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Prolog





Wickedshire, England AD 1871


Unaufhörlich prasselte der Regen auf die Erde nieder, um diese von Leid und Dreck zu säubern. Bleigraue riesige Wolkengebilde tummelten sich am Himmel und machten es der Sonne schwer, auch nur einen einzigen Sonnenstrahl gen Boden zu schicken. Ein eisiger Wind blies erbarmungslos über das Land, heulte und pfiff in den Ritzen der spärlich gebauten Häuser, welche jeden Moment zusammen zu fallen drohten.
So ein hundsmiserables Wetter verleitete manche Menschen schon zum Rückzug hinter den warmen Ofen. Nicht aber Lucio M. Fist. Er hatte nicht vor sich zurückzuziehen bis er seine Beute gefunden hatte und es würde nicht mehr lange dauern, wenn man bedachte was sich da gerade vor ihm aufbaute. „Jesus, Maria und Josef!“ keuchte er und machte ein Kreuzzeichen vor seiner Brust, bevor er seinen breitkrempigen Hut abnahm und ihm damit das Wasser nur so auf den Kopf prasselte.
Doch der Anblick vor seinen Augen war so fürchterlich, dass es ihn nicht einmal störte, als ein paar der Regentropfen sich in seinen Kragen verirrten und ihm über den Rücken liefen. Er hatte ja schon einige abscheuliche Dinge gesehen, doch das hier war eindeutig die Krönung!

Dutzende Leichen in verschiedenen Verwesungsgraden lagen aufeinander geschichtet zu einem riesigen grotesken Berg zusammen. Ihre Augen weit aufgerissen, die Münder teils voller Maden und überall das getrocknete dunkelrote ja fast schwarze Blut, jagten ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken.
Krähen scharten sich um die Leichen und bohrten ihre Krallen in die aufgedunsenen Leiber, während sie nach den Maden hakten und Lucio musste ein Würgen unterdrücken. Mit einem blütenweißen Taschentuch vor der Nase, stieg er von seinem Pferd und näherte sich langsam dem Leichenberg. Welche gottlose Kreatur hatte es gewagt, alle Leute dieses Dorfes, und bei der Größe des Haufens waren es sicher alle Leute, zu meucheln und ihnen ein solch abstruses Denkmal zu setzen?
Offenbar dieselbe Kreatur, die er zu jagen beauftragt worden war. Wütend kniff er die Augen zusammen, als er den Berg umrundete und selbst Kinderleichen zwischen den verrenkten Gliedmaßen der Erwachsenen erspähte. So etwas war einfach widerwärtig, grausam und gottlos.
Und er hatte eigentlich vorgehabt diese armen Leute vor dem Wesen, welches er suchte, zu beschützen. Das machte ihn noch zorniger und er ballte seine Hände zu Fäusten, während er sich den Hut wieder aufsetzte und zurück zu seinem Pferd stapfte.
Seine schweren Stiefel hinterließen tiefe Abdrücke in dem schlammigen Boden und Lucio sah sich mit ernstem Gesicht um.
Der Feind konnte eine der Krähen als Spion geschickt haben und sich somit auf sein Kommen vorbereiten. Besser, wenn er sie vernichtete. Mit einem finsteren Grinsen im Gesicht zog er seine Armbrust hervor und stellte sie scharf. Schließlich richtete er das Geschoss auf einen der schwarzen Unheilsvögel, zielte und schoss.
Das Tier stieß einen gequälten Schrei aus, dann fiel es rücklings von dem Leichenberg und landete im Schlamm. Die anderen drei Krähen flatterten aufgeregt kreischend in die Lüfte, bevor sie sich nach einigen Minuten wieder auf ihrem Festmahl niederließen und Lucio daraufhin wütend knurrte.

Da hörte er plötzlich das entfernte Wiehern eines Pferdes und versteckte sich schnell im Schatten eines Hauses. Sein schwarzer Hengst wieherte aufgeregt, doch er tätschelte ihm beruhigend den Hals. Schnaubend beobachtete das Tier mit seinem Herrn, wer sich da dem Dorfplatz näherte und Lucio erkannte bald, dass es sich um eine kleine offene Kutsche handelte auf der ein älterer Mann und ein Kind saßen.
Er musste sie aufhalten, bevor das Kind dieses schreckliche Bild zu Gesicht bekam und vielleicht nie wieder los wurde.
Er wusste wie erschreckend realistisch Alpträume sein konnten und das wollte er dem Kind auf keinen Fall antun. „Du bleibst hier, Angelico.“ raunte er seinem Pferd zu und es schnaubte erneut. Anschließend rannte er quer über den Platz, durch die verlassenen Gassen bis zum südlichen Dorfeingang, bevor die Kutsche ihn passieren konnte. Dort wartete er mit grimmigem Gesicht auf die beiden Reisenden, welche offenbar auf einer weiter entfernten Wiese tagelang Schafe gehütet und geschoren hatten.
Das erkannte er an den vielen Schaffellen auf der Ladefläche der Kutsche und dem kleinen Welsh Corgi welcher es sich darauf gemütlich gemacht hatte.
Hoffentlich war der Mann der Vater des Kindes, denn es würde für die Kleine schon schrecklich genug sein, ein Elternteil verloren zu haben. Der braune Ackergaul marschierte gemächlich den Pfad zu ihrem Dorf entlang und zog die Kutsche mühelos hinter sich her, während Lucio langsam ungeduldig wurde.
Schließlich wurde er von dem älteren Mann entdeckt und der zog leicht an den Zügeln des Braunen, welcher einen Schritt weiter stehen blieb. „Guten Tag mein Herr, was führt Sie in unser bescheidenes Dorf?“ begrüßte er ihn freundlich und entblößte dabei ein zahnloses Lächeln.
Das Kind drückte sich schützend an die Seite des Alten und dieser legte beruhigend einen Arm um sie. Ihre blonden Haare waren zerzaust und dreckig, doch sie machte einen gesunden Eindruck und Lucio sah dem älteren Herrn langsam in die Augen. „Ich bin ein Reisender und kam vor gut einer Stunde in Ihr Dorf. Eigentlich hatte ich mich auf eine warme Mahlzeit in dem Gasthaus hier gefreut, doch als ich den Dorfplatz betrat verging mir sofort der Appetit bei dem schrecklichen Anblick der sich mir dort bot.“ erklärte er höflich und der Alte runzelte die Stirn. „Was für ein schrecklicher Anblick?“ fragte er dann misstrauisch und Lucio winkte ihn zu sich. „Das Kind sollte davon nichts mitbekommen.“ flüsterte er erklärend und der Alte nickte.
Er beugte sich vor und Lucio wisperte ihm ins runzlige Ohr, was er für eine grausige Entdeckung gemacht hatte. Der Mann erbleichte und riss entsetzt seine Augen auf, anschließend sah er Lucio in die Augen, um sich zu vergewissern, dass der die Wahrheit sagte. Und als er erkannte, dass es keine Lüge und auch kein bitterer Scherz gewesen war, sprang er vom Kutschbock und eilte, so schnell ihn seine alten Beine tragen konnten, an Lucio vorbei in das Dorf.
„Opa? Wohin willst du?“ fragte das Kind zittrig und Lucio schenkte ihr ein aufgesetztes Lächeln. „Dein Großvater ist nur schnell auf dem Weg zu deinen Eltern, um sie auf eure Ankunft vorzubereiten. Du hast doch sicher Hunger und deine Mutter wird dir sicher eine leckere Mahlzeit zubereiten, dafür dass du so fleißig warst. Mach dir also keine Sorgen.“ Was für eine schwache Ausrede. Doch es war nicht seine Aufgabe, dem Kind beizubringen, dass es keine Eltern und Geschwister mehr hatte. Das war die Aufgabe des Großvaters. Sein Auftrag war es hingegen das Monster zu jagen und zur Strecke zu bringen, welches dieses Blutbad veranstaltet hatte.
Seufzend wandte er sich ab und spähte in die Ferne.

Es regnete immer noch und das Donnergrollen fuhr einem durch Mark und Bein. Blitze zuckten in der Ferne am Himmel und jagten ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Das Monster konnte nicht weit sein. Es zog Gewitter praktisch an, wie das Licht einer Kerze die Motten Wenn er und Angelico sich beeilten, würden sie es vielleicht noch erreichen, bevor es ein weiteres Dorf verwüstete und die Dorfbewohner auf ähnliche Weise tötete.
Plötzlich schlug einer der Blitze in eine alte Eiche neben der Kutsche ein und drohte auf sie und damit auch auf das Kind zu fallen.
Blitzschnell zog er das Mädchen an sich, sprang mit ihr vom Kutschbock und das keine Sekunde zu früh. Krachend schlug der brennende Baum auf der Kutsche ein und der Corgi jaulte entsetzt, als beinahe sein Fell angesengt wurde. Die Schaffelle wären hinüber, doch das Kind war gerettet.
Erleichtert wollte er seine Umarmung lockern, doch ein stechender Schmerz in der linken Schulter lies ihn inne halten. Etwas Scharfes und spitzes hatte sich darin verkeilt und er dachte schon er hätte einen Splitter des Baumes abbekommen. Doch weit gefehlt, als er das Kind an mit beiden Armen von sich hielt, hatte es sich verändert.
Es war nicht mehr das blonde Mädchen mit dem lieben Gesicht und den blauen Augen. Er hielt eine Kreatur in Armen, von der er dachte, sie wäre längst aus diesem Dorf verschwunden.

Nun eigentlich war sie das auch, doch sie war zurückgekehrt und hatte offenbar den Körper des Mädchens als Wirt benutzt. Die Arme war längst tot und ihr Großvater würde es auch sein, wenn Lucio nichts unternahm.
Das Wesen, welches ihn offenbar in die Schulter gebissen hatte, besaß keine menschenähnlichen Züge mehr. Es war grauhäutig, hatte einen unförmigen mit Warzen übersäten Kopf auf dem große schwefelgelbe Augen thronten aus denen es Lucio hasserfüllt anblickte und scharfe dolchähnliche Zähne. Seine Nase war lang und spitz und die Haare waren nur ein paar dünne fettige Strähnen. Zwischen diesen Strähnen lugten gewundene schwarze Hörner, wie die eines Schafbockes, hervor an denen dunkelrotes getrocknetes Blut klebte.
Abgemagert und mit lederartigen Flügeln auf dem Rücken stieß es einen kreischenden unmenschlichen Laut aus, sodass er sich die Ohren zu halten musste.
Genau das war ein schrecklicher Fehler, welchen er zu spät bemerkte. Das Monster riss sich von ihm los und machte einen gewaltigen Satz nach hinten, wobei es ihn abschätzend musterte.
Es war nicht größer als ein zehnjähriges Kind, doch es besaß die gewaltigen Kräfte eines wilden Stieres. Vielleicht noch mehr, denn wie sonst hätte es auch die Männer des Dorfes besiegen können?
Wütend kreischte es ein weiteres Mal, bevor es sich wieder auf ihn stürzte und das mit unmenschlicher Geschwindigkeit.
Keine Sekunde später saß es auf seiner Brust und drückte ihn in den Schlamm. Mit katzenähnlichen Krallen schlug es auf ihn ein und hinterließ blutige Furchen in seinem Gesicht.
Sie würden heilen, bald sogar, doch trotzdem war es schmerzhaft und er stieß das Vieh von seinem Oberkörper. Es landete gut einen Meter von ihm entfernt und schlitterte ein wenig durch den Schlamm.
Lucio sah seine winzige Chance einen Gegenangriff zu starten. Seine Armbrust befand sich zwar immer noch auf seinem Rücken und bohrte sich unangenehm in sein Kreuz, doch er kam in dieser Position nicht an sie heran und so sprang er im Bruchteil einer Sekunde auf seine Beine. „Teufelsbrut!“ schrie die Bestie und bleckte ihre Zähne, während sie strauchelnd wieder auf die Beine kam. „Das bin ich nicht, Dämon!“ entgegnete er barsch und klopfte sich den Schlamm von seinem knöchellangen schwarzen Ledermantel.
Tatsächlich handelte es sich bei seinem Gegenüber um einen niederen Dämon, ausgeschickt von einer Kreatur der Hölle, deren bloßer Namen ihn erschaudern lies. Der Dämon fauchte und bereitete sich auf einen weiteren Angriff vor, dieses Mal aus der Luft.
Es breitete die ledrigen Schwingen aus und erhob sich damit in den Himmel. Groteskerweise sah es dabei aus wie ein riesiges Insekt. „Du wirst dir wünschen, nie geboren worden zu sein!“ schrie die Kreatur beißend und raste aus gut zwanzig Metern Höhe mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf ihn zu.
Grimmig nahm er seine Armbrust vom Rücken, sie war glücklicherweise noch scharf, und zielte. Mit der Geduld eines eiskalten Jägers wartete er darauf, dass seine Beute bis auf wenige Meter näher kam, dann legte er den Finger an und war kurz davor abzudrücken, als ein markerschütternder Schrei ihn ablenkte.

Der Großvater der Kleinen war offenbar zurückgekehrt, denn er starrte mit schreckgeweiteten Augen auf das Monster am Himmel. Sein Mund stand weit offen und er zitterte wie Espenlaub. „Herr im Himmel, ist das der Teufel?“ flüsterte er leise, doch Lucio verstand ihn mühelos.
`Nein, das ist nicht der Teufel´, wollte er ihm eigentlich zu rufen, doch das Vieh warf sich mit voller Wucht auf ihn und er landete unsanft erneut im Schlamm. Sein Kopf schlug hart auf einem herumliegenden Stein auf und er spürte wie Blut aus der kleinen Wunde lief. Sterne tanzten vor seinen Augen und er blinzelte benommen.
Fluchend rieb er sich über den schmerzenden Hinterkopf und schalt sich selbst für seine Dummheit. Wie hatte er sich nur ablenken lassen können? Das Monster war gar nicht auf den alten Mann aus gewesen, es hatte ihn angegriffen!
Lucio packte erneut die Armbrust mit der rechten Hand und umklammerte sie fest.
Jedoch hatte er keine Zeit sie erneut auf den Dämon zu richten, denn dieser bohrte seine scharfen Krallen erneut in sein Fleisch, dieses Mal tiefer als vorher. Wollte es ihn aufschlitzen?, fragte er sich benommen und verzog schmerzvoll das Gesicht.
Lucio holte zu einem Kinnhaken aus, doch er verfehlte das Wesen um haaresbreite und es lachte hysterisch. „Ich werde dich vernichten!“ grölte es triumphierend und erhob sich mit ihm in den Fängen in die Lüfte.
Lucio wand sich in den Klauen seines Feindes, doch das Wesen gackerte nur und flog mit ihm über das Dorf, wobei es absichtlich so niedrig flog, dass er mit dem Kopf ein zweimal gegen die Kaminsimse stieß. Dieses Mal stieß er einen heiseren Schrei aus und hielt sich matt den Kopf. Plötzlich lies ihn der Dämon aus gut zehn Metern Höhe fallen und er dachte schon, es wäre hier und jetzt vorbei mit ihm.
Doch sein Fall wurde gut nach der Hälfte des Weges von etwas Weichem gebremst und er wusste genau worum es sich dabei handelte.
„Du wirst die Krönung meines Werkes sein!“ kreischte es begeistert und zog aus einer der Leichen unter Lucio eine lange spitze Lanze hervor, von der dunkelrotes Blut tropfte. „Auf Nimmerwidersehen du Mörder!“ schrie es und rammte ihm die Lanze direkt in die Brust.
Lucio schrie vor Schmerzen auf und spuckte dickes hellrotes Blut, bevor er nach hinten zurück sank und schwarze Dunkelheit ihn umhüllte wie ein dicker dichter Mantel. Das letzte was er hörte, war das Gekicher des Dämons, welcher sich über seinen Triumph zu freuen schien. Dann war alles still.


1. Kapitel




London, England AD 2010




Keuchend riss er seine Augen auf und fuhr schweißgebadet aus seinen Kissen hoch. Entsetzt sah er sich um und stellte nach gut einer Minute fest, dass er sich in seinem Schlafzimmer befand. Sein Herzschlag beruhigte sich allmählich und er atmete schwer, bevor er sich mit einer Hand über das Gesicht fuhr, um die letzten Anzeichen von Müdigkeit zu verdrängen.
Dieser Traum. Er kehrte immer wieder zurück, raubte ihm den Schlaf und Lucio wusste einfach nicht warum. Sein Blick glitt auf den Wecker, welcher auf dem gläsernen Nachtkästchen stand und er seufzte. Es war kurz nach neun Uhr. Er hatte also wieder nur vier Stunden geschlafen. Wenn man das Nickerchen kurz nach dem Abendessen dazuzählte. Stöhnend setzte er sich nun ganz auf und streckte sich ausgiebig.
Schließlich stand er auf, marschierte ins weiß geflieste Badezimmer und spritzte sich zu allererst ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht.
Anschließend warf er einen Blick in den Spiegel, konnte aber keine Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Sein Vater würde trotzdem spüren, dass er wieder nicht ausreichend geschlafen hatte. Ihm konnte er nichts vormachen und das frustrierte ihn. Lucio war jemand der seine Probleme gerne selbst löste. Er war nicht sehr erpicht darauf andere Leute mit hineinzuziehen und schon gar nicht seine Familie.
Und heute würde er seine Leute nach langem wieder einmal besuchen. Eigentlich lud seine Mutter ihn und seine drei älteren Brüder jeden zweiten Sonntag zu einem gemütlichen Brunch ein, doch er war dort die letzten drei Male nicht aufgekreuzt und das aus verschiedenen Gründen. Zuerst hatte er keine Lust gehabt dort hinzugehen, beim zweiten Mal hatte er es schlichtweg vergessen. Am Schluss vor gut zwei Wochen hatte er dann wieder einen dieser schlimmen Alpträume gehabt und wollte seiner Familie den Spaß an dem Familientreffen nicht verderben, also hatte er sich entschieden nicht hinzufahren und ihnen einen ruhigen Sonntag zu gönnen.
Seine Mutter hatte natürlich immer am Abend angerufen und gefragt, warum er nicht gekommen war, doch er hatte immer gesagt er hätte zu tun.
Lucio wusste, dass sie natürlich beim dritten Mal misstrauisch geworden war und hatte deshalb beschlossen seiner Familie wieder einen Besuch abzustatten, damit sie wussten, dass es ihm trotz den Alpträumen gut ging und sich keine Sorgen machten.
Der Brunch würde in einer halben Stunde beginnen, also hatte er noch genügend Zeit sich zu duschen etwas Legeres anzuziehen.
Einerseits freute er sich darauf seine Familie wieder zu sehen, andererseits fürchtete er sein Vater würde ihn nach dem Brunch zur Seite ziehen und mit ihm besprechen wie es mit den Forschungen voranging.
Wenn er nur nicht dieses verfluchte Virus in sich tragen würde, dann wäre sein Leben um einiges leichter, dachte er wütend und drehte das Wasser seiner Dusche auf.
Mit einer ausgestreckten Hand auf die richtige Temperatur wartend, hörte Lucio plötzlich sein Handy läuten und drehte hastig das Wasser wieder zu. Rasch eilte er zurück in sein Zimmer und schnappte sich das Gerät bevor es noch kollabierte. Immerhin hatte er den Vibrationsmodus auf sehr stark eingestellt, damit er es auch während der Arbeit mitbekam, wenn ihn jemand anrief. Und das Handy war nun quer über das Nachtkästchen gerattert und hatte einen Heidenlärm gemischt mit den Tönen von Dark Lady, einem Song seines ältesten Bruders Devil, veranstaltet.
„Lucio Fist, hallo?“ meldete er sich gehetzt und versuchte nicht zu aufgeregt zu atmen, um seinem Gegenüber nicht das Gefühl zu geben ihn bei irgendetwas gestört zu haben.
„Guten Morgen Bruderherz, na habe ich dich geweckt?“ begrüßte ihn eine dunkle Stimme am Ende der Leitung und er seufzte genervt. Satany, sein zweitältester Bruder, war jemand der gerne Schabernack trieb und andere Leute nervte. Man sollte meinen mit weit mehr als 700 Jahren auf dem Buckel war der Mann sehr weise und reif für sein Alter. Wie man sich doch täuschen konnte.
„Nein, du Idiot. Ich wollte gerade duschen gehen. Also warum rufst du an?“ raunzte er ungehalten und öffnete neben dem telefonieren geschickt die Knöpfe seines hellgrauen Baumwollpyjamas. „Na ja Mum hat sich gefragt, ob du heute überhaupt zu unserem Brunch kommen möchtest. Sie macht sich langsam wirklich Sorgen und die Sache mit dem „ich habe zu viel Arbeit zu erledigen“ glaubt sie dir allmählich nicht mehr. Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Du weißt, dass du deiner Familie nichts vorgaukeln kannst oder?“ erwiderte sein Bruder gelassen und Lucio verdrehte die Augen. „Das weiß ich. Und du kannst Mum ausrichten, dass ich in einer halben Stunde bei euch sein werde.“
Während er das sagte, schlüpfte er mit einem Arm aus dem Ärmel seines Pyjamas und klemmte das Handy dabei zwischen Kinn und Schulter. „Verstehe. Als´ dann bis nachher. Und wehe du kommst nicht, dann schleppen Seducer und ich dich persönlich zu uns! Ich meine wie kannst du dir das entgehen lassen? Kaviar, Champagner und frisches Obst im Überfluss!“
Es war schon fast zu hören wie Satany bereits das Wasser im Munde zusammenlief, während er die Köstlichkeiten aufzählte und Lucios Mundwinkel zuckten leicht nach oben. „Ich kann dich ja schon fast sabbern hören, Saty. Brauchst du ein Taschentuch oder gleich ein Auffangbecken?“ neckte er ihn und Satany schnaubte verärgert. „Von wegen Auffangbecken. Und überhaupt sollst du mich nicht Saty nennen. So nennen mich nur meine Häschen, wenn du verstehst! Wenn du das sagst, klingt es irgendwie pervers.“
Jetzt konnte er sich ein Grinsen kaum noch verkneifen und meinte honigsüß: „Och komm schon, Saty. Du weißt doch, dass ich nur spaße. Sagen deine Betthäschen eigentlich nur Saty zu dir oder auch andere Sachen? Satylein vielleicht?“ Ein aufdringliches Tuten in seinem Ohr verriet ihm, dass Satany aufgelegt hatte und er legte grinsend das Handy wieder auf den Nachttisch.
Das würde ein vergnüglicher Brunch werden, dachte er belustigt und marschierte zurück ins Badezimmer.
Sein Alptraum war so gut wie vergessen und er dankte Satany im Geiste dafür.

