpen, der sich in meiner Kehle bildete, ließ sich dadurch nicht vertreiben.
„Ich brauche deine Hilfe nicht“, protestierte ich erneut. Meine Stimme klang so schwach.
„Dann verrate mir, Engel... Wie lange bist du schon hier unten? Wie lange schreist du dir schon die Seele aus dem Leib, flehst und hoffst und bittest, ohne auch nur einen einzigen zu erreichen? Und wie viel länger kannst du das noch durchstehen?“
Meine Augen brannten. Musste ich schon wieder weinen? Ich war dieses Chaos an Gefühlen nicht gewohnt, diesen ständigen Wechseln von Wut, Angst und Verzweiflung.
„Gott wird mir beistehen.“ Meine Worte waren kaum mehr als ein Wimmern.
Die Finger um meinen Arm lösten sich, als sich stattdessen Machols Arme von hinten um meine Schultern legten. Seine Hände lagen genau über meinem Herzen. Mein Verstand schrie, während ich stumm die Kiefer aufeinander presste, bei dieser grotesken Umarmung, in der er mich Gefangen hielt.
Ich wollte keinen falschen Trost von einem Gefallenen. Aber ich konnte mich nicht wehren. Seine Arme waren wie eiserne Fesseln um meinen Körper, die ich nicht lösen konnte, so sehr ich auch versuchte, sie abzuschütteln.
Zunächst war es nur ein unangenehmes ziehen, als seine dämonische Energie meine Schutzschilde verbrannte. Doch nach und nach wandelte sich das Gefühl zu einem pochenden Schmerz, der meinen Brustkorb zusammenzog und mir den Atem raubte. Er schwächte mich, zog alle Kraft aus mir heraus und demonstrierte mir, wie ausgeliefert ich ihm war. Es funktionierte gut. So musste es sich anfühlen, zu sterben. Meine Knie drohten nachzugeben.
Als er endlich aufhörte, meine Energie zu stehlen, sah ich alles wie durch einen roten Nebelschleier. Noch immer lagen seine Arme auf meinen Schultern und sie erschienen mir wie ein zentnerschweres Gewicht, das mich herunterdrückte. Noch ein wenig länger und er hätte mit seinem Dämonenzauber selbst meinem Herzen befehlen können, nicht mehr weiter zu schlagen. So leicht war es für ihn, mich zu töten. So ausgeliefert war ich ihm.
„Würde ihn dein Schicksal kümmern, dann hätte er dich gerettet“, erklärte er geduldig. „Du bist auf dich allein gestellt, wenn du nicht auf den Handel mit mir eingehst.“
„Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht“, erwiderte ich matt. Ich war kurz davor, vor Erschöpfung vor dem Dämon zusammen zu brechen und meine Zunge bewegte sich nur schwerfällig in meinem Mund. „Ich will und darf keinem Menschen schaden. Ich kann dir keine Seelen überlassen, geschweige denn welche besorgen. Und du weißt, dass wir selbst keine haben.“
Abrupt ließ er mich los. Sofort knickten meine Beine unter mir weg und ich sank auf die Knie. Der Raum schwankte kurz vor meinen Augen. Ich war so geschwächt, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte, dass ich wieder versuchen würde, zu verschwinden.
Er ging um mich herum. Seine Schuhe rückten in mein Blickfeld, als er mir gegenüber stand. Ich war zu schwach, um auch nur meinen Kopf zu heben und so blieb mir nichts anderes übrig, als auf seine Füße zu starren.
„Ich brauche dich nicht, um meine Menschenseelen zu sammeln. Es macht mir einfach Freude, einen jungen, naiven Engel zu quälen, das ist alles“, gab er zu. Ich blieb stumm.
„Ich werde jetzt einen Vertrag formulieren. Die Bedingungen auf beiden Seiten sind verbindlich, ich werde meinen Teil genauso halten müssen, wie du deinen. Es wird mein erstes und einziges Angebot sein. Ob du annimmst oder ablehnst ist dir überlassen... hast du alles verstanden?“
„Ja“, wisperte ich. Ich war mir sicher, dass ich ablehnen würde. Es war verlockend, die Möglichkeit zu haben, von denjenigen gehört und gesehen zu werden, die meine Hilfe benötigten, aber ich war mir sicher, dass ich den Preis dafür niemals bezahlen konnte. Ich würde mich sicherlich nicht auf einen Handel mit dem Teufel einlassen.
„Engel Heshael, dies sind die Bedingungen für unser Geschäft“, grollte seine dämonische Stimme durch den Raum. Wie Donner dröhnte sie hundertfach schmerzend in meinem Schädel. Kurz verschwamm alles vor meinen Augen, aber es gelang mir, mich wieder zu fangen.
