Die Nacht ist eisig und finster, doch das lässt ihr schwarzes Seidengewand nur noch mehr glitzern und funkeln. Ihr strahledes Auge wandert über die Welt und gibt acht auf die arglos Schlafenden. Fast liebevoll breitet sie ihren dunklen Mantel über sie, damit sie nicht so frieren. Behutsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, reiht Schritt an Schritt auf ihrem Weg über den Horizont.
Ihr Blick fällt auf zwei Gestalten in der Dunkelheit. Sie wachen noch. Schweigend stehen sie beieinander, so nahe, dass sich ihre Schultern fast berühren. Wesen, die keinen Platz haben, an den sie gehören.
Damit hat sie nichts zu schaffen, die Schwarzgewandete. Dies sind nicht ihre Kinder, nicht ihre Schützlinge. Sie wandert weiter und lässt die Unglücksseeligen in der Finsternis zurück.
Die beiden Wesen sind vollkommen allein mit sich selbst. Sie stehen an der Kante eines Abgrunds aus dem bunte Lichter blinken. Dort unten schläft niemand, dort unten lebt alles. Die Nacht ist dort unerwünscht, bei den fröhlich lebenden. Auch dort gehören die beiden nicht hin.
Die eine Gestalt ist ganz weiß und glatt. Sie sieht aus, wie eine Figur aus Porzellan. In ihren Augenwinkeln funkelt es, als hätten Diamanten sich in ihren Wimpern verfangen. Das Gesicht trägt einen Ausdruck von unerträglichem Schmerz und wäre es nicht so dunkel um sie her, so hätte man die vielen grauen Linien gesehen, die sich wie ein Netz aus Adern über die Oberfläche des Wesens spannen. Wie Risse sehen sie aus, als würde die Gestalt zerspringen, sobald man sie berührte.
"Anima...", wispert sie leise in einer Stimme, die weder Mann noch Frau gehört.
"Cor...", erwidert das andere Wesen. Seine Stimme klingt wie Rauch und wie dieser wird sie auch vom Wind davon getragen. Nur ein Echo kommt am Ohr des anderen an.
Wie Rauch wirkt auch der Körper des zweiten. Durchscheinend und verschwommen, so als hätte man ein Glas mit Nebel angefüllt. Ein Gesicht hat diese Gestalt schon lange nicht mehr.
Cor schließt die Augen und die glitzernden Steinchen in seinen Wimpern tropfen über die Wangen hinunter. Sie fallen über den Rand der tiefen Schlucht und werden von der Dunkelheit verschluckt. Als es die grauen Augen wieder aufschlägt treten neue Diamantentränen an die Stelle der alten.
"Anima, mein Freund. Warum tut es so weh?", wimmert es. Durchscheinende Finger verflechten sich mit den weißen der Gestalt.
"Weil du zerfällst, Cor. Du zerfällst, mein Freund."
Das weiße Porzellanwesen nickt stumm. Traurig. Es spührt, was geschieht, nur versteht es nicht warum.
Wind kommt auf, schwillt von einem sanften Hauch zu einer Böe, von einer Böe zu einem reißenden Stoß, der heulend über die beiden Wesen hinwegfegt und ein Teil der durchscheinenden Nebelgestalt mit sich reißt. Nun wirkt es noch unwirklicher und verlorener, als zuvor.
"Cor, mein Freund. Warum tut es nicht weh?", haucht die Gestalt.
Schulter schmiegt sich an Schulter, als sich das eine Wesen an das andere lehnt.
"Weil du vergehst, Anima. Du vergehst, mein Freund."
Das gesichtslose Wesen nickt stumm. Es versteht, aber fühlen kann es nichts.
"Erinnerst du dich noch an Träume, Anima?", wechselt das Zersplitterte zaghaft das Thema.
"Ich erinnere mich", gibt das Nebelwesen ebenso zaghaft zurück, "dass ich einst welche hatte."
"Ich hatte auch Träume.", beginnt Cor zu erzählen, in seiner traurigen, brechenden Stimme. "Sie waren bunt und warm und hell. Ich war nicht alleine. Und überall war das..." Das Wesen zögert einen Moment, unsicher, wie das Wort, das es sagen will ausgesprochen wird. Es will ihm nicht über die bleichen Lippen. "...Glück."
"Warum bist du aufgewacht?", will die verwehende Gestalt wissen. Die weiße seufzt lautlos und blickt betrübt hinab in die Tiefe.
"Ich wollte gar nicht, aber man hat mich geweckt."
"Warum schläfst du dann nicht wieder ein?, fragt Anima weiter. "Warum legst du dich nicht zurück in dein Bett und träumst weiter?"
"Weil es dann nur ein Traum wäre.", gibt Cor erstickt zurück. "Damals, als ich noch träumte, da war der Traum die Wirklichkeit für mich. Nun, wo ich wache, weiß ich aber, dass es nur ein Traum gewesen ist. Es gibt kein Zurück mehr."
Anima nickt, denn es versteht. Anima versteht viel, nur fühlen kann es nicht.
"Ich bin nicht einmal hier wirklich.", klagt die Nebelgestalt. "Ich verwehe in der Wirklichkeit."
"Dann wird dies wohl nicht deine Wirklichkeit sein." Wieder fallen Glitzertränen hinunter in die Tiefe.
"Ein Traum?", fragt das durchscheinende Wesen, mehr sich selbst als die Gestalt an seiner Seite.
"Vielleicht.", pflichtet diese bei.
"Aber wenn das hier", überlegt das verwehende Wesen und umfasst in seiner Armbewegung die blinkende, lebende Welt vor ihnen, bis hin zum Horizont, "nur ein Traum ist, mein Freund. Wenn diese Wirklichkeit keine endgültige ist..."
"Was meinst du damit, Anima?" Fragend mustert das Porzellanwesen das Gesichtslose neben sich.
"Ich meine, Cor, wenn diese Welt nur ein Traum ist, dann war dein Traum über das Glück vielleicht auch nur ein Traum in einem Traum."
"Ein Traum in einem Traum?"
Das Nebelwesen nickt bestätigend.
"Vielleicht schlafen wir nur. Irgendwo, in einer anderen Wirklichkeit."
"Aber Anima! Warum wachen wir dann nicht auf? Warum verlassen wir diesen Traum nicht, wenn wir doch darin vergehen und zerspringen?", will die weiße Gestalt verzweifelt wissen. Immer mehr Diamanten stürzen den schwarzen Abgrund hinunter.
Das durchscheinende Wesen sieht die Tränen und weiß, was sie bedeuten. Es würde Cor gern darum beneiden, doch es fühlt nichts. Nicht einmal die Leere. Es weiß nur, dass sie da ist.
"Vielleicht", überlegt es "hat uns bis jetzt noch keiner geweckt."
Die grauen Augen der Porzellangestalt werden groß.
"Dann müssen wir selbst aufwachen!", ruft es ganz außer sich aus, worauf die Risse in seiner Oberfläche sich weiter vertiefen und ausbreiten. Der Schmerz auf seinem Gesicht wird deutlicher. Schmerzhafter.
"Und wie soll das gehen, mein Cor?", fragt das Wesen mit verwehender Stimme. Das zerspringende blickt hinunter zu seinen Füßen, die nur eine Handbreit von der Kante entfernt sind. Es hat Angst, es hat Schmerzen, es ist verzweifelt. Es fühlt so viel, dass es nichts versteht. Gut, dass es Anima hat. Anima versteht viel.
"Sollen wir gehen?", fragt es seinen unglücklichen Gefährten und verstärkt den Druck um dessen Finger ein wenig. Nicht zu viel, damit sie nicht zerbrechen, allein von dem Nebelhauch.
Nun weiß es auch die Porzellangestalt und dankt lächelnd. Wäre die Nacht doch nur ein wenig länger bei ihnen geblieben, so hätte sie es auch gesehen, ein Lächeln, wie es kein traurigeres gab auf dieser Erde.
"Ja, lass uns gehen! Lass uns aufwachen!", stimmt Cor zu. Es schließt die Augen, wobei ein letztes Mal die Glitzertränen fallen. Hätte Anima Augen gehabt, hätte es sie ebenfalls geschlossen.
"Ich liebe dich.", wispert Cor.
"Ich verstehe dich.", haucht Anima zurück.
Dann machen sie gleichzeitig einen Schritt voran und treten gemeinsam über den Abgrund. Die Porzellangestalt fällt schnell, fällt lange, fällt tief. Sie kommt auf dem Boden auf und zerschellt in einem letzten Schluchzer endlich in tausende Scherben. Die Nebelgestalt hatte sich schon im Fall aufgelöst und war zu einem Nichts geworden, dem die Leere nichts mehr anhaben konnte.
Eine junge Frau schlägt die Augen auf. Es ist noch Nacht.
Der Mond wirft seine tröstenden Strahlen durch das Fenster auf ihr Bett.
Sie reibt sich über die Augen. Ihr Kissen ist ganz nassgeweint. Aber sie fühlt sich frei.
Dort ist kein Schmerz mehr in ihr, keine Leere mehr, die an ihr nagt. Nur noch eine glückliche Erinnerung, bunt und warm, wie ein Traum.
Ihr Blick fällt auf den Nachttisch. Dort steht ein Bild von einer wunderhübschen jungen Frau, die lächelnd in den Armen ihres Mannes liegt. Das weiße Kleid auf dem Foto strahlt durch die Dunkelheit, doch noch mehr strahlen die Gesichter des Brautpaares.
Die Frau setzt sich auf, nimmt das gerahmte Bild zur Hand und streicht andächtig über das Glas. Zum ersten mal seit langem kann sie wieder lächeln, während sie es betrachtet.
"Dich zu kennen war ein Geschenk, wie ein schöner Traum.", flüstert sie dem Hochzeitsfoto zu, bevor sie einen Kuss darauf haucht und es liebevoll wieder an seinen Platz stellt.
Ihr Traum war zu Ende. Die Erinnerung daran jedoch blieb. Und das war das wichtigste.
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Is all that we see or seem
But a dream within a dream?
[Edgar Allan Poe]