Das warme Wasser der Dusche tat sein übriges und als er erfrischt und entspannt aus der Duschkabine stieg, konnte er sich schon nicht mehr wirklich an seinen Traum erinnern, auch wenn er wusste, dass er in seinem Unterbewusstsein abgespeichert war. Wie eine unerwünschte Datei auf einer Festplatte eines Computers, die man nicht mehr loswurde, so oft man die Festplatte auch defragmentierte.
Lucio versuchte nicht daran zu denken und marschierte zu seinem Kleiderschrank, um sich etwas zum Anziehen herauszusuchen.
Nach einer Weile entschied er sich für ein weißes Polohemd mit dunkelblauem Aufdruck und eine schwarze verwaschene Jeans. Damit das ganze nicht zu lässig wirkte, schlüpfte er noch in ein paar schwarze Lederschuhe und war bereit seiner Familie einen Besuch abzustatten.
Nun ja zugegeben, äußerlich sah er vielleicht bereit für ein Familientreffen aus, doch innerlich wirkte er eher wie ein wandelndes Wrack. Seine Alpträume brachten ihn um den erholsamen Schlaf und sein Job als Jäger des Rates machte die Sache nicht gerade angenehmer. Jeden verfluchten Tag seine Feinde zu jagen, sie aufzuspüren und zu vernichten, war nicht gerade etwas, was man als Traumjob bezeichnen konnte. Doch jedes Mal wenn er sein Schwert oder eine seiner anderen Waffen in das Herz dieser widerwärtigen Kreaturen, welche vom Herrn der Hölle selbst heraufbeschworen worden waren, bohrte, dann fühlte er eine innerliche Befriedigung, welche ihm kein anderer Job dieser Welt gebracht hätte.
Deswegen machte er diese Drecksarbeit auch schon seit beinahe einem Jahrhundert und er würde nicht ruhen, bis er alle Dämonen der Unterwelt vernichtet hätte. Zugegeben, es war eine fordernde und tagesfüllende Aufgabe, welche ihm keine Zeit für Freunde oder gar irgendwelche Liebschaften lies, doch sie machte ihn für eine gewisse Zeit glücklich und nur das zählte im Moment.
Irgendwann würde er sich zur Ruhe setzen und sich eine Frau suchen, doch nicht jetzt. Er war ein Kämpfer und das würde er auch noch ein paar Jahrhunderte bleiben. Sofern ihn das Virus nicht völlig von innen heraus zerstörte.
Bei dem Gedanken daran verzog er das Gesicht und fasste sich unbewusst an die Brust. Sein Herz schlug noch, und das regelmäßig und kräftig, doch wie lange noch? Wie lange konnte er noch ein unbeschwertes Leben führen bis es endgültig verstummte und ihn zu dem machte, was er jeden Tag jagte? Einem Dämon, einen Sklaven der Hölle, der willentlich Böses auf der Welt verbreitete und mutwillig tötete.

„Ich sollte aufhören, ständig daran zu denken.“ murmelte er vor sich hin und straffte sich. Es brachte nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was vielleicht irgendwann in nicht absehbarer Zeit mit ihm geschehen würde. Er musste im Hier und Jetzt leben und sollte sich lieber darauf freuen, dass er eine Familie hatte, die ihn liebte so wie er war. Nicht jeder auf dieser Welt konnte solch ein Glück mit ihm teilen.

Lucio verließ sein Schlafgemach und eilte die marmorne Treppe hinab in das Entree seiner Villa. Er hatte sie 1921 gekauft und vor gut drei Jahren komplett renovieren lassen. Jetzt enthielt das Prachtstück bemerkenswerten technischen Schnickschnack aller Art. Zum Beispiel eine Garage deren Licht automatisch anging, wenn man sie betrat und man nur einen einzigen Knopf drücken musste, damit sich das Tor öffnete. Zugegeben es war nichts wirklich raffiniertes, doch er mochte diese Art von Spielerei und freute sich jedes Mal, wenn er in seinen schwarzen Jaguar stieg und sich das Tor währenddessen öffnete.

Sein Weg führte ihn jetzt allerdings weder in seine Garage noch zu seiner Haustüre. Zielstrebig marschierte er stattdessen in einen unbedeutend aussehenden Flur, welcher nur von einem einsamen Fenster beleuchtet wurde. Staub tanzte im Sonnenlicht und landete schließlich auf dem sauber gewischten Parkettfußboden. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein altertümlich aussehender Fahrstuhl.
Gelassen drückte Lucio einen verstaubten alten Knopf neben dem Fahrstuhl und ein leises Pling

ertönte, als sich dessen Türen öffneten. Ein paar Spinnweben begrüßten ihn und er verzog angewidert das Gesicht, als er eintrat.
Daraufhin drücke er erneut auf einen Knopf und die Türen schlossen sich wieder. Über den Türen befand sich eine halbrunde Anzeige mit verschiedenen Ziffern für die Anzahl der Stockwerke, die er passieren würde. Ein goldener Pfeil deutete im Moment noch auf L.A.

, was „Lucios Anwesen“ bedeutete. Doch schon bald wanderte er quer über die Anzeige und passierte dabei immer kleiner werdende Zahlen.
Als nur noch fünf Stockwerke vor ihm lagen, spürte er allmählich eine angenehm vertraute Hitze im Fahrstuhl und war froh ein kurzärmeliges Hemd angezogen zu haben. Auf seinen Ohren lag ein unangenehmer Druck und mittlerweile war die Hitze unerträglich geworden. „Sie sollten endlich mal den Schacht belüften lassen, das ist ja furchtbar heiß hier drin.“ beschwerte er sich und fächelte sich mit den Händen Luft zu, was ihm nicht viel nützte.
Schließlich hielt der Aufzug an und die Türen öffneten sich mit einem weiteren Pling.
Froh, endlich angekommen zu sein verlies er den Aufzug und betrat nun einen angenehm kühlen Flur. Er war hell erleuchtet und in einem sanften Grün gestrichen worden. Chinesische Vasen und asiatische Wandteppiche zierten die Wände und Lucio lächelte leicht. Über ihm hörte er ein leises Flügelschlagen und blickte überrascht nach oben. Ein bunter Papagei flatterte über seinen Kopf hinweg, doch er schien keine Notiz von Lucio zu nehmen. Stattdessen flog der schöne Vogel auf eines der Fenster zu und verschwand nach draußen.
Kopfschüttelnd marschierte Lucio den Gang entlang und erreichte bald eine aus edlem Mahagoniholz bestehende Flügeltüre. Auf sie waren mit flüssigem Blattgold einige exotische Verzierungen gemalt worden und ließen das ganze noch exklusiver wirken. Seine Eltern hatten Stil, das wusste er, doch manchmal übertrieben sie es einfach. Na ja wenn man schon so lange auf der Welt lebte und sehr viel Leid und tausende Kriege überstanden hatte, dann durfte man ruhig ein wenig angeben, aber Blattgold?
`Ich sollte nicht so viel darüber nachdenken, immerhin ist es ihr Geld und sie können damit machen was sie wollen. Außerdem warten sie bereits auf mich, dachte er und seufzte. „Na dann, auf in den Kampf.“ sprach er leise und setzte ein freundliches Lächeln auf.
Noch bevor er gegen die massive Flügeltüre klopfen konnte, wurde diese von innen geöffnet und ein junger rothaariger Mann stand im Türrahmen. Er trug einen schwarzen Anzug und lächelte kess, wobei seine Sommersprossen auf den Wangen in tiefen Grübchen verschwanden. „Guten Morgen, Herr, Eure Familie erwartet Euch bereits.“ begrüßte er ihn höflich und Lucio verdrehte die Augen. „Q, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mich nicht so förmlich –„ „Ich weiß, verdammt! Aber deine Mutter hat mich „davon überzeugt“, „ er malte mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft „dich so förmlich anzusprechen. Und sie kann sehr überzeugend sein.“
Q schauderte und sein freundliches Lächeln wirkte jetzt eher aufgesetzt.
Lucio grinste und erwiderte: „Na ja du kennst sie doch. Sie kann dich psychisch so unter Druck setzen, dass du freiwillig das tust, was sie von dir möchte. Ich glaube so hat sie auch Dad davon überzeugt ihn zu heiraten.“
Der junge Mann blinzelte zuerst überrascht, dann lachte er und schlug Lucio freundlich auf den Arm. Schließlich trat er beiseite und deutete mit einer Hand in den Raum hinter ihm. „Na dann, viel Spaß in der Höhle der Löwin.“ spottete er und Lucio schüttelte den Kopf über diesen frechen Kommentar. Doch er sagte nichts, Q war noch ziemlich jung und er musste erst seine Grenzen erkennen. Außerdem war er ein Homunkulus und die waren ja bekannt für ihre vorlauten Mäuler.
Ein Blick auf seine Armbanduhr trieb ihn zur Eile und er durchquerte schnellen Schrittes den kleinen Vorraum. An einem Kleiderständer hingen bereits ein paar Lederjacken und eine Sporttasche war unachtsam auf den Boden geworfen worden.
Hinter der gegenüberliegenden Türe konnte er deutlich ein paar männliche Stimmen vernehmen, welche sich lautstark unterhielten.
Seufzend setzte er ein fröhliches Lächeln auf und öffnete galant die Türe. Gleißendes Licht blendete ihn und er kniff die Augen zusammen und blinzelte bis er sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatte.
Da wurde er auch schon heftig umarmt und der schwere Duft eines teuren Frauenparfums hüllte ihn in eine dünne Wolke ein. Der Geruch kitzelte ihm in der Nase und Lucio musste ein Niesen unterdrücken.
„Lucio! Da bist du ja endlich! Oh lass dich ansehen.“ Seine Mutter löste ihre Umarmung und musterte ihn mit dem kritischen Blick einer Mutter, mit der sie ihn schon immer seit er ausgezogen war bedacht hatte.
„Du scheinst ein wenig abgenommen zu haben! Hast du jetzt auch noch keinen Appetit mehr? Und blass bist du, mein Gott, da hat ja ein Albino noch eine gesündere Farbe als du! Und erst deine Augenringe, oh Lucio, was-„ „Jetzt lass ihn doch endlich mal ankommen, Frau!“ unterbrach ein junger Mann die Kritik von Lucios Mutter schmunzelnd und dieser warf ihm einen dankbaren Blick zu.
„Oh, ja richtig. Tut mir Leid mein Schatz, ich bin wohl zu stürmisch gewesen. Setz dich erst einmal und iss ordentlich, dann unterhalten wir uns weiter, ja?“ Sie deutete auf einen Stuhl am unteren Kopfende der langen Tafel und er lies sich, ein weiteres Mal seufzend, in den bequemen Stuhl sinken.
„Mein Telefonanruf hat also doch gewirkt, das heißt ich bekomme zwanzig Dollar von dir, Dev!“ feixte Satany und Devil grunzte genervt. „Du Abzocker! Du hast gewusst, dass er kommt!“ beschwerte sich Devil und zog seine lederne Geldbörse aus der Gesäßtasche seiner Jeans.
„Die Firma dankt.“ schmunzelte Satany und Lucio grinste leicht, bevor er sich ein wenig Rührei auf seinen Teller schaufelte, dazu Tomaten und ein paar Würstchen. „Appetit hat er ja, also kann es ihm gar nicht so schlecht gehen, Magdalena. Also beruhige dich jetzt, in Ordnung?“ Die junge Frau nickte beruhigt und lächelte herzlich. „Jetzt sind wir endlich wieder einmal als Familie zusammen.“
Lucio erwiderte ihr Lächeln und machte sich nun über das Essen her.

Eine halbe Stunde sowie ein wenig Kaviar mit Weißbrot und einem Stück Obsttorte später lehnte er sich entspannt im Sitz zurück und schloss seine Augen.
„Mein Sohn, ich denke es ist an der Zeit, dass wir reden. Komm, ich habe bereits alles vorbereitet.“ Frustriert lies Lucio seine Schultern hängen und folgte seinem Vater in dessen Arbeitszimmer.
Ihr Weg führte durch noch mehr Gänge, sowie einer Galerie und schließlich erreichten sie das Zimmer im Ostflügel des gigantischen Anwesens seiner Eltern.
Sein Vater öffnete die Türe und sie betraten ein mit Licht durchflutetes Zimmer. Weiße Vorhänge wehten leicht im Wind und Lucio war immer wieder aufs Neue beeindruckt von diesem herrlichen Raum. Eine Wand war komplett verglast und man konnte direkt hinaus in eine Art kleinen Urwald blicken in dem Papageien und andere exotische Vögel durch das Geäst der Bäume flogen.
Die ebenfalls gläserne Türe welche hinaus auf die Terrasse führte stand offen und so wehte eine leichte warme Brise hinein und lies die Vorhänge vor den Fenstern tanzen.
„Setz dich, Sohn.“ Sein Vater deutete auf eine schwarze Lederchaiselounge und Lucio lies sich seufzend auf das weiche Leder sinken. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und beobachtete wie sein Vater zu einem silbernen Tablett marschierte und sich etwas Cognac einschenkte. Der hatte Nerven! Es war noch nicht einmal Mittag und er brauchte schon Alkohol. „Möchtest du auch ein Glas?“ fragte sein Vater und Lucio schüttelte den Kopf. „Nein danke, nicht um diese Uhrzeit.“ lehnte er höflich ab und sein Vater zuckte unbekümmert mit den Schultern, bevor er das Glas mit schnellen Zügen leerte.
„Nun, dann erzähl mal, wie waren die letzten sechs Wochen so für dich?“ fragte er dann beiläufig und lies sich hinter seinem gläsernen Schreibtisch auf den weißen Chefsessel sinken. Lucio schnaubte, ob der Fröhlichkeit seines Vaters und erwiderte spitz: „Tu gefälligst nicht so aufgesetzt freundlich! Du weißt genau wie es mir ging! Ich konnte kaum schlafen und die Alpträume sind noch einmal schlimmer geworden.“
Lucian M. Fist musterte seinen Sohn mit kritischem Blick und faltete die Hände vor dem Gesicht. „Wo spielen sie dieses Mal?“ „Wickedshire.“ flüsterte Lucio und sein Vater riss die Augen auf. „Verstehe. Das ist schlimm. Und ich fürchte das Ergebnis meiner Untersuchungen wird nicht gerade zu einer Besserung deiner Laune beitragen.“

Lucio richtete sich auf und verengte seine Augen. „Was meinst du damit?“ „Ich fürchte das Virus hat sich noch weiter in deinem Körper ausgebreitet, Lucio.“ Lucio erstarrte und seine Muskeln spannten sich an. Das Virus hatte sich weiter ausgebreitet?
Wie weit mochte es nun die Kontrolle über seine Zellen übernommen haben? „Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Doch im Moment sieht es nicht so aus, als hätte dir das Virus schon gefährliche Schäden zugefügt.“
Er ballte seine Hände zu Fäusten und zischte: „Ja klar, du kannst das ja auch leicht sagen, bei dir ist das Virus ja auch noch nicht ausgebrochen! Es hat euch alle sozusagen übersprungen und ich darf jetzt als euer Testkarnickel herhalten!“
„Beruhige dich Sohn. Wir haben erst vor einem Jahr festgestellt, dass dein Körper von diesem Virus befallen ist und ich arbeite jeden Tag mit meinen Leuten im Labor an einem Gegenmittel dafür.“
Betreten sah Lucio auf den hellen Holzboden. Sein Vater hatte ja Recht.
Vor gut einem Jahr hatte er sich einmal wieder von seinem Vater durchchecken lassen und dieser hatte festgestellt, dass einige seiner Körperzellen eigenartig mutiert seien. Schließlich fand er heraus, dass es sich dabei um ein bösartiges Virus handelte, welches offenbar nur in ihrer Familie vererbt wurde.
Jeder der männlichen Familienmitglieder trug dieses Virus in sich und es war nur eine Frage der Zeit bis es auch bei seinen Brüdern ausbrach.

Sie hatten der Krankheit den Namen „Virus Serpentes“ gegeben, was frei übersetzt Schlangengift bedeutete. Eigentlich sollte es ein Witz sein, denn die Krankheit war ursprünglich als Fluch von Lucians Vater auf die Familie gelegt worden. Dieser war nämlich der Teufel höchstpersönlich und jedes Kind wusste, dass dieser sich einst in eine Schlange verwandelt hatte, um Eva zu verführen den verbotenen Apfel zu essen.
Doch Lucio empfand dies überhaupt nicht als Witz und sollte er seinem Großvater jemals persönlich gegenüberstehen, dann würde er ihm den Hals umdrehen, dafür, dass dieser ihm das Leben sprichwörtlich zur Hölle machte.
Niemand in der Familie wusste wie die Krankheit weiterhin verlaufen würde. Angefangen hatte alles mit Lucios Alpträumen und der Tatsache, dass er immer öfter schlecht gelaunt war. Vielleicht lag es daran, dass es heutzutage mehr Dämonen gab, die er im Auftrag des Rates jagte und tötete, aber sicher konnte man sich da nicht sein.
Das schlimmste allerdings war die Blutgier, die ihn manchmal überfiel und er in einen regelrechten Rausch geriet. Er wurde richtig aggressiv und konnte sich nach dem Verzehr des von seinem Körper verlangten Blutes nicht mehr daran erinnern, was er in der Zwischenzeit gemacht hatte.
Das war erschreckend und er fühlte sich dann immer, als wäre er jemand anders, der von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Bei dem Gedanken schauderte er und sein Vater hob beide Augenbrauen an.

„Wie weit ist es in meinen Körper inzwischen vorgedrungen?“ wollte Lucio schließlich wissen und sein Vater zog seufzend eine der Schubladen seines Schreibtisches auf. Kurz konnte man das Rascheln von Papier hören, als Lucian die Ergebnisse des Tests von vor sechs Wochen aus der Schublade zog und sie seinem Sohn wortlos hinhielt.
Misstrauisch erhob sich Lucio und schnappte sich die Zettel. Noch während er las, sank er bereits deprimiert auf die Chaiselounge zurück und strich sich mit der anderen Hand die Haare aus der Stirn.

Sein Vater hatte gesagt, er sollte sich beruhigen. Wie konnte sich jemand beruhigen, in dessen Körper eine unbekannte Krankheit grassierte und inzwischen seine Nervenzellen angegriffen hatte? Deswegen fühlten sich seine Finger manchmal taub an.
Und einmal hatte er sogar seine Zehen nicht mehr gespürt, doch das war für einen sehr kurzen Augenblick gewesen und Lucio hatte es schlussendlich als Einbildung abgetan.
Mit wütendem Blick zerknüllte er die Papiere und warf sie in eine Ecke des Zimmers. „Ich soll mich also beruhigen ja? Meine Nervenzellen werden von diesem Gift angegriffen, sodass ich meine Finger ab und an nicht mehr spüre und das einzige was du dazu sagst ist, ich soll mich beruhigen?!“ brauste er schließlich auf und sein Vater hob abwehren die Hände.
„Wir werden schon eine Lösung finden Sohn. Da bin ich mir ganz sicher. Ich werde dich heute noch einmal untersuchen und wenn sich das Virus noch weiter ausgebreitet hat, dann werde ich –„ „Was wirst du dann, hm? Du arbeitest seit fas 365 Tagen ununterbrochen an einer Lösung dafür und hast noch keine gefunden. Also was willst du machen, wenn es mir noch beschissener gehen sollte?“ unterbrach ihn Lucio barsch und sein Vater senkte geknickt den Blick.
„Ich … ich weiß es nicht Sohn. Aber noch wissen wir ja nicht, ob es dir schlechter geht. Lass mich dich doch erst einmal untersuchen.“ Eigentlich hatte Lucio überhaupt keine Lust mehr auf dieses anscheinend auswegslose Spiel, doch er wusste, dass sein Vater ihm nur helfen wollte und so folgte er Lucian brummend ins Nebenzimmer.