„Ich gebe dir einen menschlichen Körper, der sich von deinem jetzigen nicht unterscheidet, damit Menschen dazu in der Lage sind, dich wahrzunehmen. Im Gegenzug dazu verlange ich, dass du mir jeden Tag, den du den Körper besitzt, eine Stunde deiner Zeit opferst. In dieser Stunde wirst du jedem meiner Befehle gehorchen. Ich werde nichts verlangen, was einem anderen als dir selbst Schaden zufügen könnte und ich werde nichts verlangen, was dein Leben beenden könnte.
Verbringt dein menschlicher Körper nicht genug Zeit in meiner Nähe, wird er absterben und du verrottest bei lebendigem Leibe –es sei denn, ich gebe dir die Erlaubnis dazu, mir fern zu bleiben. Der Vertrag ist jeder Zeit aufhebbar, unter der Bedingung, dass du nach Auflösung sofort die Stadt verlässt. Nimmst du das Angebot an?“
Ich konnte seinen Blick auf mir spüren, wie sich seine roten Augen in mein Fleisch bohrten, in gieriger Erwartung meiner Antwort. Meine Gedanken rasten.
Das Angebot schien ihm zu wenig Nutzen zu bringen, um ernst gemeint zu sein. Doch es war verbindlich. Er konnte noch weniger einen Rückzieher machen, als ich. Es war mir ein Rätsel, warum er überhaupt auf diesen Handel bestand. Warum war es ihm so wichtig, dass ich einwilligte?
Wenn er mir schaden und mich verletzen wollte, war ihm das auch ohne Vertrag ein leichtes. Der Handel brachte ihm keinerlei Seelen ein. Der einzige, der daraus einen Vorteil zog, war ich.
Sicher, irgendwo musste ein Haken an der Sache sein. Er hatte seine Pläne, sonst wäre er nicht so aggressiv vorgegangen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, was dieses finstere Wesen sich dabei dachte. Das einzige, was ich mit Sicherheit erkannte, war die Chance, die sich mir durch den Vertrag bot. Eine Chance, die alle meine Vorsätze, abzulehnen dahinbröckeln ließ.
Sie würden mich endlich hören können!
„Ich nehme an.“ Das Echo meiner eigenen Stimme hallte durch meinen Kopf. Dann konnte ich mich nicht länger bei Bewusstsein halten und alles um mich herum wurde schwarz.

Kapitel 5 - Eine neue Hülle

“Aufstehen, Schneewittchen, es ist soweit.” Wie aus weiter Entfernung drang eine dunkle Stimme an meine Ohren. Nur langsam sickerte die Bedeutung der Worte in mein Bewusstsein.
Die Erschöpfung steckte mir noch in allen Gliedern und es gelang mir nicht auf Anhieb, die Augen zu öffnen. Meine Lider fühlten sich unnatürlich schwer an und die Dunkelheit dahinter war zu verlockend. Unter mir spürte ich den harten, kalten Untergrund. Lag ich immer noch auf dem Boden? Wie lange war ich weggetreten?
„Was ist soweit?“, gelang es mir zu nuscheln. Dann endlich öffnete ich träge die Augen und rollte mich auf den Rücken. Tatsächlich hatte Machol mich an der selben Stelle liegen lassen, an der ich seinetwegen zusammengebrochen war. Ich war nicht sonderlich überrascht. Mir auf das nur wenige Schritte entfernte Sofa zu helfen, wäre zu viel verlangt gewesen. Dämonen waren nicht gerade für Nächstenliebe bekannt.
„Dein menschlicher Körper. Schon vergessen? Wir haben einen Vertrag.“ Er stand mit verschränkten Armen über mir und sah auf mich herab. Seine Mundwinkel zuckten im Anflug eines spöttischen Lächelns. Dann streckte er mir eine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
Zögernd versuchte ich erst einmal, mich selbst aufzurichten und schaffte es auch, mich in sitzende Position hoch zu hieven. Der Raum schwankte wieder einen Moment lang vor meinen Augen. Schließlich ergriff ich die mir dargebotene Hand doch und ließ mich auf die Beine ziehen.
„Ich hab wohl etwas übertrieben“, stellte der Dämon fest.
„Etwas...“, murmelte ich. Sobald ich mir sicher war, dass ich von alleine stehen bleiben würde, ließ ich ihn los, als hätte ich mich an ihm verbrannt. Der Hautkontakt war mir immer noch nicht geheuer. Besonders nach seiner letzten Machtdemonstration, von der mir immer noch der Schädel dröhnte. Dass ich ihm jetzt gegeben hatte, was er von mir wollte, minderte meine Angst vor ihm wenig. Eher fürchtete ich noch mehr, was für Pläne er in Zukunft mit mir haben würde.
Eine Stunde, jeden Tag. Genug Zeit, um mich zu quälen.
Erst als ich zum Sofa gehen und mich setzen wollte, merkte ich, dass dort schon jemand lag.
Etwas lag. Der totenblasse, nackte Körper eines jungen Mannes, den man, wie einen Leichnam vor der Beerdigung, auf dem Polstermöbel aufgebart hatte, war längst keine Person mehr. Leben und Seele, die darin gewohnt hatten, waren bereits gewichen. Nur noch ein dämonischer Zauber sorgte dafür, dass das Herz weiter Blut pumpte und sich die Brust Atemzug um Atemzug hob und senkte. Ein leises Grauen überkam mich, während ich den Körper betrachtete. Fragend warf ich einen Blick zu Machol.
„Was soll das?“, verlangte ich zu wissen.
„Das“, erklärte er mir, betont langsam, als spräche er mit einem Kleinkind, „ist dein neuer Körper.“
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und nicht auf die offensichtliche Provokation einzugehen. Viel Energie, um mich aufzuregen, hatte ich ohnehin nicht übrig. Stumm verschränkte ich die Arme vor der Brust und wartete auf weitere Erklärungen.
„Hör mal, du dachtest doch nicht, ich schnipp einfach mit dem Finger und puff, bist du sichtbar für die Menschen! Ich kann ziemlich mächtige Magie wirken, Energie geben, Energie nehmen, unbemerkt stehlen, töten... aber ich kann nicht einfach so einen menschlichen Körper herzaubern. So was muss heranwachsen. Leben aus dem Nichts schaffen kann nur Er, das musst du doch wissen.“
Ich nickte. Wie dumm von mir, dass ich daran nicht gedacht hatte. Es war ärgerlich, ihm ein weiteres mal meine Unerfahrenheit demonstriert zu haben. Aber was machte das noch aus, jetzt, da ich einen Handel mit ihm abgeschlossen hatte, aus dem ich so schnell nicht mehr rauskam. So langsam begann ich, meine Entscheidung zu bereuen.
Ich trat vor, bis an die Armlehne der Couch und betrachtete das leblose Gesicht meines zukünftigen Körpers. Ein leicht kantiges Kinn, an dem noch immer etwas von kindlicher Weichheit haftete, einige wenige Pickelnarben auf den Wangen, die sich durch die Blässe stärker hervorhoben und dunkles, lockiges Haar. Er sah mir nicht wirklich ähnlich, hatte aber ungefähr meine Größe und Statur.
„Wer war er?“, flüsterte ich, die Schuldgefühle herunterschluckend, die mich bei dem Anblick überkamen. Ich stahl den Körper irgend eines armen Jungen. Das war sicher nicht richtig.
„Psch, unwichtig.“ Er machte eine wegwerfende Bewegung. „Er hat den Körper allerdings freiwillig hergegeben, falls das dir Sorgen macht.“
„So freiwillig, wie ich zu all dem hier zugestimmt habe?“, zischte ich. Zorn flackerte in seinen Augen auf und ließ mich erschrocken zusammenzucken. Ich wäre vor ihm zurückgewichen, hätte nicht das Sofa im Weg gestanden.
All die male, die ich ihm begegnet war, hatte er bedrohlich gewirkt, einschüchternd, mächtig, überheblich. Aber das war die erste Situation, in der es mir gelungen war, ihn zu verärgern. Seine Wut jagte mir mehr Angst ein, als seine sonst so kalte Berechnung und weckte in mir den Drang, ihn um Verzeihung anzuflehen. Auch wenn ich nicht genau wusste, was ihn so verärgert hatte.
Er überbrückte den Abstand zwischen uns mit einem einzigen Schritt und packte mich am Kragen. Erschrocken schrie ich auf und riss abwehrend die Hände hoch.
Was hatte ich erwartet? Schläge? Sein Atem strich über mein Gesicht und ließ mich die Luft anhalten. Seine Augen bohrten sich rotglühend und bedrohlich in meine, während er mich mit nur einer Hand am Hemd nach oben zog, dass nur noch meine Zehenspitzen knapp den Boden berührten.
„Damit das klar ist, Heshael. Ich habe dich gezwungen, dir mein Angebot anzuhören, aber ich habe dich nie dazu gedrängt, es anzunehmen! Das war deine Entscheidung! Dass es da keine Missverständnisse gibt.“
Ängstlich nickte ich und umklammerte seinen Ärmel, da ich sein Handgelenk und somit seine Haut dabei nicht berühren wollte.
„Ja...du... du hast Recht“, stammelte ich. Er hatte mich wirklich nicht dazu gezwungen. Er hatte mir die Option offen gelassen, den Deal abzulehnen. Ich hatte selbst einschieden und angenommen.
Als hätte meine knappe Zustimmung in ihm einen Schalter umgelegt, wich alle Wut aus Machols Zügen und machte einem zufriedenen Lächeln platz. Vorsichtig setzte er mich wieder auf dem Boden ab und löste seine Finger aus dem Stoff meines Hemdes.
„Ich sehe, wir verstehen uns.“ Versöhnlich tätschelte er mir die Schulter. Dann ging er um mich herum und stellte sich neben das Sofa, wie ein Priester vor einen Altar.
„Dann können wir jetzt damit anfangen, dich mit dieser menschlichen Hülle zu verbinden. Zieh dich aus und knie dich neben den Körper auf den Boden.“
Kurz wollte ich protestieren. Ich hatte sogar schon meinen Mund geöffnet, doch schloss ich ihn wieder, ohne einen Laut von mir zu geben. Dass er mich mit dem Befehl mich zu entkleiden und vor ihm  zu knien demütigen wollte, stand für mich außer Frage. Doch ich war ein Engel und als solcher sollte es für mich das Selbstverständlichste der Welt sein, mich zum Wohle der Menschen zu erniedrigen. Das war der Grund meiner Existenz und ich trug diese Pflicht gerne, weil ich wusste, dass ich damit Gutes tat. Hatte ich nicht aus diesem Grund sogar mich selbst aufgeopfert und mit einem Dämonen einen Pakt geschlossen? Ich war davon überzeugt, damit ein paar Seelen mehr retten zu können.
Und dennoch widerstrebte es mir, ihm zu gehorchen. Das beunruhigte mich. Hätte es mich vor ein, zwei Wochen auch gestört, mich nackt vor ihn knien zu müssen oder begann dieser trostlose Ort langsam, mich zu verändern?
Dieser Gedanke machte mir Angst, also schob ich ihn entschlossen zurück und hob meine Hände, um die Verschnürung meines Hemdes zu lösen. Während ich mir das Kleindungsstück über den Kopf zog, konnte ich Machols Blicke förmlich spüren. Sie brannten auf meiner bloßen Haut.
Mit viel Konzentration konnte ich zumindest so tun, als würde ich es nicht bemerken, während ich auch meine Hose abstreifte, die Kleidung ordentlich zusammenlegte und mich schließlich auf das harte Parkett hinunterkniete.
„Zufrieden?“ Als ich endlich zu ihm hoch sah, hatte er wieder dieses selbstgefällige Lächeln im Gesicht, das ich mittlerweile schon kannte. Nur einen Moment lang fingen seine roten Augen die meinen ein, dann konnte ich seinem Blick nicht länger standhalten und wich ihm aus.
„Ja, alles bestens“, erwiderte er so ruhig, als wolle er meine Nervosität etwas dämpfen. Es gelang ihm nicht und ich schlang schützend die Arme um meinen Oberkörper.
„Muss ich irgendwas machen?“
„Nur still halten. Der Rest ist schnell erledigt.“ Aufmunternd nickte der Dämon mir zu. Dann ritzte er mit einem seiner messerscharfen Fingernägel seine eigene Unterlippe auf. Es war nur ein winziger Schnitt, aus dem Blut quoll, eine kleine, rote Perle an seinen Lippen bildete und sich dann den Weg sein Kinn entlang bahnte.
Ich wollte zurückweichen, als er seine Hand nach mir ausstreckte, doch ich bewegte mich nicht. Er strich mir das Haar aus dem Gesicht, beugte sich über mich und bedachte mich mit einer Geste, die Engel nur als Zeichen größter Verbundenheit und zum Trost austauschten. Er küsste mich auf die Stirn.
Wie erstarrt saß ich da, spürte die Wärme seiner Lippen auf meiner Haut und die Feuchtigkeit seines Blutes, das daran haftete. Es erinnerte mich an das letzte mal, als andere Lippen meine Stirn berührten, damals als ich von meinen Brüdern Abschied nahm, bevor ich in diese Stadt geschickt wurde. Es war schon so lange her, dass es mich meine Angst vor Hautkontakt mit dem Dämon vergessen ließ. Ich war so einsam hier unten. Ein leises Schluchzen entkam meiner Kehle.
