Cover


Wie bei jedem Tagesanbruch hatte sich der junge Terk, ein Junge von gerade mal 16 Sommern daran gemacht, sich fertig zu machen, und zusammen mit den anderen männlichen Dorfbewohnern zur Mine aufzubrechen. Auch heute war es wieder soweit gewesen, und sich die Müdigkeit aus den Gliedern schüttelnd, verließ der blondschöpfige Jüngling das Haus, nur in seine zerflickte, braune Kleidung gehüllt, und mit der Spitzhacke über den Schultern. Das Bergwerk, welches in der Mitte des kleinen Waldes lag, war die einzige Einnahmequelle des Dorfes. Erz wurde zu Tage gefördert, und an die Schmiede in den umliegenden Städten verkauft. Es war kein lohnendes Tagwerk, und schon manch einer hatte sein Leben in den kalten und tristen Gängen der Miene gelassen.


Ein kleines Lied vor sich hinpfeifend schritt Terk voran, in die Richtung, welche er schon seit seinem 7. Lebenjahr ging. Damals war es der Vater gewesen, der den Sohn in die Geheimnisse des Berges eingeweiht hatte. Gerade hatte er das Dorf hinter sich gelassen, hatte die nächste Wegbiegung erreicht, welche in den Wald hineinführte, als er seine Augen kurz zur Seite gleiten ließ, und erstarrte... Obwohl es ein fast windstiller Morgen war, wirbelte ein Blätterhaufen, die verwelkten Überreste des nicht allzulang vergangenen Herbstes, umher, tanzten, drehten sich ineinander, um wieder zu Boden zu fallen und neu in die Luft getragen zu werden. Terk kam es nicht geheuer vor, doch aufgrund seiner Jugend ward seine Neugierde geweckt, und so kam er langsam, vorsichtig Schritt für Schritt, näher. Seine Spitzhacke umklammerte er mit beiden Händen, bereit, jederzeit loszuschlagen. Doch nichts geschah. Eine Armeslänge davor blieb er stehen, den Blick noch immer auf den Blätterhaufen gerichtet. Es schien fast so, als wäre noch mehr Leben in den selbigen geraten, die Blätter flogen noch höher, noch schneller wirbelten sie umher. Das Herz klopfte wie wild in seiner Brust, doch nahm er seinen gesamten Mut zusammen und streckte seine Hand aus. Wind verfing sich in seinen Haaren, und er vermeinte, ein leises Lachen darin zu vernehmen. Wie von Wespen gestochen machte Terk kehrt, zögerte noch kurz am Wegrand, eher er sich für die Richtung entschied, in welcher die Miene lag. Schon lange war er kein kleines Kind mehr, welches zu seiner Mutter rannte, und ihr von seinen Ängsten und Sorgen erzählte. Diese Lektion hatte er schon vor langer Zeit gelernt.
Fast atemlos erreichte er den Eingang des Stollens. Drei Männer seines Dorfes lagen dort zur Rast, sahen nur erstaunt von ihrem Frühstück auf, als Terk auf sie zustürmte. Noch einmal versuchte er sich zu sammeln, was aber nicht gelang, und so aufgebracht wie er war, rutschte es aus ihm heraus, was geschehen war.
Doch die Männer sahen sich nur an, und lachten nur. "Das wird wohl einer von den Windsängern gewesen sein." Meinte einer von ihnen. Fast ein wenig zerknirscht blickte der Jüngling die Älteren an. Hatte er bis jetzt diese Wesen in die Welt der Fabeln und Legenden abgetan. Aber die heutige Begegnung hatte ihn eines besseren belehrt.

Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, machte er sich an die Arbeit, und den ganzen Tag lang sprach er nicht weiter darüber. Nachdem auch die folgenden Tage Ereignislos verliefen, kein tanzender Blätterhaufen erneut vor ihm auftauchte, fing er an, es langsam zu vergeßen. Fast hätte er es als Hirngespinst, als Folge seiner etwaigen Schlaftrunkenheit zugeschrieben. Doch am Morgen des 8. Tages wurde erneut Zeuge des seltsamen Ereignisses. Diesmal hatte er den Wald bereits erreicht, ihn betreten, als er auf das Laub aufmerksam wurde, welches ihn ständig verfolgte. Es war ein windreicher Tag, dennoch widersetzten die Blätter sich diesem, folgten Terk. Wieder war es Angst, die ihn beschlich, seine Kehle fühlte sich trocken an. "Wo bist du?" Rief er schließlich den Wind entgegen. Ein Windstoß war die einzige Antwort, die er bekam. Leicht schwankte er. Zorn ergriff ihn, er bückte sich, hob einen Stein auf, und war ihn erbost in Richtung des Blätterhaufens. "Feigling, zeig dich. Oder verschwinde, halte einen ehrlichen Mann nicht von seiner Arbeit ab." Doch wieder blieb es still, der Spuk schien vorbei zu sein. Fast selbstzufrieden stemmte Terk die Hände in die Hüften und lachte, was allerdings sehr verkrampft klang. Noch einmal tief durchatmend drehte er sich um, wollte in Richtung Miene weiterlaufen. Doch eine Gestalt versperrte ihn den Weg, kaum eine Armeslänge von ihm entfernt. "Elbe" Entfuhr es ihm, doch gleich darauf verbesserte er sich stillschweigend. Was vor ihm stand war keine Elfe. Zwar besaß sie die gleichen, spitzen und schwungvoll geformten, Ohren, aber diese Frau besaß eine leicht bläuliche Hautfärbung, und in ihrem Gesicht waren seltsame Tätowierungen zu sehen. Ihre Augen besaßen fast die gleiche Tönung wie die Haut, nur die Haare waren bläulich weiß, reichten der Fremden bis zu den Kniekehlen hinab. Der Ausdruck ihres Gesichtes zog ihn in ihren Bann, ihre Augen funkelten, auf den Lippen lag ein kleines Lächeln. Seine Augen weideten sich... Als er sie näher betrachtete, fiel ihm auf, dass er die Umgebung hinter ihr durch sie hindurch wahrnehmen konnte. Verschwommen zwar, aber sie schimmerte durch den Körper der fremden Frau hindurch. Er wich einen Schritt zurück. "Bei den großen Monddrachen." Keuchte er. Reflexartig ging er einen Schritt zurück. Die Frau vor ihm machte jedoch keine Anstalten, ihm zu folgen, oder sich von der Stelle zu bewegen. Ruhig stand sie da, erwiderte seine Blicke nur, musterte ihn ebenfalls. Nach einer halben Ewigkeit, welche die beiden sich anstarrten, legte sie schließlich ihren Kopf schräg, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. "Und nun?" Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern im Wind. Wie als erwache er aus einer Trance schüttelte sich Terk, fuhr sich durch die Haare. "Wa... Wa... Was bist du?" Stammelte er schließlich. Doch wieder bekam er zunächst nur ein Lächeln als Antwort, ehe die fremde Frau, welche den Anschein machte, als wäre sie kaum älter als Terk, zu sprechen begann. "Mein Name ist Ivera... Was ich bin... Nun..." Sie legte eine kleine Pause ein. "Das weißt du doch.!" Der Schalk schien in ihren Augen zu blitzen. "Windsänger!!" Presste er hervor, worauf sie nur nickte. Kein weiteres Wort vermochte Terk weiter zu sprechen. Still stand er da, seine Augen nicht von der blassen Frau abwenden könnend. Sie jedoch kicherte nur. Langsam kam sie näher. Ihr Gesicht näherte sich dem seinen. Ehe er wußte, wie ihm geschah, hauchte Ivera einen Kuss auf seine rechte Wange. Noch einmal trafen sich beider Augen. Dann verschwand die Windtänzerin. Ebenso schnell wie sie erschienen war, verblasste sie nun vor den erstaunten Augen des jungen Kaskaden. Einzig die Worte: "Wir sehen uns wieder." Vernahm sein Ohr noch. Dann war es still... Nur das leise Rauschen des Windes war zu vernehmen...