„Zieh dich bis auf die Unterhose aus und setz dich dann auf die Liege dort. Ich werde inzwischen den Computer hochfahren.“ wies Lucian seinen Sohn an und dieser gehorchte grummelnd, während sich Lucian ein paar Einweghandschuhe überstreifte.
Die Untersuchung dauerte eine geschlagene halbe Stunde. Lucio wurde Blut sowie eine Zellprobe abgenommen. Anschließend wurde er an verschiedene Geräte angeschlossen, welche seine Herz- und Hirnfunktionen überprüften und zum Schluss machte sein Vater auch noch ein EKG mit ihm.
„Die Auswertung dauert noch eine Weile. Du kannst dich jetzt wieder anziehen.“ sprach sein Vater müde und zog sich die Einweghandschuhe wieder aus. Seufzend streifte sich Lucio die Kleidung wieder über und setzte sich zurück auf die Liege.
„Was, wenn sich die Ergebnisse verschlechtert haben?“ sprach Lucio aus, was ihm schon die ganze Zeit im Kopf herumgegangen war und sein Vater schürzte die Lippen. „Daran darfst du nicht denken, Sohn. Dein Zustand wird sich schon nicht verschlechtert haben. Denk doch einfach mal positiv, Lucio.“ „Positiv? Wie soll ich bitte positiv denken, wenn mich das Virus in der Zwischenzeit von innen heraus zerstört?“
Lucian stöhnte und verdrehte die Augen. „Genau das meinte ich. Was sollen die Menschen sagen, welche an AIDS erkrankt sind? Jammern diese den ganzen Tag herum und setzen nie wieder einen Fuß vor die Türe? Nein! Denn sie haben sich damit abgefunden eines Tages zu sterben und führen ihr Leben so normal wie es eben geht. Sie freuen sich über jeden Tag, den sie noch erleben dürfen und das solltest du auch.“
Lucio verkniff sich einen beißenden Kommentar und sein Vater tippte etwas am Computer herum. „Die Ergebnisse sind da.“ Wieder spannte sich Lucio an und Schweißperlen traten auf seine Stirn. Das Lächeln seines Vaters lies ihn jedoch misstrauisch die Stirn runzeln. „Habe ich es nicht gesagt? Das Ergebnis hat sich nicht verschlechtert. Im Gegenteil, das Virus scheint sich von den Nervenzellen zurückgezogen zu haben. Siehst du, das war doch nicht so schlimm oder?“
Erleichtert atmete Lucio aus und nickte, bevor er sich gegen die Wand lehnte und leise lachte. Er konnte es nicht fassen, das Virus hatte sich zurückgezogen.
Natürlich konnte es jederzeit wieder ausbrechen, das wusste er, doch er wollte sich diese Freude jetzt nicht nehmen lassen und genoss einfach den kurzen Moment des Glücks.
„Ich habe noch eine Frage an dich. Wegen deiner Alpträume. Möchtest du mir wirklich nicht erzählen was genau in diesen Alpträumen passiert?“
Lucio verengte seine Augen und erwiderte entschlossen: „Nein! Dad die Alpträume sind mein Problem und das möchte ich alleine lösen. Du weißt ganz genau, dass ich meine Probleme nicht gerne auf andere abwälze. Außerdem hilfst du mir ja schon, indem du mich ständig untersuchst und versuchst ein Gegenmittel zu finden. Also nein, die Alpträume sind meine Sache.“
Lucian nickte und erwiderte sanft: „So etwas dachte ich mir schon. Aber mit irgendjemandem musst du doch einmal darüber reden. Du kannst es nicht ständig in dich hineinfressen, das macht dich noch kaputt, Lucio. Ich habe vor zwei Tagen mit John telefoniert und er hat mir erzählt, dass du in den letzten Wochen jede Nacht nur vier Stunden geschlafen hast. Vier Stunden, Lucio!
Das ist doch nicht normal. Und gesund ist es schon gar nicht. Natürlich, du bist kein Mensch und daher machen dir weder Krankheiten noch Schlaflosigkeit etwas aus. Doch auch dein Körper hat seine Grenzen.
Deswegen haben deine Mutter und ich noch einmal darüber geredet, was wir tun können, damit es dir bald besser geht. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es das wohl am Besten für dich ist, wenn du zu einer Psychiaterin gehst.“

Ungläubig riss Lucio seine Augen auf und sein Kiefer klappte nach unten. Zu einer Psychiaterin? Das konnte sein Vater doch nicht ernst meinen!
Er hatte keine psychischen Probleme!
„Dad! Das … ist der völlig falsche Schluss! Ich habe keine psychischen Probleme und muss deswegen auch nicht zu einer Psychiaterin.“
Sein Vater lachte grimmig und erhob sich, wobei er die Hände auf die Schreibtischplatte stütze und sich nach vorne beugte. „Machst du Witze, Lucio? Wenn ja dann ist das nicht sehr lustig! Du hast also keine psychischen Probleme? Also ich würde mir mal Gedanken darüber machen, ob es normal ist weniger als vier Stunden am Tag zu schlafen!“ sprach er ungehalten und Lucio zuckte zurück.
„Aber ich habe nur Alpträume, Vater. Ich habe weder Depressionen noch Halluzinationen. Oder sonstige Probleme. Und ich habe dir doch gesagt, dass ich mit meinen Problemen selbst fertig werden muss!“
„Das hast du, aber du kannst doch wenigstens mit ihr über deine Probleme reden. Dann fühlst du dich besser. Sie ist eine der besten Psychiaterinnen Londons und sie ist auch noch hübsch anzusehen.“

Lucio verzog das Gesicht und knurrte: „Versuch nicht einmal mich damit zu beeindrucken.“ „Ist ja gut. Na schön ich kann dich nicht dazu zwingen zu der Psychiaterin zu gehen. Aber ich kann dich darum bitten. Als Vater. Bitte Lucio ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich.“ „Das weiß ich doch Vater. Aber ich bekomme das schon hin, ich verspreche es dir. Vielleicht gehen die Alpträume auch wieder zurück, jetzt, da sich das Virus zurück gezogen hat.“
Skeptisch hob Lucian eine Augenbraue an und zog eine Visitenkarte aus der Schublade des Schreibtisches. „Falls du es dir doch noch anders überlegen solltest, hier ist ihre Visitenkarte.“ Er reichte ihm die Karte und Lucio stopfte sie unachtsam in die linke Hosentasche.
„Danke Dad, aber das wird höchstwahrscheinlich nicht passieren.“ bedankte er sich steif und verlies ohne sich noch einmal umzudrehen das Zimmer.

„Und was hat dein Vater gesagt?“ fragte seine Mutter freundlich und er seufzte tief. „Mutter, ich möchte nicht darüber reden. Mir geht es gut, okay? Und sag Dad, er soll sich nicht mehr in meine Probleme einmischen.“ Damit war für ihn das Familientreffen beendet und er marschierte zurück zu dem Aufzug, der ihn wieder nach oben in seine Villa bringen würde.
Q stand immer noch neben der Türe und er fragte wissbegierig wie es ihm in der Höhle der Löwin ergangen sei. „Sagen wir es mal so, neugierige Leute sterben bald!“ knurrte er und stapfte wütend an ihm vorbei zum Aufzug. „Uh, da ist aber jemand schlecht gelaunt!“ rief Q ihm hinterher, doch Lucio beachtete ihn gar nicht und drückte ungeduldig auf den Knopf neben dem Aufzug. Wieder ertönte eine leises Pling und er trat erleichtert ein. Das Familientreffen war ein reines Desaster gewesen, bis auf das Frühstück und das war bei weitem nicht so lecker gewesen wie gedacht. Er war auf jeden Fall froh wieder nach Hause zu kommen.

Den restlichen Nachmittag verbrachte er damit in seinem Fitnessraum sein Krafttraining fortzusetzen und powerte sich damit bis zum Abendessen aus.
Dann widmete er sich einem Teil seiner Arbeit, die er von zu Hause aus erledigen konnte. Es war seine Aufgabe die Aktivitäten aller dämonischen Wesen in und um London zu beobachten.
Dazu hatte er leider nur ein paar wenige Hilfsmittel. Einerseits den Flachbildschirm seines Computers und ein paar Dutzend Kameras, welche überall in London und den größeren Vororten angebracht worden waren. Natürlich befanden sich diese Kameras nur in den entlegenen Straßen und weniger von Menschen besuchten Gegenden in den Orten, doch es waren trotzdem noch genug, dass man leicht den Überblick verlieren konnte.
Glücklicherweise gab es dafür Abhilfe: an jeder der Kameras waren kleine Wanzen angebracht worden, sodass Lucio alles mit anhören konnte, was gerade in den Gassen und in fünfhundert Metern Umgebung alles gesprochen wurde. Dabei verließ er sich einerseits auf sein gutes Gehör und die spezielle Sprache, welche die Dämonen benutzten. Die Kreaturen der Hölle verständigten sich untereinander immer mit Worten auf niedriger Frequenz, sodass sie für Menschen nicht zu hören waren. Die Wanzen allerdings nahmen alles ungestört wahr und übertrugen es sofort durch die Lautsprecher seines Computers in sein Arbeitszimmer.
Dort saß Lucio dann immer in seinem bequemen Ledersessel und wartete darauf, dass etwas passierte. Heute Abend wartete er allerdings vergeblich auf irgendwelche Dämonenangriffe. Das einzige war er vernahm, waren die Geräusche von fließendem Verkehr, Katzengejammer, lallende Betrunkene und ein Liebespaar das es offenbar nicht mehr ins Hotelzimmer geschafft hatte.
Ein kurzer Blick auf das Kamerabild und er verzog angewidert das Gesicht, als er sah wie sich die beiden in der versifften Gasse an der modrigen Wand liebten. Also echt, der Kerl verstand einfach nichts von Romantik. Na gut, er gab zu, er war nicht wirklich der geborene Romantiker, aber er würde niemals eine Frau in so einer ekelhaften Szenerie lieben. Frauen brauchten Atmosphäre und seien es nur ein paar schummrige Kerzen bei einem entspannenden Bad.

Kopfschüttelnd wartete er darauf, dass das Bild von einem anderen abgelöst wurde und drehte die Wanze ein wenig leiser. In seiner Lage konnte er das überraschenderweise euphorische Stöhnen einer jungen Frau ganz bestimmt nicht brauchen.
Kurz nach Mitternacht schaltete er den Computer aus und streckte sich ausgiebig in seinem Sessel. Ab jetzt würden sich Joe und Craze um die Sache kümmern und er konnte sich sorgenfrei hinlegen.
Die beiden waren speziell ausgebildete Polizisten, welche von seinem Vater für diese Aufgabe ausgewählt worden waren. Außerdem waren sie Vampire und nicht so leicht zu töten wie normale Menschen. Denn Dämonen fackelten nicht lange, wenn sie sich bedroht fühlten und für Menschen wäre das viel zu gefährlich.
Gähnend verließ er das kleine Arbeitszimmer und schleppte sich hoch in sein Badezimmer. Er würde sich nur kurz abbrausen, um den kalten Schweiß vom Training los zu werden, welcher unangenehm auf seiner Haut klebte. Anschließend würde er sich hinlegen und darauf hoffen, nicht wieder einen solchen Alptraum wie letzte Nacht zu bekommen. Immerhin schien sich ja das Virus laut seinem Vater zurückgezogen zu haben.

Das warme Wasser tat gut auf seiner bloßen Haut und er schloss wohlig seufzend die Augen. In einen weißen Frotteebademantel gehüllt marschierte er schließlich zurück in das Hauptschlafzimmer seines Anwesens und zog sich um für die Nacht.
Lucio löschte noch das Nachtlicht neben seinem Bett und kuschelte sich in die weichen Kissen seines Kingsizebettes, bevor er die Augen schloss und kurze Zeit später eingeschlafen war.


2. Kapitel




Seine Hoffnungen wurden auch in dieser Nacht zunichte gemacht und wieder wurde er von diesem Monstrum auf den Leichenberg geworfen, bevor es ihn mit derselben Lanze erstach. Schweißgebadet richtete er sich auf und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Sein Herz raste wie das eines Kaninchens, welches vor einem Fuchs flüchtete und er schnappte keuchend nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Irgendwann würden die Alpträume noch schlimmer und er davon noch verrückt werden! Plötzlich hörte er neben sich ein leises unheimliches Kichern und sein ganzer Körper spannte sich an. Was war das? Hatte er etwa Einbrecher im Haus? Oder erlaubten sich seine Brüder einen dämlichen Scherz mit ihm?
Seine Hand tastete in der völligen Dunkelheit nach links neben sein Bett, bis seine Finger schließlich den Schalter seines Nachtlichtes fanden und er es nervös anschaltete.
Entsetzt riss er seine Augen auf, als er erkannte, was dort neben seinem Bett stand und ihn mit hässlichen Glubschaugen beobachtete. Die Kreatur aus seinen Träumen hatte ein fieses Grinsen auf den dünnen Lippen und kicherte erneut, offenbar fand es seinen entsetzten und ungläubigen Gesichtsausdruck äußerst amüsant. „Guten Morgen Lucio. Lange nicht gesehen, nicht wahr?“ krächzte es und er verengte seine Augen zu Schlitzen. „Was wird das hier?“ zischte er erzürnt und das Vieh lachte. „Das hier wird eine Art Weiterführung deines Traumes. Sieh es als einen real gewordenen Alptraum an. Und wenn ich mit dir fertig bin, bist du reif für die Psychatrie!“ Es grinste hämisch und Lucio ballte seine Hände zu Fäusten.
„Was willst du von mir? Ich habe dir nichts getan!“ rief er aufgebracht und erwiderte den eisigen Blick des Dämons mit kühler Gelassenheit auch wenn in seinem Kopf die Gedanken nur so rasten. Wie war das möglich? „Aber meinem Meister! Nun, genug der Worte, ich bin schließlich hier, um dir eine Lektion zu erteilen!“ Ohne eine Vorwarnung stand der Dämon plötzlich neben Lucios Bett und traf ihn mit der knochigen linken Faust mitten ins Gesicht. Überrascht von der starken Wucht des Aufpralls stieß Lucio einen leisen Schrei aus und wurde aus dem Bett geschleudert. Krachend prallte er gegen die Hauswand und etwas Putz bröckelte auf sein Haupt.

Benommen schüttelte er den Kopf und blinzelte, da war das Wesen auch schon über ihm und fuhr die langen dolchartigen Krallen aus. Schnell hob er schützend seine Arme vors Gesicht, dann bohrten sich die scharfen Krallen auch schon in sein Fleisch. Die Wunden brannten und sofort quoll Blut aus ihnen hervor und tropfte auf den Boden. „Tut weh nicht wahr?“ schnarrte die Kreatur und er bemerkte den amüsierten Unterton in dessen Stimme. „Hör auf damit! Ich habe nichts getan!“ schrie er, doch sein Gegenüber verengte nur die Augen und verpasste ihm noch einmal einen Schlag. Dieses Mal traf es ihn an der Wange und er spürte das warme Blut an seinem Kinn hinab fließen und auf den Boden tropfen. „Sei still du Mörder!“ kreischte es und traf ihn erneut an der anderen Wange.
Lucio schrie auf, nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Wut und er schlug mit seinen Armen wild um sich, um dem Dämon Einhalt zu gebieten. „Mein Herr, warum schreit Ihr denn so?“ ertönte von fern eine Stimme an seinem Ohr. John, sein Butler, rief nach ihm und jemand griff nach seinen Armen.
„Lass mich los du Höllenkreatur!“ brüllte Lucio und schlug abermals nach dem Monster. Tatsächlich schien er es getroffen zu haben, denn er hörte einen erzürnten Aufschrei.

„Wir müssen ihn aufwecken! Roberto halte ihn fest, ich werde versuchen ihn aus diesem Alptraum zu reißen!“ Wieder wurde er gepackt, stärker dieses Mal und er hatte keine Chance zu entkommen. Er sollte verdammt sein, wenn dieser Dämon dachte, er würde sich ergeben! „Hör auf! Lass los!“ brüllte er wieder und bekam sofort eine saftige Ohrfeige, welche ihn in die Realität zurückbeförderte.
Das „Monster“ welches ihn festhielt, war sein Koch Roberto und sein Vater war über ihn gebeugt, offenbar hatte er ihm die Ohrfeige verpasst. John hingegen stand mit blutender Nase etwas weiter abseits und schien erleichtert, dass er endlich aufgewacht war.
„Dem Himmel sei Dank, er ist wach!“ Sein Vater seufzte glücklich und Roberto entließ ihn aus seinem stahlharten Klammergriff. Keuchend sank Lucio in sich zusammen und atmete ein paar Mal tief ein, um sich zu beruhigen.
„Was ist passiert, Sohn? John und Roberto haben mir berichtet du hättest geschrien wie am Spieß und etwas von einem Monster gerufen. John hat mich sofort hier her bestellt und wir alle drei haben versucht dich aufzuwecken. Erst meine Ohrfeige scheint etwas genutzt zu haben. Tut mir Leid für das, aber es war der einzige Weg dich aus diesem Alptraum zu reißen. Und überhaupt wieso sitzt du hier außerhalb deines Bettes?“
Lucio schluckte und suchte im Geiste nach Worten, um sich zu erklären. „Vater, Zhargot … Zhargot war hier in meinem Zimmer!“ japste er dann und sein Vater machte eine ernste Mine. „Bist du sicher?“ fragte er dann, ganz so als würde er an Lucios Zurechnungsfähigkeit zweifeln. „Hundertprozentig sicher. Ich hatte einen Alptraum und bin aufgewacht. Da hörte ich plötzlich dieses Kichern und als ich mein Nachtlicht anschaltete, stand er neben meinem Bett und faselte etwas von einem real gewordenen Alptraum. Kurz darauf hat er mich angegriffen! Deswegen liege ich auch außerhalb meines Bettes!“

Lucian runzelte nachdenklich seine Stirn und betrachtete seinen Sohn genauer. „Hm, offenbar hattest du eine Halluzination. Die Alpträume scheinen dir richtig zuzusetzen!“ Lucio gefiel überhaupt nicht was sein Vater ihm da berichtete. Jetzt hatte er also auch noch Halluzinationen. Super und was kam als nächstes? Verfolgungswahn?
„Vielleicht ist es doch besser, wenn du dich bei der Psychiaterin meldest, Sohn.“ Als Lucio seinem Vater einen scharfen Blick zuwarf, fügte dieser an: „Es ist doch nur zu deinem Besten, Sohn. Bitte, vielleicht kann sie dir wirklich helfen. Oder dich zumindest an einen anderen Spezialisten überweisen!“
Sein Vater hatte Recht, so konnte es nicht weiter gehen. Dieses Virus machte ihm vollkommen zu schaffen und er musste sich eingestehen, dass er alleine nicht damit fertig wurde. Vielleicht brauchte er wirklich professionelle Hilfe.

„Also gut, ich mach´s. Ich gehe zu dieser Psychiaterin. Doch glaub ja nicht, dass du mich in der Zeit suspendieren kannst! Ich werde weiterhin als Jäger arbeiten, ob es dir passt oder nicht!“ Beschwichtigend hob Lucian die Arme und nickte ernst. „Schon gut, schon gut. Du darfst weiterhin als Jäger arbeiten. Doch ich möchte jedes Mal, wenn du bei der guten Frau Doktor warst einen schriftlichen Bericht von dir.“ „Traust du mir etwa nicht?“ Lucio warf seinem Vater ein spöttisches Grinsen zu und dieser verdrehte die Augen. „In dieser Sache nicht, nein. Und wenn dein Berichtsheft unvollständig sein oder immer das gleiche darin stehen sollte, dann werde ich dich persönlich zu dieser Frau schleifen. Hast du das verstanden?“ „Himmel, ja! Mann, du tust ja gerade so als sei ich todkrank.“
Mit dieser Bemerkung hatte Lucio eigentlich nur ein wenig die Stimmung auflockern wollen, doch es passierte genau das Gegenteil: Sein Vater presste die Lippen eng zusammen und sein Blick wurde todernst.
„Das ist kein Spaß Lucio! Vergiss nie was du eigentlich bist. Das Virus ist schließlich nicht umsonst in deinem Körper!“ Damit erhob er sich und machte Anstalten das Zimmer zu verlassen. Kurz bevor er die Türe erreichte, drehte sich Lucian noch einmal um und verabschiedete sich sanfter: „Ich wünsche dir noch eine erholsame Nacht, Sohn. Versuch noch ein wenig zu schlafen, dein Körper kann es gebrauchen. Bis bald.“
Lucio blickte seinem Vater hinterher wie dieser sein Schlafgemach verlies und die Türe hinter sich zuzog. Roberto half ihm wieder hoch und stützte ihn die zwei Schritte bis zu seinem Bett. „Kann ich Euch etwas bringen, Herr?“ fragte John besorgt und wischte sich ein letztes Mal über seine Nase. Die Blutung hatte bereits aufgehört und sein Riechorgan schien sich wieder zu erholen.
„Ein Wasser vielleicht. Und eine halbe Aspirin, ich habe furchtbare Kopfschmerzen.“

Eineinhalb Tage später fand Lucio endlich die Zeit diese Psychiaterin anzurufen. Er hatte freiwillig Überstunden geschoben, nur um so wenig wie möglich schlafen zu müssen. Die Halluzination hatte ihm ein wenig Angst eingejagt und gab ihm das Gefühl von seinem Gehirn betrogen worden zu sein. Ein schrecklicher Gedanke, wenn man bedachte, dass er sich darauf immer hatte verlassen können.
Missmutig fischte er die zerknitterte beige Visitenkarte aus seiner Jeanstasche, welche Gott sei Dank noch nicht von John in die Waschmaschine gesteckt worden war. Er biss sich auf die Unterlippe und studierte die Karte erst einmal eingehend.
In schlichten schwarzen Lettern stand kursiv gedruckt der Name der Psychiaterin auf der Vorderseite und ihr Beruf direkt darunter.