Als er sich von mir löste, sah er nicht aus, als hätte er es bemerkt, wofür ich beinahe dankbar war. Er wandte sich dem leblosen Körper auf dem Sofa zu und versperrte mir so die Sicht auf das, was er tat. Aber ich hätte auch nicht viel länger zusehen können, denn kurz darauf wurde mir schwindlig.
Zum zweiten mal an diesem Tag verschwamm alles vor meinen Augen und es begann in meinen Ohren zu rauschen. Das Atmen fiel mir auf einmal schwer und ich bekam es mit der Angst zu tun, schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Ich musste mich mit den Händen auf dem Boden abstützen, um nicht umzukippen. Was war das nur? War etwas schief gegangen? Ich wollte Machol fragen, ihn um Hilfe bitten, weil ich nicht wusste, was mit mir geschah, doch ich war bereits zu schwach, um zu sprechen.
Keuchend ließ ich mich fallen und rollte mich zu Füßen des Dämons zusammen. Er sah nicht einmal zu mir herunter. Und dann setzte mein Herz einen Schlag aus.

Es war wie Einschlafen und Aufwachen gleichzeitig. Ich spürte, wie ich zeitgleich das Bewusstsein und den Boden unter mir verlor. Ich fiel und fühlte im selben Moment, dass ich auf einem weichen Untergrund lag. Dass ich eigentlich sicher war, wenn ich es nur schaffte, die Augen wieder zu öffnen und es mir gelang, wieder frei zu atmen, aber da war ein Widerstand an meinem Mund, der der Luft den Weg in meine Lungen versperrte.
Ich versuchte, eine Hand zu heben, um meine Lippen zu befreien, um atmen zu können, spürte, wie meine Finger zuckten, ohne wirklich zu gehorchen. Wie ein Ertrinkender röchelte ich, riss den Mund auf und schmeckte etwas metallisches. Dann wurde Luft und Magie gleichermaßen in mich hineingepumpt und meine Lungen füllten sich mit Feuer.
Mit einem erstickten Schrei öffnete ich die Augen und krallte mich an Machols Schultern fest, während der Dämon seine Lippen weiter hart auf meine presste und mich sein Blut und seinen Atem schmecken ließ.
Erst als ich das alles realisierte, begann ich, herumzuzappeln, in dem Versuch, mich von ihm zu befreien. Schließlich gelang es mir, ihm das Knie in den Bauch zu rammen und ihn so von der Couch zu katapultieren. Polternd landete er auf dem Boden.
Sofort drückte ich mich in die Ecke des Sofas und wischte mir immer wieder über den Mund, um den Blutgeschmack loszuwerden, von dem mir schon übel wurde. Auf dem Parkett neben mir, an der Stelle, an der eben noch ich gekniet hatte, saß nun Machol auf seinem Hintern und starrte zu mir hoch. Ich hatte ihn überrumpelt.
„Was sollte das?“, schrie ich ihn an. Meine Stimme überschlug sich. Wieder wischte ich mir mit dem Handrücken über Zunge und Lippen und widerstand gerade noch dem Bedürfnis, auszuspucken. Ich hatte wirklich Angst gehabt, zu sterben und ich verstand immer noch nicht im Detail, was geschehen war. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, mir irgendwas zu erklären. Ich begann zu zittern.
„Mann, bist du nun ein Engel oder ein Huhn?“, schnauzte er zurück. „So funktioniert das Ritual nun mal.“
Das Ritual. In meinem Schrecken hatte ich ganz vergessen, weshalb ich es überhaupt auf mich genommen hatte. Unsicher blinzelte ich von meinem sicheren Platz aus hinunter. Dann auf  das leere Polster neben mir. Der Körper des Jungen war fort. Oder war es mein Körper, der verschwunden war?
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ mich zusammenzucken. Doch es war nur der Dämon, der sich aufgerappelt hatte und nach meinem Handgelenk fasste. Ich war überrascht genug, dass ich es zuließ.
„Hat es denn funktioniert?“, fragte ich, piepsiger als mir lieb war. Ein Ruck an meinem Arm zog mich auf die Beine, sodass ich direkt vor Machol stand. Er grinste und entblößte eine Reihe weißer Zähne. Ich hätte erwartet, dass ein Monster wie er spitze Reißzähne hätte oder gleich ein ganzes Haifischgebiss. Doch nichts dergleichen.
„Und wie es funktioniert hat!“, verkündete er und noch bevor ich protestieren konnte, schob er mich den Flur entlang, durch eine Tür in einen gefliesten Raum. Das Badezimmer.
„Sieh es dir selbst an.“ Mit einem Stoß in den Rücken schubste er mich vor den großen Spiegel, der über dem Waschbecken hing.

Kapitel 6 - Rote Federn

Es war das erste mal, dass ich bewusst in einen Spiegel sah, um mich selbst zu betrachten. Neugierig und scheu zugleich beugte ich mich weiter nach vorne. Die Reflexion zeigte mir das Gesicht des selben jungen Mannes, der leblos auf Machols Sofa gelegen hatte, nur dass der Körper nun keine leere Hülle mehr war. Und noch etwas schien nicht ganz mit meiner Erinnerung überein zu stimmen.
Ich war mir ganz sicher, dass seine Augen das letzte mal, als ich ihn angesehen hatte, noch nicht so hell waren. Mit den Händen stützte ich mich gegen die kühle Oberfläche und meine Nase klebte förmlich am Spiegel, welcher bei jedem Ausatmen ein wenig mehr beschlug. Tatsächlich bemerkte ich, dass sich die Augenfarbe weiter veränderte. Erst blich die Iris nur aus, wurde fast milchig weiß, dann gewann sie wieder an Intensität, bis sie schließlich blau strahlte, wie der Himmel. Gleichermaßen erstaunt und beeindruckt schob ich mich wieder ein Stück vom Spiegel weg.
Im Spiegelbild konnte ich Machol erkennen, der zufrieden grinsend hinter mir stand und mich beobachtete. Aalglatt, wie immer.
„Jetzt geht die Show richtig los!“, verkündete er mir mit einem Augenzwinkern. Zuerst verstand ich nicht, was er meinte, doch dann bemerkte auch ich es.
Die Konturen des Gesichts im Spiegel verschwammen, die Gesichtszüge veränderten sich, wurden feiner, weniger kantig. Die Haut, davor ungesund blass, wurde zu einem ebenmäßigen alabasterweiß, die kleinen Narben auf den Wangen verschwanden. Gleichzeitig schienen die Haare auszubleichen, sich zu glätten und länger zu werden, bis sie mir in weichen, weißblonden Strähnen auf die Schulter fielen. Verblüfft griff ich danach und ließ sie mir durch die Finger gleiten. Mein Spiegelbild tat das selbe. Das war mein Haar!
Und das- ich strich mir ungläubig über die Augenbrauen, die Nase, die Lippen. Das war mein Gesicht!
Ein leises Lachen direkt neben meinem Ohr ließ mich zusammenzucken. Ich war zu abgelenkt gewesen und hatte nicht bemerkt, dass der Dämon näher gekommen war. Nun stand er direkt hinter mir und legte mir die Hände auf die bloßen Schultern.
„Immer wieder faszinierend, meinst du nicht?“
Ich sah mein Spiegelbild nicken. Was für ein seltsames Gefühl, sich selbst zu sehen. Nicht nur eine flüchtige Spiegelung in einer Fensterscheibe oder einer anderen glatten Oberfläche. Ich betrachtete mich ganz bewusst. Wenn ich die Stirn runzele, tat mein Spiegelbild das auch. Wenn ich lächelte, lächelte es ebenfalls. Zog ich eine Fratze, erwiderte es zeitgleich die Grimasse.
Wieder lachte Machol und als ich erkannte, dass er sich über mich lustig machte, hörte ich schlagartig auf, mein Gesicht zu verziehen. Stumm schalt ich mich selbst für mein lächerliches Verhalten. Der Dämon hatte ganz recht damit, mich auszulachen, wenn ich mich benahm, wie ein kleines Kind!
„Das bin also ich“, stellte ich fest.
„Jap, offensichtlich“, bestätigte Machol unnötigerweise.
Ich sah an mir herunter, betrachtete meine Füße und wackelte mit den Zehen. Dann betrachtete ich wieder mein Gesicht im Spiegel, bewegte probehalber die Finger, obwohl ich eigentlich schon wusste, dass sie funktionierten.
„Und das ist mein menschlicher Körper, ja?“
„Offensichtlich”, wiederholte der Mann hinter mir. „Gleicht deinem alten Körper bis aufs Haar.“
Noch einmal warf ich einen prüfenden Blick in den Spiegel. Das war einfach nur seltsam. Es fühlte sich gar nicht wie ein fremder Körper an. Ich spürte keinen Unterschied zu meinem Engelskörper davor. Bis auf eins.
„Meine Flügel!“, rief ich erschrocken. Das durfte nicht wahr sein! Wo waren meine Flügel?
„Menschen haben keine Flügel...“, bemerkte Machol. Noch immer lächelte er. Natürlich! Er hatte ja von Anfang an gewusst, dass das passieren würde. Und ich stand nun da in meiner menschlichen Hülle, ohne Kleidung, ohne meine Flügel, ohne meine weißen Federn, die mich zu dem machten, was ich war.
Panisch stolperte ich rückwärts und stieß den Dämon dabei von mir weg. Ich drehte mich um und verrenkte mir fast den Hals, bei meinem verzweifelten Versuch, meinen Rücken im Spiegel sehen zu können. In der Hoffnung, etwas zu entdecken, von dem ich wusste, dass es nicht mehr da war.
Ich konnte sogar noch die Muskeln spüren, die meine Schwingen bewegt hatten. Ich stürzte auf die Knie. Er hatte mich reingelegt. Er wollte mich nur leiden sehen. Und es fing damit an, dass er mir das einzige nahm, was mich sichtbar mit meinem Zuhause und meinem Herrn verband.
Ängstlich tastete ich mit meinen Händen auf meinem Rücken herum, aber meine Finger fanden nichts, als glatte Haut, die sich über meine Schulterblätter spannte. Ich wimmerte und kratzte über meinen Rücken und wurde dabei immer hysterischer. Irgendwo da unter der Haut mussten sie doch noch sein! Irgendwo mussten sie sein...
Ich spürte, wie die Haut unter meinen Fingernägeln nachgab und riss. Mein Rücken fühlte sich nass an und brannte, aber meine Flügel bekam ich nicht zurück.
Machol musste wohl die ganze Zeit daneben gestanden und mir zugesehen haben. Aber erst, als ich schluchzend und mit blutüberströmtem Rücken auf seinem Badezimmerboden kniete, schritt er ein. Grob packte er mich bei den Handgelenken und riss meine Hände nach oben, dass meine Finger nicht länger über die zerfetzte Haut schaben konnten.
Zuerst schrie ich und wehrte mich. Dann merkte ich, dass alles Ziehen und Zappeln nichts half, um mich aus seinem Griff zu befreien. Schließlich hörte ich auf, mich zu wehren, sackte einfach zusammen und begann stumm zu weinen.
„Jetzt hör schon auf mit dem Drama.“ Als sicher war, dass ich mich nicht weiter selbst verletzen würde, ließ er endlich meine Hände los und ging neben mir in die Hocke, sodass wir ungefähr auf Augenhöhe waren.
„Deine Flügel sind nicht weg. Sie sind nur verborgen, zu deiner eigenen Sicherheit“, erklärte er mir mit selten sanfter Stimme.
„Aber ich... ich wollte das nicht. Nicht so“, wisperte ich. Ich hatte solche Angst gehabt. Angst, meine Flügel zu verlieren und zu fallen. Wenn Engel verstoßen wurden, schnitt man ihnen vor der Verbannung die Flügel ab, damit sie nie mehr zurückkehren konnten. So wollte ich nicht enden. Niemals.
„Schon gut”, beruhigte er mich weiter und seltsamerweise funktionierte es sogar. Ich zwang mich, mit dem Weinen aufzuhören und mich aufrechter hinzusetzen.
„Ich zeige dir, wie du sie hervor holen kannst, wenn du willst. Aber ich warne dich. Die ersten paar mal tut es ziemlich weh.“
„Das ist mir egal!“, rief ich hastig. Ich wollte sie nur zurückhaben. Auch wenn es vermutlich besser war, sie den Menschen nicht zu zeigen, so musste ich sie noch einmal sehen. Nur um mich zu vergewissern, dass ich sie nicht für immer verloren hatte.
„Gut, dann bleib einfach so sitzen.“ Machol erhob sich aus der Hocke und ging um mich herum. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich jede seiner Bewegungen misstrauisch. Ich spürte seine Hand in meinem Rücken, die an die Stelle zwischen meinen Schulterblättern drückte. Die Berührung brannte wie Säure auf den offenen Wunden, die ich mir selbst zugefügt hatte. Er hätte mich aufhalten können, bevor ich mich selbst verletzte, noch bevor ich vollkommen zusammengebrochen war. Stattdessen hatte er daneben gestanden und zugesehen. Und er hatte, da war ich mir sicher, innerlich über mein Leid gelacht. Noch immer zitterten meine Hände und auch wenn ich nun ruhiger war, schnürte mir die Panik die Luft ab.
„Du musst dich jetzt konzentrieren, kleiner Engel. Mach die Augen zu.“ Sofort gehorchte ich.
„Wenn du nachfühlst kannst du sie spüren, die Muskeln, die Knochen und die Federn. Alles ist noch da, verborgen und gebunden, unter deiner Haut und meinem Zauber. Du fühlst es doch, oder?“
Tat ich das? Ich runzelte die Stirn und kniff die Augen etwas fester zusammen, während ich in mich hineinhorchte. Ja, ich spürte, dass sie noch da waren, ihr vertrautes Gewicht an meinen Schultern, konnte sogar die dazugehörigen Muskeln anspannen. Jedoch, ohne sie zu bewegen. Es fühlte sich an, als hätte jemand meine Flügel mit Seilen fest an meinen Körper geschnürt und wenn ich versuchte, mich weiter zu bewegen schnitten mir diese Fesseln ins Fleisch.
„Gut.“ Machols Stimme war ganz ruhig. Geduldig, wie die eines Lehrers. „Dann breite deine Flügel aus. Drück sie gegen meine Handfläche.“ Ich versuchte es, spannte wieder die Muskeln an, aber nichts passierte. Seine Hand drückte in meinen Rücken, das konnte ich auf meiner zerkratzten Haut spüren. Und auch in den Muskeln darunter, ja sogar dort, wo ich meinte, meine Schwingen wiedergefunden zu haben. Ich drückte gegen seine Hand, gegen die magischen Fesseln, aber sie gaben nicht nach. Keinen Millimeter.
„Es funktioniert nicht“, wimmerte ich. Langsam bekam ich doch wieder Angst. Was, wenn ich meine Flügel nie mehr würde befreien können? “Drück fester“, brummte es hinter mir, streng aber weiterhin geduldig. Also zwang ich mich, nicht erneut der Panik zu verfallen und steckte noch mehr Kraft in den Versuch, meine Flügel loszureißen. Ein brennender Schmerz zog sich über meinen gesamten Rücken und wurde heftiger, je fester ich dagegen hielt. Es war, als hätte mir jemand kochendes Öl übergegossen, das sich in mein Fleisch fraß. Der Schmerz nahm mir die Luft und Tränen traten mir in die Augen, aber meine Flügel lösten sich immer noch nicht aus ihren Gefängnis.
“Machol“, keuchte ich verzweifelt. „Es funktioniert nicht!“
“Mach weiter“, forderte er. Aber ich wusste nicht wie. Ich wusste nicht, woher ich die Kraft dazu nehmen sollte. Wie ich den Schmerz ertragen sollte.
“Es tut weh“, versuchte ich, ihm klar zu machen, aber er kannte kein Mitleid.
“Weiter“, wiederholte er nur. Mittlerweile liefen mir die Tränen nur so übers Gesicht. Die Hände zu Fäusten geballt, kämpfte ich gegen die Bande an, die meine Flügel gefangen hielten. Auch wenn ich es nicht wagte, vor Machol laut zu schreien, innerlich tat ich es. Das Brennen wurde immer heftiger. Ich fühlte mich, als stünde ich in Flammen, die mich gleichzeitig verbrennen und zerquetschen wollten. Und langsam ging mir die Kraft aus, weiter dagegen anzukämpfen.
Ich sammelte meine letzten Reserven, mein letztes Bisschen an Selbstbeherrschung, um nicht aufzugeben und zusammenzubrechen und stemmte mich gegen die inneren Fesseln. Plötzlich ging ein Ruck durch meinen Körper. Ich spürte, wie meine Haut erneut riss, meinen ganzen Rücken entlang, zwei Tiefe Schnitte, als hätten sich Schwerter durch mich gebohrt. Ein Sprühregen aus Blut ging nieder, färbte die Fliesen an Boden und Wänden des Badezimmers und bedeckte meine Haut mit feinen roten Sprenkeln. Ich hatte meine Schwingen ausgebreitet.
Nur langsam zog sich der Schmerz zurück und stumpfte zu einem unangenehmen Pochen entlang meiner Flügel ab. Ich brauchte noch einen Moment, um die schwarzen Punkte vor meinen Augen weg zu blinzeln. Sobald ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte, Griff der Dämon mir unter die Arme und hievte mich auf die Beine. Sofort ging mein Blick zum Spiegel über dem Waschbecken.
Da stand ich, blass und nackt und blutend. Meine Beine zitterten verdächtig, wenn ich versuchte, mich vorwärts zu bewegen und nasse Spuren meiner Tränen zeichneten sich auf meinen Wangen ab. Aber all das sah ich nicht, denn in meinem Rücken hingen sie. Die weißen Federn besudelt mit meinem eigenen Blut, rot verfärbt. Vorsichtig bewegte ich sie leicht auf und ab. Dann breitete ich sie aus, so weit, dass die Federspitzen die Wände berührten und blutige Muster darauf malten.
Ein erleichtertes Lachen brach aus meiner Kehle. Ich hatte es geschafft! Ich hatte einen menschlichen Körper, ich hatte meine Flügel. Mir mehr zu wünschen, wagte ich im Augenblick gar nicht.

Impressum

Texte: shark.serenade
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2013

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