Lange noch stand er da, hielt seine Hand auf sein Gesicht gepresst, dort, wo ihn die Windsängerin berührt hatte. Ein seltsames Lächeln erschien schließlich auf seinen Lippen. Er konnte sich seinen Gemütszustand nicht erklären, aber ihm war seltsam leicht ums Herz. Ohne sich noch einmal umzusehen, setzte er sich in Bewegung. Wieviel Zeit verstrichen war, wußte er nicht. Und er hielt es für besser und angebrachter, den anderen Männern noch einmal von seinem seltsamen Erlebnis im Wald zu erzählen. Er wußte nicht, wasi ihn dazu bewog, vielleicht war es auch nur die Tatsache, nicht als Kind da zu stehen, der lieber alten Märchen lauschte, als zu arbeiten.

Die Tage verstrichen. Jeden Morgen hielt er Ausschau nach der Windtänzerin, lauschte, ob er ihre Stimme nicht im Wind hören könnte. Doch seine Bemühungen waren vergebens. Terk wollte erleichtert sein, konnte es aber nicht. Das Bild der seltsamen Frau hatte sich tief in sein Innerstes gebrannt, jedesmal wenn er die Augen schloß, konnte er es vor sich sehen. So gut es ging, hielt er sich von den anderen Dorfbewohnern fern, damit ihnen sein seltsames Benehmen nicht auffiel. Da bereits seine Eltern als exzentrisch gegolten hatten, fiel ihm dies nicht allzu schwer.

Den Weg, den er wieder wie jeden Morgen ging, hätte er selbst bei vollständiger Dunkelheit oder im Schlaf gehen können. Nicht darauf achtend, wohin er trat, stürmte er vorwärts, den Blick zu Boden gerichtet. Wie es kam, wußte er nicht, aber diesmal war er weit nach Sonnenaufgang aufgestanden. Vielleicht war es die Tatsache, dass er bis spät in die gestrige Nacht, mit zweien seiner wenigen Freunde, die er besaß, die Vollendung seines 17. Lebensjahres gefeiert hatte. Der Schädel brummte ihn, und leise fluchte er vor sich hin. Etwas hielt ihn jedoch urplötzlich an. Ein heftiger Windstoß zwang ihn, anzuhalten und seine Füße in den Boden zu stemmen, um nicht umgeweht zu werden. "Was..." Seine Augen fuhren nach oben, schließlich spiegelte sich Erkennen in ihnen wieder. Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand SIE. Wieder war ihre Gestalt durchscheinend, schien einem Geist zu gleichen. Ihr Gewand, eng angeschmiegt an dem schlanken Körper, und nur das nötigste verdeckend, wehte leicht, obwohl der Wind nachgelassen hatte, nicht mehr spürbar war. "Windsängerin." Sie legte ihren Kopf leicht schräg, ihre Augen blickten ihn fragend an. Er verbesserte sich, ihr Name kam ihn wieder in den Sinn. "Ivera..." Sie lächelte, als sie ihren Namen vernahm. "Hallo Terk." Flüsterte sie. "Wo warst du?" Entfuhr es ihm, obwohl er diese Frage nicht hatte aussprechen wollen. Die Windsängerin deutete nach oben, machte eine weit ausladende Bewegung mit ihren Händen. "Dort oben.. Ich habe dich beobachtet." Terk nickte nur, so als hätte er es bereits geahnt oder gewußt. "Wirst du gleich wieder verschwinden? Oder...? Ich...." Er schluckte. Ein Kloss in seiner Kehle verhinderte, dass er weitersprechen vermochte. "Ich weiß." Nun war es Ivera, die nickte. "Schon lange hab ich dich beobachtet. Und ich hege Gefühle für dich, welche für Windsänger unüblich sind." Der junge Kaskade schluckte nur. Lange Zeit starrten sich die beiden nur an. "Na komm." Einem Windhauch gleich, berührte sie seine Hand. Ohne das er sich dessen wirklich bewußt war, folgte er ihr, lief mit ihr tief in den Wald hinein. Obwohl sie vorweg lief, er seine Augen nicht von ihr wenden konnte, vermochte er nicht zu sagen, ob sie schwebte oder ihre Füße den Waldboden berührten.

Viel Zeit verging. Mehr und mehr vernachlässigte der junge Terk seine Arbeit in den Mienen, anstatt das er an Festen teilnahm, verzog er sich in die Stille des Waldes, und kehrte erst spät in der Nacht wieder heim. Fragte man ihn, antwortete er nur mit einem Lächeln auf den Lippen. Mit niemanden wollte er sein kleines Geheimnis teilen. Die Gefühle in ihm wuchsen stetig, und er verzehrte sich vor Sehnsucht nach Ivera, wenn er sie nicht sah.

"Werde meine Gefährtin." Hell standen die drei Monde über ihnen, als er sie voller Liebe in den Augen ansah. Zwei Jahre waren seit ihrer ersten Begegnung vergangen. "Ich kann nicht." Flüsterte Ivera. Sie wirkte wehmütig. Doch Terk blieb hart, und immer wieder bedrängte er sie. "Erzähl den anderen von mir. Und dann bringe mir ihre Antwort." War das einzige, was sie sagte, ehe sie wie ein Windhauch verschwand. Voller Ungeduld tat Terk wie ihm geheißen, rannte ins Dorf zurück - und erzählte den erstaunten Dorfbewohnern das erstemal von seiner Begegnung und seiner Liebe zu der Windsängerin. Unglauben und Fassunglosigkeit war die erste Reaktion, aber dann wurden Stimmen laut, es wurde getuschelt, dass dies ein schlechtes Omen sei. Doch dann verstummten die Dorfbewohner wieder, zuckten nur mit den Schultern. Sollte Terk doch machen, was er wollte. Niemand mochte so recht daran glauben, dass eine Windsängerin, ein Elementargeist, einen Kaskaden lieben könnte. Zu unterschiedlich im Wesen waren sie. Doch ihre Argumente und ihr Gerade prallte bei Terk nur auf taube Ohren. Die halbe Nacht konnte er nicht schlafen, es nicht erwarten, alles Ivera mitzuteilen. Der Tag graute, als er sich geschwind anzog, und in den Wald rannte, so schnell er es vermochte. Da stand sie... Schön wie niemals zuvor. Abwartend und erwartungsvoll sah sie ihn an. Aber es schien auch so etwas wie Traurigkeit in ihren Augen zu liegen. Hastig und aufgebracht erzählte Terk ihr die Antwort der Dorfbewohner.

"Sie wollen diese Verbindung nicht." Sprach Ivera traurig. Energisch schüttelte der Kaskade seinen Kopf, versuchte, ihre Hände zu greifen, was er aber nicht vermochte, da sie immer noch ihre Windgestalt hatte. "Nein... Sie kennen dich nur nicht... Bitte..." Voller Flehen sah er sie an. "So sei es..." Fest blickte ihn die Windsängerin in die Augen, ehe sie den Kopf hob, die Augen schloß. Ein seltsames Leuchten umgab ihren Körper, nahm an Intensivität zu. Geblendet kniff Terk die Augen zusammen. Als er sie schließlich wieder öffnete, sah er Ivera... Ihr Körper war nun nicht länger durchsichtig, und zum erstenmal in seinem Leben konnte er sie in die Arme schließen.. Sie berühren... Ihre beider Lippen berührten sich zum ersten richtigen Kuss. Terk bemerkte nicht die Traurigkeit von Ivera, als er sich schließlich von ihr löste, sie an den Händen packte, und in Richtung seines Dorfes zog.

Die Aufregung war groß, als die beiden schließlich die Siedlung erreichten. Frauen, Kinder und Männer liefen zusammen, als Ivera das Dorf betrat. Noch nie zuvor hatten sie ein Wesen mit blauer Haut gesehen. Viele Fragen wurden gestellt, doch die Windsängerin lächelte nur, und schwieg. Schnell gewöhnten sich die Kaskaden an den Anblick der neuen Mitbewohnerin, doch kaum einer sprach mit ihr, und die Kinder machten einen großen Bogen um sie, oder verspotteten sie.

Wieder vergingen viele Monate. Terk und Ivera lebten glücklich zusammen am Rande des Dorfes in einer Hütte. Während der Kaskade wieder seine Arbeit im Stollen aufgenommen hatte, versorgte die Windsängerin das Haus, machte Spaziergänge, wartete auf seine Rückkehr. Doch eines Tages hielt sie ihn zurück. "Bleib hier." Ihre Stimme klang eindringlich. Terk war erstaunt, doch ohne viel Gegenwehr folgte er dieser Anweisung. Gegen Mittag brach auf einmal ein Sturm los. In all den Jahren zuvor hatte keiner der Kaskaden so etwas erlebt. Erschrocken und voller Angst suchten alle Unterschlupf in ihren Häusern...

Wenige Stunden später, als der Sturm abgeklungen war, kehrte ein aufgeregter Jüngling ins Dorf zurück, berichtete aufgeregt, dass das Unwetter Felsgeröll im Berg gelöst hatte, und die darin befindlichen Männer eingeschlossen und erschlagen hatte... Alle Rettungsarbeiten schlugen fehl, nur wenige konnten lebendig geborgen werden...

Stimmen wurden laut. Es wurde ein Schuldiger für das Unglück gesucht. Vielleicht wäre es ja zu verhindern gewesen. Die Überlebenden und die Angehörigen der Verstorbenen waren sich einige: Nur die Windsängerin konnte Schuld an dem ganzen sein. Sie hätte es verhindern können. Manche behaupteten sogar, dass sie den Sturm dorthin gelenkt hatte. Alle sammelten sich. Die aufgebrachte Menge marschierte zu Terk´s Haus, verlangte die Herausgabe der Windsängerin.

"Die Windsängerin ist schuld! Sie hätte es verhindern können." "Vielleicht ist sie sogar selber daran schuld." Die Stimmen der Witwen und der Waisen wurden laut. Alle waren sich einig, den Schuldigen für das Unglück gefunden zu haben. Gemeinsam und voller Wut marschierten sie zu Terk´s Hütte, verlangten die Herausgabe der Windsängerin. Und als ginge es ihnen zu langsam, stürmten einige hinein, und zerrten Ivera mit Gewalt heraus. Sie war blass, und Schrecken stand ihr ins Gesicht geschrieben. Stillschweigend hörte sie sich die Anklage der Dorfbewohner an, welche sie als Mörderin und Verräterin betitelten. "Ich war es nicht." Waren ihre einzigen Worte. Sie senkte ihre Augen, starrte auf den Boden. Tränen rannen über ihre Wangen. Doch niemand schien ihr Glauben zu schenken. Kinder fingen an, sie mit Steinen zu bewerfen, doch Ivera wehrte sich nicht dagegen. "Ich war es nicht." Wiederholte sie noch einmal tonlos.

"Lügnerin!" "Mörderin! Richtet sie!" Ertönte es in der Menge. Hände griffen nach ihr, zerrten sie nach vorne. Ein Streit entbrannte, was man ihr als Strafe zurechnen sollte. Nur wenige waren von ihrer Unschuld überzeugt. Auf einmal entstand ein Tumult. Terk kämpfte sich mit verzweifelter Kraft zu Ivera vor. In seinen Händen hielt er ein sensenartiges Werkzeug, welches er drohend vor sich hin und herschwang. Erschrocken von seinem Auftreten wich die Menge zur Seite. Der Kaskade nutzte die Verwirrung, packte die Windsängerin an der Hand, und rannte mit ihr in Richtung Wald.

Durch viel Glück gelang es den beiden, die Dorfbewohner, welche nicht lange gezögert hatten, und die Verfolgung aufgenommen hatten, abzuhängen. Beide trugen Schrammen von den Steinen der Kinder und den Dornen der Büsche, durch welche sie gerannt waren, am ganzen Körper. Ivera´s Kleidung glich mehr einen Fetzen, und in ihren langen Haaren hatten sich tote Äste und Laubwerk festgesetzt. Kraftlos und erschöpft ließ sich Terk auf einen moosbewachsenen Baumstamm sinken, verbarg sein Gesicht in den Händen. Sein Leben war mit einem Male aus den Ankern gerissen worden. Nie hätte er den anderen so etwas zugetraut.

Sanft berührte Ivera seinen Kopf. Als er aufsah, bemerkte er, dass sie weinte. Der Drang, sie in die Arme zu nehmen, stieg in ihm auf. Als er sich jedoch erhob, wich die Windsängerin ihm aus. "Ich kann nicht bei dir bleiben." Flüsterte sie leise. Trauer lag in ihrer Stimme. "Nein... Wir werden irgendwo anders einen Neuanfang machen.. Wir verbergen, wer du bist. Du musst nur deine Kräfte im Zaun halten." Eifrig versuchte er, sie zu überreden. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt. Doch ein lauter Seufzer ließ ihn Einhalt gebieten. "Du verstehst nicht.. Ich war es nicht... Seitdem ich meine wahre Gestalt aufgegeben habe, verfüge ich auch nicht mehr über diese Fähigkeiten. Selbst wenn ich es also gewollt hätte, ich hätte nichts gegen das Unglück tun können.... Und wo willst du hin? Du hast noch nie etwas von der Welt dort draussen gesehen. Dort drüben jedoch sind deine Freunde, deine Familie... Sie werden sich wieder beruhigen, wenn du zurückgekehrt bist."

"Was ist mit dir." Wieder versuchte er, nach ihr zu greifen, und wieder wich sie ihm aus. "Ich werde zu meinen Schwestern zurückkehren. Es ist besser so... Wir sind zu unterschiedlich. Ich passe nicht in deine Welt... Mit einer Frau von deiner Art hättest du nicht soviel Ärger wie mit mir...." Wie bereits schon Jahre zuvor ward ihr Körper mit einem Male von einem Leuchten umgeben. Die Wandlung vollzog sich erneut, diesmal jedoch anders herum.

"Nein." Schrie Terk auf. Doch es war bereits zu spät. Als er auf sie zurennen wollte, griff er ins Leere. Niemand war mehr da, er stand allein auf der Lichtung. Wind brauste auf, umspielte ihn... Ihm ward, als könne er Ivera´s Stimme darin vernehmen: "Ich habe meine Chance erhalten... Und versagt.. ich wollte bei dir leben, aber ich bringe dir nur Unglück. Lebe wohl. Versuche, mich zu vergessen... Ich liebe dich. " Dann war es still. "Ivera.... Iveeeeeeeeeera." Obwohl der Kaskade sich fast die Seele aus dem Leib brüllte, blieb es Ruhig. Keine Reaktion, keine Antwort von der Windsängerin.

Tage und Nächte irrte er im Wald herum. Ohne etwas zu essen, ohne zu schlafen... Doch die Frau, die er liebte fand er nicht. Oftmals vermeinte er, den Wind in den Bäumen seinen Namen rufen zu hören. Und immer wenn er den Stimmen versuchte zu folgen, fand er nichts... Nur langsam dämmerte es ihm, dass Ivera verschwunden war...

Jahre zogen ins Land. Die Dorfbewohner verloren kein Wort mehr über das Ereignis, hatten es bereits vergessen. Nur in einer kleinen Hütte, am Rande des Dorfes saß ein alter Mann am Fenster, und starrte in den Wald hinein. Dies tat er tagein, tagaus. Nie sprach er ein Wort, nur manchmal, wenn der Wind sich in den Bäumen verfing, und seine eigentümliche Melodie sang, erschien ein seltsames Lächeln auf den Lippen des Kaskaden....


Impressum

Texte: Shariyma
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /