Mein Tagebuch 28.04.11
Ich beginne dieses Tagebuch, weil ich etwas loswerden will. Weil ich am 25. Juni, an meinem Diplom zurückblicken werde und sehen werde, was ich bis dorthin alles erreicht habe – und was ich vermasselt habe.
Mein Name ist Emily, ich bin achtzehn Jahre alt und ich weiss nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Meine Eltern sind seit meinem elften Lebensjahr geschieden und seit dem Zeitpunkt fing mein Leben an, in eine sehr merkwürdige, emotionelle Dauerphase zu geraten. Aber fangen wir von vorne an.
Vergangenheit
Ich hatte nie eine gute Beziehung zu meinem Vater. Ich kannte ihn kaum. Ich weiss noch, als ich einmal bei ihm in der Küche sass und ein braunes Stückchen Etwas auf dem Tisch liegen sah. Ich nahm es in die Hand und fragte ihn, ob ich das Stück essen könne. Da wurde er überraschend zornig und schrie mich an, ich solle das Stückchen zurücklegen. Später kam ich drauf, dass es irgendeine Art Droge war. Ich kenn mich nicht aus mit Sachen Drogen, darum kann ich immer noch nicht genau beurteilen, was es war. Auf jeden Fall habe ich nie in meinem Leben gesehen, wie sich meine Eltern auch nur ein Mal nah kamen. Für mich war das normal. Ich wurde damit gross. Für mich war es aber wiederum komisch, die Eltern meiner Freunde zu sehen, die sich küssten.
Eines Nachts hörte ich ein lautes Geräusch vor meinem Zimmer. Schwere Dinge wurden die Treppe hinuntergeschleppt. Dies ging ein paar Minuten, dann war Ruhe.
Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück kam, hörte ich, dass mein Vater weg war. Das überraschte mich nicht, denn er war fast nie zu Hause. Er hatte viele Spätschichten und kam am Abend entweder spät oder gar nicht nach Hause. Doch mit der Zeit und dem vielen Heulen und Schreien meiner Mutter bemerkte ich, dass Papa so schnell nicht zurückkommen würde und noch ein wenig später kam heraus, dass seine Spätschichten das *ihrwisstschon* mit einer deutschen Blondine gewesen waren. Ich wusste nicht damit umzugehen. Tagsüber ging ich zur Schule, sass meistens geistesabwesend da und abends kam ich nach Hause und verkroch mich in mein Zimmer, um den Streit zwischen meiner Mutter und meiner Schwester nicht mitzubekommen.
Ich wusste nicht, was ich alleine im Zimmer tun sollte, deswegen lief ich eines Tages die Treppe hoch und setzte mich vor unseren Computer. Da entdeckte ich das Internet.
Ich flüchtete mich in Fantasien, Online-Spiele, lernte „Freunde“ kennen und so verging die Zeit. Die Ferien waren meine grössten Sorgen. Meine Schwester zog nämlich mit sechzehn aus, da sie sich nicht mehr mit meiner Mutter vertrug. Ich war den ganzen Tag alleine zu Hause. Echte Freunde hatte ich keine zu dieser Zeit. Ich begann, um die sechzehn Stunden am Tag am PC zu verbringen und wusste nicht, warum ich eigentlich da war. Warum ich da war und niemand anders. Ich begann, aggressive Musik zu hören, den Schmerz meiner Mutter zu überhören, den sie jeden Abend aus sich herausschrie. Es tat so weh, sie so schreien zu hören. Es tat so weh, den ganzen Tag alleine zu sein. Doch komischerweise fühlte ich nicht, dass es wehtat. Ich war einfach da, abwesend, nicht wissend was ich mit mir anstellen sollte. Doch eines Tages entdeckte ich ein Mittel, das mich wieder fühlen liess. Mein Knie war als erstes dran. Langsame, dünne Linien zog ich durch meine Haut. Ich lehnte mich zurück und genoss den Moment des Schmerzes. Das liess mich lebendig werden. Durch meine Offenheit im Onlinechat lernte ich meinen ersten Freund kennen. Er war ein wenig pervers und das machte mir nichts aus. Wir telefonierten ein einhalb Jahre lang, bevor er mich zum ersten Mal besuchte. Was in dieser Woche geschah, als er bei mir war, darüber werde ich ein anders Mal sprechen. Ich habe nach knapp zwei Jahren bemerkt, dass diese Beziehung nicht das war, was ich eigentlich wollte. Also vegetierte ich ein Jahr lang im Internat vor mich her, bis es endlich einen Klick in mir machte. Ich begann dort zum ersten Mal, mich weiblicher zu kleiden, ein bis zwei mal im ersten Jahr der Handelsmittelschule, die ich besuchte, auszugehen. Als das Abschlussfest kam, trank ich zum ersten Mal Alkohol. Ich betrank mich so sehr, dass ich kotzen musste, aber es war der beste Abend, den ich je erlebt habe. Ich weiss noch, wie ich mit meiner Mitbewohnerin morgens um 06:30 Uhr vor dem Internat sass und wartete, bis sich die Türen wieder öffneten. Ich hatte zu dieser Zeit verschiedene Treffen mit Jungs, war hier und da einmal verliebt aber ich hatte keinen Freund mehr seit den zwei Jahren Fernbeziehung. Dann traf ich ihn. Den Mensch, der mein Leben von dort an drastisch.
Ich lernte ihn über meine beste Freundin kennen, doch während sie ihn immer mehr zu hassen schien, verlor ich mich in tiefe Gespräche über die Menschen, die Welt und Gedichte. Dieser Mensch war so sensibel, einfühlsam und der beste Schreiber, den ich je kennen gelernt habe. Wir trafen uns oft, unsere Freundschaft hielt ein halbes Jahr an, bis er mir eines Tages eingestand, dass er mich liebte. Ich wollte die Beziehung nicht eingehen, da beide wussten, er würde ein Jahr lang nach Amerika gehen, um Englisch zu lernen. Er wusste, dass ich nie eine zweite Fernbeziehung haben wollte. Doch er flehte mich an, die Beziehung mit ihm einzugehen. Und ich stimmte zu. Der darauffolgende Sommer war der schönste Sommer meines Lebens. Da ich heftige Streitereien mit meiner Mutter hatte, zog ich quasi zu ihm. Seine Eltern nahmen mich liebenswürdig auf und seine kleinere Schwester war sehr nett. Die Zeit verging schneller als gedacht und irgendwie verloren wir uns in der Liebe, was ich damals noch nicht begriff. Seine Abreise war bisher einer meiner grössten Verluste, den ich je hatte. Hier ein Eintrag, den ich an diesen Tagen verfasst habe:
Die Zeit nach der Abreise ab 25.08.2010
Es ist schwer, diejenige Person gehen zu lassen, auf die man am wenigsten verzichten kann, Ohne die man keinen erfüllten Tag hat. Doch wenn man diese Person wirklich liebt, muss man ihr die freie Entscheidung überlassen. Und dies habe ich getan. Ben lachte mich aus, als ich ihm ernsthaft erklärte, dass ich ihn nach dem Rückflug wirklich heiraten würde. Ich hätte es nicht anders erwartet. Denn nicht einmal der verständnisvollste Mensch auf der Erde würde diese Liebe und Leidenschaft zu ihm nachvollziehen können. Ich musste schlussendlich fast alle fünf Minuten die Zähne zusammenbeissen, damit ich den Kummer und den riesigen See an Tränen, der sich in mir verbarg, zurückhalten konnte. Ich wünschte zu sehr, dass er meine Liebe zu ihm begreifen würde. Aber nicht einmal ich tat es. So etwas Mächtiges hatte ich noch nie gespürt, und wenn ich ehrlich bin, machte es mir bereits am Anfang unserer Beziehung ein Wenig Angst.
Ich war so eifersüchtig, als ich die Nachrichten des Mädchens auf seiner Facebook-Seite sah. Ich war so wütend, dass ich sie am liebsten geschlagen hätte. Aus purer Eifersucht. Ich wusste nicht wohin damit und liess es dummerweise an Ben aus. Der grösste Fehler meines Lebens.
Wir begannen, im Skype zu schweigen, anstatt unsere Neuigkeiten auszutauschen. Denn nun war ein gewisser Abstand zwischen uns, mit dem niemand so richtig zu recht kam. Meine Eifersucht und Angst, ihn zu verlieren ging so weit, dass er anfing, mich zurückzuweisen. Diese Art von Zurückweisung hatte ich von ihm noch nie erlebt und war ein wenig verblüfft. So versuchte ich zumindest, weniger Nachrichten zu schreiben, was aber auch nicht so ganz klappte. Ich kam nicht mit den geringsten Problemen zurecht, da mir Ben bis jetzt immer aus der Patsche geholfen hatte. Und dann war noch der Gedanke, dass er sich in eine andere verlieben könnte.
Wir verbrachten in der Vergangenheit so viel Zeit, dass ich merkte, dass ich auf einmal ganz allein war. Die Freundinnen hatten mich längst abgeschrieben, die Schwester war von mir genervt und die Mutter konnte mich langsam auch nicht mehr anhören.
Dazu kam, dass mir die Gespräche fehlten. Ich versuchte, mit Menschen zu reden, um meine Gefühle auszudrücken. Jedoch interessierte sich niemand dafür.
Dann meldete er sich auf einmal. Er hätte das Gefühl, ich wäre, wie zum Anfang unserer Beziehung, wie eine beste Freundin für ihn.
Damit lebte ich eine Woche und kam gut zu recht damit, denn der Gedanke, wieder so eine Stütze für ihn darzustellen, machte mich glücklich. Er brauchte mich also doch auf irgendeine Weise. Wir könnten diese Monate als Freunde verbringen. Das würde ich gut aushalten.
Ich bemerkte, dass ich im Laufe unserer Beziehung zu abhängig, zu anhänglich geworden war. Ich war nun selbstbewusst und hatte meine Depressionen und Bauchprobleme bereits fast überwunden.
Dann, ungefähr zwei Monate nach seiner Abreise – drei Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag beendete er unsere Beziehung über Skype mit Worten, die ich nie hätte ahnen können. Diesen Eintrag habe ich zwei Tage danach verfasst.
Sonntag,10. Oktober 2010
Ich war bereits zu Anfang wütend, da er eine Stunde verschlafen hatte. Ich habe ihm direkt gesagt, ich hätte das Gefühl, dass er sich überhaupt nicht mehr für mich interessiere. Was ich aber nie richtig geglaubt habe. Ich wollte Klarheit, wissen, was er empfand.
Dann kam die Antwort, dass unsere letzten zwei Monate in der Schweiz beschissen waren und wir uns trennen sollten.
Ich war im Schock.
Meine Frage schoss wie aus einem Roboter:
„Liebst du mich noch?“
„Ich weiss es nicht“
In diesem Moment zerbrach eine Welt für mich. Ich klickte sein Fenster weg, liess mich kraftlos auf das Bett fallen und schrie meinen Schmerz so laut und so fest aus, bis meine Mutter geschockt zur Türe hineinstürzte.
Ben war immer für mich da gewesen, hielt mir die Hand hin, wenn es mir schlecht ging, sagte mir fast jeden Tag, er liebe mich über alles, ich hatte den Eindruck er war so von uns überzeugt gewesen, dass ich überhaupt nicht mit dieser Antwort gerechnet hatte.
Ich konnte nicht damit leben. Nicht eine winzige Sekunde lang.
Mir schwammen auf einmal so viele Bilder vor Augen:
Als wir eng umschlungen tanzten, als wir in meinem Internatszimmer „Morning Yearning“ hörten. Als wir uns in unserem Lieblingsrestaurant trafen und so viele Gemeinsamkeiten entdeckten. Als wir die Hefte austauschten und Neues übereinander erfuhren. Als wir uns in der ersten gemeinsamen Nacht näherkamen. Als ich die Beziehung nicht wollte und vor ihm weinen musste und er mich dann tröstete. Als ich ihm sagte, wir könnten es doch versuchen. Als er mir die Rose kaufte, als wir über „mein Problem“ sprachen, als wir über seine Gewohnheiten sprachen, als wir auf einem Strassenfest über unser Leben sprachen, die ganze Zeit war so harmonisch, ich könnte damit nicht aufhören.
Das war wir erlebt hatten, war so von Bedeutung. Ich habe seit dem Abflug jeden Tag an ihn gedacht. Jede Minute, jede Sekunde. Ich war einfach zu besessen von ihm.
Wohin ich ging, kamen die Erinnerungen hoch. Ich redete fast nur über ihn und unsere Beziehung. Ich sah mir jeden Abend dasselbe Video von uns an.
Die Nacht darauf konnte ich nicht ertragen. 3 Stunden Schlaf hinter mir, trafen wir uns wieder im Skype. Er wollte, dass wir alles „retten“, in dem wir neu anfangen. Meiner Meinung nach war dort nichts zu retten, es war für mich eine Krise, die es zu bewältigen galt. Nicht zu retten.
Er fing an, sich während des Gesprächs total zu ändern. Als ob er nun mein bester Kumpel wäre. Ich fragte mich dabei einfach nur: Wie kannst du nur so unsensibel sein?? Du hast gerade eben mit mir Schluss gemacht und für mich bricht eine Welt zusammen.
Seitdem habe ich eine Schnitte Brot und ein Joghurt gegessen. Ich musste mich bei der Praktikumsarbeit zusammenreissen, nicht zu weinen. Mein Gehirn sucht momentan alle Möglichkeiten für einen schmerzlosen Tod ab. Schlafpillen wären das Richtige. Eine Überdosis und ich würde ruhig entschlafen. Ich fühle mich allein, ich widere mich an, mein Körper, meine Depressionen, mein Egoismus, meine Abhängigkeit.
Ganz ehrlich: Ich möchte einfach sterben.
Nun, mein Problem ist folgendes
Ich sitze hier in meinem Zimmer, frage mich, was ich auf dieser Welt machen soll und heule mir die Seele aus dem Leib. In einem Monat schreibe ich mein Diplom, wofür ich noch kein bisschen gelernt habe. Fünf Monate lang genoss ich die Liebe meines Lebens. Sechs Monate leide ich seither unter den Folgen deren Endes. Und nie werde ich aufhören, ihn zu lieben.
Ich weiss, diese Geschichte klingt belanglos, aber was ich für ihn fühle, werde ich auf kein Stück Papier bringen können. Ich versuche aber, meine Gefühle in sehr emotionalen Momenten wie z.B. in meinen Einträgen niederzuschreiben.
Was ich tun soll, damit der Schmerz aufhört? Kann mir jemand sagen, was der Sinn meines Lebens sein soll, wenn ich immer darauf beruht habe, dass seine Liebe zu mir der Sinn war?
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2011
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