Dr. Ann-Sophie Cartwright, Psychiaterin. Auf der Rückseite waren die Adresse ihrer Praxis und ihre Telefonnummer vermerkt. Ansonsten war die Karte leer und seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben.
Nur auf das Allernötigste beschränkt und so schlicht wie möglich gestaltetm damit auch jeder Depp die Visitenkarte lesen konnte, ohne am Ende von zu vielen Angaben verwirrt zu sein. Wie nett.
Seufzend griff er nach dem schnurlosen Telefon auf seinem Schreibtisch und wählte die Nummer auf der Karte.
Nach kurzer Zeit wurde der Hörer abgenommen und eine angenehme weibliche Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. „Guten Tag, Sie sprechen mit Dr. Ann-Sophie Cartwright, was kann ich für Sie tun?“ Waren Seelenklemptner immer so förmlich und steif? „Guten Morgen, Dr. Cartwright. Mein Name ist Lucio Fist und ich würde gerne einen Termin mit Ihnen vereinbaren.“
„Aha und worum geht es genau?“ fragte sie freundlich und Lucio schürzte leicht die Lippen. „Wissen Sie, Ma´ am in letzter Zeit habe ich schreckliche Alpträume, die mich um meinen erholsamen Schlaf bringen. Und vor ein paar Tagen hatte ich eine furchtbar real wirkende Halluzination.“ antwortete er dann wahrheitsgemäß und wartete auf ihre Reaktion.
„Ich verstehe. Sie können also kaum noch schlafen und haben Halluzinationen. Haben diese etwas mit Ihren Alpträumen zu tun?“ „Ja, die Kreatur von der ich sonst immer träumte, erschien vorgestern Nacht in meinem Schlafzimmer und griff mich an. Mein äh Bruder musste mir eine Ohrfeige verpassen, damit ich aufwachte. Ich hoffe Sie verstehen meine Lage und können mir schnell einen Termin geben. Ich fürchte diese Alpträume gehen langsam auf meine Gesundheit.“ Wohl wahr.
„Hm, mal sehen. Es scheint wirklich ernst zu sein bei Ihnen. Ich sehe mal in meinen Terminkalender, einen Moment bitte.“ Anscheinend hatte sie ihn in die Warteschleife gedrückt, denn keine zwei Sekunden später ertönte das fröhliche Klimpern eines Klaviers welches den Flohwalzer interpretierte. Sollte das etwa beruhigend sein? Er fand das eher nervtötend.

Nach schier endlos wirkenden fünf Minuten meldete sich das Fräulein wieder zu Wort. „Mister Fist? Ich sehe gerade, dass kommenden Montag ein Termin frei geworden ist. Wäre es Ihnen Recht um 11:15 Uhr in meine Praxis zu kommen?“
„Ja natürlich. Um 11:15 Uhr also. Nun, dann bis Montag, Frau Doktor.“ „Einen Moment noch, Mr. Fist. Bitte bringen Sie an unserem Termin die Überweisung Ihres Hausarztes oder dem Allgemeinarzt welchen Sie immer aufsuchen mit. Das wäre dann alles, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag Mr. Fist. Auf Wiederhören.“
Damit verabschiedete sie sich und Lucio starrte nachdenklich auf den Hörer seines Telefons.

Am Donnerstagabend erhielt er einen Anruf von seinem Kollegen Mikel McAllister. „Guten Abend Mr. Fist. Äh ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie. Ein Objekt K

ist aus unserem Headquarter in Kenwood geflüchtet.“ „Was? Wie konnte so etwas passieren?!“ brüllte er aufgebracht in den Hörer und merkte förmlich wie sein Gesprächspartner zusammenzuckte. Verdammt, das war überhaupt nicht gut! Ein Objekt K war ein niederer Dämon, welche die Fähigkeit besaßen in menschliche Körper zu schlüpfen und diese dann zu steuern, als wären es Roboter.
Objekte K wurden von den Jägern immer betäubt und anschließend in ihr Headquarter gebracht, um sie dort zu eliminieren. Die Schweinerei die dabei entstand würde in aller Öffentlichkeit für ziemlichen Aufruhr sorgen und ihre vier Mann starke Putzkolonne brauchte jedes Mal mindestens einen Tag, um die Zellen zu reinigen.
Normalerweise waren diese auch total ausbruchsicher wie in einem Hochsicherheitsverlies und ihre Tagschicht bestand aus hart ausgebildeten menschlichen Soldaten, welche für diesen Dienst auserwählt worden waren. Sollte sich ein Objekt der Klassifizierung M oder höher aus einer der Zellen befreit haben, so würden diese sofort eingreifen und es erneut betäuben. Anschließend würde dieser Dämon sofort vernichtet werden, um weiteren Ausbruchsversuchen vorzubeugen.
Offenbar hatten Charles und seine sechs Kollegen von der Tagschicht nicht aufgepasst und der Dämon hatte sich unbemerkt entfernen können. So etwas durfte einfach nicht vorkommen! Diese Dämonen waren eine Gefahr für die Menschheit und jetzt streunte auch noch ein Schlüpfer wie Objekte der Klassen L, K und J von ihnen umgangssprachlich bezeichnet wurden durch die belebten Straßen Londons.

„Wo befindet sich das Objekt gerade?“ bellte er und Mikel antwortete knapp: „Im Hyde Park, Sir. Eine fünfköpfige Gruppe folgt ihm bereits. Doch es sind zu viele Zivilisten unterwegs. Kein Eingreifen möglich. Ich habe ihnen den Befehl erteilt, das Monster zu verfolgen und sobald es in einen Menschen schlüpfen sollte, diesen zu betäuben!“
„Gut. Der Dämon wird sofort eliminiert, sobald er zurückgebracht wurde. Sollte er es geschafft haben einen menschlichen Körper zu übernehmen, werden dessen Erinnerungen rücksichtslos manipuliert! Wir dürfen nicht riskieren, dass die Menschen etwas von uns oder gar den Dämonen erfahren. Es gibt immer irgendwelche Verrückten, die das dann auch noch glauben und genau von denen geht die größte Gefahr aus. Haben Sie noch Fragen, Mr. McAllister?“
Sein Gesprächspartner verneinte und Lucio seufzte matt. „Dann bringen Sie mir gefälligst diesen Dämon zurück!“ Mit diesen Worten knallte er das Telefon zurück auf die Station und rieb sich verärgert die Schläfen. Inkompetenz seiner Mitarbeiter war das letzte was er im Moment gebrauchen konnte und er überlies es nur zu gerne den Ratsmitgliedern darüber zu entscheiden, ob die Männer für ihre Dummheit bestraft wurden.

Als wäre das ganze nicht schon deprimierend genug, bekam er diese Nacht wieder einen Besuch von Zhargot. Dieses Mal war er nicht so „freundlich“ ihn erst einmal zu begrüßen und ging gleich zu einer Attacke über. „Sir, wachen Sie auf, Sie haben schon wieder einen Alptraum!“ rief John neben seinem Ohr und verpasste ihm einen Schlag ins Gesicht, dessen Schmerz Lucio für einen Moment völlig betäubte.
Der Butler hatte einen sauberen rechten Haken, stellte er fest und rieb sich die Wange, während John ihm zurück zu seinem Bett half.
Frustriert rieb er sich die Müdigkeit aus den Augen und verfluchte dieses dämliche Virus, welches ihm die Halluzinationen und Alpträume bescherte. Er kam sich dabei immer so hilflos und dem Gegner ausgeliefert vor, wie ein wehrloses Beutetier, das vor seinem Fressfeind auf einem Präsentierteller überreicht wurde.
Mit knirschenden Zähnen bettete er sich erneut zur Ruhe und betete, nicht gleich wieder in einen Nachtmahr zu gleiten. Er hatte Glück und fiel in einen eher traumlosen Schlaf, doch er wusste, dieses Glück würde nicht ewig halten und in Zukunft würde er immer weniger davon haben.

Der Montag für seinen allerersten Termin bei Dr. Cartwright kam und er hätte am liebsten abgesagt. Natürlich war er kein Feigling, doch er hatte keine Ahnung was er der guten Frau Doktor alles erzählen sollte. Immerhin konnte er ihr kaum erzählen, dass er Dämonenjäger war und ihre Stadt vor den Angriffen dieser Höllenkreaturen so gut es ging bewahrte. Sie würde ihn als noch verrückter einstufen, als zuerst angenommen und dann würde er noch bis in alle Ewigkeit Sitzungen bei ihr haben. Darauf konnte er getrost verzichten, immerhin wusste er nicht, was für eine Schreckschraube ihm gegenübersitzen und mit Fragen bombardieren würde.
Besser er log ihr etwas vor, auch wenn er normalerweise nicht sehr gerne log und auch nicht wirklich gut darin war. Es war einfach gegen seine Ehre jemanden zu belügen, auch wenn die Wahrheit noch so verrückt klingen mochte. Doch wenn er log, dann fühlte es sich an, als wäre er auf das gleiche Niveau herabgesunken wie diese stinkenden Dämonen.

Mit dem Anflug leichter Kopfschmerzen machte er sich auf den Weg und erreichte die Praxis fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit, was auf einen kleinen Stau im Zentrum der Stadt zurück zu führen war. Brummend parkte er auf einem der beiden Parkplätze für die Patienten von Dr. Cartwrigth und stieg aus dem Auto.
Die Praxis befand sich in einem etwas größeren Bürokomplex und ein weißes Schild neben der gläsernen Eingangstüre wies darauf hin, dass er in den zweiten Stock des Gebäudes musste. Auf der gleichen Etage wie die Praxis seiner Psychiaterin befanden sich noch ein Zahnarzt, eine Steuerkanzlei und das Büro eines Rechtsanwaltes. Das konnte er ebenfalls den Schildern entnehmen und schließlich betrat er mit eiligen Schritten das Gebäude.

Im Aufzug stand bereits ein junger untersetzter Mann mit flammend rotem Haar und einem hellgrauen Anzug. Offenbar ein Mitarbeiter der Büros. Der Mann kaute nervös auf seiner Unterlippe herum und warf immer wieder einen Blick auf seine silberne Armbanduhr. Anscheinend kam er ebenfalls wie Lucio zu spät.
Die Türen sprangen im zweiten Stock mit einem leisen Pling

auf und Lucio verlies den Aufzug jetzt ebenfalls ein wenig nervös. Der Gang den er betrat war mit hellem Ahornholzboden ausgelegt worden und die Wände hatte man in einem sanften Himmelblau gestrichen. Auf der einen Seite des Ganges befanden sich mehrere Fenster, durch welche strahlender Sonnenschein den Flur beleuchtete. Auf der anderen Seite gab es sechs Türen, zwei davon führten zu den Toiletten.
Interessiert schlenderte er den Gang entlang und musterte die Bilder, welche zwischen den Türen aufgehängt worden waren. Neben dem Büro des Steuerkanzlers hing ein modern abstraktes Bild eines Stieres und eines Bären und er verzog das Gesicht. Mit Steuern und Finanzen hatte er sich nie wirklich beschäftigt, das hatte er seinen Eltern bzw. seinem Butler John überlassen.
Das zweite Büro war das des Rechtsanwaltes und danach folgte der Zahnarzt. Lucio blieb stehen und lauschte grinsend nach lauten Schmerzensschreien der Patienten. Er wurde nicht enttäuscht und kicherte ein wenig. Einen Zahnarzt hatte er dank seiner teuflischen Gene niemals besuchen müssen und jedes Mal wenn er an einem Zahnarzt vorbeikam und die entsetzten Schreie der Kinder und Erwachsenen hörte, dann war er richtig froh darüber.

Dr. Cartwrights Büro war das letzte in der Reihe und er betrachtete neugierig die Bilder, welche neben ihrer Türe aufgehängt worden waren. Das erste Bild war ein erstaunlich gutes Abbild von Claude Monets Mohnblumen

. Das andere hingegen war eine billige Imitation von Franz Marcs die großen blauen Pferde

. Er wusste genau, dass es sich um eine Kopie handelte, hatte er doch den Künstler der Redaktionsgemeinschaft Der Blaue Reiter einst persönlich getroffen und ihm dabei zugesehen wie dieses und andere Werke entstanden waren.
Die Doktorin schien eine leidenschaftliche Kunstliebhaberin zu sein. Oder sie hatte die Bilder einfach gekauft, ohne zu wissen, wer die Originale einst gemalt hatte.
Ein wenig aufgeregt klopfte er gegen die Türe und räusperte sich leise. Dann wartete er. Und wartete. Geschlagene fünf Minuten. Gereizt drückte er die Klinke der Türe nach unten und siehe da – sie lies sich öffnen.
Ohne große Worte der Ankündigung, dass er nun reinkommen würde, betrat er den großzügig gestalteten Raum und sah sich um. Die Wände waren in einem zarten Beige gestrichen worden, welche an die Farbe von Milchkaffee erinnerte. Sonnengelbe Plissees an den drei Fenstern sollten offenbar eine freundliche Atmosphäre vermitteln, Lucio hingegen empfand das als vollkommene Geschmacksverirrung.

Auf der rechten Seite des Zimmers befand sich eine einladen aussehende modere Couch in Anthrazit. Diese wurde von hellgrauen und ebenfalls sonnengelben Kissen bevölkert, welche ordentlich aufgeschüttelt da lagen. Vor der Couch stand ein gläsernes Kaffeetischchen auf welchem Zeitungen ausgelegt worden waren.
Ein Kaffeeautomat stand auf einem kleinen Sideboard aus hellem Holz und daneben stapelten sich vielerlei bunte Tassen.
Die linke Seite wurde komplett von einem wuchtigen gläsernen Bücherregal eingenommen, in welchem lauter Schmöker über Psychologie und ähnlichen Themen standen. Es sah so aus, als wäre mindestens die Hälfte davon hineingequetscht worden und trotzdem herrschte eine gewisse Ordnung, auch wenn er sie nicht wirklich herausfinden konnte.
Vor dem Bücherregal konnte er einen ebenfalls gläsernen Schreibtisch ausmachen. Ein großer weißer Computer einer berühmten Computer- und Unterhaltungselektronikfirma beschlagnahmte einen großen Teil der Schreibtischfläche. Sein Handy stammte ebenfalls von dieser Firma.
Die restliche Fläche war voll mit Ordnern, Terminkalendern, einem Blumentopf in dem eine Geranie vor sich hinwelkte, sowie einer anscheinend leeren Tasse Kaffee samt Löffel.

Lucio umrundete den Schreibtisch und machte es sich in dem Chefsessel der Psychiaterin bequem. Das weiche Leder fühlte sich großartig unter der nackten Haut seiner Unterarme an und er wusste, es handelte sich um ausgezeichnete Qualität.
Wo wohl die ehrenwerte Frau Doktor blieb? Immerhin waren jetzt bestimmt noch einmal fünf Minuten seit seiner kurzen Erkundung des Büros vergangen und je mehr Zeit verstrich, desto weniger hätte er für seine erste Therapiestunde zur Verfügung.
Seufzend verschränkte er die Arme hinter seinem Kopf und schloss die Augen. „Die wird schon bald kommen.“ murmelte er vor sich hin und wartete langsam ungeduldig werdend auf seine Psychiaterin.

Tatsächlich vernahm sein feines Gehör wie keine zwei Minuten später die Türe des Büros erneut geöffnet wurde und er hob seine Lider einen Spalt breit, um zu sehen, wer den Raum betreten hatte.

Kaum hatten seine Augen die Person erfasst, öffnete er sie ganz, um der Schönheit ihm gegenüber volle Aufmerksamkeit zu widmen. Eine junge Frau hatte das Zimmer betreten und stand nun auf der anderen Seite des Schreibtisches, wobei sie ihn geringschätzig musterte.
Ihr schulterlanges Haar wellte sich in blonden Locken über ihre zierlichen Schultern, wobei es im hellen Licht der Neonröhren über ihnen in verschiedenen Blondtönen glänzte. Ihr Gesicht war oval und schien ohne jeglichen Makel. Die zierliche Stupsnase saß perfekt in der Mitte und sie hatte große eisgrüne Augen mit welchen sie ihm misstrauische Blicke zuwarf. Dichte schwarze Wimpern umrahmten sie und Lucio konnte nur mit Mühe den Blick von ihnen abwenden.
Das schönste jedoch waren die vollen sinnlichen Lippen, welche in einem satten Rot schimmerten. Lucio stellte sich vor wie es wohl wäre diese Lippen mit den seinen zu berühren und ein sanfter Schauder fuhr über seinen Rücken.

Auch der Rest ihres Körpers war eine Augenweide. Eine reinweiße Bluse mit neckischen Rüschen am Knopfsaum spannte sich über ihr üppiges Dekollete und Lucio leckte sich bei dem Anblick genüsslich über die Lippen. Ihre langen modelähnlichen Beine steckten in einer engen Röhrenjeans, welche natürlich jede weibliche Rundung wunderbar zur Geltung brachte.
Wenn sie die Psychiaterin war, dann war er im Himmel. Wenn nicht … dann war er es trotzdem. Es war bestimmt nicht schwer ihre Handynummer herauszubekommen. Grinsend richtete er sich in dem Sessel auf, doch noch bevor er etwas sagen konnte, öffnete sie ihren hübschen Mund und fragte bissig: „Wer sind Sie und was machen Sie in meinem Büro?“

Sie schien tatsächlich die Psychiaterin zu sein, schlussfolgerte er und erwiderte rasch: „Entschuldigen Sie, Ma´ am, mein Name ist Lucio Fist und die Türe war nicht abgeschlossen. Es hätte jeder hier einfach mal so hereinspazieren können.“
Skeptisch runzelte sie ihre Stirn und stellte einen Coffe-to-go Becher vor ihm auf dem Schreibtisch ab.
„Schön, dass Sie sich doch noch hier her bemüht haben, Mr. Fist. Sitzen Sie bequem in meinem Sessel?“ Ihre Stimme hatte rein gar nichts Sarkastisches an sich, als sie das sagte und jetzt war es Lucio, der seine Stirn runzelte.
Mann, die war ja kälter als ein Eisblock, dachte er gereizt und erhob sich langsam aus dem weichen Sessel. „Ich stand im Stau, Verehrteste und ja Ihr Sessel ist wirklich sehr bequem.“ versuchte er sie zu beschwichtigen, was sie jedoch nur gereizt aufschnauben lies.
„Setzen Sie sich bitte dort auf einen der Besucherstühle, Mr. Fist. Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten? Kaffe oder Tee vielleicht?“ Lucio bemerkte sofort, dass sie aufgesetzt freundlich wirkte und verdrehte genervt die Augen. Die erste Therapiestunde konnte ja heiter werden.

„Nein danke, ich verspüre im Moment nicht das Verlangen meinen Durst zu löschen.“ lehnte er höflich ab und setzte sich in einen der beiden Besucherstühle vor dem Schreibtisch. Die waren zwar nicht annähernd so bequem wie der Chefsessel, doch das würde er niemals zugeben. Auch er hatte seinen Stolz. Ausgiebig fläzte er sich in den Stuhl hinein und schlug locker die Beine übereinander.
„Also dann, ich wäre soweit, Sie können mit Ihrer Fragerei anfangen, Dr. Cartwright. Soll ich Sie eigentlich Doktor oder Miss nennen?“ begann er einen erneuten Versuch von Konversation und kam nicht umhin amüsiert zu grinsen, als sie das Gesicht verzog.

***

Der Himmel färbte sich langsam grau und Dr. Ann-Sophie Cartwright erkannte, dass es bald einen der üblichen Regenschauer über London geben würde. Schnell reichte sie der Kassiererin in dem Starbucks Café das Geld für ihren Coffee-to-go und verlies anschließend gehetzt den Laden. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie entsetzt fest, dass es bereits halb 12 Uhr mittags war. Hoffentlich wartete ihr neuer Patient nicht schon seit einer halben Ewigkeit vor der Türe.
Zwischen ihrem ersten Patienten an diesem Tag, Mr. Roberts, und ihrem neuen Patienten Mr. Fist hatte eine kurze Zeitspanne von zehn Minuten gelegen und sie hatte sich nur schnell einen Kaffee holen wollen. Eigentlich hatte sie ja eine Kaffeemaschine, doch die Kaffeepads dafür waren leer gegangen und so war ihr nichts anderes übriggeblieben, als in ein Café zu gehen.
Sie hatte nur nicht daran gedacht, dass es jetzt um diese Zeit vor Kunden in einem Starbucks nur so wimmelte. Eigentlich widersprach es ihrer guten Erziehung, doch sie hatte sich heute ausnahmsweise ein paar Mal vorgedrängelt und war so schneller drangekommen. Trotzdem hatte sie eine halbe Ewigkeit anstehen müssen und hetzte nun über die Straße zurück zu ihrem Büro.
Eilig drückte sie den Knopf für den Fahrstuhl und trommelte ungeduldig mit einem Fuß auf den weiß gefliesten Boden im Empfangsbereich des Bürokomplexes. Endlich öffneten sich die Fahrstuhltüren und sie stürmte hinein, gefolgt von ein paar Männern in Anzügen, welche sie schon ein paar Mal hier im Haus gesehen hatte. Es waren Mitarbeiter der Bürofirma und sie schenkte ihnen ein freundliches Lächeln, auch wenn sie sich als einzige Frau unter vier Männern in einem engen Aufzug ein wenig unwohl fühlte.
Keine zwei Minuten später hetzte sie den menschenleeren Flur entlang zu ihrer Praxis und blieb vor der Türe stehen, um kurz durchzuatmen. Dabei fiel ihr auf, dass kein wartender junger Mann neben der Türe stand und ihr verärgerte Blicke zuwarf, was sie durchaus verstanden hätte.

