Cover

Das Erkennen



"Komm, Haken. Lass uns gehen. Du weißt ganz genau, dass wir uns nicht vom Lager entfernen dürfen."
Der Angesprochene rümpfte die Nase."
Na und. Was kann schon passieren. Glaubst du, wir sind nicht in der Lage, uns selber zu verteidigen?"
"Darum geht es doch gar nicht. Wir könnten damit das Leben des ganzen Stammes gefährden."
Haken lachte: "Wegen was?! Nur weil wir uns hier aufhalten?"
"Eben darum. Mann braucht nur unseren Spuren zu folgen, welche nicht zu übersehen sind."
"Oh Valoa. Warum bist du nur immer so ängstlich? Was interessiert dich der Stamm? Du und ich sind etwas besonderes. Etwas anderes als die Anderen. Wir folgen nicht blindlings diesem Timmorn. Wir suchen unseren eigenen Weg."
"Du vielleicht. Ich nicht. Ich habe es satt, mir deine ständige Arroganz anzuhören. Warum hältst du dich für etwas besseres? Im Gegenteil, du bist Nichts. Nur gemeinsam kann man ein Ziel erreichen. Haben wir nicht alle gemeinsam die Strapazen der Gefrorenen Berge gemeistert? Sind wir nicht gemeinsam den Menschen entkommen? Nur du musstest immer eine Extrarolle spielen. Hör endlich damit auf. Akzeptiere die Dinge wie sie sind. Auch du kannst sie nicht ändern."
Verärgert drehte sich Valoa um und ging in die Richtung ihres Stammes.
"Wo warst du?" schrie Aerth die junge Elfe an.
"Warum missachten du und dieser Wolfsdreck Haken immer die Gesetze unseres Stammes?"
"Ach, lass mich doch in Ruhe. Du hast auch immer an allem was auszusetzen. Du..."
"Hört auf ihr zwei."
Sefra war zwischen die zwei Streitenden getreten.
"Du, Aerth, hör endlich auf, jedem deine schlechte Laune aufzuhängen. Und Valoa, bring Haken endlich bei, wie er sich zu verhalten hat. Er kann hier nicht einfach rumspazieren wie er mag. Du weißt was Timmorn gesagt hat."
"Ja ich weiß."
Geräusche waren zu hören.
Sofort verstummte jedes Gespräch und einige Elfen griffen zu ihren Waffen.
Ein Strauch bewegte sich und vor ihnen stand Timmorn, der gewählte Anführer der kleinen Gruppe. Eine kleine Zornesfalte war in seinem pelzigen Gesicht zu "Erkennen".
"Was soll der Lärm? Man kann euch ja noch bis zu den Bergen hören. Und wo ist Haken?"
Die Betroffenen senkten den Kopf.
Ja, sie kannten die Regeln. Nichts und niemand durfte auf sie aufmerksam werden, solange sie sich in dieser Gegend befanden. Außer den Jägern durfte kein Stammesmitglied den Aufenthaltsort verlassen. So hatte es Timmorn Gelbauge, der Sohn von Timmain und eines Wolfes, befohlen. Und alle hielten sich daran. Bis auf Haken, den Unruhestifter der Gruppe. Wo immer er konnte, ergriff er die Gelegenheit, sich mit dem Anführer anzulegen und ihn herauszufordern. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass es noch nicht zum Kampf gekommen war.
Da Timmorn keine Antwort auf seine Frage bekam, drehte er sich um und gab den drei Jägern ein Zeichen, worauf sie die erlegte Beute brachten. Es war ein gewaltiges, hirschartiges Tier mit einem mächtigen Geweih. Vorsichtig legten sie es zu Boden.
Bevor sie sich ans Essen machten, gebot Timmorn:
"Macht kein Feuer. Der Rauch könnte uns verraten."
Einige Stammesmitglieder stöhnten. Sie, als Elfen, waren es gewöhnt, gebratene Nahrung zu essen. Nur Timmorn und ein, zwei andere aßen das blutige, rohe Fleisch. Sefra meinte zu Valoa gebeugt:
"Also kann es sein, dass wir heute wieder deine Hilfe brauchen, Heilerin."
Die Angesprochene kicherte. Während Timmorn die Jagdbeute aufteilte ging Valoa zu ihrer Seelenschwester hinüber und ließ sich neben dieser zu Boden sinken. Sarima, so war deren Name, war die Tochter Timmains und somit das erste Kind der Elfen, welches auf diesem Planeten geboren wurde. Beide Elfen sahen sich an und grinsten. Sie wussten, was jetzt kommen würde. Da keiner so scharfe Reißzähne wie Timmorn besaß, war es eine Kunst, das Fleisch mundgerecht zu zerlegen.
Sarima stupste ihre Seelenschwester an, um ihr zu zeigen, wie sie das Fleisch zerlegte. Sie nahm es in die Hand, und versuchte, es auseinander zu reißen. Plötzlich fluchte sie und betrachtete eingehend ihre Hand. Ein Fingernagel war ihr dabei abgebrochen. Valoa konnte sich nicht mehr an sich halten und sie fing das Lachen an.
Timmorn zischte: "Wenn du weiter so schreist, wird bald das ganze Menschendorf hier sein. Also sei endlich ruhig."
Er erntete dafür aber nur einen bösen Blick von der jungen Heilerin.
Durch Zufall trafen sich beide Augenpaare.
Und beide Erkannten einander.
Timmorn war aufgesprungen.
*Murrel?*
Bei der Nennung ihres Seelennamen zuckte Valoa zusammen. Sie sprang ebenfalls auf und musste ihre ganze Magie einsetzen, um sich von den goldenen Augen loszureißen. Entsetzt sah sie Timmorn an, drehte sich dann rum, und verschwand im Wald. Der Wolfshäuptling musste sich zusammenreißen, um ihr nicht nachzurennen. Der ganze Stamm starrte ihn an.
Aerth, der zweite Heiler des Stammes, trat auf ihn zu. "Alles in Ordnung? Was ist geschehen?"
Timmorn knurrte nur. Er konnte sich auch nicht erklären, was geschehen war. Valoa war bis jetzt nur ein Mitglied seines Stammes gewesen. Und nun erschien es ihm, als wäre sie plötzlich ein Teil von ihm geworden.
Valoa rannte und rannte.
Sie keuchte und Schweißtropfen rannen über ihr Gesicht.
Sie hatte Angst.
Panische Angst.
Woher nur kannte Timmorn ihren Seelennamen. Nicht einmal Haken, der sie großgezogen hatte, kannte ihn. Dieser Name war alles was sie hatte, alles was sie war. Und dieser Wolfshäuptling kannte ihn auf einmal.
Woher nur, woher?? Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während sie weiterhin blindlings durch den Wald hastete. Sie stolperte über eine Baumwurzel, stürzte, und blieb einfach am Boden liegen.
Sie lauschte. Nur die Vögel und der Wind waren zu hören. Niemand verfolgte sie. Obwohl das nicht viel zu heißen hatte. Denn Wölfe bewegten sich lautlos...
Nachdem Valoa eine Weile auf dem feuchten Waldboden gelegen hatte, raffte sie sich schließlich wieder auf.
Vorsichtig drehte sie ihren Kopf in alle Richtungen. Aber noch immer war nichts zu sehen, geschweige denn zu hören. Ihr kam es so vor, als wäre sie eben erst aus einem Alptraum erwacht.
Und noch immer steckte ihr dessen Schreck in den Gliedern. *Murrel. Hilf uns, Heilerin.*
Wieder wurde ihr Seelenname gesendet. Aber diesmal war es ihre Seelenschwester. Valoa zögerte kurz, drehte sich dann aber um, und rannte in die Richtung ihres Stammes zurück.
Es war ein grausiges Bild, was sich da an dem Lagerplatz der Elfen abspielte.
Blut, überall war Blut.
Und Menschen.
Die Elfen kämpften mit allem, was sie hatten. Obwohl es Valoa bei dem Anblick dieser Grausamkeit beinahe übel wurde, zog sie ihr Messer und kam ihren Stammesgefährten zu Hilfe. Kaslen, die Pflanzenformerin, brachte einen Teil des Stammes in Sicherheit.
Der andere Teil blieb und kämpfte. Ein Speer traf die junge Heilerin an der rechten Seite. Sie taumelte kurz. Sie legte ihre Hand auf die Wunde und zog den Speer heraus. Zeit um sich zu heilen hatte sie nicht. Es waren nur noch wenige Menschen am Leben. Die anderen lagen in ihrem eigenen Blut. Auch drei Elfen hatte es erwischt.
Oraya, eine der Erstgekommenen, und die zwei Kinder Timmorn Gelbauges. Valoa wurde bewusst, dass sie die einzige war, die noch gegen die Menschen kämpfte. Die anderen hatten sich längst in Sicherheit gebracht.