Ann-Sophie blickte sich nervös um, doch sie konnte immer noch niemanden entdecken. War der Mann vielleicht schon gegangen? Sie war doch nur für kurze Zeit weg gewesen und sie hatte sogar ein paar Minuten bis nach der vereinbarten Zeit gewartet, doch niemand war gekommen oder hatte per Telefon abgesagt.
Es wäre ihr wirklich peinlich, wenn der Mann einfach gegangen war und sie jetzt für unzuverlässig hielt. Dem Himmel sei Dank hatte sie sich seine Nummer notiert und würde ihn gleich anrufen und sich vielmals entschuldigen.
Schnell zog sie ihren Praxisschlüssel aus ihrer Hosentasche und sperrte die Türe auf, viel besser gesagt, sie wollte es, denn sie musste mit leichtem Entsetzen feststellen, dass während ihrer Abwesenheit nicht abgesperrt gewesen war. Himmel, jeder der wollte, hätte in ihr Büro eindringen und ordentlich abräumen können. Obwohl es wahrscheinlich nicht sehr unauffällig gewesen wäre mit einem Kaffeeautomaten oder einem Computer mit dem Aufzug zu fahren.
Verdammt, Ann-Sophie du wirst leichtsinnig, schalt sie sich selbst und betrat das großzügig geschnittene Zimmer.
Sofort spürte sie, dass etwas nicht stimmte und ihre Muskeln spannten sich etwas an. Tatsächlich saß hinter ihrem gläsernen Schreibtisch ein junger Mann mit hinter dem Kopf verschränkten Armen sowie geschlossenen Augen. Ein Einbrecher konnte er also nicht sein, kein Einbrecher wäre so blöd am Tatort ein Nickerchen zu halten.
Dann musste es ihr neuer Patient sein. Misstrauisch schritt sie auf ihn zu und er öffnete seine Augen einen Spalt breit bevor er sie vollends öffnete. Zugegeben er war nicht gerade unattraktiv und machte einen gepflegten Eindruck. Sein Gesicht war kantig und maskulin mit einer geraden Nase, die aussah als hätte sie jemand mit einem Lineal gezogen. Fast perfekt saß sie in der Mitte seines Gesichts, über einem schmallippigen Mund.
Ob er mit diesen Lippen gut küssen konnte? Herrgott wie kam sie nur auf solche lasziven Gedanken, obwohl sie noch nicht einmal „Hallo“ gesagt hatte? Das war so gar nicht ihre Art.
Die Farbe seiner Haare war ein wenig ungewohnt, denn sie waren von einem dunklen anthrazitgrau und kurz geschnitten, wobei er sie mit ein wenig Gel gestylt hatte. Trotzdem wirkten sie auf ihre Art attraktiv und anziehend.
Seine Augen jedoch waren mitunter das schönste an ihm und leuchteten in einem geheimnisvollen Eisgrau, in dem sich einige hellblaue Sprenkel tummelten. So eine außergewöhnliche Farbe hatte sie noch nie gesehen.
Sie hatte Mühe ihren Blick von ihnen abzuwenden und fragte ein wenig bissiger als beabsichtigt: „Wer sind Sie und was machen Sie in meinem Büro?“

„Entschuldigen Sie, Ma´ am, mein Name ist Lucio Fist und die Türe war nicht abgeschlossen. Es hätte jeder hier einfach mal so hereinspazieren können.“ erwiderte er daraufhin frech und sie runzelte skeptisch ihre Stirn.
Da hatte er recht. Verdammt, das hätte nicht passieren dürfen! Schließlich stellte sie ihren Kaffeebecher vor sich auf dem Schreibtisch ab und wandte sich erneut an ihn.
„Schön, dass Sie sich doch noch hier her bemüht haben, Mr. Fist. Sitzen Sie bequem in meinem Sessel?“ Dabei achtete sie bewusst darauf nicht sarkastisch dabei zu wirken. Was dachte sich dieser Kerl eigentlich? Zuerst kam er zu spät zu ihrem Termin und dann, während ihrer Abwesenheit, drang er einfach unaufgefordert in ihr Büro ein. So ein unhöflicher Idiot! Und der Höhepunkt war ja, dass er es sich einfach in ihrem Bürosessel bequem gemacht hatte!
„Ich stand im Stau, Verehrteste und ja Ihr Sessel ist wirklich sehr bequem.“ entschuldige er sich, doch das kaufte sie ihm nicht wirklich ab. Er war sicherlich mit Absicht zu spät gekommen, auch wenn sie nicht wusste, warum er das tun sollte. Doch sie traute ihm nicht weiter als bis zu der Teppichkante dieses Raumes und das würde wahrscheinlich auch noch für längere Zeit so bleiben.
Deswegen schnaubte sie auch leicht gereizt bei dieser Aussage und wies ihn an auf einem der Besucherstühle platz zu nehmen. Nur weil sie nicht wollte, dass man sie für unhöflich hielt bot Ann-Sophie dem Mann etwas zu trinken an, was er jedoch höflich ablehnte.
Verärgert lies sie sich auf ihrem eigenen Stuhl nieder, welcher nun ein wenig angewärmt war und musterte ihn noch einmal unauffällig. Seine Schultern waren breit und männlich und das helle Polohemd spannte sich über die trainierten Muskeln seiner Brust. Ann-Sophie hatte eigentlich nie etwas von Bodybuilding gehalten, doch bei diesem Anblick erwachte eine Seite in ihr, die sie vorher nie gekannt hatte und ihr für einen kurzen Augenblick ziemlich erotische Fantasien durch den Kopf jagte.
Reiß dich doch zusammen, der Mann sieht zwar lecker aus, ist aber innen hohl wie ein Schokoladennikolaus. Eigentlich schade, doch sie hielt nichts von Männern, welche sich ohne Sinn und Verstand durch die Weltgeschichte vögelten und dieser Typ war ganz sicher eines von diesen leider nicht gerade seltenen Exemplaren.
Bedauern machte sich in ihr breit und sie fragte sich was wohl in sie gefahren sein mochte. Anschließend verzog sie das Gesicht, als er sie fragte, ob er sie mit Doktor oder Miss ansprechen sollte.
„Es wäre mir lieber, wenn Sie mich mit Doktor Cartwright ansprechen würden. Immerhin sind Sie mein Patient und ich finde Miss klingt in diesem Falle respektloser als Doktor, wenn Sie verstehen was ich meine.“
„Aber klar doch, Doktor. Nun denn, was wollen Sie wissen?“ Warum um alles in der Welt war der Kerl auf einmal so motiviert, als wäre das ganze hier Spaß.
„Nun zunächst einmal würde ich gerne Ihre Personalien erfahren Mr. Fist. Ich habe leider nur Ihren Nachnamen und Ihre Telefonnummer. Es wäre schön, wenn Sie mir Ihre Adresse nennen könnten, denn ich lege von jedem meiner Patienten einen Kundenordner an. Eine Patientenkartei um genau zu sein.“

Er nickte lächelnd und sie lächelte unweigerlich zurück. Dann räusperte sie sich und erkundigte sich nach seinen restlichen Personalien, die er ihr ohne zu zögern angab. So fand Ann-Sophie heraus, dass er mit Vornamen Lucio hieß und in einer entlegenen Gegend außerhalb von London wohnte.
Das weckte wieder Misstrauen in ihr und es wurde noch verstärkt, als sie ihn nach seinem Beruf fragte und er eine Weile gar nichts sagte, so als müsste er darüber nachdenken. Schlussendlich gab er an, Manager einer großen Biotechnikfirma zu sein, doch als sie sich nach deren Namen erkundigte, erwiderte er, dass er das nicht preisgeben dürfe.
So ein Schwachsinn! Alle ihre Patienten erzählten ihr wo sie arbeiteten oder zur Schule gingen, was war schon dabei? Sie wollte doch nur wissen, ob die Leute in einem sicheren Umfeld lebten oder es Schwierigkeiten mit der Jobsuche gab und sie deswegen vielleicht depressiv waren.
Immerhin war sie in gewisser Weise eine Ärztin und keine Stalkerin oder eine von diesen aufdringlichen Klatschreporterinnen. Am Ende legte er ihr noch seine Überweisung seines Hausarztes vor, von dem Ann-Sophie noch nie gehört hatte. Vielleicht lebte auch dieser Arzt in der gleichen Abgeschiedenheit wie ihr neuer Patient.
„Brauchen Sie sonst noch irgendwelche Informationen zu meiner Person? Meine Schuhgröße vielleicht?“ witzelte er, doch Ann-Sophie verengte dabei verärgert ihre Augen.
„Bleiben Sie gefälligst ernst Mr. Fist! Immerhin handelt es sich hier um eine ärztliche Sitzung und nicht um einen Kaffeeklatsch! Und ja ich habe noch einige Fragen an Sie. Was genau in Ihren Alpträumen und Halluzinationen vorkommt zum Beispiel. Könnten sie es mir vielleicht schildern?“

Mr. Fist kaute ein wenig nervös auf seiner Unterlippe herum und seufzte: „Nun ja ich weiß nicht wie ich es Ihnen sagen soll. Es ist ein wenig kompliziert müssen Sie wissen.“ Interessiert richtete sie sich ein wenig auf und nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. Das Getränk war inzwischen nur noch lauwarm und trotzdem noch genießbar. Wer auch immer die Kette Starbucks erfunden hatte, er gehörte in den Himmel hoch gelobt für diesen herrlichen Kaffee.
„Nur zu Mr. Fist, wir haben noch gut fünfundzwanzig Minuten Zeit. Fangen Sie doch einmal an mir zu schildern, was sie jede Nacht träumen, sodass Sie kaum noch schlafen können.“
„Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, dann werde ich dies tun. Doch meine Träume haben es in sich, also machen Sie sich auf etwas gefasst!“

3. Kapitel




Er erzählte ihr alles bis ins kleinste Detail. Nur zwei wesentliche Dinge ließ er dabei aus. Erstens den Namen des Dorfes in welchem er sich in seinen Träumen ständig befand, Wickedshire existierte nicht mehr und seine Erinnerungen an diesen grausigen Ort sollten geheim und in seinem Unterbewusstsein bleiben.
Zweitens die Tatsache, dass er ein 164 Jahre alter Abkomme des Teufels war und nebenbei hauptberuflich Dämonen jagte. Es wäre keine gute Idee ihr so etwas zu erzählen, wo es sich bei ihr doch um einen Menschen handelte. Obwohl er eine seltsame Aura um sie gespürt hatte, als sie das Zimmer betreten hatte und er sich nicht erklären konnte, was das wohl gewesen sein mochte.
Doch im Moment hatte er keine Zeit darüber nachzugrübeln und so konzentrierte er sich darauf ihr alles haarklein zu erzählen.
Das Fräulein Doktor machte sich inzwischen ab und an Notizen auf ihrem Klemmbrett und nickte verständnisvoll. Ein oder zwei Mal bemerkte er, wie sie das Gesicht verzog oder die Augen aufriss und wer konnte es ihr schon verübeln? Er bekam ja selbst eine Gänsehaut, als er ihr von seinen Alpträumen berichtete.
Am Ende des Gesprächs blickte sie ihm direkt in die Augen und lächelte sanft, ja fast mitleidig. „Ich verstehe nun, Mr. Fist. Sie haben in der Tat fürchterliche Alpträume und es ist gut, dass Sie zu mir gekommen sind. Ich werde auf jeden Fall versuchen Ihnen zu helfen, egal wie lange ich dafür benötige!“ Sie sprach ohne die bisherige Strenge in der Stimme und er entspannte sich ein wenig.
Immerhin war sie jetzt nicht mehr so schlecht auf ihn zu sprechen wie am Anfang.
Sie legte das Klemmbrett zur Seite und nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. Der war doch inzwischen schon längst abgekühlt, dachte er und schmunzelte leicht, als sie ihr Gesicht verzog. Ihr Blick wanderte dabei auf ihre Armbanduhr und sie hob überrascht ihre dünnen Augenbrauen. „Wir haben nur noch fünf Minuten Mr. Fist. Haben Sie noch irgendwelche Fragen oder bedrückt Sie noch etwas anderes? Sie können mich alles fragen, ich höre Ihnen gerne zu.“
„Ja sicher.“ murmelte er verächtlich und sie runzelte ihre Stirn. „Haben Sie etwas gesagt, Mr. Fist?“ „Äh nein, nein alles bestens. Obwohl … Als ich mich vorhin hier umgesehen habe, da ist mir aufgefallen, dass Sie gar keine Urkunden von sich aufgehängt haben.“
Verwirrt legte die Psychiaterin ihren Kopf schief. „Urkunden?“ „Na ja Sie wissen schon, diese Urkunden, dass Sie vom Staat geprüft wurden.“ sprach er ungerührt weiter und ihr schien ein Licht aufzugehen. „Ach, jetzt verstehe ich Sie. Sie meinen ein Zertifikat, dass ich eine vom Staat anerkannte Psychiaterin bin.“
„Genau das meinte ich. Warum hängt hier keines von diesen Dingern rum? Meiner Ansicht nach geben Rechtsanwalt, Psychiater und Co. immer gerne damit an, was für tolle Zertifikate sie schon bekommen haben.“ Dr. Cartwright verengte bei dieser Aussage ihre hübschen Augen und zischte erbost: „Mr. Fist, ich versuche meine Patienten nicht mit irgendwelchen Urkunden zu beeindrucken. Ich bin eine vom Staat anerkannte Psychiaterin und mein Wort genügt den Leuten meistens. Sollte allerdings einer der Patienten, oder im Falle einer dauerhaften Geistesgestörtheit, einer seiner Verwandten mein Zertifikat sehen wollen, bin ich natürlich gerne bereit es vorzuweisen.“
Lucio grinste bei diesem kleinen Wutanfall amüsiert, bevor er fort fuhr: „Wenn das so ist, dann möchte ich dieses Zertifikat gerne sehen.“
„Wie bitte?“ Sie wirkte empört und Luico konnte das durchaus verstehen, aber irgendwie machte es Spaß die Lady auf die Palme zu bringen.
„Sie haben schon richtig gehört, Doktor. Ich möchte Ihr Zertifikat sehen. Jetzt.“ bestätigte er seine Worte und sie funkelte ihn wütend an.
„Reicht Ihnen mein Wort nicht, Mr. Fist?“ sprach sie zuckersüß, obwohl es in ihr brodelte wie in einem aktiven Vulkan. „Ich bin da etwas wählerisch, wissen Sie Doktor? Also, her mit dem Wisch. Danach gebe ich auch Ruhe, versprochen.“
Während die junge Frau eine ihrer Schreibtischschubladen aufzog, murmelte sie wüste Beschimpfungen vor sich hin und knallte ihm die eingerahmte Urkunde nur so vor die Nase.
Das brachte ihn zum Lachen und sie verschränkte zornig die Arme vor der Brust. „Ich habe noch nie in meiner ganzen Laufbahn einen solch störrischen, aufdringlichen und idiotischen Patienten be-„ Sie unterbrach sich selbst, indem sie sich rasch eine Hand vor den Mund schlug und warf ihm einen erschrockenen Blick zu. „Oh Gott, entschuldigen Sie. Ich weiß nicht was in mich gefahren ist. Ich glaube ich habe mich in Rage geredet. Bitte verzeihen Sie mein Verhalten.“ entschuldigte sie sich kleinlaut und er schenkte ihr ein freundliches Lächeln.
„Schon vergessen. Vielleicht hätte ich nicht ganz so aufdringlich sein sollen. Bitte entschuldigen Sie mein Verhalten.“ gab er zu und sie lächelte zurück. „Schon gut. Kann ich die Urkunde jetzt wieder wegräumen?“
„Aber natürlich, Frau Doktor.“
Sie verstaute das Zertifikat wieder in der Schublade und seufzte. „Haben Sie sonst noch Fragen an mich, Mr. Fist?“
„Nein, keine Fragen.“ erwiderte er ernst und sie nickte. „Muss ich sonst noch etwas über Sie wissen? Etwas, dass nicht in Ihren Träumen vorkommt vielleicht?“ Lucio überlegte eine Weile und legte dabei seine Stirn in Falten. „Wenn ich es mir recht überlege, gibt es da schon eine Sache, die womöglich interessant für Sie wäre. Aber …“ Er sprach nicht zu Ende und sah ihr direkt in die Augen. „Aber was, Mr. Fist?“ hakte sie nach und die Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Nun, ehrlich gesagt ist es mir ein wenig unangenehm darüber zu reden und ich habe auch noch nie mit jemandem darüber gesprochen.“ erklärte er nervös und sie schürzte ihre Lippen. „Es braucht Ihnen nicht peinlich oder unangenehm zu sein mit mir über Ihre Probleme zu reden, Mr. Fist. Ich bin schließlich Psychiaterin und nicht die Queen. Sie können mir alles sagen, was Sie bedrückt, auch Dinge, die Sie in ihrem normalen Umfeld üblicherweise nicht erwähnen würden. Also nur keine Scheu. Erzählen Sie mir, wo der Schuh drückt.“ munterte sie ihn auf und er seufzte.

„Ich fürchte mein Problem ist größer als Sie dachten, Doktor. Manchmal nach diesen Alpträumen, da halte ich mich selbst für einen Dämon! Das ist wirklich zum verrückt werden!“
Mal sehen, wie sie damit fertig wird, dachte er spöttisch und beobachtete genau ihre Reaktion.
Wie nicht anders zu erwarten zog sie ihre Augenbrauen hoch und weitete die Augen. „Sie … äh Sie halten sich für … einen Dämon?“ fragte sie nach und er nickte bekräftigend. „Ja so ist es. Und jedes Mal, wenn ich mich für einen Dämon halte, dann spüre ich dieses brennende Verlangen in mir.“
erzählte er ruhig weiter, so als würde er über etwas Belangloses wie das Wetter reden.
„Was für ein Verlangen ist das?“ Sie runzelte ein weiteres Mal ihre Stirn und er musste sich ein Grinsen verkneifen. „Ein brennendes Verlangen nach Blut.“ beendete er seine Erklärungen und ihre Kinnlade klappte nach unten.
„Nach äh Blut? Sind Sie ganz sicher?“ Jetzt wollte sie es aber genau wissen. „Ganz sicher. Es brennt in mir und ich kann es nur stillen, wenn ich ein wenig Blut zu mir nehme. Ich kann diesem Verlangen nicht widerstehen, wissen Sie?“

Sie nickte leicht, bevor sie sich wieder fing und den Kopf schüttelte. „Mr. Fist, wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er eindeutig nicht lustig.“ keifte sie und er musste sich zwingen ernst zu bleiben. „Das ist kein Scherz! Ehrlich, ich verzehre mich nach Blut und wenn ich in diesen Rausch verfalle, dann vergesse ich alles um mich herum!“ Ganz so abwegig war das ganze ja nicht, es stimmte, doch das wusste sie natürlich nicht. Und es war ein Spaß sie zu ärgern. Menschen waren ja so leicht zu manipulieren.
„Sie wollen mir also allen ernstes weiß machen, dass Sie sich für einen Dämon halten und in einen Blutrausch verfallen, sobald Sie von dem roten Lebenssaft gekostet haben?“ Als er bestätigend nickte, stöhnte sie entnervt auf und griff sich an die Stirn. „Das ist das dümmste, was ich je gehört habe. Wenn das kein Scherz ist, dann ist es der dämlichste Anmachspruch aller Zeiten. Mag sein, dass irgendwelche Miezen mit einem IQ niedriger als eine Teppichkante darauf hereinfallen, aber ich nicht. Das war´s für heute Mr. Fist. Und bringen Sie das nächste Mal etwas mehr Ernst mit, verstanden?“

Für sie war das Gespräch damit beendet, doch für Lucio hatte der Spaß erst begonnen. „Warten Sie! Wenn Sie mir nicht glauben, dann stechen Sie sich doch einfach in den Finger und halten mir den Blutstropfen unter die Nase. Sie werden ja dann sehen, ob ich recht habe oder nicht!“ versuchte er sie davon zu überzeugen ihm zu glauben und sie seufzte tief.
„Schön, wenn Sie darauf bestehen, dann mache ich das. Sind Sie dann zufrieden und lassen mich mit Ihren Albereien in Ruhe?“ Ihr Blick war bohrend und er bejahte schluckend. „Gut.“ war das einzige, was sie darauf erwiderte und zog eine weitere Schublade ihres Schreibtisches auf. Dieses Mal holte sie ein Nadelkissen hervor und zog eine der etwas größeren Nähnadeln heraus. Warum die wohl ein Nadelkissen in ihrer Schublade hatte? Falls einem Patienten mal ein Knopf abfiel bestimmt nicht.
Mit zittrigen Fingern packte sie die Nadel und hielt sie über ihren linken Zeigefinger.
Die wollte das also echt durchziehen. Vielleicht sollte er den Scherz jetzt besser beenden, denn sonst könnte es für sie gefährlich werden. Gerade hatte er den Mund geöffnet, um sie davon abzuhalten, etwas sehr dummes zu tun, als die im Licht schillernde Nadel bereits ihre Haut durchstach. Zu spät.

Lucio spannte sich an und biss die Zähne zusammen. Verdammt, er durfte auf keinen Fall durch die Nase einatmen, denn sonst wäre die gute Frau leichte Beute. Aber wenn er nur einmal inhalierte? Das konnte doch nicht schaden, oder? dachte er und schüttelte sofort den Kopf. Er durfte nicht schwach werden oder die Psychiaterin würde durch ihn schwer verwundet werden. Vielleicht sogar sterben!

Keuchend schloss er die Augen und wünschte er wäre nicht so weit gegangen! Das hatte er jetzt davon und sie ahnte nicht, dass sie in großer Gefahr schwebte! „Was ist los Mr. Fist? Haben Sie plötzlich Angst bekommen? Na los, zeigen Sie mir, wie viel Mumm in Ihnen steckt!“ neckte sie ihn und er sog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein.
„Ich denke es ist besser, wenn ich es nicht tue, Miss.“ entgegnete er schärfer als geplant und sie hob misstrauisch ihre Augenbrauen. „Haben Sie etwa Angst, Mr. Fist? War das ganze vielleicht doch nur ein dummer Streich?“
Er sollte die Wahrheit sagen! Sich entschuldigen! Doch der rote Tropfen ihres Blutes, welcher wie ein kleiner Rubin an der Kuppe ihres Fingers hing, wirkte so verlockend. Er musste ihr Blut einfach kosten!
Doch die Gefahr sich zu überschätzen war riesig. Nein es war einfach ein zu großes Risiko! Er musste … „Na los, worauf warten Sie noch? Sie wollten doch mein Blut kosten und jetzt haben Sie die Gelegenheit mir zu beweisen, dass Sie in einen Blutrausch fallen Also beweisen Sie es!“ forderte sie jetzt etwas strenger und er nahm einen kräftigen Atemzug. „Nein, es ist zu gefährlich!“ weigerte er sich und sie lachte. Glockenhell und rein war ihr Lachen und er öffnete seine Augen.
Sie wirkte so ausgelassen und ahnte nichts von der drohenden Gefahr, welche von ihm ausging. Es wäre eine rechte Schande sie zu töten ohne sie vorher gekostet zu haben. Und das an ganz anderen Stellen. Seine Gier wurde stärker, brannte langsam in seiner Kehle und er keuchte stärker. „Also war es doch nur ein mieser Scherz. Wenn Sie keiner meiner Patienten wären, dann – huch?“ Lucio hatte ihren Finger gepackt und zog ihre Hand zu sich heran.
Ein spöttisches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, doch er selbst war todernst. Wenn er es übertrieb, würde sie sterben.
Ihr Finger befand sich nun wenige Zentimeter unter seinem Mund und er inhalierte tief den zarten Duft ihres Blutes ein. Der Tropfen war winzig, doch der Geruch hingegen gewaltig.
So etwas hatte er noch nie gerochen! Der Duft war kaum zu beschreiben und in seiner Nase bildete sich ein explosives Farbensprektrum, das ihn beinahe um den Verstand brachte.
Blumig und rein, traf es noch am ehesten, mit einem Hauch Vanille und etwas, dass er nicht kannte. Es war einer der stärkeren Duftnoten und doch wirkte er eher zurückhaltend. Schluckend führte Lucio ihren Finger an seine Lippen und bereitete sich darauf vor sie zu kosten.
Er durfte nur diesen einen herrlichen Tropfen ablecken, seiner Zunge nur ein einziges Mal diesen Genuss gönnen, und ein Genuss würde es werden, das spürte er. Nahm er zu viel, war es aus mit ihrem Leben und er musste sich vor dem Rat und seiner Familie als Mörder rechtfertigen. Das kam überhaupt nicht in Frage.
Langsam streckte er seine Zunge nach dem Tropfen aus und kniff noch einmal die Augen zusammen. Jetzt oder nie! sprach er sich im Geiste Mut zu und berührte ganz zärtlich mit der Zungenspitze ihre Fingerkuppe, wobei er mit einer raschen Bewegung den Tropfen davon abwischte.

Kaum hatte das Blut dieser Frau seine empfindlichen Geschmacksknospen berührt, da breitete sich ihr Geschmack wie eine Explosion in seinem Mund aus. Sie schmeckte nach Blumen, nach Vanille, nach Feuer und Leidenschaft. Auch der unbeschreibliche Geschmack, welcher sich bereits in ihrem Duft bemerkbar gemacht hatte, tauchte in dem ganzen Durcheinander auf und gewann langsam aber sicher die Oberhand.

Lucio riss seine Augen auf und krallte seine Finger in die Armlehnen des Besucherstuhls. „Süße Verführung!“ hauchte er und ballte seine Hände zu Fäusten, bevor er noch aus Versehen eine der Armlehnen abriss.
Plötzlich begann sein Mund zu brennen, als stünde er in Flammen und das Feuer breitete sich in seiner ganzen Kehle aus. Was war das? Zur Hölle, was hatte die Frau in ihrem Blut?! Japsend griff er sich an den Hals und stöhnte schmerzvoll auf, als das Feuer seine Kehle hinab rann.

Was es auch war, es war äußerst schmerzhaft und er bohrte die Finger seiner rechten Hand in die Handfläche. Er hoffte so den Schmerz überdecken zu können, doch er war zu stark und Lucio stieß einen heißeren Schmerzensschrei aus. „Um Himmels Willen, Mr. Fist! Was ist mit ihnen?“ rief die Frau besorgt und umrundete schnell den Tisch.
Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen und er nahm nur noch alles verschwommen war.
„Wasser!“ röchelte er und die Psychiaterin lies von ihm ab, um ihm etwas Wasser zu bringen.

Zittrig bemerkte Lucio, wie sein Blick trüber wurde und er langsam nach vorne sank. Das letzte was er mitbekam, war wie Miss Cartwright ihm etwas zu rief, was er nicht verstand. Dann wurde alles schwarz.

***

Sie hatte gedacht, ihr Patient würde sie veralbern wollen, als er ihr sagte, dass er in eine Art Blutrausch verfiel. Ann-Sophie hatte das als miesen Streich abgetan, doch als sie ihn jetzt beobachtete wie er die Augen aufriss, nachdem er von ihrem Blut gekostet hatte, da wurde ihr ganz mulmig zu Mute.
Zuerst machte es den Eindruck, als würde ihm ihr Blut ganz gut schmecken, doch dann griff er sich an die Kehle und keuchte schmerzvoll auf.
Da stimmte doch etwas nicht.

Und sie hatte recht, denn keinen Augenblick später stieß er einen heißeren Schmerzensschrei aus. „Um Himmels Willen, Mr. Fist! Was ist mit Ihnen?“ fragte sie entsetzt, doch sie erhielt keine Antwort.
Besorgt eilte sie um den Tisch herum und versuchte ihm zu helfen. Da röchelte er wie ein Verdurstender, dass er Wasser wolle und sie hetzte in das kleine Nebenzimmer ihres Büros in dem sich ihre Kochnische befand.
Schnell lies sie etwas Leitungswasser in ein sauberes Glas laufen und stürzte in das angrenzende Büro zurück. Ihr Patient sank inzwischen zitternd und mit verdrehten Augen auf den weichen Teppichboden. „Oh Gott, Mr. Fist! Was haben Sie denn?“ rief sie entsetzt, doch er schien es nicht mehr mitzubekommen.
Entsetzt musste Ann-Sophie zusehen, wie er bewusstlos wurde und sie stellte das Glas hektisch auf ihrem Schreibtisch ab. „Mr. Fist! Mr. Fist, hören Sie mich?“ Sie kniete sich neben ihn und tätschelte seine Wange, doch er blieb reglos liegen.

Ein wenig Angst bekam sie jetzt doch und so rüttelte sie ihn kräftig an der Schulter. Doch noch immer zeigte er keine Reaktion. „Was mache ich denn jetzt? Ich kann ihn doch nicht einfach so liegen lassen!“ sprach sie nervös zu sich selbst und biss sich auf ihre Unterlippe.
Vielleicht sollte sie ihn erst einmal ordentlich hinlegen. Also zerrte sie ihn mit all ihrer Kraft von den Besucherstühlen weg und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Mann, der Kerl war vielleicht schwer, dabei sah er gar nicht danach aus. Womöglich trieb er viel Sport. Das würde zumindest die Muskeln unter seinem Hemd erklären.
„Reiß dich gefälligst zusammen, Ann-Sophie! Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über solche Lappalien nachzudenken! Du hast einen bewusstlosen Patienten in deinem Büro liegen und in fünf Minuten kommt dein nächster Kunde!
Verdammt, was sollte sie nur tun?

Dann erinnerte sie sich an einen Zeitungsartikel, den sie vor ein paar Wochen gelesen hatte. In diesem hatte gestanden, dass man bewusstlose Menschen mit etwas Glück mit einem feuchten Tuch wieder zur Besinnung bringen konnte.
Es wäre also durchaus möglich ihn mit dem kühlen Leitungswasser wieder aufzuwecken.
Ann-Sophie nahm das Glas von dem Schreibtisch und kehrte damit an Mr. Fists Seite zurück. „Tut mir Leid um Ihr schickes Hemd, aber das muss jetzt sein!“ entschuldigte sie sich im Voraus und goss das Wasser über sein leicht erhitztes Gesicht.

Beinahe sofort zuckte ihr Patient zusammen und blinzelte verwirrt, bevor er sich das Wasser aus den Augen strich und etwas aufrichtete. „Mr. Fist, geht es Ihnen gut?“ fragte sie ehrlich besorgt und ihr Patient blickte ihr direkt in die Augen. Zuerst wirkte er nur verwirrt, dann etwas verärgert. „Was zur Hölle sind Sie?“ fragte er entsetzt und setzte sich nun vollends auf. „Wie … wie meinen Sie das?“ Verdutzt blinzelte sie über diese verwirrenden Worte, da ertönte plötzlich ein lautes Klopfen und sie fuhr zusammen.
„Herrje, das ist meine nächste Patientin. Mr. Fist, möchten Sie sich noch eine Weile auf die Couch dort hinten setzen und ein Glas Wasser trinken? Sie scheinen ziemlich hart auf den Kopf gefallen zu sein.“
Einladend deutete sie auf die Couch und er seufzte resigniert. „Vielen Dank, Miss Cartwright, ein anderes Mal vielleicht. Aber ich denke es ist besser, wenn ich nun gehe.“
Mit diesen Worten erhob er sich, nahm seine Jacke von der Lehne des Besucherstuhls und marschierte zur Türe. „Auf Wiedersehen, Frau Doktor. Es wäre gut, wenn wir telefonisch einen Termin vereinbaren könnten, denn ich bin etwas in Eile.“
Verdutzt blickte sie ihm nach, als er die Türe öffnete. „Ach und das nächste Mal, möchte ich eine Antwort auf meine Frage.“ sprach er noch, dann verschwand er und Ann-Sophie fasste sich nachdenklich ans Kinn. Was für ein merkwürdiger Kerl das doch war. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm und das waren sicherlich nicht seine Alpträume oder Halluzinationen.
„Miss Cartwright, darf ich jetzt das Zimmer betreten?“ ertönte eine leise -+Stimme hinter ihr und sie zuckte leicht zusammen. Mary Stein, ihre nächste Patientin legte den Kopf schief und trat nervös von einem Bein auf das andere. „Aber natürlich meine Liebe. Komm ruhig herein. Möchtest du einen Tee?“ antwortete sie freundlich und erhob sich galant vom Boden.
Sie sollte nicht über diesen Mann nachdenken, er war ein Patient nichts weiter. Zugegeben ein ziemlich heißer Patient, aber das musste sie ihm ja nicht unbedingt unter die Nase reiben. Auch sie hatte ihren Stolz.

***

Kühles Wasser sprudelte aus dem Wasserhahn in seinen Mund und linderte den brennenden Schmerz oberflächlich in seiner Kehle. Lucio nahm anfangs nur ein paar großzügige Schlucke der klaren Flüssigkeit, bevor er mehrmals damit gurgelte und es in sein Waschbecken spuckte. Inzwischen zum vierten Mal hintereinander. Der Geschmack ihres Blutes war unterdessen wieder verebbt und der Schmerz soweit gelindert, dass es erträglich geworden war. Trotzdem spürte er noch ein leichtes Kribbeln auf seiner Zunge und verengte wütend seine Augen.
Was war diese Frau nur? Sie hatte kein gewöhnliches Menschenblut in sich, das würde niemals so brennen. Er hatte schon oft von Menschen getrunken, wenn auch nicht sehr viel. Doch es hatte niemals so geschmerzt wie das Blut dieser Frau.
Trotz des Schmerzes war es dennoch ein herrliches Geschmackserlebnis gewesen und wenn er genauer darüber nachdachte, dann war auch dies ein Beweis für ihre nicht menschliche Seite.
Vielleicht war sie ein Halbwesen. Ihre Aura war zu schwach für die eines normalen Unsterblichen gewesen und Menschen hatten üblicherweise keine Aura, außer sie besaßen besondere psychische Kräfte.
Und selbst dann war ihre Machtaura sehr schwach ausgeprägt. Nein, sie war ein unsterbliches Wesen, entweder ganz oder nur zur Hälfte. Wenn sie kein Halbwesen war, dann konnte sie ihre Aura ziemlich gut verbergen, was bedeutete, dass sie schon ziemlich alt und erfahren sein musste.

Nachdenklich wanderte er durch das Schlafzimmer und wischte sich mit einem Handtuch über den tropfnassen Mund. Er musste mit seinem Vater darüber reden, der kannte sich mit solchen Dingen besser aus als er selbst.
Doch als Lucio bei ihm anrief, stellte sich heraus, dass er anscheinend nicht im Büro war und auch nicht an sein Handy ging. Offenbar war sein Vater gerade beschäftigt.
Frustriert schmiss er den Hörer zurück auf die Ladestation, als es plötzlich zu klingeln begann. Hastig hielt er sich den Hörer ans Ohr und erwartete, dass es sein Vater war, der ihn zurückrief. Als er jedoch die Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm, lies er enttäuscht die Schultern hängen. Nicht sein Vater, sondern Satany war am Apparat, doch Lucio hatte eigentlich keine Lust mit seinem Bruder zu reden.
Wenn Satany sich meldete, dann bedeutete das meistens, dass ein weiterer Monat vergangen war und er wusste was das besagte. Für ihre Art war es überlebenswichtig menschliche Energien abzuzapfen und das beim Sex.
Lucio würde seine Verabredung mit Satany hinausschieben so lange es möglich war, doch er wusste, sein Bruder würde das nicht zu lassen. Seufzend stimmte er einem Treffen zu und legte auf.

Natürlich wären andere Männer begeistert mindestens einmal im Monat unbändigen Sex mit schönen Frauen zu haben, doch wenn man bereits 164 Jahre alt war, hatte das ganze nur noch etwas Ermüdendes an sich. Eine lästige Pflicht nichts weiter. Wo waren da noch Spaß und Leidenschaft, wenn man es nur tat, um sich zu ernähren?
Außerdem raubte er den Frauen mit denen er schlief einen Teil ihrer Lebensenergie, was bedeutete, sie würden mindestens ein halbes Jahr weniger leben als ohne den Sex mit ihm.
Ironischerweise erlebten die Frauen den Sex mit ihm nur in ihren Träumen, die er ihnen bescherte. Also hatten sie nicht einmal richtigen Spaß mit ihm, wenn sie schon ein wenig ihres Lebens für ihn hergeben mussten. Traurig und frustrierend, aber so war seine Art nun mal.
Nicht, dass er sich damit zufrieden gab, zu sagen, dass er nun einmal so war wie er war, aber es war leider Gottes die ernüchternde Wahrheit.

Entnervt seufzte er erneut und lies seinen Blick über den Bildschirm seines Computers schweifen, auf dem sich ein paar eingefrorene Kamerabilder von letzter Nacht befanden. Auf ihnen bewegten sich Dämonen direkt zwischen den Menschenmassen vor Harrods und anderen Geschäften ohne von ihnen bemerkt zu werden. Einige von ihnen waren gerade dabei in menschliche Wirte zu schlüpfen, ein nicht wirklich appetitlicher Anblick.
Mikel hatte ihm diese Bilder mitten in der Nacht per Mail zukommen lassen und ihm mitgeteilt, dass alle Dämonenzellen inzwischen besetzt waren. Es wäre an der Zeit ihr Headquarter zu erweitern. Natürlich hätten sie dann mehr Zellen und Arbeitszimmer zur Verfügung, doch dann wäre ihr Headquarter auch nicht mehr so unauffällig und sie müssten von ihrer guten Position in Kenwood in eine abgelegenere Gegend ziehen.

Er wollte sich darüber noch mit seinem Vater und dem Rat unterhalten, doch im Moment hatte er andere Sorgen und sein Magen meldete sich langsam zu Wort. Die Tatsache, dass seine Psychiaterin kein menschliches Wesen war, ward sofort vergessen und er richtete sich auf. Noch zwanzig Minuten, bis sein Bruder hier eintreffen und ihn abholen würde.
Er würde sich nur schnell etwas Frisches anziehen und ein wenig Aftershave auflegen. Er war nicht der Typ der sich für seine Opfer herausputzte, wozu auch? Sie schliefen beim Sex, also konnte er genauso gut als hässlicher Penner gehen. Auch wenn dann seine Chancen eine hübsche Bettpartnerin abzubekommen relativ gering sein würden.

„Wohin fahren wir jetzt eigentlich genau?“ fragte er fast eine halbe Stunde später gereizt und sein Bruder grinste amüsiert. Für Satany und seine anderen Brüder war es immer ein Vergnügen auszugehen und sich menschliche Energien einzuflößen. Lucio hingegen empfand es als Graus.
Sein Aftershave brannte ihm in der Nase und er ohrfeigte sich innerlich selbst dafür so viel hingeschmiert zu haben.
„Warte es ab, es wird eine Überraschung.“ verkündete sein Bruder gut gelaunt und raste mit seinem weißen Lamborghini Gallardo LP 560/4 über die im Moment wenig befahrene Landstraße. Satany hatte eine Schwäche für teure Autos. Er war ebenfalls im Besitz eines schwarzen Maybach 62 S und Lucio konnte nur den Kopf schütteln. Es war einfach unverantwortlich mit solch teuren Autos durch eine belebte Metropole wie London zu fahren und damit auf jeden Fall alle Blicke auf sich zu ziehen. Ob von Kennern oder Nichtkennern. Doch Satany liebte diese Aufmerksamkeit. Und seine Autos.
Er selbst kam sich dabei immer wie ein Promi vor, der von allen möglichen Zivilisten angegafft wurde. Peinlich, einfach nur peinlich. Zugegeben, auch er fuhr einen 3 Jahre alten Jaguar , doch das war ein Auto, welches sich auch Normalsterbliche leisten konnten. Doch Satany war das egal und Lucio war nicht wirklich erpicht darauf seinem älteren Bruder Vorhaltungen zu machen.
Der Lamborghini schnurrte leise, als sie in eine kaum beleuchtete Nebenstraße einfuhren und Lucio schwante bereits übles. „Was genau hast du vor, Satany?“ wollte er bissig wissen und sein Bruder grinste. „Na ja ich hab gemerkt, dass du bei unseren Treffen in den Nachtclubs und Bars nie so wirklich locker drauf warst. Deine Flirts waren teilweise echt daneben. Also dachte ich mir, ich gebe dir ein wenig Hilfe und bringe dich in ein Bordell.“
Entsetzt starrte Lucio aus dem getönten Seitenfenster und erkannte ein paar aufdringlich bekleidete junge Frauen am Straßenrand stehen. „Bist du irre? Ich schlafe doch nicht mit einer Dirne! Das ist gegen meine –„ „Deine was? Würde?“ unterbrach ihn Satany barsch und parkte das Auto an der anderen Straßenseite. „Nein, ich wollte sagen, dass es unter meiner Moral ist, Dirnen ihrer Lebensenergie zu berauben. Diese Frauen haben es schon schwer genug sich mit dem bisschen Geld was sie verdienen über Wasser zu halten und die Armen nehmen wahrscheinlich auch noch Drogen oder Aufputschmittel. Da brauchen sie nicht auch noch Sex mit einem Incubus. Nein danke, ich habe nicht vor hier zu bleiben, du kannst mich gerne wieder heimfahren!“
„Seit wann setzt du dich denn so für die Unterschicht ein Bruderherz?“ Satany wirkte offenbar beeindruckt und Lucio schnaufte schwer. „Seit ich von diesem verdammten Virus befallen bin. Ich glaube ich sollte Dad mal fragen, ob es auch das Gehirn manipuliert, denn ich werde sentimental.“ Satany klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und machte Anstalten sich abzuschnallen. „Mach dich locker Bruderherz, die Damen bieten sich dir freiwillig an und du wirst ihnen ja nicht zu viel Lebensenergie aussaugen, dass sie gleich in deinen Armen vor sich hinwelken. Du bist ein Incubus, finde dich damit ab. Irgendwann wird Dad ein Heilmittel finden und das Virus wird dich nicht mehr so deprimieren. Aber bis dahin, lass uns ein wenig Spaß haben, ja?“
Seufzend schnallte sich jetzt auch Lucio ab und öffnete die Türe des Wagens. „Hast du keine Angst, dass der gestohlen wird? Immerhin sind wir hier in einer etwas zwielichtigen Gegend.“ bemerkte er und Satany lachte leise. „Glaub mir, der Lamborghini ist hier so sicher wie in Abrahams Schoß. Ich meine sieh mich an, ich sehe wie ein reicher Schnösel aus, der sein Geld nur aus dem Fenster schmeißt. Wenn irgend so ein diebischer Bettler damit herumfahren würde, wüsste sofort jeder, dass das Ding geklaut ist.“ erwiderte er selbstsicher und marschierte zu den aufreizenden Damen.
Lucio schüttelte ungläubig den Kopf und folgte seinem Bruder in ein etwas größeres Haus der Straße. Zugegeben es sah von außen gepflegt und nicht wie irgendein billiges Bordell aus. Trotzdem blieb er misstrauisch. Das letzte Mal, als er ein Freudenhaus besucht hatte, war er gerade einmal 56 gewesen und die Dirne mit welcher er geschlafen hatte, war in seinen Armen zusammengesunken und gestorben.
Es war also Vorsicht geboten und er beäugte argwöhnisch den bulligen Türsteher, welcher sie herein lies. Die Aura, welche um seinen Körper herum flackerte, ließen Lucio wissen, dass es sich um einen Halbtroll handelte. Sehr selten und äußerst reizbar diese Wesen und so quetschte er sich nach Satany an ihm vorbei.
Der Raum, den sie nun betraten, war in einem warmen Beerenton gestrichen und wurde von altertümlichen pompösen Spiegeln in Goldrahmen verziert. In die dunkelblau gestrichene Decke waren LED-Lichter eingelassen worden, welche sanftes Licht spendeten. Es wirkte wie ein Sternenhimmel und Lucio mochte den Laden irgendwie. Helle Sofas reihten sich zu beiden Seiten des Raumes und in der Mitte stand eine kleine halbrunde Bar.
Ein paar junge Damen in kurzer, für Dirnen typische Kleidung, saßen auf den Sofas mit ein paar ihrer Freier und musterten sie interessiert. Satany marschierte an ihnen vorbei und zwinkerte der einen oder anderen flirtend zu. Die Damen kicherten kokett, bevor sie sich wieder den Gesprächen ihrer Freier widmeten.
Lucio folgte seinem Bruder zu der Bar hinter der eine etwas ältere Dame mit roten toupierten Haaren stand und einen Martini für einen der Freier einschenkte. Als sie Satany entdeckte lächelte sie und ihre leichten Fältchen gruben tiefe Furchen in die von Alter gezeichnete Haut. „Saty, na sieh mal einer an, wen haben wir den da? Hast dich ja lange nicht mehr blicken lassen? Wo ist dein Bruder Sid?“ trällerte sie und kam auf sie beide zu. „Sid?“ fragte Lucio leise und die Verwirrung war deutlich zu hören. „Seducer hat sich den Decknamen ausgesucht. Er sagte es wäre unauffälliger in der Menschenwelt mit einem halbwegs normalen Namen aufzutreten. Ich bevorzuge hier allerdings mein Pseudonym Satany. Niemand weiß, dass ich in Wirklichkeit so heiße, die glauben alle es macht mich scharf, wenn sie mich als Teufel beschimpfen!“ Er grinste und bestellte bei der älteren Dame, die sich als Lola herausstellte einen Drink.
„Sid hat heute leider keine Zeit, Lola. Aber ich habe dir meinen jüngeren Bruder Lucio mitgebracht.“ erklärte er dann zwischen zwei Schlucken und die ältere Dame musterte Lucio interessiert von oben bis unten. „Oh eure Familie besteht nur aus hübschen Männern. Hach, eure Eltern sind bestimmt stolz darauf solch stattliche Söhne zu haben. Ich wünschte mein Sohn wäre nur halb so attraktiv wie ihr.“ schwärmte sie vor sich hin und wuselte hinter der Bar hin und her. „Möchtest du auch einen Drink mein Hübscher?“ fragte sie mit rauchiger Stimme und Lucio verzog das Gesicht. Jetzt wurde er auch noch von einem Drachen angemacht, widerlich. „Nein danke Ma´am, ich muss noch fahren. Ich bin eigentlich nur hier, um mich ein wenig mit den Mädchen zu amüsieren.“
Sie lächelte wissend und winkte in eine Richtung. „Verstehe, na dann wird sich Heather gleich um dich kümmern.“ Eine groß gewachsene Brünette mit zierlichem Gesicht und hellblauen Augen erschien in ziemlich aufreizendem Outfit neben ihm und lächelte kokett. Sie konnte keinesfalls älter als 23 sein und er fragte sich, ob sie denn keinerlei Perspektiven in ihrer Zukunft sah.
„Hallo, Süßer, soll ich dir ein wenig Gesellschaft leisten?“ flirtete sie gleich los und zog ihn ohne auf eine Antwort zu warten zu einer leeren Couch. Er sank tief in das angenehm duftende Leder ein und die junge Frau schmiegte sich verführerisch an ihn. Ihre langen manikürten Fingernägel strichen zärtlich über seine Wange und seine Brust, während sie ein Bein über seinen Schoß legte. „Möchtest du etwas trinken?“ hauchte sie und er versuchte sich ein wenig zu entspannen. „Eigentlich bin ich nicht durstig. Später vielleicht.“ antwortete er wahrheitsgemäß und keuchte, als sie mit ihren Fingern unter sein Hemd fuhr. Die war aber flott. Na ja, aber es war ja auch ihr Job ihn bei Laune zu halten. „Wie heißt du denn, Süßer?“ fragte sie weiter und schmiegte sich noch enger an seinen Oberkörper. Ihr Busen drückte dabei gegen seine Brust und er schauderte. „Lucio. Du hast hübsches Haar.“ erwiderte er und verzog das Gesicht bei seinem jämmerlichen Versuch zu flirten. War er etwa so eingerostet? Sie kicherte und er spürte das Vibrieren ihres Körpers auf dem seinen. Eine gewisse Wärme breitete sich in ihm aus und er empfand eine gewisse Symphatie für Heather. Sie war ein fröhlicher Mensch, das spürte er und dies wiederum entlockte ihm ein leichtes Lächeln.
„Vielen Dank, der Herr. Ich bekomme nicht oft ehrliche Komplimente von meinen Freiern. Die meisten übertreiben ziemlich oft und ich weiß, dass sie mir nur schmeicheln wollen. Aber deine Worte klingen ehrlich. Hast du denn einen speziellen Wunsch für nachher? Macht dich etwas besonders scharf?“ Heather sprach das so gelassen, als würde sie ihn nach seinen Hobbies fragen und er musste erst einmal schlucken. Gab es etwas, das ihn besonders scharf machte? Ihr Blut und ihre Energie würden ihn nachher wild wie einen Stier machen, doch das konnte er schlecht sagen. Und auf SM stand er nicht wirklich. „Rollenspiele.“ war das erste was ihm einfiel und er biss sich auf die Lippe um sich nicht selbst zu verfluchen. „Ah das ist meine Spezialität. Was macht dich daran denn so heiß?“ entgegnete sie überraschenderweise und er stieß erleichtert einen Seufzer aus.
Fragten Dirnen eigentlich immer so viel? wunderte er sich dann und zuckte zusammen, als die Hand unter seinem Hemd seinen Bauchnabel umkreiste. Da war er besonders empfindlich und er spürte wie er langsam hart wurde. Offenbar hatte sie bemerkt, dass er ein wenig erregter war als am Anfang, denn sie setzte sich ganz frech auf seinen Schoß und legte ihm einen manikürten Finger auf den Mund. „Bist du jetzt ein wenig entspannter mein Süßer? Oder soll ich dich massieren?“ raunte sie in sein Ohr und er keuchte erneut. Die Frage, was ihn an Rollenspielen so anmachte war total vergessen. „Massieren ist gut.“ stöhnte er in ihr Ohr und sie lächelte verwegen. „Nun ich denke, dann bringe ich dich besser nach oben. Komm.“ Langsam stand sie auf, darauf bedacht möglichst sexy und verführerisch zu wirken und zog ihn hoch. Dabei präsentierte sie ihm wie selbstverständlich ihr Dekollete, welches nicht gerade unattraktiv auf ihn wirkte und führte ihn eine breite Treppe nach oben zu den Zimmern der Frauen.
Heathers Zimmer war in einem warmen Fliederton gestrichen worden und in der Mitte stand ein großes Bett mit vielen roten Kissen und einem grauschwarzen transparentem Himmel. An der Decke befanden sich winzige LED-Lichterketten, die ein sanftes Licht auf das Bett unter sich warfen und ein paar künstliche Gräser zierten den Raum. Ansonsten gab es nur noch eine Kommode in der Heather wahrscheinlich all ihre Utensilien für ein angenehmes Liebemachen aufbewahrte. Sie drückte ihn sanft auf das Bett und bedeutete ihm dort liegen zu bleiben, während sie ihm die Schuhe auszog und ordentlich neben das Bett stellte. Anschließend schlenderte sie zu der Kommode und öffnete die mittlere der vier Schubladen. „Welches Kostüm darf es denn sein, Lucio? Such dir eines aus. Ich kann dir auch jedes einzelne vorführen.“ Bei den letzten Worten zwinkerte sie und er lächelte sanft. „Ich liebe erotische Vorführungen.“ log er und sie grinste. „Das dachte ich mir, darauf stehen die meisten meiner Freier. Nun gut, dann werde ich mich für dich mal in Schale schmeißen.“
Die junge Frau zeigte ihm ihre verschiedensten Kostüme und jedes sah verführerischer als das andere aus, doch er versuchte sich zu beherrschen und entschied sich schließlich für einen Klassiker: das Krankenschwesteroutfit. Es passte ihr wie angegossen und die weißen Strümpfe mit den roten Schleifen schmiegten sich wie eine zweite Haut um ihre feinen Waden. Lucio spürte wie seine Hose in der Lendengegend immer enger wurde und auch sein Hunger nach menschlicher Energie stieg an. Doch konnte er Heather wirklich ihrer Energie berauben? Sie war doch noch so jung und so ein fröhlicher Mensch. War es gerecht, einem solchen Menschen ein halbes Jahr seines Lebens zu nehmen?
Zweifel nagten in ihm und er wusste, dass er sentimental reagierte, doch er wusste auch, dass es eigentlich falsch war das hier zu tun. So wie jedes Mal wenn er mit einer Frau schlief, um ihr Leben ein wenig zu verkürzen. Seufzend legte er sich auf den Bauch und lies sich ein wenig deprimierter als gewollt massieren, bevor er ihr tief in die Augen sah und sie mit seinem hypnotisierenden Blick in einen tiefen Schlaf versetzte. Er hasste die folgenden Schritte jedes Mal, doch es half nichts und das wusste er auch. Widerwillig öffnete er seine Hose und liebte Heather so schnell er konnte. Die junge Frau würde das ganze nur in ihren Träumen als heißen wilden Sex erleben, während er ihr die Energie für ein halbes Jahr stahl.
Weißes helles Licht strömte aus ihrer Brust heraus, kaum dass er stöhnend über ihr zusammengebrochen war und er streckte erschöpft die Hand danach aus. So wie jedes Mal sammelte sich eine Lichtkugel in seiner Handfläche und er führte diese zu seiner Brust. Das Licht glitt in seinen Körper hinein und verströmte dort eine wohlige Wärme und das Gefühl von tiefer Zufriedenheit machte sich in ihm breit. Doch das war nur von kurzer Dauer und er war keine fünf Minuten später wieder genauso resigniert wie vorher. Frustriert zog er sich wieder an und bettete Heather behutsam auf ihre Kissen. Sie würde noch eine ganze Stunde schlafen und wenn sie aufwachte, wäre er längst wieder zu Hause in seiner Villa und würde arbeiten. Zärtlich legte er eine Hand auf ihre Stirn und veränderte mühelos ihre letzten Erinnerungen an den gerade „erlebten“ Sex. Wenn sie erwachte, würde sie sich nur noch daran erinnern, wie sie mit ihm leidenschaftliche Liebe in ihrem Krankenschwesterkostüm gemacht hatten, bevor er sich bedankend das Zimmer verlassen hätte und sie erschöpft eingeschlafen war.
„Tut mir Leid meine Schöne, aber ich brauchte deine Energie, um meinen Hunger zu stillen. Bitte suche dir einen anständigen Job, du bist viel zu intelligent, um so etwas Armseliges zu arbeiten.“ Er steckte ihr einen hundert Pfund-Schein in ihren BH und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er aus dem Zimmer eilte und auf dem Weg nach unten beinahe mit Satany zusammenstieß. Zwei hübsche junge Frauen, ungefähr in Heathers Alter, begleiteten ihn und lachten offenbar über einen seiner Witze, als sie ihn bemerkten. „Oh, hallo Bruderherz, da bist du ja. Na hat´s dir gefallen?“
Lucio warf ihm einen vernichtenden Blick zu und eilte durch die Lobby hinaus in die Seitenstraße in der sie parkten. Er hasste sich dafür, ein Incubus zu sein und jeden Monat einer unschuldigen Frau einen Teil ihres Lebens zu stehlen. Was gab das für einen Sinn? Er wollte nicht so ein schreckliches Wesen wie ihr Großvater werden, doch er hatte auch noch nicht vor zu sterben. Und das würde er, wenn er keine Energie zu sich nahm.
Es war zum verrückt werden! Satany war ihm unauffällig gefolgt und sperrte wortlos den Wagen auf. „Ist alles okay?“ wollte er vorsichtig wissen und Lucio platzte der Kragen, auch wenn er wusste, dass es sein Bruder nur gut meinte. „Nein es ist nichts okay! Bring mich nie wieder in so einen Laden, verstanden! Ich hasse es so zu sein wie ich bin!“ schrie er aufgebracht, öffnete die Beifahrertüre des Lamborghinis und schlug sie so kräftig zu wie er konnte, um seine Wut noch zusätzlich zu unterstreichen. Dieser Tag war ein einziges Desaster gewesen und er war froh, wenn er wieder in seine Villa konnte, um zu arbeiten. Das war das einzige was ihn im Moment das Gefühl gab in dieser Welt gebraucht zu werden und im Moment sah es nicht so aus, als wäre eine Besserung in Sicht.

4. Kapitel




Die Tage vergingen ohne großartig nennenswerte Ereignisse und Lucio war froh, als Mikel ihm sagte, dass sich mal wieder ein Objekt der Klassifizierung G in die Stadt verirrt hatte. Großartig. Einerseits war es natürlich negativ und sehr gefährlich, dass sich ein Objekt dieser hohen Klassifizierung in der Stadt herumtrieb und Menschen angriff. Andererseits war er froh darüber so seinem tristen Alltag entfliehen zu können.
Enthusiastisch fuhr er mit seinem Wagen zu ihrem Hauptquartier und wurde am Eingang ordnungsgemäß von deiner der Wachen aufgehalten. Als der Mann ihn erkannte, wollte er ihn schon nervös durchwinken, als Lucio ihn mit einem strengen Blick daran erinnerte, ihn gründlich zu durchsuchen. Egal ob er der Chef der Abteilung war oder nicht, die Männer mussten jeden der hier ins Headquarter wollte gründlich durchchecken. Nervös untersuchte der Wachmann zuerst den Wagen und spähte zum Schluss auch unter die Karosserie, nur um sicherzugehen, dass keine ungebetenen Gäste auf das Gelände gerieten und so vielleicht Dämonen freigelassen wurden. Ungeduldig wartete Lucio bis auch er an der Reihe war durchgecheckt zu werden und lies sich mit einem Dämonensuchgerät über den Körper fahren. Das Gerät funktionierte ähnlich wie der Metalldetektor am Flughafen.
Sollte sich ein Dämon in der Kleidung eines Mitarbeiters verstecken, unbeabsichtigt oder nicht, dann würde ein lautes Piepen ertönen und man würde den Mitarbeiter sofort unter Quarantäne stellen, damit der Dämon sichergestellt werden würde. Der Ton war für Dämonen nicht zu hören, also würden sie nicht wissen, wenn sie in eine Falle gelockt würden und so ahnungslos an der Kleidung haften bleiben.

Als die Prozedur endlich beendet war, startete Lucio den Wagen erneut und fuhr auf seinen reservierten Parkplatz neben dem steril wirkenden Gebäude. Es hatte nur ein Stockwerk und ein Flachdach, außerdem war es in einem hässlichen Olivgrün gestrichen worden, damit es auf den ersten Blick nicht auffiel. Riesige Tannen umsäumten das Gelände und boten noch einen zusätzlichen Schutz vor den neugierigen Blicken der Menschen. Neun Mann patrouillierten abwechselnd in Dreiergruppen um das Gebäude, welches von einer zwei Meter hohen Mauer und Stacheldraht gesichert war. Überwachungskameras nahmen jede noch so kleine Bewegung war und versteckte Wanzen zeichneten rund um die Uhr die Geräusche gut 500 Meter um das Gebäude herum auf. Es wirkte alles wie ein geheimer Sicherheitskomplex des Militärs.
Der Eindruck wurde durch die zwei parkenden LKWs in Camouflagemuster verstärkt, welche neben seinem Jaguar auf dem Parkplatz standen und eigentlich nur zur Tarnung dienten. Sollte allerdings eines der Objekte fliehen oder die Vorräte knapp werden so wurden sie eingesetzt, damit kein heimlicher Beobachter sagen konnte, sie stünden nur zur Zierde da.
Alles war perfekt durchdacht und manchmal kam sich Lucio wirklich wie auf einer Militärbasis vor. Fehlte nur noch die passende Kleidung. Mit gerümpfter Nase sperrte Lucio sein Auto ab und marschierte mit eiligen Schritten auf das Gebäude zu. Neben dem Eingang stand eine weitere Wache und salutierte, als er ihn erkannte. Er hatte sie nie angewiesen ihn so zu begrüßen, doch sie taten es immer wenn sie ihn sahen und inzwischen hatte er sich daran gewöhnt. Teilweise kamen die Männer wirklich vom Militär, auch wenn sie hier gewöhnliche Securitykleidung trugen, die ebenfalls nur zur Tarnung diente. Darunter hatten sie Kugelsichere Westen an, die mit einer dicken Spezialschicht gefüttert waren, damit keine Dämonen sich darin breit machen und eventuell fliehen konnten.
„Guten Abend, Sir. Mr. McAllister erwartet Sie bereits in seinem Büro.“ grüßte er mit rauer Stimme und Lucio bedankte sich desinteressiert für die Information. Auf dem Weg zum Headquarter hatte ihn Mikel bereits angerufen und er hatte das Gaspedal noch weiter durchgedrückt und jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten, die es auf dem kurzen Weg zu überschreiten gab.
Auch jetzt lief er mit großen Schritten den spärlich beleuchteten Flur entlang zu seinem Büro am Ende des Ganges, um schnell zu seinem Kollegen und hinter dessen Informationen zu gelangen.
Er sollte Charles demnächst anweisen die kaputten Glühbirnen zu reparieren. Man kam sich hier ja vor wie in einer Spelunke.

Sein Büro war klein und hatte nur ein Fenster, doch es war groß genug für seinen breiten Schreibtisch, einen riesigen Aktenschrank und drei Besucherstühlen. Ein großer Standglobus zierte die gegenüberliegende Seite seines Aktenschrankes und eine kleine Zimmerpflanze welkte trostlos vor sich hin. Mit geschürzten Lippen rauschte er an Mikel vorbei, der es sich auf einem der Besucherstühle bequem gemacht hatte und lies sich auf seinem eigenen Bürostuhl nieder. Während er den Computer hochfuhr bedachte er seinen Mitarbeiter und engsten Vertrauten mit einem misstrauischen Blick.
„Wissen wir bereits um wen es sich handelt?“ fragte er und Mikel nickte. Da es Dämonen bis zur Klassifizierung G nicht besonders häufig gab, wurden ihnen Namen zugeteilt. Man hatte eine spezielle Computerdatei über alle diese Dämonen angelegt, in der sie alle einzeln kategorisiert und die vergangenen Aktivitäten gelistet worden waren.

„Es handelt sich höchstwahrscheinlich um Grandarf. Wir haben das Bild einer Überwachungskamera mit den gespeicherten Bildern seiner Kartei verglichen und sind uns sicher, dass er es war. Er befindet sich im Moment in der Nähe vom Zentrum, hat sich aber seitdem auch nicht mehr fortbewegt. Joe und Craze sind ihm auf den Fersen und geben Meldung, sobald sich etwas tut. Sollen Sie ihn fangen?“ „Nein, das werde ich selbst erledigen. Und dann werde ich ihn auch gleich vernichten. Wenn es wirklich Grandarf ist, dann ist es zu gefährlich ihn weiter herumstreunen zu lassen. Er könnte Menschen angreifen, oder noch schlimmer sich mit einem Schlüpfer verbinden und in einen menschlichen Körper schlüpfen. Nein, das Risiko ist zu hoch. Sag den beiden, sie sollen ihn einkesseln und schick James und Emme zur Verstärkung. Ich werde in der Zwischenzeit meine Bloody Mary mit Munition bestücken.“
„Jawohl, Sir.“ bestätigte Mikel eifrig und verlies das Büro. Lucio wollte sich ebenfalls erheben, doch dann überlegte er es sich noch einmal anders und öffnete die Datei von Grandarf. Es war nicht viel über ihn bekannt, wie über so viele der höher klassifizierten Dämonen. Man hatte ihm einen Namen zugeteilt und ein paar Fotos hochgeladen, damit ihn jeder identifizieren konnte, falls er ihnen auf der Straße begegnete.
Grandarf wirkte im ersten Moment wie ein großer schwarzer Wolfshund mit gelben Glubschaugen. Doch wenn man genauer hinsah, dann erkannte man die dolchlangen Fangzähne, die aus seinem Maul hingen und den langen gewundenen Schwanz an dessen Spitze ein Feuerball loderte. Auch an den gigantischen Pranken befanden sich Feuerbälle und ließen ihn wie eine Figur aus einem Fantasyroman erscheinen.
Tatsächlich beherrschte Grandarf das Element Feuer bis zu einem gewissen Grad, was unter Dämonen dieser Klasse relativ selten vorkam. Normalerweise beherrschten Dämonen erst ab Klasse D ein oder mehrere Elemente und waren damit nicht so leicht zu überwältigen wie einer von niedriger Klassifizierung. Das waren die einzigen Fakten, die man über Grandarf kannte, aber man vermutete, dass er auch Gift an Klauen und Zähnen hatte.

Besser wenn er sich dagegen wappnete in dem er seinen speziell beschichteten Kampfanzug anzog. Das Ding sah aus wie eine etwas enger anliegende Motorradkleidung, hatte aber so manches Detail eingearbeitet, bei dem einem Sterblichen die Ohren schlackern würden.
Neu eingekleidet schritt er entschlossen auf den Aktenschrank zu und drückte auf einen Knopf auf der linken Seitenwand, die dafür sorgte, dass eine der Türen in der Mitte aufsprang und eine Schublade langsam herausfuhr. In dieser Schublade lag seine Lieblingswaffe, von ihm liebevoll „Bloody Mary“ genannt.
Es handelte sich hierbei um eine G&G M14 Veteran mit Echtholzschaft. Ihre maximale Reichweite betrug pro Schuss 120 Meter, es wäre also genügend Sicherheitsabstand zwischen ihm und einem bösartigen Dämon gewährleistet. Das Gewehr war zwar eine Nachbildung des Originals von 1957, aber ihre Durchschlagskraft bei Dämonenkörpern war trotzdem enorm und genau das war es was er und seine Männer brauchten.
Es mussten nicht viele Kugeln vergeudet werden, wie bei einem Maschinengewehr, meistens reichten zwei bis drei Schuss und der Feind war bewegungsunfähig und konnte somit niedergestreckt werden. Lächelnd strich er über den Walnussholzschaft und konnte es kaum erwarten hiermit einige silberne Kugeln in Grandarfs Körper zu befördern. Fast schon euphorisch belud er die Waffe mit ihren eigens angefertigten Silberkugeln gefüllt mit einem Muskelgift, welches diese nach einigen Sekunden sofort lähmte und den Gegner bewegungsunfähig und somit chancenlos machte.
Anschließend steckte er die Waffe in eine Sporttasche, damit die Menschen, die ihn beobachten könnten nicht in Panik gerieten. Die Tasche war mit einem dichten Polster und einer dicken Lederschicht ausgekleidet, damit die G&G M14 keinen Schaden nahm oder sich versehentlich selbst scharf stellte, sollte sie von einem Kollegen unachtsam in seinen Wagen geworfen werden.

Mit der geschulterten Sporttasche schlenderte er fröhlich pfeifend durch den Flur zurück in ihre Umkleidekabinen. Seinen Kampfanzug hatte er immer in seinem Büro untergebracht, damit nicht einer der Mitarbeiter einmal auf den Gedanken kam ihn heimlich anzuprobieren. Für seinen Jagdausflug brauchte er allerdings noch seine schwarze Motorradjacke sowie den passenden Helm aus seinem Spind. Lucio hatte geplant wieder seine Maschine zu nehmen, da diese bei einer Verfolgungsjagd, er bezweifelte, dass es ein kurzes Intermezzo geben würde, schneller und weniger war als sein Wagen.

Zehn Minuten später stand er in der Garage, schwang sein Bein über seine metallic schwarze Kawasaki ZX-6R und schloss für einen kurzen Moment die Augen, um nachzudenken, wie er am schnellsten zum Zentrum gelang. Als er sie wieder öffnete, war all die Freundlichkeit daraus verschwunden. Purer Hass und reiner Jagdinstikt färbten das grau in seinen Augen dunkler und lies es fast schwarz erscheinen. Er wollte Blut sehen. Töten. Den Dämon vernichten, der die Menschen grundlos angriff.
Warum er die Menschen verteidigte? Das wusste er nicht genau, man hatte ihn dazu erzogen, die Menschen zu schützen. Doch eines war sicher, er würde seine Aufgabe erfolgreich erfüllen und wenn er tagelang diesem Monster hinterher jagte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus, als er daran dachte, dass auch er in gewisser Weise ein Monster war. Doch er versuchte diese Gedanken zu verdrängen und startete den Motor. Er war bereit seinem Gegner gegenüber zu treten und er hatte das Gefühl, dass er endlich einmal wieder zu etwas nütze war. Fast schon mit einem Lächeln auf den Lippen preschte er los und verschwand bald im fließenden Verkehr der ahnungslosen Stadt London.

Als er das Zentrum der Stadt erreichte, hatten seine Kollegen bereits den Trafalgar Square komplett abgeriegelt. Die Menschen waren evakuiert worden, man hatte ihnen gesagt ein Schläfer trieb sich in der Stadt herum und hatte sich beim Trafalgar Square versteckt. Tatsächlich jedoch war es ein wütender Dämon, der die Städter terrorisierte und zornig wie ein Tiger im Käfig auf dem Platz hin und her lief. Grüner Speichel troff aus seinem Maul und ein lautes Knurren lies die Luft bedrohlich vibrieren. Der Speichel hinterlies ätzende Furchen im Gestein und die Flammen an seinen Füßen und der Schwanzspitze flackerten aufgeregt.
Für die Menschen war Grandarf unsichtbar, nur Lucio und seine Untergebenen konnten den Dämon sehen und beobachteten wie er versuchte aus einer der Absperrungen zu fliehen. Ein gewaltiger Stromschlag lies ihn zurückzucken und mächtig fauchen. „Ekelhaftes Gewürm, lasst mich frei!“ brüllte er mit bronzener Stimme und schlug mit einer Pranke auf den Boden.
„Sollen wir die Ketten holen?“ fragte Craze und Lucio nickte ernst. Sofort eilte der Vampir los und war keine zwei Minuten mit mehreren schweren Eisenketten zurück. Die Ketten waren mit Silber beschichtet, was den Dämon nicht töten, aber ihm höllische Schmerzen bereiten würde. Schnell brachten sie sich in Position und schwangen die Ketten in kreisenden Bewegungen über ihren Köpfen durch die Luft. Währenddessen schritten sie in einigem Abstand auf Grandarf zu, um ihn in eine Ecke zu drängen. Zuerst sah es so aus, als könnte sich Grandarf wehren und rammte eine der Pranken in Joes Richtung, doch der wich geschickt aus und warf die Kette nach dem Ungetüm. Dieser schrie auf, als das Eisen sein Fell versengte. Die anderen warfen ebenfalls ihre Ketten und zwangen den Dämon so in die Knie.
„Ihr Bastarde, das werdet ihr noch bereuen!“ schrie Grandarf zornig und seine Flammen loderten bedrohlicher denn je. „Erzähl uns das, wenn du im Käfig zum Headquarter sitzt.“ spie Emme aus und spuckte vor dem Dämon auf den Boden, was eine offenkundige Beleidigung war. Wütend knurrte das Getier und warf sich in die Ketten, welche ihn jedoch fest umschlangen. Nur Lucio wagte sich nah genug an den Dämon heran, um die Ketten fester zu schnüren und mit einem dicken Schloss zu versehen. Dabei schnappte dieser nach seiner Hand und erwischte ihn mit einem der Fangzähne.
Der Handschuh war hinüber und ein langer Striemen zog sich über seinen Handrücken. Blut quoll daraus hervor und tropfte zu Boden. Doch als wäre das ganze nicht schon schlimm genug, denn Blut war für Grandarf eine Art „Gelee Royal“, begann die Wunde auch noch zu kribbeln und zu brennen.
Offenbar hatte ihn das Vieh mit seinem Gift infiziert. Angewidert hielt Lucio die Hand gegen seine Brust und drückte mit dem Rest seines Handschuhs auf die Wunde, damit das Blut aufhörte zu tropfen.
„Geht es Ihnen gut?“ rief Emme besorgt und kam einen Schritt näher. „Nein, bleib dort stehen, bitte!“ presste Lucio zwischen den Zähnen hervor und hatte Mühe nicht vor Schmerz aufzustöhnen.

Seine Hand pochte unangenehm und das Gift brannte wie die Hölle. „Schafft ihn zum Käfig, schnell!“ keuchte er und lehnte sich gegen einen Laternenmast. Schwindelgefühle und Übelkeit machten sich in ihm breit und sein Herz raste, als müsste es einen Sprint gewinnen. Das Gift war auf jeden Fall wirksam gegen ihn und das war schlecht. Zitternd musste er sich auf den Boden setzen und kalter Schweiß lief ihm über den Rücken. Da er ein Teufel war, würde ihn das Gift nicht töten, aber trotzdem war es nicht angenehm die Qualen auszustehen.
Keuchend besah er sich noch einmal die Wunde und riss die Augen auf, als er feststellte, dass diese eine ekelhaft grüne Farbe angenommen hatte. Die Haut um die Wunde herum warf seltsame Blasen und Lucio musste ein Würgen unterdrücken. Er musste schnell zurück zum Headquarter. Nein – besser zu seinem Vater. Der konnte vielleicht das Gift aus seinem Körper ziehen. Taumelnd richtete er sich wieder auf und wankte zurück zu seiner Maschine. „Sir, ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?“ fragte jetzt auch James vorsichtig und hielt ihn fest, damit er nicht umkippte. „Mir … geht es schon gut, danke. Ich fahre zurück – mein Vater kann vielleicht das Gift aus meinem Körper entfernen. Ich komme … schon klar“ wimmelte er seinen Kollegen ab und dieser runzelte die Stirn. „Aber so können Sie doch nicht mit dem Motorrad fahren, Sir!“ beharrte James und lief neben ihm her. „Das passt schon. Geh zurück zu den anderen und hilf ihnen –„ Bevor er zu Ende gesprochen hatte, ertönte ein ohrenbetäubender Lärm hinter ihnen und sie wirbelten herum. Grandarf hatte es wohl geschafft die Ketten zu sprengen und hatte den Käfig mit seinen dämonischen alles zerfressenden Flammen zum Schmelzen gebracht. Emme, Craze und Joe, welche den Käfig getragen hatten, liesen das groteske Gebilde fallen und hielten sich die verbrannten Hände. Schmerzensschreie drangen an Lucios Ohren und er knurrte wütend.
Grandarf war nicht so dumm wie sie gedacht hatten!

„Schnell gib mir meine Bloody Mary!“ schrie er James zu und dieser eilte zu der Kawasaki. Mit Vampirgeschwindigkeit war er wieder zurück und drückte ihm die Waffe in die unverletzte Hand. Lucio hob sie hoch und zielte auf das Ungetüm, welches nach seinen Männern schnappte und Emme dabei an der Schulter verletzte. Er verbiss sich im Körper des Vampirs und zog ihn mit sich. Lucio entsicherte seine Bloody Mary und drückte ab.
Mit einem Schrei, der einem das Trommelfell schmerzen lies, krümmte sich Grandarf zusammen, als ihn die Silberkugel direkt im Gehirn traf. Jaulend wand er sich hin und her, schüttelte den Kopf und schlenkerte Emme wie eine Lumpenpuppe mit sich herum. Dieser konnte sich mit letzter Kraft befreien, wobei er sich selbst eine große Fleischwunde zufügte. Dunkles Blut quoll auf den Boden und hinterlies einen unschönen Fleck auf dem steinernen Boden, als Emme bewusstlos zusammensank und Joe und Craze versuchten ihn mit ihren verletzten Händen von dem Monster weg zu ziehen. Grandarf hingegen wand sich immer noch und Lucio schoss ein weiteres Mal, traf jedoch nun bewusst das Herz des Viehs. Mit einem letzten markerschütternden Schrei sank das Objekt G in sich zusammen und hauchte seinen letzten Atemzug auf dieser Welt.

Einige Sekunden später war sein Körper zu Staub zerfallen und der Wind verteilte die Asche großzügig über den Trafalgar Square. Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen sank Lucio in sich zusammen und verdrehte die Augen. Normalerweise wurde er nicht bewusstlos, aber das Gift hatte sich wohl inzwischen stärker in seinem Körper ausgebreitet und er schloss bereitwillig die Augen.
Wenn er aufwachte, würde sein Vater das Gift bereits aus seinem Körper entfernt haben und hoffentlich würde es Emme dann auch wieder besser gehen. Seufzend gab er sich der Dunkelheit hin und war froh, dass er die Schmerzen während er bewusstlos war nicht spüren würde.

Grelles Licht blendete ihn einige Zeit später und er schlug blinzelnd die Augen auf. Sein Vater leuchtete ihm mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht und er kniff die Augen wieder zusammen. „Du bist endlich wach.“ stellte sein Vater fest und nahm endlich die Taschenlampe beiseite. „Wie fühlst du dich? Hast du Hunger oder Durst?“ erkundigte er sich und half Lucio sich auf zu setzen. „Mir geht es den Umständen entsprechend. Ich fühle mich nur ein wenig matt und durstig, aber sonst bin ich in Ordnung.“ erwiderte er schroff und griff nach dem Glas Wasser, welches ihm sein Vater reichte. Er leerte es mit gierigen Zügen und schloss erschöpft die Augen. Das Gift war aus seinem Körper verschwunden, das spürte er, denn seine Hand brannte nicht mehr und die Schwindelgefühle waren wie weggewischt.
„Wie geht es Emme?“ wollte er dann wissen und warf Lucian einen ernsten Blick zu. Dieser setzte eine betretene Miene auf, dann antwortete er bedacht: „Nun, seine Verletzungen waren schwerwiegend. Wäre er kein Vampir gewesen, hätte ihn Grandarf vermutlich getötet. Ich habe zwar das Gift aus seinem Körper ziehen können, doch die offenen Wunden werden Tage brauchen, bis sie verheilt sind. Und das Gift hat Narben hinterlassen. Narben die vielleicht nie wieder heilen werden. Bei deiner Hand handelte es sich glücklicherweise um eine kleinere Verletzung und dein Körper ist stark genug die Wunde bis morgen zu heilen. Doch Emme ist noch jung und ich weiß nicht, wie er damit zurecht kommen wird für immer einen vernarbten Körper zu haben, wo er doch eigentlich die ewige Schönheit in sich trägt.“ Lucio nickte matt und lehnte sich zurück in die Kissen. Das waren keine wirklich guten Nachrichten, auch wenn es Emme wieder einigermaßen besser ging. Vampire waren allerdings sehr eigen was ihr Aussehen betraf, da sie ja eigentlich für immer schön und jung blieben, doch wenn Emme einen vernarbten Körper bekommen würde, dann würde ihn auch die Vampirwelt mit anderen Augen betrachten. Vielleicht sogar verstoßen. Und das ganze nur wegen des Gifts dieser jämmerlichen Höllenkreatur.

„Er wird sich wohl damit abfinden müssen.“ Murmelte er dann und sein Vater hob die Augenbrauen. „Wahrscheinlich. Ich habe allerdings noch eine Nachricht für dich. Diese wird dir jedoch nicht gefallen.“ Lucio schenkte seinem Vater einen stechenden Blick und erwartete, dass dieser weiterredete. „Es geht um das Virus in dir, Sohn. In den letzten Wochen war es ja eher, nun ja „ruhig“ um dich, aber ich fürchte es hat sich wieder ausgebreitet. Offenbar hat Grandarfs Gift in deinem Körper für diese Reaktion gesorgt, denn deine negativen Werte sind in die Höhe geschnellt, als ich dich untersucht habe. Dein Blutdurst wird demnächst noch steigen und bald wirst du die ersten Anzeichen einer Wandlung spüren. Auch werden sich Taubheitsgefühle einstellen und deine Atmung könnte dir Probleme machen.“ erklärte Lucian und sein Sohn verschränkte wütend die Arme vor der Brust. „Super, wirklich, das ist die Aufmunterung auf die ich gewartet habe.“ bemerkte er bissig und Lucian seufzte tief. „Ich war ja noch nicht ganz fertig mit meinen Ausführungen. Grandarfs Gift befindet sich bereits in unseren Laboren und wird von meinen Männern untersucht. Vor einer halben Stunde haben sie angerufen und gesagt, sie hätten das Gift bereits identifizieren können und suchen jetzt fieberhaft nach einem Gegenmittel. Dieses werde ich dir verabreichen und hoffen, dass es das Virus in deinem Körper bekämpfen kann. Wir haben dir ein wenig Blut abgenommen und werden es vorher damit testen. Aber im Moment sieht es ganz positiv aus. Du siehst, deine Zukunft ist nicht so trüb wie du denkst.“

Verärgert verdrehte Lucio seine Augen und machte Anstalten aufzustehen. „Wo willst du hin?“ fragte sein Vater barsch und er schnaubte nur: „Wohin wohl? Immerhin hat einer meiner Männer ebenfalls schwere Verletzungen davongetragen. Ich werde ihm einen Krankenbesuch abstatten, so etwas macht man als anständiger Vorgesetzter.“ Mit diesen Worten stapfte er in Richtung Türe und versuchte sich dabei nicht anmerken zu lassen, dass er noch ein wenig wacklig auf den Beinen war.
Kopfschüttelnd sah ihm sein Vater nach und räumte das leere Glas beiseite, während Lucio sich auf den Weg zu seinem verwundeten Kameraden machte.

Emme sah fürchterlich aus, als er ihn durch die Glasscheibe auf dem Krankenbett liegen sah, dick mit Mullbinden an der kompletten Brust und der linken Schulter versehen. Sein Blick war trübe und er wirkte tatsächlich ein wenig verzweifelt. Joe, Craze und James saßen neben ihm auf den Besucherstühlen und redeten mitfühlend auf ihn ein. Als Lucio das Krankenzimmer betrat, sprangen sie auf und neigten respektvoll die Köpfe. „Setzt euch, bitte.“ sprach er und sie sanken wieder zurück auf ihre Plätze.
Er zupfte ein wenig nervös an dem Verband an seiner Hand herum und stellte sich auf die andere Seite des Bettes. „Wollen Sie einen Stuhl, Sir?“ bot Joe höflich an, doch er winkte ab.
„Wie geht es dir, Emme?“ wollte er dann etwas steif wissen und der Angesprochene drehte langsam den Kopf in seine Richtung. Der resignierte Blick warf in Lucio einige Schuldgefühle auf, doch seine Worte waren noch um einiges schrecklicher. „Wie soll es mir wohl schon gehen? Ich sehe aus wie eine vernarbte Lumpenpuppe und das werde ich auch immer bleiben. Ein vernarbter Vampir, ha! Hat man so was schon gehört? Ich werde das Gespött der ganzen Vampirwelt sein. Ich bin ein Krüppel, Sir!“ keuchte er heißer und Lucio biss sich auf die Unterlippe. „Hör auf dir das einzureden, niemand wird dich verspotten, dafür werde ich schon sorgen! Wenn sie erst einmal erfahren, warum du so vernarbt bist, dann werden sie dich eher als Helden betrachten! Und überhaupt, haben dich Joe oder die anderen ausgelacht und verspottet?“ erwiderte er dann bissig und Emme schnaubte verächtlich. „Klar ich und ein Held! Sie brauchen sich gar nicht die Mühe machen mich aufzuheitern! Aber Sie haben recht, weder Joe noch die anderen haben mich verspottet, aber nur weil sie meine Freunde sind. Sie haben mir eher mitleidige Blicke zugeworfen. Ist das meine Zukunft? Spott und Mitleid der anderen? Ich wollte immer etwas Anerkennung von der Vampirwelt, egal wofür. Doch jetzt ernte ich Spott und Hohn und ich frage mich, wie ich so weiterleben kann.“

Lucio ballte seine Hände zu Fäusten und knurrte leise. „Bist du ein Mann oder eine Memme!“ rief er aufgebracht und die andern zogen ihre Köpfe ein. „Du bist ein starker Vampir Emme, vor dir liegt noch ein sehr langes Leben! Du bist ein guter Kämpfer, einer der besten, wohlgemerkt und du hast nichts Besseres zu tun, als dich in Selbstmitleid zu suhlen, nur wegen dieser Narben. Du bist etwas Besonderes, Emme, das wusste ich schon, seit ich dich eingestellt habe. Und das hat sich heute nicht geändert. Grandarf hat dir zwar deine Makellosigkeit genommen, aber nicht deinen Verstand und deinen Ehrgeiz. Und genau das ist es was dich ausmacht. Pfeif doch auf die Meinung der anderen Vampire! Du bist du und du solltest damit zufrieden sein! Hör auf zu jammern, wie ein Waschweib! Was soll ich sagen? Ich trage seit einem Jahr ein Virus in mir, welches mich möglicherweise eines Tages selbst in einen Dämon verwandeln wird. Und seit heute hat es sich sogar noch weiter ausgebreitet. Aber jammere ich deswegen hier herum? Nein! Ich versuche das Beste daraus zu machen und du solltest das auch, verdammt. Jetzt reiß dich zusammen oder ich suspendiere dich vom Dienst. Denn Memmen kann ich nicht gebrauchen!“
Für ihn war die Unterhaltung damit beendet und er warf seinem Untergebenen noch einen letzten strengen Blick zu, bevor er sich auf den Weg zur Türe machte. „Ruh dich jetzt aus. Und wenn du wieder fit bist, dann wirst du weiterhin Dämonen jagen.“ sprach er jetzt etwas sanfter und Emme nickte sprachlos. „Tragen … tragen Sie wirklich ein Virus in sich, Sir?“ wollte dann Craze vorsichtig wissen und Lucio blieb vor der Türe stehen. Sein Blick war resigniert und seine Hände zu Fäusten geballt. „Dem ist wohl so. Und bis jetzt gibt es auch kein Gegenmittel. Aber seid unbesorgt, ich fühle mich so fit wie ein Jungvampir. Ruht euch jetzt aus. Allesamt. Es war ein harter Tag für euch und ihr müsst eure Kräfte regenerieren. Wir treffen uns demnächst.“
Lucio wartete gar nicht ab, ob sie sich auch von ihm verabschieden wollten, sondern verlies das Krankenzimmer mit raschen Schritten und betrat sein altes Schlafgemach. Hier hatte er gelebt, bis er sich die Villa gekauft hatte. Alte Erinnerungen stiegen in ihm hoch, doch er unterdrückte sie geflissentlich und setzte sich auf das wie immer frisch gemachte Bett.
Sein Kopf schmerzte leicht und er schloss seufzend die Augen. Er lies sich zurück sinken und dachte darüber nach, was er gerade eben an Emme weitergegeben hatte.
Eigentlich war es ja nur richtig, was er gesagt hatte, doch er erinnerte sich an seinen Vater, der ihm selbst Mut gemacht hatte, als er erfuhr, dass sich das Virus zuerst weiter ausgebreitet und dann wieder zurückgezogen hatte. Sein Vater hatte Recht, er war kein Jammerlappen. Genauso wenig wie Emme. Er musste einfach die Tage so weiter leben wie gewohnt und irgendwann würden sie das passende Gegengift finden und ihn heilen. Da war er sich mit einem Mal ganz sicher. Er war nicht alleine auf dieser Welt. Er musste seine Probleme nicht alleine bekämpfen, auch wenn er normalerweise niemand anderen mit hineinzog.
Entschlossen richtete er sich wieder auf und verlies das Zimmer. Sein Gang führte ihn direkt zum Arbeitszimmer seines Vaters. Lucio würde seiner Familie nun endlich mitteilen, was in seinen Träumen vor sich ging. Sie hatten sich so lange um ihn gesorgt, sie hatten ein Recht es zu erfahren.
Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen öffnete er die Türe des Zimmers und erntete einen wissenden Blick seines Vaters. Das Lächeln wurde breiter. Wie dumm er gewesen war, seine Familie mit seinen Träumen zu verschonen, wo sie ihn doch gerade zu bedrängt hatten es ihnen zu erzählen. Das würde er jetzt alles nachholen. Und vielleicht half es seinem Vater endlich das Gegenmittel zu finden. Wie hieß es doch so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Impressum

Texte: Alle Rechte am Text liegen alleine beim Autor. Das Dorf "Wickedshire" sowie die Handlung und die Personen sind allefrei erfunden
Bildmaterialien: http://shereese.files.wordpress.com/2011/01/apple-and-snake.jpg (wurde von mir nachbearbeitet)
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Freundin Mel, welche sich immer Zeit nahm meinen Ideen zuzuhören und sein sie noch so verkorkst. Hdl Noch einmal: Dieses Buch ist für Leser unter 16 Jahren nicht geeignet!

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