Auch sie ließ nun von den Menschen ab und lief davon, aber in eine andere Richtung als ihre Stammesgefährten. Sie wollte sie nicht in Gefahr bringen.
Die Wunde an ihrer rechten Hüfte schmerzte.
Ohne darauf zu achten, lief Valoa weiter. Sie hörte die aufgeregten und wütenden Schreie der Menschen hinter sich. Einige von ihnen versuchten offenbar, der verletzten Elfe zu folgen.
Aber als sie merkten, dass ihre Beute immer tiefer in den Wald hineinlief, ließen sie ab. Ihre abergläubische Angst hatte Valoa das Leben gerettet.
Tränen liefen über das Gesicht der Heilerin. Mit letzter Kraft ging sie auf den Fluss zu, welcher an dieser Stelle durch den Wald floss. Dann brach sie zusammen.
Sie wusste nicht, wie lange sie da am Ufer des Flusses gelegen hatte.
Mühselig raffte sie sich auf. In der Ferne hörte sie das Rufen der Wölfe, welche ihre Stammesgenossen zusammenriefen. Sicherlich waren die anderen Elfen auch dort. Valoa blickte sich suchend um. Hier am Flussufer konnte und wollte sie nicht bleiben. Aber sie erinnerte sich daran, dass es in der Nähe, weiter flussaufwärts eine Höhle gab, welche hinter einem Wasserfall lag.
Valoa wusste nicht, wie lange sie dazu gebraucht hatte, um die Höhle zu erreichen. Wasser, vermischt mit Blut, rann über ihren Körper. Sie ging zum Ende der Höhle und ließ sich dann langsam zu Boden gleiten.
*Valoa, Geliebte*
Valoa schreckte auf. Es war Hakens Senden, welches sie da erreichte.
*Valoa, wo bist du? Komm mit mir zum Palast. Die Menschen sind abgelenkt.*
*Wieso, Haken? Woher wusstest du von dem Angriff der Menschen?*
*Ich habe etwas nachgeholfen. Sind diese Wilden etwa bis zum Lagerplatz gelangt? Dann tut es mir leid, ich wollte sie nur auf Timmorns Spuren bringen*
Plötzlich fiel es Valoa wie Schuppen von den Augen. Sie hatte sich schon die ganze Zeit gefragt, wie es die Menschen geschafft hatten, den Aufenthaltsort des Stammes zu finden. Aber nun hatte sie des Rätsels Lösung: Haken.
Zwar hatte er die anderen Elfen immer verachtet, weil sie Timmorn Gelbauge folgten, aber dass er zu einer solchen Tat in Lage war, hätte sie ihm niemals zugetraut. Sie blockte mit ihren Kräften ein erneutes Senden von ihm ab. Dann brach sie zusammen.
Die Ereignisse der vergangenen Stunden und ihre Wunde waren zu viel für sie gewesen. Und Hakens Geständnis hatten ihr dann ganz den Rest gegeben.
Valoa lag auf dem Rücken und starrte die Höhlendecke an. Sie fragte sich, welchen Sinn das Leben für sie noch hatte. Haken hatte sie verlassen, und dem Rest des Stammes war sie doch sowieso egal.
Keiner von denen brauchte einen zweiten Heiler. Mit langsamen Bewegungen nahm sie ihr kurzes Messer in die Hand und betrachtete es ausgiebig. Sie würde nicht viel brauchen. Die Wunde musste nur etwas größer gemacht werden und dann...
Sie zögerte kurz. Aber dann nahm sie das Messer und stieß es tief in die bereits verkrustete Wunde. Diese brach erneut auf, und ein großer Strahl Blut quoll heraus. Das Messer, welches sie noch in der Hand hielt, entglitt ihr und fiel zu Boden.
Langsam verebbte der pochende Schmerz. Alles um sie herum wurde auf einmal schwarz. Valoa kam es so vor, als schwebe sie. Sie fühlte, wie ihre Seele langsam ihren Körper verließ. Der Palast, das Heim ihrer Vorfahren, rief nach ihr.
Und sie folgte seinem Ruf. Ihr Geist war mit Sehnsucht und Verlangen erfüllt. Aber da war noch etwas, etwas, was es hier nicht geben konnte: Schmerz. Sie wusste nicht, woher er kam. Sie hatte ihren Körper verlassen, aber der Schmerz war nicht körperlicher Natur, sondern er brannte tief in ihrer Seele.
Immer und immer wieder erklang ein fremder, doch seltsam vertrauter Name in ihr auf. Je näher sie dem Palast kam, um so intensiver wurde der Schmerz. Valoa öffnete ihren Mund zu einem lautlosen Schrei.
Aber niemand kam ihr zu Hilfe oder hörte sie. Sie merkte, dass sie nicht weiter konnte: Ihr Seelenname wurde gesendet, es hielt ihre Seele vom Palast fern. Sie krümmte sich wie unter Schmerzen.
Verzweifelt versuchte sie, dem kristallenen Licht des Palastes näherzukommen, aber eine unüberwindbare Schranke aus Magie baute sich auf. Der Palast verweigerte ihr den Zutritt.
Ihr blieb also nur noch der Weg zurück. Aber sie wollte nicht. Sie hatte genug Schmerz und Elend gesehen. Sie hasste diese grausame Welt, welche ihr Vater und Mutter geraubt hatte. Immer und immer wieder versuchte sie, vorwärtszukommen, und immer war diese Blockade im Weg. Mit all ihren magischen Kräften versuchte sie, den Palast zu erreichen. Aber sie schaffte es nicht...
Sie wusste nicht, wie lange sie sich schon in der Überwelt befand. Einige Male war ihr Seelenname gesendet worden.
Aber sie hatte es geschafft, dem eindringlichen Ruf des Senders zu widerstehen. Allerdings wusste sie nicht, wie lange sie das noch konnte. Ihre Kräfte waren bereits am Ende.
*Valoa*
Die Angesprochene hob verwundert ihren Kopf. Vor ihr stand Orolin, der ehemalige Hüter und Meister des Palastes. Sein Körper war während der Landung auf der Welt der Zwei Monde zerstört worden. Aber Orolin war auch der Großvater von Valoa. Ihre Mutter, seine Tochter, war noch auf dem alten Heimatplaneten zur Welt gekommen. Es war schon so lange her, dass es für niemanden mehr eine Rolle spielte. Aber Valoa hatte ihre Kräfte von Orolin geerbt. Außer ihren Heilkräften besaß sie noch die Fähigkeit, geistigen Kontakt mit dem Palast aufzunehmen.
*Orolin?! Was möchtest du von mir?*
*Valoa, du kannst nicht hier bleiben.*
Verwundert sah die Elfe ihren Großvater an: *Aber warum nicht? Ich verstehe nicht, was du damit meinst? Warum verweigert mir der Palast den Zutritt? Warum??*
Orolin legte seine Hand auf die Schulter seiner Enkeltochter. Er sah sie ernst an: *Du hast eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Glaube mir mein Kind, es wäre eine Qual für euch beide, bliebe es unerfüllt. Kehre zurück. Es gibt zu wenige unserer Art. Viele mussten bereits ihr Leben lassen. Erkenntnis ist etwas wunderbares, es verspricht neues Leben. Lange war "Erkennen" vergessen worden. Aber jetzt ist es erneut erwacht. Und zwar zwischen dir und Timmains Sohn.*
Orolin sah, wie Valoa mit sich kämpfte.
*Orolin; er ist nur zur Hälfte von unserer Art.**
Ich verstehe deine Verzweiflung, Heilerin. Aber "Erkennen" kann man sich nun einmal nicht aussuchen. Niemand kann das. Auch kann man es nicht erzwingen. Du hast recht, Timmorn gehört nur zur Hälfte zu uns. Er ist den Wölfen viel ähnlicher, als wir es je sein werden. Aber genau deshalb darfst du dein "Erkennen" nicht verleugnen. Denn Timmains Sohn ist der einzige seiner Art. Und die Kinder, die er bis jetzt hatte, sind uns viel ähnlicher als ihm. Ändere das, Valoa. Nur du kannst Timmorn die Kinder schenken, die sein Stamm braucht. Timmain hat es uns vorgemacht. Sie wurde zu einem Teil dieser Welt. Sorge dafür, dass es auch deine Kinder werden. Es ist die einzige Möglichkeit, um auf dieser Welt Überleben zu können.*
Orolin sah Valoa eine ganze Zeitlang an. Er sah, wie sie mit sich kämpfte. Wohlweislich hatte er ihr verschwiegen, dass er hinter der magischen Sperre steckte.
Sein Geist hatte einst hilflos mit ansehen müssen, wie seine Freunde durch die Hände der Menschen fielen. Er wusste, dass die einzige Überlebenschance seiner Art darin bestand, sich an diesen fremden Planeten anzupassen. Zu einem Teil von ihm zu werden. Da Valoa seit ihrer "Erkenntnis" immer wieder Kraft aus dem Palast gesogen hatte, war es ihm, dem ehemaligen Meister des Palastes, nicht entgangen, was geschehen war. Er wusste nicht genau, welche Folgen es haben könnte, wenn man noch weiter Elfenblut mit Wolfsblut mischen würde.
Aber er sah eine Möglichkeit darin, seine Art vor dem Aussterben zu bewahren. Er seufzte. Noch immer kämpfte Valoa mit sich selber. Ihr Kopf war gesenkt und ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
*Wenn du es immer noch willst, Valoa: Der Weg in den Palast steht dir offen.*
Orolins Geist wandte sich ab.
Valoa eilte ihm nach und hielt ihn am Arm fest.
*Nein, Orolin. Ich werde nicht vor meiner Aufgabe davonlaufen. Ich werde zurückkehren.*
Der Ältere lächelte. *Ich bin stolz auf dich, mein Kind.*
Das kristallene Licht des Palastes leuchtete in der Ferne auf, und wurde immer intensiver.
Es hüllte beide Elfen ein...
Vögel zwitscherten und die Sonnenstrahlen kitzelten Valoa an der Nasenspitze. Langsam öffnete sie ihre Augen und setzte sich auf.
Sie lag auf Moos gebettet und mit Fellen zugedeckt vor einem mächtigen Baum. Aerth und Sarima knieten neben ihr, während der Rest des Stammes schläfrig im Schatten der Bäume vor sich hin döste. Nur von Timmorn, Rellah und einigen anderen Jägern war nichts zu sehen. Ihre Seelenschwester hatte bemerkt, dass sie erwacht war, und fiel ihr um den Hals.
"Es ist schön, dass du wieder unter den Lebenden weilst, Schwester. Wir glaubten schon, wir hätten dich für ewig verloren. Tu so etwas nie wieder, hörst du."
"Nein, werde ich nicht. Aber jetzt lass mich bitte wieder los. Du erdrückst mich ja halb."
Beide fingen das Lachen an. Sarima wollte etwas sagen, aber Aerth unterbrach sie: "Es stimmt, Valoa. Als wir dich fanden, warst du dem Tod schon sehr nahe. Nur mit Mühe konnte ich deinen Körper heilen. Deine Seele hatte ihn bereits verlassen, und wollte nicht zurückkehren."
Valoa senkte ihren Blick. "Ja, das stimmt. Aber ich danke dir, Heiler, dass du mir das Leben gerettet hast." Sie wollte noch mehr sagen, aber unterließ es dann. Sarima nahm ihre Hand und zog sie hoch. Die anderen Stammesmitglieder waren herbeigeeilt und begrüßten sie. Sefra trat auf sie zu, und drückte Valoa an sich.
"Willkommen unter den Lebenden."
"Ich danke dir." Tränen standen der Heilerin in den Augen, als sie sah, wie sehr sich der Stamm um sie gesorgt hatte. Sarima wurde ungeduldig, und so zog sie Valoa erneut mit sich fort.
Dem Rest des Stammes rief sie zu: "Keine Sorge. Ich werde schon auf sie Acht geben."
"Wohin führst du mich?"
"Du wirst schon sehen."
Die beiden Elfen verließen den Lagerplatz, welcher sich wieder auf einer Lichtung befand, und liefen in den Wald hinein.
"Oh, es ist wunderschön."
Valoa stand vor einer wahren Blütenpracht.
Wohin sie auch schaute, überall war der Waldboden von gelben und blauen Blumen bedeckt. Einige Schmetterlinge umtanzten diese.
"Nicht wahr. Ich habe diesen Platz erst selber neulich entdeckt. Ich dachte mir doch, dass es dir gefallen wird. Die ganze Zeit über, in der du bewusstlos warst, und keiner von uns wusste ob du jemals wieder erwachen würdest, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dir dies einmal zeigen zu können."
Valoa antwortete nicht, sondern kniete nieder und roch an einer kleinen, gelben Blume. Sie roch süßlich.
Langsam hob sie ihren Kopf und sah ihre Seelenschwester an. "Warum hast du mich weggezogen. Dies hier ist doch nicht der eigentliche Grund."
Sarima ließ sich auf den weichen Waldboden nieder. Sie erwiderte Valoa's Blick.
*Ja, du hast recht. Ich wollte mit dir alleine sein. Ich weiß, dass du eine Menge Fragen hast. Und ich werde sie dir beantworten, wenn du es möchtest. Aber ich möchte auch dich etwas fragen. Und das wollte ich nicht vor den anderen tun. Also, fang du an. Was möchtest du wissen?*
Valoa sah nachdenklich einem Schmetterling nach, der trunken in der Luft herumtaumelte. *Wo war Timmorn bei dem Angriff der Menschen. ich habe ihn damals nicht gesehen?*
*Kurz nachdem du weg warst, witterte er Gefahr, und ging los, um zu erkunden, was es ist. Kurz nachdem er verschwunden war griffen die Menschen uns an. Timmorn war schon zu weit weg, um uns zu Hilfe zu kommen. Ich wusste nicht, wo du warst, hoffte aber, dass wenigstens dich mein Senden erreichen könnte. Es tut mir leid, dass ich einfach davon rannte, ohne darauf zu achten, was mit dir sei. Ich wollte es, aber es war mir unmöglich, die Menschen, die mich verfolgten, abzuschütteln. Und als ich es doch geschafft hatte und zurückkehrte, warst du schon weg. Oh, ich habe mir wirklich große Sorgen um dich gemacht. Ich habe dich ein paar mal bei deinem Seelennamen gerufen, aber du hast mein Senden nicht beantwortet. Ich dachte schon du wärst... du wärst...*
Valoa nahm Sarima in die Arme. Eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Dann löste sich Sarima von der Heilerin und fuhr fort.
*Nach einer Weile versammelte sich der Stamm wieder und Timmorn stieß zu uns. Sein Fell war blutverkrustet. Er musste ganz schön unter den Menschen gewütet haben. Irgend etwas ging mit ihm vor. Es schien beinahe so, als wäre er nicht er selbst. Das erste was er machte, war, nach dir zu fragen. Natürlich wusste keiner, was mit dir geschehen war.
Timmorn machte sich daraufhin auf die Suche nach dir. Aerth und ich begleiteten ihn. Du ahnst gar nicht, wo wir dich überall gesucht haben. Timmorn wagte sich sogar bis ins Lager der Menschen vor. Aber die waren viel zu sehr mit ihren eigenen Toten und Verletzten beschäftigt, als dass sie irgendeinen Gedanken an uns verschwendet hätten. Sie hatten ja nicht einmal unsere Waffen mitgenommen. Wir suchten auch rund ums Lager.
Es dauerte lange, bis Timmorn eine Spur gewittert hatte. Allerdings endete sie am Flussufer. Dort blieb Timmorn auch stehen, und... und sendete deinen Seelennamen... Ich weiß nicht, woher er ihn kennt. Nachdem ich mich von meinem Schrecken erholt hatte, verband ich meine Gedanken mit seinen, und sendete ebenfalls zu dir. Aber das einzige was wir als Antwort bekamen, war eisige Stille. Ich konnte sehen, wie durch Timmorns Körper ein Zittern ging. Aerth musste ihn stützen, sonst wäre er zusammengebrochen.
Mir fiel die Höhle hinter dem Wasserfall ein. Es wäre ja möglich gewesen, dass du dich dort befindest. Nachdem sich mein Bruder wieder etwas erholt hatte, machten wir uns auf den Weg dorthin.
Und dort fanden wir dich auch. Es war ein grauenhafter Anblick, der sich uns bot. Dein Körper lag am hinteren Ende der Höhle, umgeben von einer Lache aus Blut. Timmorn war als erster an deiner Seite. Er hat deinen Kopf auf sein Schoß gelegt und immer wieder deinen Namen gesendet. Er schien ganz verzweifelt zu sein. Aerth untersuchte deine Wunden. Er konnte nur die tiefen Verletzungen heilen. Mit vereinten Kräften haben wir dich dann zum Stamm zurückgebracht. Aus Angst vor den Menschen sind wir dann weitergezogen. Es hat einen ganzen Mondwechsel gedauert, bis wir diesen Lagerplatz gefunden haben. Die Reise war anstrengend, aber es hat sich gelohnt. Nirgendwo sind Anzeichen für Menschen zu erkennen. Vielleicht wird es uns hier endlich gelingen, Frieden zu finden...
Aber jetzt beantworte mir meine Frage: Warum wolltest du nicht zu uns zurückkehren? Ich habe gespürt, dass sich deine Seele geweigert hat, ins Leben zurückzukommen.*
Valoa seufzte. Vor Sarima blieb wirklich nichts verborgen. *Es tut mir leid, ich kann jetzt noch nicht darüber sprechen. Eines Tages, vielleicht.*
*Du wirst schon deine Gründe haben, wenn du es nicht erzählen willst. Ich werde dich auch nicht weiter drängen. Eins solltest du aber noch wissen: Egal was ist oder was auch kommen mag. Ich werde dir immer zur Seite stehen.*
*Vielen Dank, Sarima. Du bist die einzige, die mich wirklich versteht. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde.*
Sarima sprang auf ihre Füße und zog Valoa ebenfalls hoch.
Scherzhaft meinte sie: "Hm, ich versuche mir erst gar nicht auszumalen, was du ohne mich machen würdest.
Aber jetzt komm, lass uns zurückkehren. Ich habe riesengroßen Hunger."
Beide kehrten zum Lagerplatz zurück.Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, und die Jäger waren zurückgekehrt. In der Mitte der Lichtung lag ein riesengroßer Hirsch, welchen sie erlegt hatten. Der Stamm hatte sich bereits darum versammelt. Da es hier genügend Wild gab, konnte sich jeder nehmen, was er brauchte. Niemand brauchte Hunger leiden.
Timmorn stand abseits, an den Baum gelehnt, unter welchem zuvor Valoa geschlafen hatte. Er sah dem ganzen Schauspiel gelassen zu. Da er sich bereits während der Jagd gestärkt hatte, verspürte er im Moment keinen Hunger. Im Schein des in der Nähe brennenden Lagerfeuers wirkte seine Gestalt bedrohlich.
Als Valoa in seine Richtung sah, schlug ihr Herz schneller. Wieder erklang sein Name tief in ihr. Es fiel ihr schwer, den Blick von ihm zu lösen und sich auf das Essen zu konzentrieren. "Was ist Valoa, schmeckt dir das Essen nicht?"
"Doch, Sarima, ich überlege mir nur gerade, ob ich es auch runterbringe."
Beide kicherten. Plötzlich ließ sie ein Schrei herumfahren. Aerth war auf Timmorn zugeeilt, der am Boden kniete. Irgend etwas fehlte ihm. "Timmorn, was ist mit dir?"
Sarima war ebenfalls auf ihren Halbbruder zugestürzt. Dieser knurrte nur, und versuchte, Aerths Hände wegzustoßen. Er schien aber sehr schwach zu sein, denn es gelang ihm nicht.
Aerth berührte Timmorn und sog scharf die Luft ein.
Langsam und nachdenklich stand der Heiler wieder auf und half seinem Häuptling ebenfalls auf die Beine. "Es ist seltsam, aber ich konnte keinerlei Anzeichen für eine Krankheit oder Verwundung erkennen. Ich weiß wirklich nicht, was mit dir in letzter Zeit los ist."
Timmorn knurrte: "Mir geht es bestens."
Mit diesen Worten stieß er Aerth beiseite und verschwand im Wald.
*Valoa, kann ich dich bitte einmal kurz sprechen?*
Die Angesprochene sah in Aerths angespanntes Gesicht und nickte. Der Heiler zog sie zum Rand der Lichtung. Beide ließen sich auf dem Waldboden nieder.
Abwartend sah Valoa Aerth an. Dieser erwiderte nur kurz ihren Blick, und sah dann nachdenklich zu Boden.
*Valoa. Auch du besitzt Heilkräfte, und daher wirst du mich verstehen.
Als ich Timmorn berührte, spürte ich einen großen Schmerz in ihm. Er war nicht körperlicher Natur.
Ich weiß nicht, was es ist, und was ich tun soll. Um ihn zu heilen, brauche ich wahrscheinlich deine Hilfe. So kann es auf jeden Fall nicht weitergehen. Seit dem Kampf mit den Menschen benimmt er sich so eigenartig. Er isst kaum und wird immer schwächer.*
Valoa wandte ihren Kopf zur Seite. Sie kannte die wirkliche Ursache für Timmorns Schmerz.
*Wirst du mir helfen, Valoa?*
*Nein, ich kann dir nicht helfen.* Erstaunt sah der Heiler die Elfe an.
Diese blickte ihm nun wieder direkt in die Augen. Sie konnte sehen, wie er seine Augenbrauen hochzog.
Bevor er ein Wort sagen konnte, fuhr Valoa fort.
*Das Problem, welches Timmorn hat, betrifft auch mich. Ich weiß nicht, wie lange meine Kräfte mir noch helfen können. Nur ich kann es beenden...*
*Was meinst du damit?*
*Weißt du, was "Erkennen" ist?*
Aerth fuhr hoch. Vor Schreck musste er sich dabei an einen Baum anlehnen.
*"Erkennen"? Ich müsste dich wohl eigentlich fragen, woher du es kennst. Es ist lange her, seitdem es vorgekommen ist. So lange, dass ich es beinahe schon vergessen hatte. Du meinst doch nicht, dass du und Timmorn... dass ihr euch... Erkannt habt??*
Valoa stand ebenfalls auf und sah Aerth ins Gesicht. *Doch Aerth, so ist es. Ich wusste selber nicht, was es ist. Aber Orolin hat es mir erzählt.*
*Orolin? Dann hat er dir sicher auch erzählt, was es für Folgen haben kann, wenn es unerfüllt bleibt?! - Oh Valoa, ich kann es kaum fassen.
"Erkennen" bedeutet neues Leben. Die anderen werden sich freuen, wenn sie erfahren, dass die alte Gabe wieder erwacht ist.*
*Ja, das werden sie sicher. Tu was du nicht lassen kannst, ich werde etwas anderes erledigen.* Aerth legte Valoa eine Hand auf ihre rechte Schulter. Ernst sah er sie an.
*Mein Kind. Es ist das erste Mal, seit dem wir diesen Planeten betreten haben, dass "Erkennen" auftritt.
Folge seinem Ruf, und verleugne es nicht länger. Es wäre nur eine Qual für euch beide.* Valoa grinste.
*Du hörst dich schon wie Orolin an. Keine Sorge, ich weiß, was ich zu tun habe.*
*Du weißt aber auch, welchen Preis Timmorn für sein Blut zahlen muss! Deine Kinder werden diesem Weg ebenfalls folgen.*
*Ja, ich weiß es. Wie die Wölfe wird auch er eines Tages ein Teil dieser Welt. Aber genau das waren auch die Worte meines Großvaters: Er meinte, wir müssten uns anpassen. Und das ist ein Weg, wie wir es tun können.*
Valoa drehte sich um und ging in die Richtung, in welche Timmorn zuvor verschwunden war.
Es dauerte lange, bis sie ihn gefunden hatte. Er stand auf einem Felsplateau und starrte in die Nacht hinaus. Bis jetzt hatte er sie noch nicht beachtet.
"Tir."
Es war das erste Mal, dass Valoa seinen Seelennamen aussprach. Langsam drehte sich Timmorn um und sah sie mit seinen goldenen Augen intensiv an. Ihr Herz klopfte schneller. Langsam ging sie auf ihn zu.
Timmorn drehte seinen Körper zu ihr herum.
"Murrel."
Ein wohliger Schauer kroch Valoa über den Rücken, als sie den Klang ihres Seelennamen hörte. Timmorn streckte die Arme nach ihr aus und zog sie an sich. Langsam entspannte sie sich in seinen Armen.
Sie konnte seinen wilden, animalischen Geruch wahrnehmen.Das Mondlicht umflutete ihrer beider Körper. Es bedurfte keiner Worte, keines Sendens zwischen ihnen. In der Stille der Nacht folgten beide dem Ruf ihres Blutes. Sie stillten jenes Verlangen, das "Erkennen" in ihnen wachgerufen hatte.
In dem Tanz der Leidenschaft wurden ihre Seelen eins miteinander. Für beide war es, als hätten sie einen fehlenden Teil ihrerselbst gefunden...
Bevor sie erschöpft einschliefen, flüsterte Timmorn: "Murrel, du wirst die Mutter meiner Kinder sein. Bleibe als meine Gefährtin bei mir."
Valoa murmelte schlaftrunken:
"Das werde ich Geliebter."

WENN ZWEI AUGEN SICH SO FINDENUND ZWEI HERZEN SICH VERBINDENWENN ZWEI SEELEN SICH BEIM NAMEN NENNEN,ERWACHT DIE LIEBE IM ERKENNEN

Impressum

Texte: Shariyma
Bildmaterialien: Shariyma
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /