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Last




*** Ein Fall zum Frühstück ***



Unzählige zuckende Körper wirkten im diffusen Licht wie ein gigantisches Wesen, das verzweifelt mit dem Tod zu kämpfen schien. Die Luft war heiß und hinterließ auf ihrer blanken Haut einen klebrigen Film. Nebelschleier trugen einen fruchtigen Geruch in den Raum und ihre Schatten wurden durch den flimmernden Boden verzerrt, bevor gleißende Lichter sie endgültig zerfetzten.

Jack löste seinen Blick von der Tanzfläche und starrte in das Glas, welches in seinen Fingern rotierte. Er hatte sich den Abend anders vorgestellt. Sie würde nicht mehr kommen – so viel war klar. Über vier Stunden hatte er nun an dieser Bar gewartet – vergebens. Enttäuscht kippte er sich den letzten Schluck des Mixgetränkes in den Mund. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Das Zeug war lauwarm kaum genießbar.

Suchend sah er hinter den Tresen und nickte dem Barkeeper zu. „Noch einmal das Gleiche?“, fragte dieser.

Jack hatte die Worte des Jungen nicht verstanden, konnte sie aber deutlich von seinen schmalen Lippen ablesen. Verschiedene Musikstile, die aus den einzelnen Dancefloors eindrangen, vermischten sich hier mit dem Stimmengewirr zahlloser Menschen zu undefinierbaren, fast rauschähnlichen Klangbildern.

Nach einigen Minuten gab Jack mit einem Fingerzeig dem Barmann zu verstehen, dass er zahlen wolle.

Über sein blasses Gesicht huschte ein Lächeln. „Sie sollten nicht mehr fahren“, sagte er und hob seine schmalen Augenbrauen. Verlegen fuhr er mit den Fingern durch die dunkelblonden, mit Unmengen von Gel nach oben gestylten, kurzen Haare. Schnell zählte er die Scheine, die ihm der Gast gegeben hatte und seine Augen verrieten, dass er mit dem Trinkgeld zufrieden war.

„Ist okay Cheffe“, sagte Jack. Er griff nach seiner Jacke, die über der Lehne des Barhockers hing, steckte den Geldbeutel in die Gesäßtasche seiner Jeans und drehte sich in Richtung Ausgang. <Kleine Rotznase>, dachte er, <ich wette du bist noch zu jung, um überhaupt ein Auto zu besitzen.>

Die Jacke über seiner Schulter, kämpfte sich Jack mühsam gegen einen nicht endenden Strom von Neuankömmlingen durch den langen Korridor des Clubs nach außen. Immer wieder wurde er von entgegenkommenden, hungrigen Körpern angestoßen oder gegen die Wand gedrängt.

Als sich die Tür des alten Industriegebäudes endlich hinter ihm geschlossen hatte, holte er tief Luft. Die kühle Nacht tat ihm gut und hatte für den Moment seine Enttäuschung vertrieben. Jack ging die provisorisch betonierte Straße in Richtung Parkplatz. Hinter sich vernahm er immer noch das dumpfe Grollen der Musik. Das riesige Backsteingebäude verschluckte die hohen Töne und ließ nur tiefe Bassschläge nach außen dringen.

Seine Finger suchten in der Hosentasche nach dem Schlüssel, als er vor dem Auto stand. Stirnrunzelnd blickte er auf den zierlichen Gegenstand. <Du hast Recht – Kleiner>, sagte er zu sich selbst. Jack warf den Schlüssel nach oben und fing ihn wieder auf, um ihn in seiner Tasche verschwinden zu lassen. <Durch den Park sind es nur 20 Minuten bis nach Hause. Den Wagen kann ich auch morgen noch abholen.> Er zog sich die Jacke über und ging in die Richtung aus der ihm ein frischer, nach gemähtem Rasen, Holz und Wasser duftender Wind entgegen schlug.

Langsam schälten sich die Umrisse knorriger Eichen aus dem Nebel. Der schwache Schein des Mondes tauchte die Umgebung in ein unwirkliches Licht und schien jedem Stein, Strauch oder Baum ein Eigenleben zu geben. Je mehr sich Jack der dunklen Silhouette des alten Parks näherte, umso deutlicher konnte er spüren, dass der Sommer noch nicht gewonnen hatte. Es gab noch kühle, immer schattige Stellen, an denen die wärmenden Strahlen der Sonne gescheitert waren. Hinter seinem Rücken verblassten die Laternen des stillgelegten Industriegebietes.

Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Jacke nach oben und vergrub die Hände in den Taschen. Vielleicht hätte er sich einfach ein Taxi nehmen sollen?

Loser Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er vom Schatten der Bäume verschlungen wurde und in den Wald eintauchte. Der gewundene Weg schien kein Ende zu nehmen. Unzählige Male war ihn Jack Connor schon entlang gejoggt. Aber heute Nacht war irgendetwas anders. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er damit ein ungutes Gefühl, das sich in seinen Gedanken breit machte, vertreiben könnte. <Gott, ich müsste doch bald durch sein. Am kleinen Fischteich vorbei – dann sind es nur noch 10 Minuten und die gute alte Zivilisation hat dich wieder>, dachte er.

Und tatsächlich konnte Jack einen Augenblick später die glitzernde Oberfläche des kleinen Sees sehen. Über dem Wasser waberten Dunstschleier. Sie schlichen unaufhaltsam dem Weg entgegen und griffen wie eisige Finger nach ihm. Der leise Schall seiner Schritte war das einzige Geräusch, in der gespenstigen Stille.

Schmerzend verkrampfte sich sein Herz – dieses geheimnisvolle Echo! … Da war doch noch jemand! Schlagartig drehte er sich um und prüfte die Umgebung. Wurde er verfolgt? Jack konnte niemanden sehen. Aber er hatte doch Schritte gehört. <Du bist ein Vollidiot – das nächste Mal trinkst du etwas, das du erträgst.> Der Alkohol schien ihm die Sinne zu vernebelt zu haben. Entschlossen ging er weiter.

„Jack – nimm mich mit“, ungläubig lauschte der Mann. Jemand flüsterte seinen Namen.

Konzentriert beobachtete er ein weiteres Mal das Gelände. Im Zwielicht des Mondes war es unmöglich, etwas zu erkennen. Aber plötzlich schien sich die gesamte Umgebung zu bewegen. Im Licht und Schattenspiel verzerrten sich die rissigen Stämme der mächtigen Eichen zu seltsamen Geschöpfen, die zu tanzen schienen. Verzerrte Gesichter starrten auf ihn herab und die Schatten des Waldes nahmen bedrohliche Ausmaße an.

Jack Conner spürte wie sich seine Kehle langsam zuschnürte. Blankes Entsetzten hatte seinen Körper gepackt. <Nichts wie weg hier>, schoss ihm durch den Kopf.

Er sah in Richtung Straße, deren Geräusche schon ganz leise zu hören waren und begann zu laufen. In seinem Nacken spürte er einen eisigen Atem. <Du träumst … es ist niemand da … reiß dich zusammen. Mann, wie alt bist denn du eigentlich!> Keuchend rannte er aus dem Wald.

Schon erschienen die erleuchteten Fenster der ersten Häuserreihen in der Ferne. Jack konnte bereits die vom Asphalt erhitzte Stadtluft riechen. <Gott sei Dank>, – Er spürte Erleichterung.

„JACK!“ Der heisere Schrei war ganz dicht an seinem Ohr. Im gleichen Augenblick riss es ihm die Beine weg und Sterne explodierten vor seinen Augen.

Die hektischen Geräusche der Stadt fanden langsam ihren Weg zurück in sein Bewusstsein. Zögernd bewegte Jack Connor die Beine. Seine Gelenke schmerzten von der Kälte, die im feuchten Boden lauerte. Was war passiert? War er gestolpert und hatte sich den Kopf angeschlagen? Er musste ohnmächtig gewesen sein. Mit beiden Händen stütze er sich ab. Er hatte das Gefühl, Bleiplatten in den Jackentaschen zu haben. Kopfschüttelnd rieb sich Jack winzige Kieselsteinchen aus seinen Handflächen. Unter der Last seines eigenen Körpers richtete er sich stöhnend auf und warf einen misstrauischen Blick über die Schulter. Der Wald schwieg. „Jack, Jack, Jack“, keuchte er: „Alter, du stolperst über deine eigenen Beine!“ Er schüttelte grinsend seinen Kopf, bevor er den Heimweg fortsetzte.

Müde schleppte sich Jack die letzten Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Auf dem blanken Steinboden des renovierungsbedürftigen Korridors hallten seine Schritte. Er griff in seine Tasche und suchte den Schlüssel. Das Schloss klickte leise und er trat ein. Erleichtert lehnte er sich an die Wand, nachdem er die Türe sorgfältig hinter sich verriegelt hatte. „Was für ein Tag“, murmelte er kopfschüttelnd. Er schleppte sich zum Kühlschrank und griff nach einer Flasche Bier. „Morgen früh werde ich sie fragen, wie lange sie mich noch verarschen will“, murmelte er und ließ sich auf das Sofa sinken. Wenige Minuten später schlossen sich seine schwer gewordenen Lider. Jack war nicht mehr in der Lage, die ihn überkommende Müdigkeit abzuwehren.

*** *** ***

„Jim! Jetzt beeil dich, ich habe Hunger“, fordernd sah Ron in Richtung Bad und hörte, wie das Wasser abgestellt wurde. Eine Sekunde später schob sich Jims Fransenkopf durch die nur spaltbreit geöffnete Tür. Seine nassen Haare klebten ihm in Strähnen auf der Stirn und ließen unzählige glitzernde Wassertropfen über sein Gesicht perlen. Ein Tropfen hatte sich an der Nasenspitze festgesetzt und bebte bei jedem Atemzug.

„Alter“, entgegnete Jim, „wenn du nicht den ganzen Morgen das Bad blockiert hättest, wäre ich auch schon fertig.“

Ron blickte nur ungeduldig über seine Schulter.

„Also schrei hier nicht rum, sondern pack schon mal die Sachen ein.“ Nachdem Jim gesprochen hatte verschwand sein Kopf wieder hinter der Tür, um in der nächsten Sekunde noch einmal hervor zu schnellen: „Und schmeiß deine stinkenden Socken nicht wieder zwischen meine frischen Hemden!“

Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür ins Schloss. Ron hörte, wie das Wasser wieder aufgedreht wurde. Tief Luft holend murmelte er: „Ich habe keine stinkenden Socken.“ Auf seinem Bett kramte er orientierungslos in den verstreuten Kleidungsstücken herum und warf sie in seine Sporttasche.

Eine halbe Stunde später verließen die Jäger das heruntergekommene Motel. Als Jim die Beifahrertür des nachtschwarzen Ford Mustang öffnete, fragte er beiläufig: „Wo soll es eigentlich hingehen?“

„Zum nächsten Diner der unseren Weg kreuzt – ich habe einen Bärenhunger“, antwortete der Ältere.
Ron hatte die Stirn in Falten gezogen. Die Sonne zeigte sich wieder von ihrer besten Seite und blendete ihn.

Jim zog unbeeindruckt seinen Kopf ein und schwang sich in den verstaubten Wagen. Fast synchron schlossen sich die Türen mit einem dumpfen Schlag. Unentschlossen wippte der Ford Mustang einige Male hin und her bevor er mit quietschenden Reifen den kleinen Parkstreifen des Motels verließ.

*** *** ***

Lustlos und müde schleppte sich Jack, sein Gesicht hinter einer Sonnenbrille versteckt, vom nahe gelegen Parkplatz zum kleinen Drive-In Restaurant. Er hatte es über das Wochenende kaum geschafft, sein Auto zu holen. Den Rest der Zeit hatte er komplett verschlafen. Zu jedem Schritt musste er sich mühsam überwinden. Er wurde das Gefühl nicht los, unter dem Gewicht seines eigenen Körpers zu ersticken. Die Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen und drohten ihren Dienst zu verweigern. Beschwerlich schob er sich durch die Pendeltür in den Laden.

„He Jacky – wo warst du gestern? Du hattest doch Dienst!“ Lilly`s fröhliche Stimme stach in seinen Ohren.

„Ich war krank“, murmelte Jack. „Wo warst du denn am Freitag? Wir hatten uns doch verabredet?“
Eigentlich interessierte ihn die Antwort der jungen Frau nicht mehr. Er war zu müde, um sich aufzuregen.

„Tut mir leid“, schuldbewusst suchte Lilly nach einer Antwort und neigte den Blick.

Als er sich an ihr vorbei schob um in die Küche zu gelangen, hielt sie ihn an der Schulter zurück. „Der Boss ist ziemlich sauer auf dich.“ Unerwartet nahm sie ihm die Sonnenbrille vom Gesicht. „Oh Mann – du siehst wirklich schrecklich aus“, flüsterte Lilly. Besorgt sah sie Jack an. Seine matten, blutunterlaufenden Augen sagten ihr genug.

„Ich muss mir was eingefangen haben“, erwiderte Jack und nahm ihr die Brille aus der Hand. Das helle Neonlicht tat seinen Augen weh. „Lässt du mich jetzt durch?“

Bereitwillig machte Lilly den Weg frei. Als Jack in der Küche verschwunden war, ging Lilly zielstrebig zum Tisch, an dem soeben neu angekommene Gäste Platz genommen hatten. „Was darf es denn sein?“, ihre fröhliche Art zauberte ein Lächeln auf das Gesicht des Mannes in der braunen Lederjacke.

„Ich hätte gern einen Cheeseburger und einmal Ham and Egg.“ Verzückt musterte Ron die junge Kellnerin. Sie strich eine goldblonde Strähne, die sich heute Morgen geweigert hatte in ihren Zopf eingeflochten zu werden, aus ihrer Stirn. Als ein Lächeln um ihre Lippen zuckte, schienen blasse Sommersprossen auf ihrer Nase zu hüpfen.

Das Räuspern von der gegenüberliegenden Seite des Tisches schreckte sie auf.

„Entschuldigung?“

Lilly wandte sich an Jim, der nun seine Hand vom Mund nahm, sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen konnte. „Ich hätte gern Eierkuchen mit Ahornsirup und einen Kaffee Latte – Bitte!“, sagte er und versuchte dabei möglichst ernst zu bleiben.

„Zwei Kaffee - Bitte“, Ron säuselte im charmantesten Ton den er treffen konnte. Lilly nickte verlegen und eilte zum Tresen zurück. Dabei wurde sie verfolgt von Rons begeisterten Blicken.

„RON“, flötete Jim mit erhobenen Augenbrauen. Seine Stimme war zwei Oktaven höher als sonst.

*

Die Gerüche und Geräusche der Küche trieben Jack heute in den Wahnsinn. Er stand am Barbecue-Grill und betrachtete angewidert die brutzelnden Hackfleischscheiben. Das spärliche Frühstück, das er heute Morgen zu sich genommen hatte, drängte plötzlich aus ihm heraus. Mit der Linken winkte er den Küchenjungen zu sich und bat ihn, einen Moment auf seine Hamburger aufzupassen. Der Student wischte sich die Hände am Vorbinder trocken. Erfreut über die willkommene Abwechslung nahm er den Platz am Grill ein, während Jack Connor eilig die Küche verließ.

Nach einigen Minuten kam er zurück. Argwöhnisch betrachtete Jeremy den Koch, der leichenblass aus der Toilette kam und überließ ihm wieder den Platz am Grill. Er selbst kehrte murrend zu seiner Arbeit als Tellerwäscher und Kartoffelschäler zurück.

Ein stechender Schmerz fuhr unerwartet durch Jacks Lunge. Er schmeckte salzigen Schaum und hatte das Gefühl, sein Brustkorb würde sich zu einem engen Schlauch zusammenziehen. Mit einem gurgelnden Schrei rang er nach Luft und versuchte sich abzustützen. Zischend verbrannten seine Handflächen auf den glühenden Gitterrosten des Grills.

Der gellende Schrei hatte Ron und Jim von ihren Sitzen hochgerissen. Im gleichen Moment flogen die Flügel der Pendeltür auseinander. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte Jeremy aus der Küche. Fassungslos klammerte er sich mit einer Hand an den Tresen und versuchte wild gestikulierend, Lilly etwas zu mitzuteilen. Aber blankes Entsetzten ließ keinen einzigen verständlichen Laut über seine Lippen kommen. Unerwartet rannte er zum Ausgang, geriet plötzlich ins Stolpern und taumelte mit rudernden Armen direkt auf Jim zu, der ihn in letzter Sekunde auffangen konnte. Die Wucht des Aufpralls riss den jüngeren Barker fast um. Mit irrem Blick sah der Gestützte Jim an, befreite sich aus seinem Griff und verschwand wortlos aus der Tür. Überrascht blickten ihm die Brüder nach.

Zögernd trat Lilly an die große Pendeltür zur Küche.
„Jack?“, rief sie nach dem Koch. „He, Jacky, ist alles in Ordnung?“ Nur widerwillig drückte sie die Tür auf und warf einen ängstlichen Blick in den weiß gefliesten Raum. Ihr Verstand weigerte sich augenblicklich, die Bilder vor ihren Augen zu akzeptieren. Lautlos glitt ihr der Colabecher aus der Hand. Die Welt verschwamm und ohnmächtig folgte ihr Körper mit einem dumpfen Schlag dem Plastikbecher, der bereits auf dem Boden kreiste. Eiswürfel klirrten über Fliesen und ein beißender Geruch wehte den Jägern aus der Küche entgegen.


*** Entkommen ***



Es dauerte nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde und das jahrelange, harte Training, sowie der angeborene Instinkt eines Jägers übernahmen die Kontrolle über das Handeln der Barkerbrüder. Nur ein einziger, kurzer Blick war nötig, um sich zu verständigen.
Während Jim um die Theke eilte, entschied sich Ron für den direkten Weg. Mit einem Satz schwang er sich, geschmeidig wie eine Raubkatze, über den Tresen und landete auf der anderen Seite sicher auf den Beinen.
Jim ergriff ein herumliegendes Küchenmesser und stand bereits vor der immer noch schwingenden Tür. Der plötzliche Adrenalin-Schub stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Lunge trieb den Brustkorb sichtbar auf und ab. Das Herz pumpte auf Hochtouren, um Jims Körper, der sich auf einen Kampf vorbereitete, mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Das Messer in der Hand sah er zu Ron hinunter. Dieser hatte sich über Lilly gebeugt, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verletzt hatte. Durch ein Nicken signalisierte ihm Ron, dass die junge Frau zwar bewusstlos, aber sonst in Ordnung war.

Die Jäger standen jeder mit dem Rücken an einem der Pendeltürflügel. Ihre Gesichter waren konzentriert. Wieder übernahm Ron das Kommando. Mit einem explosiven Tritt bahnten sie sich einen Weg durch die Tür, um die Küche zu stürmen. Unter der Wucht rissen die Scharniere aus den Angeln und die beiden Türhälften stürzten zu Boden.
Beißender Qualm machte jeden Atemzug zur Tortur. Die Arme schützend vor ihre Gesichter gelegt, setzten die Jäger vorsichtig erste Schritte in den Raum. Dichte Rauchschwaden brannten in ihren Augen.
Ron eilte mit wenigen Schritten zu einem kleinen Fenster. Mit dem rechten Ellenbogen schlug er die Scheibe ein. Schon nach wenigen Minuten wurde die Luft erträglicher und die Sicht klar. Rons Blick wanderte über die Regale, die aufgestapelten Töpfe, Pfannen und Plastikdosen. Schließlich richteten sich seine Augen auf den Grill. Ein kurzes Stöhnen entwich seinen Lippen. Angeekelt wandte er sich ab.

„Was ist Ron? – Bist du ok?“ Jim konnte das Szenario nicht sehen. In seinem Flüstern bebte Unsicherheit.

„Wie Schrecklich …“, die mühsam hervorgepressten Worte des Bruder veranlassten Jim sich zu drehen.
Ein kurzer Blick über seine Schulter – und auch Jim schob bestürzt den Handrücken vor seine Lippen. Er schloss die Augen und schnaufte leise.
Ein verdorrter Körper lag auf dem Grill. Die rechte Gesichtshälfte brutzelte auf den kleinen blauen Flammen und verursachte den beißenden, nach angebranntem Fleisch stinkenden Qualm. Die Beine des Mannes waren weggeknickt. Verkrampft umschlossen die Hände des Toten die glühenden Gitterstäbe. Das Feuer hatte bereits das Fleisch abgesengt und legte blanke Knochen frei. Die ehemals weiße Jacke des Mannes war verrußt und teilweise verbrannt. Am mehreren Stellen entblößte sie einen bräunlich verfärbten Körper, der mit violetten Flecken übersät war.

„Gott …“, flüsterte Jim. Er wagte einen zaghaften Schritt in Richtung des Tatortes. Immer wieder musste er würgen.

„Hast du so was schon mal gesehen?“, wollte Ron wissen.

Jim schüttelte den Kopf. „Vielleicht ein Arbeitsunfall“, keuchte er hinter vorgehaltener Hand.

„Sieht nicht danach aus“, stellte Ron fest. Er trat ebenfalls einen Schritt näher und betrachtete den Toten. Rons Brauen zogen sich in die Höhe. „Kann ein Körper so schnell verbrennen, dass er nach wenigen Minuten wie ein Stück Dörrfleisch aussieht?“, fragte er zweifelnd.

Jim stieß mit dem Messer gegen die Leiche. Wie eine Feder glitt sie lautlos zu Boden. „Als wäre er schon Jahre tot.“ Er sah Ron erstaunt an. Dieser hob ratlos seine Schultern.
Nach wenigen Sekunden entspannten sich die Gesichter der Jäger. Denn die Erfahrung lehrte sie, dass sie zu spät kamen. Wer oder was auch hier getobt hatte, es war weg.

„Wir können hier nichts mehr tun. Lass uns wenigstens dem Mädchen helfen“, sagte Ron und warf einen besorgten Blick auf Lilly, die immer noch bewusstlos am Boden lag. Er ging zu ihr zurück, sank auf seine Knie und hob vorsichtig ihren Kopf an. Ihr Gesicht war völlig entspannt. Zärtlich strich er eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrer Stirn.
Gott – ich kenn nicht mal deinen Namen, dachte er und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ihr Anblick verzauberte ihn. Behutsam, als hätte der Jäger Angst, das Mädchen zu zerbrechen, nahm er sie in die Arme.

„Was hast du vor?“, wollte Jim wissen. Neugierig beobachtete er seinen Bruder.

„Ich werde sie auf die Bank legen“, antwortete Ron. Mit einem Ruck war er auf den Beinen. „Auf dem Steinboden holt sie sich noch den Tod!“
Jim nickte verwirrt. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer des Notrufes.

*** *** ***

Jeremy rannte wie ein gehetztes Tier. Die Menschen auf der Straße sausten als Schatten an ihm vorbei. Einige von ihnen hatte er bei seiner panischen Flucht angerempelt. Aber der Küchenjunge nahm es nicht wahr. Sämtliches Leben, das an diesem Morgen in den Straßen wimmelte, verwandelte sich in ein Gemisch aus pulsierenden Klecksen und unwirklichen Lauten. Jeremy konnte nicht schnell genug laufen, um den schrecklichen Bildern in seinem Kopf zu entkommen. Irgendwann sackte er in einer unbelebten Gasse zusammen. Sein Herz raste und er rang keuchend nach Luft. Stechende Schmerzen in der Brust quälten ihn. Sein Hals brannte von der staubigen Stadtluft. Mit aufgerissen Augen starrte er ins Leere. Er fuhr sich verzweifelt durch die Haare, um diese Angst zu vertreiben. Das Erlebte erdrückte seinen Verstand. Mit einem gequälten Schrei versuchte sich sein Körper von der Erinnerung zu befreien, bevor der junge Mann, apathisch hin und her pendelnd, den Zugang zur Realität verlor.

*** *** ***

Angezogen durch die blitzenden Lichter des Krankenwagens und dem massiven Polizeiaufgebot hatten sich zahlreiche Schaulustige hinter dem gelben Signalband um das Drive-In Restaurant eingefunden.
Die Barkers standen abseits des Treibens und beantworteten die Fragen eines Officers.

„Nein – leider haben wir nicht gesehen, wie es passiert ist“, berichtete Jim. Seine Stirn zog sich in Falten als er den Polizisten ansah. „Wir haben nur den Schrei gehört und dann kam dieser Junge aus der Küche gestürzt“, fügte er hinzu.

„Welcher Junge?“, fragte der Beamte interessiert.

„Wir kennen ihn nicht. Aber er war sehr jung und sehr zierlich“, übernahm Ron das Gespräch. „Er kam aus der Küche und hat meinen kleinen Bruder fast über den Haufen gerannt.“ Die Ironie in seinen Worten war unüberhörbar. Ron sah spöttisch zu Jim hinauf. Dieser biss sich auf die Unterlippe und seufzte leise.

Der Police Officer konnte sich angesichts von Jims Größe ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. „Nun meine Herren, bitte bleiben Sie in der Stadt und wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann rufen Sie mich an.“ Er schob Ron seine Visitenkarte zu, bevor er sich umdrehte und zum Tatort ging.

„Machen wir“, rief der Ältere dem Officer nach und schielte auf das Kärtchen in seiner Hand: „Officer Miller.“

Kaum hatte sich der Beamte entfernt, verpasste Ron seinem Bruder einen Seitenhieb. „Bist ein bisschen aus der Form was?“, kicherte er und sah zu Boden.

„Alter“, Jim holte tief Luft. Das konnte er unmöglich auf sich sitzen lassen. „Der Typ war schwerer als er aussah und als er stolperte, hat er nochmal ordentlich einen Zahn zugelegt!“ Vorwurfsvoll hoben sich seine schmalen Augenbrauen.

Die Sanitäter brachten Lilly auf einer Trage zum Krankenwagen. Sie war wieder bei Bewusstsein. Ihr Gesicht schimmerte blass in der Sonne.
Ron trat einen Schritt näher „Wie geht es ihr?“, fragte er einen Sanitäter.

„Sie hat einen leichten Schock, ist aber in Ordnung. Wir werden sie eine Nacht zur Beobachtung in der Klinik behalten.“

Ron nickte. Er beugte sich etwas hinunter zu Lilly: „Ist wirklich alles okay?“ Die Frau lächelte und Ron konnte auf ihren Lippen das Wort Danke ablesen. Als sie in den Wagen gehoben wurde, hob er seine Hand und winkte ihr zum Abschied kurz zu.

Jim stand im Hintergrund, beide Hände in den Hosentaschen vergraben und beobachtete seinen älteren Bruder. Ein verklärtes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie heißt übrigens Lilly“, rief er scheinheilig.

Nach einem Räuspern sagte Ron: „Ich glaube wir sollten das checken – das könnte was sein.“

Jims schmale Finger fuhren durch die langen Haare auf seiner Stirn. „Wenn es dir wirklich um den Fall geht!“ grinste er.
Die Jäger schritten auf ihren Wagen zu. Am Ford Mustang angelangt, konnte Ron die bohrenden Blicke seines Bruders nicht mehr ertragen.

„Was ist?“ Er schlug mit den Händen auf das Wagendach.

„Das frage ich dich!“ Jim hatte ebenfalls die Hände auf das Dach gelegt und musterte Ron. Als er keine Antwort bekam, griff er nach der Klinke und schwang sich in das Auto. Nachdem sich die Türen des Ford Mustangs geschlossen hatten, konnte sich Jim einfach nicht mehr zurückhalten. „Du magst sie“, platzte es aus ihm heraus. Sein Rücken presste sich gegen den Ledersitz als er Ron herausfordernd ansah.

Dieser kramte im Handschuhfach nach einer Kassette und murmelte vor sich hin. Ist das so offensichtlich? Er spürte, wie eine leichte Hitze in ihm aufstieg. „Wen?“, fragte er knapp.

„Lilly …! – Komm schon Ron… Ich habe doch bemerkt, wie du sie ansahst.“ Ein Grinsen überzog Jims Gesicht, als er seinen großen Bruder musterte.

Ron suchte nach Worten. Dann schob er die Kassette in den Schlitz des Radios. Nach einem Hüsteln drehte er den Zündschlüssel. Im Auto dröhnte AC/DC, als er den Rückwärtsgang einlegte, das Lenkrad scharf einschlug und das Gaspedal durchtrat.
„Ich kann dich leider nicht verstehen, Jimmy die Musik ist zu laut“, schrie er seinem Bruder zu. Mit quietschenden Reifen schoss der Ford Mustang aus der Parklücke, blies ein paar blaugraue Wölkchen in die Luft und bog in die nächstgelegene Straße ein.

Jim sah lächelnd auf die Straße.

*** *** ***

Die Luft im Motelzimmer war stickig heiß. Obwohl die Klimaanlage seit Stunden laut schepperte, gelang es ihr nicht, die Temperatur auf erträgliche Werte zu senken. Die zugezogenen, zerschlissenen Vorhänge ließen nur wenig Licht in den Raum. Eine vergilbte Blumentapete kräuselte sich an mehreren Stellen von den Wänden und hinterließ kahle, unansehnliche Stellen auf dem grauen Putz. Man hatte versucht, mit zusammen gewürfelten Möbelstücken jene Stellen zu kaschieren. Dieses Motel hatte seine besten Tage schon lange hinter sich.
Seit Stunden saß Jim in leicht gekrümmter Haltung an einem Tisch und starrte auf den flimmernden Laptop. Seine Finger flogen über die Tastatur und erzeugten ein leises Klicken. Es war das einzige Geräusch neben dem nervenden Klappern der Klimaanlage.
Schwüle Hitze hatte sein Shirt zu einer feuchten Kompresse werden lassen. Die Konturen seiner Muskeln zeichneten sich unter dem blaugrauen Stoff ab. Jim kniff die Augen zusammen und legte den Kopf in seine Hände. Das unbequeme Sitzen hatte seine Rückenmuskulatur verkrampft und sein Körper ermahnte schmerzend eine Auszeit.

Mit einem offenen Gähnen streckte sich Jim, hob die Arme und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. Als er sich wieder nach vorn beugte, strich er sich braune Haarsträhnen aus der Stirn. Aber die widerspenstigen Fransen weigerten sich gegen den Versuch, gebändigt zu werden und fielen augenblicklich in ihr geordnetes Chaos zurück.
Entmutigt und müde schlug Jim das Cover seines Laptops zu. Er hatte jedes Archiv durchforstet, war jedem noch so vagen Hinweis nachgegangen. Alles ohne Erfolg. Es gab Nichts, das mit dem, was die Brüder heute Morgen erlebt hatten, vergleichbar war. Kein einziger, ähnlich verwirrender Arbeitsunfall hatte sich bisher in dieser Stadt ereignet.

Ein Anruf bei Bill hatte auch nichts gebracht, außer der freudigen Gewissheit, dass es dem alten Jäger gut ging. Jim hoffte darauf, er würde bei seinen Recherchen vielleicht etwas herausfinden.

Jim erhob sich und trat in die Zimmermitte. Seine Silhouette zeichnete sich im schwachen Licht der Fenster ab. Gegen die alten, kleinen Möbel wirkte Jim wie ein Riese. Ein kühles Bier wäre jetzt eine gute Idee, dachte er und ging zum Kühlschrank.
Nachdem er eine Pappschachtel mit seltsam anmutendem Inhalt beiseite geschoben hatte, ergriff er eine der Flaschen im ansonsten leeren Eisschrank.
Seufzend ließ er sich auf sein Bett fallen und wurde von der Kuhle die sich in der Matratze bildete, aus seiner Balance gerissen. Mit rudernden Armen und Beinen fing er sein Gewicht wieder auf und öffnete kopfschüttelnd die Flasche. Der Schluck tat ihm gut, vermochte aber nicht das Pochen hinter seinen Augen zu mildern. Vielleicht hatte ja Ron mehr Erfolg, überlegte er und stellte die Flasche neben den durchgetretenen Bettläufer.

Ein stechender Schmerz zwang Jim augenblicklich mit beiden Händen, seinen Kopf zu stützen. Flammen schienen ihm die Augen aus den Höhlen zu brennen. Stöhnend beugte er sich nach vorn, verzweifelt bemüht, eine Körperhaltung zu finden, die diese Schmerzen lindern würde. Das Stechen blieb jedoch und schwoll periodisch zu kaum noch erträglicher Intensität an. Völlig unkontrolliert glitt Jim vom Bettrand zu Boden.
Stöhnend kniff er die Augen zu, als er mit der Stirn aufschlug. In seinem Kopf erschienen seltsame Bilder. Sie wurden abwechselnd zerrissen von Dunkelheit und grellen, schmerzenden Lichtern. Klagende Laute erfüllten seine Ohren und ein Gefühl ohnmächtiger Angst griff nach seinem wild pochenden Herzen. Mit zusammengepressten Lippen riss Jim seinen Kopf in den Nacken. Als er mit einem dumpfen Schlag auf dem Rücken landete, irrten seine Augen weit geöffnet durch das Zimmer.
Aber die Bilder die Jim sah, kamen nicht aus diesem Raum.

*** *** ***

Leise klickte das Schloss als Ron den Schlüssel drehte und sich in das Motelzimmer schob.
„He Jim – es gibt Neuigkeiten“, rief er mit erfreutem Gesicht. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er den Autoschlüssel auf eine kleine Kommode neben der Tür und sah sich suchend um.
„Jim? – wo steckst du?“ Rasch stellte er die Papiertüte mit dem soeben eingekauften Fastfood ab. Ron konnte Jim nirgends sehen, vernahm aber unvermittelt ein verzweifeltes Stöhnen. Mit einigen Schritten hatte er das Bett umrundet.
„Gott, was ist denn passiert?“ Sofort packte er Jim am Ausschnitt seines Shirts und zog ihn zu sich heran.
Noch halb benommen durch die soeben erlebte Tortur schwankte Jims Kopf haltlos hin und her. Er hatte die Augen geschlossen und seine Finger krallten sich in Rons Lederjacke.

Suchend wanderten Rons Blicke über den Körper seines Bruders. Als er keine Verletzungen erkennen konnte, schüttelte er ihn kräftig. „Jim – he Kleiner! … Komm zu dir!“

Jim’s Verstand schien klarer zu werden. „Ron?“, fragte er mit schmerzverzerrter Stimme.

Ein Lächeln huschte über Ron’s Gesicht: „He Jimmy – ja ich bin’s.“ Er schnippte mit seinen Fingern vor Jim’s Gesicht herum. „Bist du okay?“, wollte er wissen und rüttelte ihn abermals heftig.

„Hör auf mich so zu schütteln“, knurrte Jim. „Mir platzt gleich der Kopf.“

„Komm Kleiner – steh auf.“ Mit einem beherzten Ruck zerrte Ron seinen Bruder in die Höhe. Immer noch zittrig folgte Jim Rons Bemühungen. Als er schließlich erschöpft auf dem Bett Platz gefunden hatte, rieb er sich die Schleier aus den Augen und blinzelte Ron an.

„Meine Güte“, raunte dieser vorwurfsvoll. „Kann man dich denn nicht mal ein paar Stunden allein lassen?“ Er blickte besorgt in die Augen seines Bruders. „Hattest du wieder eine dieser … Visionen?“

Jim nickte betroffen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Das Pochen hinter seinen Schläfen wurde allmählich schwächer.

„Was hast du gesehen?“ bohrte Ron nach. Er hatte sich neben Jim aufs Bett gesetzt und sah ihn erwartungsvoll an.

„Keine Ahnung“, keuchte Jim immer noch atemlos. „Einen Mann – er kniete vor einem leblosen Körper.“

„Kanntest du ihn?“, fragte Ron. Er hatte die Hände in seinem Schoß verschränkt. Seine Daumen kreisten ungeduldig um sich selbst.

„Ich weiß nicht“, presste Jim hervor. „Es war irgendwie … anders! … Anders als sonst.“
Sein Gesicht verbarg er immer noch in den Händen, die jetzt zudrückten, als versuchte er die letzten Erinnerungen aus seinem Gedächtnis zu quetschen. „Er hat schrecklich gelitten“, flüsterte er.

Ron sah ihn erstaunt an. „Gelitten? – War er verletzt?“

Jim schüttelte seinen Kopf „Nein – ich glaube nicht.“

„Wie kommst du dann darauf?“ Völlig verwundert hob der Ältere seine Brauen.

Langsam füllten sich Jims Augenwinkel mit Tränen: „Ich konnte seine Schmerzen fühlen. Ron - ich kannte sie!“

Verwirrt schüttelte Ron seinen Kopf. „Was soll das denn jetzt heißen?“

„Was weiß ich“, zischte Jim, wütend über sein Unvermögen, die Bilder und Empfindungen, die er durchlebt hatte, zu interpretieren. Er erhob sich und wanderte im Zimmer auf und ab. „Es hat Blüten geschneit…“, hauchte er.

Rons Gesicht wurde immer erstaunter. Er war auf dem Bett sitzen geblieben und musterte Jim, der offenbar kurz davor war zu explodieren.

Immer wieder raufte sich der junge Jäger die Haare und blickte verzweifelt an die Decke, als erhoffe er sich von dort eine Antwort. Entnervt sah er schließlich über seine Schulter auf Ron: „Alter, ich habe keine Ahnung - Ich gehe erst mal duschen – ich brauche einen klaren Kopf.“ Jim zog sein Shirt aus und schleuderte es in den Raum. Dann schmetterte er die Badezimmertüre hinter sich ins Schloss.

*** *** ***

„Iss was“, mit einer Hand schob Ron eine Pappschale in Jims Richtung. Mit der Anderen puhlte er genüsslich kauend in der undefinierbaren Masse der zweiten Schachtel und stopfte sich das Essen in den Mund.

Angewidert zuckte Jim vor dem farbig bedruckten Karton zurück. „Ron! … Das kann man doch nicht essen! Weißt du überhaupt was das ist?“ Er zog seine Stirn in Falten, beugte sich etwas nach vorn und beobachtete misstrauisch den bunten Inhalt, als hätte er Angst, ihm könnte daraus etwas entgegen springen. „Du hast also was herausgefunden?“, fragte er schließlich und lehnte sich mit verschränkten Arme zurück.

„Ja, stell dir vor – ich war nochmal auf der Polizeistation.“ Während Ron sprach, drohte ihm die Malzeit wieder aus dem Mund zu fallen. „Inspektor Miller sagte mir, dass sie in einer Nebenstraße einen verwirrten Jungen aufgriffen haben. Seine Beschreibung passt auf unseren vermissten Küchenboy.“

Jim beobachtete angeekelt und fasziniert zugleich, wie einige Nudeln zwischen Rons Lippen lebendig zu werden schienen.

„Was starrst du mich denn so an?“, wollte Ron wissen und riss Jim aus seinen Gedanken.

Räuspernd deutet dieser auf seine Lippen: „Du hast da was.“

Ron wischte sich den Mund ab und berichtete weiter: „Er ist in der hiesigen Nervenklinik. Ich denke wir sollten ihn dort morgen mal besuchen.“ Fragend sah er Jim an: „Magst du nicht?“ Sein Blick glitt gierig auf die zweite Schachtel.
Jim schüttelte den Kopf.

Sofort angelte sich Ron auch die zweite Portion und machte sich darüber her.

„Ja das sollten wir.“ Jim sah nach oben. „Wie geht es Lilly?“, fragte er leise.

„Alles bestens, sie wird morgen entlassen“, platzte Ron heraus, noch bevor ihm überhaupt bewusst geworden war, dass Jim ihn überrumpelt hatte.

Jim lachte: „Du hast sie also im Krankenhaus besucht. Weißt du denn schon, wo sie wohnt?“

Geschlagen sah Ron von seinem Essen auf: „Ja – ich habe sie besucht. Und – ja ich weiß wo sie wohnt.“
Versöhnlich neigte er den Kopf. „Und bevor du mich noch weiter nervst, Jimmy – ja, ich mag sie.“

Der Jüngere holte tief Luft. Ein triumphierendes Lächeln eroberte sein Gesicht. Es war ihm schon immer leicht gefallen, seinen älteren Bruder zu überlisten.

„Mann, du bist echt fies“, bemerkte Ron zerknirscht. Plötzlich erfüllte ein dumpfes Knurren den Raum. Erstaunt sah sich Ron um. „Was war denn das?“, flüsterte er mit erhobener Braue.

„Das - war mein Magen, Alter!“, antwortete Jim mit einem tiefen Seufzer und sah hungrig auf die leeren Pappschachteln.

„Zu spät…!“ bemerkte Ron und stieß die leeren Packungen vom Tisch.


*** Von Intensivstationen und Leichenhäusern ***



Kaum hatten sie die große Drehtür des historisch anmutenden Krankenhauses passiert, wehte ihnen der intensive Geruch von Desinfektionsmitteln entgegen. Weiches Linoleum dämpfte ihre Schritte und ein reger Menschenstrom verriet, dass Besuchszeit war. Schwestern in raschelnden Kitteln begleiteten Patienten in den sonnenüberfluteten Park. Eine Angestellte rollte einen Serviertisch mit diversen Tellern und Tassen in eine kleine Küche.

Ron und Jim gingen ohne Umweg direkt auf den Empfang zu.

„Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“, fragte die Schwester an der Rezeption, ohne den Blick von einem Formular zu wenden, dass sie gerade ausfüllte.

Ron setzte ein strahlendes Lächeln auf: „Guten Tag, FBI, mein Name ist Marlowe und mein Partner hier heißt Mason. Wir ermitteln im Fall des gestern aufgefundenen verwirrten, jungen Mannes.“ Er schob einen Ausweis mit seinem Foto über den Tresen und forderte Jim auf, es ihm gleich zu tun.

Die Schwester hob ihren Kopf und schielte über den Rand einer Brille, die über ihrer Nase zu schweben schien. „Hat er was angestellt?“, fragte sie. „Woher haben Sie überhaupt die Information, dass wir einen solchen Patienten haben?“

Sie legte ihren Kugelschreiber beiseite und stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, um sich zu erheben.

„Nun“, entgegnete Ron, „wir sprachen gestern mit Detektiv Miller. Er hat gesagt, dass unsere gesuchte Person möglicherweise einer Ihrer Patienten ist.“

Misstrauisch beäugte die Schwester zunächst die Ausweise der Männer, bevor sie anschließend die Krawattenträger selbst in Augenschein nahm. Nachdem sie sich von der Richtigkeit ihres Beamten-Status überzeugt hatte, sank sie zurück auf den Stuhl und begann, etwas in ihren Computer zu tippen.

Sekunden später antworte sie „Station 4, Zimmer 63. Aber glauben Sie mir Detektivs, Sie werden nicht viel in Erfahrung bringen. Der arme Junge ist völlig weggetreten.“

Die Jäger bedankten sich lächelnd und schlenderten durch den langen Korridor in Richtung Fahrstuhl. „Melden sie sich bitte bei der Stationsschwester“, rief ihnen die Frau hinter dem Tresen noch zu.

Leise klingelnd kündigte der Fahrstuhl die gewünschte Station an, als sich die Tür auch schon öffnete. Hier oben war nichts mehr vom hektischen Treiben im Empfangsbereich spürbar. Jims Blick schweifte suchend über die Türschilder. Er wies mit dem Finger in die Richtung, in der Zimmer 63 zu erwarten war.

Rasch schritten Ron und Jim durch den menschenleeren Korridor. Die Stille war beängstigend. Fast am Ende des Ganges entdeckten sie eine offenstehende Türe.

Ihr Instinkt riet zu äußerster Vorsicht. Ron griff unter sein Jackett. Langsam glitt der Schaft einer Beretta in seine Hand. Er betrat als erster den Raum. Sofort sah er die Krankenschwester mit ihrem Gesicht nach unten am Boden liegen. Der Medizinwagen war anscheinend umgerissen worden und verschiedene Medikamente lagen verstreut auf dem Linoleum. Einzelne Tabletten knirschten unter Rons Schuhen. Das Krankenbett im sonst kahlen Zimmer stand verborgen hinter einem weißen Leinenvorhang.

Jim war nur einen Augenblick später seinem Bruder gefolgt und kümmerte sich sofort um die Schwester. Sie bewegte sich leise stöhnend. Er half ihr auf die Beine, während Ron sich mit entsicherter Waffe entschlossen dem Bett näherte.

Verdutzt und sprachlos blickte das Mädchen zu Jim hinauf.

„Was ist passiert? Haben sie sich verletzt?“, fragte der Jäger und musterte besorgt die junge Frau. Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich muss gestolpert sein“, murmelte sie. Hastig versuchte sie, ihren zerzausten Zopf zu ordnen und strich sich ihre weisse Schürze glatt. Als sie aufstehen wollte, verzog sie ihr Gesicht.

„Ist wirklich alles OK?“ Jim hatte sie vorsichtshalber am Arm festgehalten, um zu verhindern, dass sie erneut ins Straucheln geriet.

„Ist OK – danke“, hauchte sie mit errötenden Wangen. „Ich habe mir wohl an der Schulter wehgetan!“

„Wie heißen Sie?“, fragte Jim mit sanfter Stimme.

„Mein Name ist Amelia.“ Sie rieb sich an der linken Schulter und drehte sich zu Ron um. „Wer sind Sie und was machen Sie beide eigentlich hier?“

Die blaugrauen Augen des jüngeren Jägers hefteten sich auf das Gesicht des Mädchens: „Amelia – Mein Name ist Jim“, antwortete er ruhig.

Mit einem Räuspern unterbrach ihn Ron. Er zückte erneut den gefälschten Ausweis. „Wir wollten eigentlich ein paar Worte mit ihrem Patienten reden“, sagte er und nickte in Richtung Bett. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem zugezogenen Vorhang.

Erstaunt hoben sich Amelias Augenbrauen. „Warum denn so geheimnisvoll?“, flüsterte sie.

Ron hob die Schultern – „Nur so ein Gefühl.“ Er nickte Jim kurz zu.

Langsam griffen Rons Finger nach dem Saum des Vorhanges. Ein Ruck – und klirrend sausten die Führungsringe über die Aluminiumstange.

Entsetzt weiteten sich Amelias Augen. Ihr Schrei war kurz und schrill, denn Jim riss sie augenblicklich herum und presste ihr Gesicht gegen seine Brust. Seine Arme umschlangen sie fest und hinderten sie daran, den schrecklichen Anblick nochmals ertragen zu müssen.

Einen Laut des Entsetzten ausstoßend, wandte sich Ron von Jeremy ab. Er beugte sich nach vorn und hielt sich die Hand vor den Mund, um sein Würgen zu unterdrücken.

Vorwurfsvoll schaute Jim Ron an. In seinen Armen wimmerte Amelia. Jim konnte spüren, wie ihr Körper zitterte. Sie drohte, jede Sekunde zusammenzubrechen. Mit erhobenen Brauen gab er Ron durch ein Kopfnicken zu verstehen, dass es an der Zeit war, das Zimmer zu verlassen.

*** *** ***

Knarrend bewegte sich der rostige Fenstergriff und löste so die Verriegelung. Nach einem leichten Stoß sprang das Fenster auf. Ein großer Schatten huschte geschmeidig durch die Öffnung und glitt lautlos zu Boden. Ihm folgte ein zweites Schemen … und ein Fluchen.

„Ron! Pass doch auf wo du hintrittst“, fauchte Jim und rieb sich den Fuß.

Zwei Lichtkegel irrten durch den Raum. „Kleiner - Mach mal das Licht an“, flüsterte Ron.

„Klar gern – wenn du mir sagst, wo der Schalter ist“, konterte Jim.

Nach wenigen Sekunden flackerten die Lichter der Leuchtstoffröhren auf und tauchten den Raum in ein kaltes Weiß. Auf dem gefliesten Boden standen einige gelbe Plastikbehälter unterschiedlicher Größe mit der Aufschrift Pathologie.

Die Jäger blinzelten und orientierten sich. Es war kühl. In der Luft schwebte der Geruch von Thymol und Phenol.

„Auf in den Kampf!“ Ron ging entschlossen auf eine Wand mit chromglänzenden Isoliertüren zu. Beherzt zog er am Klappgriff der ersten Luke.

„Ron…!“ Jim hatte sich neben den Obduktionstisch gestellt und positionierte die große 12-äugige OP-Lampe über einen verdeckten Körper.

„Vielleicht sollten wir es zuerst hier versuchen“, flötete er seinem großen Bruder entgegen.

„Ah!“ Ron drehte sich spontan um. „Frauen und Kinder zuerst.“, raunte er. Er sah Jim auffordernd an.

„Wieso ich?“ fragte Jim. Falten bewegten sich auf seiner Stirn.

„Weil ich heute schon gekotzt habe“, entgegnete Ron und wies mit dem Zeigefinger auf den Körper. „Los mach schon, Jimmy.“

Jim ergriff zögernd das weiße Tuch und schlug es zurück. Ein Ton des Ekels quetschte sich über seine Lippen. Er schluckte heftig. „Der sieht ja auch so aus, als wäre er längst überfällig.“

„Ja“, erwiderte Ron, aus sicherer Entfernung auf den Toten schielend. „Nur, dass dieser hier nicht auf einem Grill lag und folglich auch nicht hätte verbrennen können!“

„Was meinst du, könnte das hier verursacht haben?“ Er sah Jim fragend an.

Ratlos schob Jim seine Hände in die Hosentaschen. „Spontane Selbstverbrennung vielleicht?“

„Glaub ich nicht“, entgegnete Ron. „Dazu ist er zu gut erhalten. Da bleibt immer nur ein wenig Asche übrig.“

„Eine extrem hungrige Shtriga* vielleicht?“ Jim hob seine Augenbrauen.

Die Jäger sahen ratlos auf den verdorrten Körper. Er hatte so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem Küchenjungen und wirkte wie eine Wüstenmumie. Das Fleisch schien komplett verschwunden, nur die Haut spannte noch über den Knochen. Im eingefallenen Gesicht lagen seine geschrumpelten Augen wie Rosinen in ihren tiefen Höhlen. Der Mund war aufgerissen, als hätte er nach dem letzten verzweifelten Schrei nicht mehr genug Zeit gehabt, ihn zu schließen.

„Was ist denn das?“ Ron zeigte auf kleine, violette Punkte an der Schulter des Toten. „So was hatte doch der Andere auch!“ Seine Augen erfassten Jim, dessen Fältchen sich grübelnd auf der Stirn bewegten.

„Mh … sieht fast aus wie Fingerabdrücke“, antworte Jim und kratzte sich am Hinterkopf. „Dreh ihn mal um“, forderte er Ron auf.

Dieser sah ungläubig zurück. „Was? – Ich fass den doch nicht an!“ Ron schüttelte heftig den Kopf.

„Na mach schon Ron - ich habe schließlich die Decke weggezogen.“ Jims Blick duldete keinen Widerspruch.

Schnaufend nahm sich der Ältere ein Paar Gummihandschuhe aus einem Plastikbehälter. Mit angehaltenem Atem packte er den Körper und drehte ihn vorsichtig zur Seite.

Jim hatte sich hinunter gebeugt, um den Rücken genauer betrachten zu können. Fast stieß er mit seiner Nase gegen die Leiche. Über seine Lippen kamen Laute des Erstaunens.

„Jetzt mach schon“, ächzte Ron. „Der zerbröselt mir zwischen den Fingern!“

Jim richtete sich auf und nickte Ron zu. Sofort ließ der Ältere den Körper los, der sich knirschend in seine Ausgangsposition zurückbewegte.

„Na? – mein kleiner Hobbypathologe? Was hast du herausgefunden“, keuchte Ron. Er zog angewidert seine Handschuhe aus.

Jim machte eine abwertende Handbewegung und erklärte: „Jeweils rechts und links auf den Schultern Hämatome, die nach Fingerabdrücken aussehen und auf dem Rücken an beiden Seiten der Wirbelsäule zwei Eintrittswunden. Sieht aber nicht nach Einschusslöchern aus.“

Ron hob beeindruckt eine Braue. „Nicht schlecht, Herr Oberstudienrat!“ Er sah zurück auf den Toten „Was sagt uns das?“

„Wahrscheinlich gar nichts“, seufzte Jim. Er zeigte noch einmal auf den Torso: „Das deutet auf Rippenbrüche hin.“

„Hatte der erste Tote nicht auch gebrochene Rippen?“, murmelte Ron.

Jim nickte und legte seine Hand auf Rons Schulter. „Komm lass uns gehen. Ich brauche frische Luft.“

*** *** ***

Amelia nahm sich nach dem schrecklichen Vorfall in der Klinik den Rest des Tages frei. Der furchtbare Anblick hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte. Nachdem sie die Tür zu ihrer kleinen Wohnung hinter sich geschlossen hatte, fiel sie erschöpft auf die Couch.

Sie war froh, den beiden Männern begegnet zu sein. Auch wenn sie nicht glauben mochte, dass sie vom FBI waren. Im Grunde genommen war es ihr auch egal. Es war gut, dass sie da gewesen waren und ihr beigestanden hatten. Alleine wäre sie von der Situation völlig überfordert gewesen.

Müde schloss Amelia ihre Augen. Die Sonne, die freundlich durch ihre Fenster flutete, war nicht im Stande, das erdrückende Gefühl auf ihrer Brust zu vertreiben.

Von Unruhe getrieben, sie stand auf und kramte im heillosen Durcheinander ihrer Handtasche. Mit einem Lächeln hielt sie schließlich die Visitenkarte von Jim zwischen den Fingern und legte sie neben ihr Telefon.

Der Typ war echt süß, gestand sie sich ein und schielte auf die Handynummer. Vielleicht ruf ich ihn morgen an, dachte sie und nickte ein.

Als Amelia aufwachte war es bereits abends. Sie hatte den ganzen Nachmittag verschlafen und trotzdem das Gefühl, einen Marathon hinter sich gebracht zu haben. Ihr Nacken war verspannt und hinter ihren Augen schienen Presslufthämmer zu dröhnen. Mit einem Seufzer erhob sie sich, um in der Küche einen Tee aufzugießen.

Während der Wasserkessel leise vor sich hin summte, ging sie ins Schlafzimmer. Im Spiegel erkannte sie sich kaum wieder. „Gott Amelia, du siehst heute wieder aus wie 30“, dachte sie erschrocken. Seufzend öffnete sie ihre Schwesterntracht. Diese glitt raschelnd über ihre schmalen Hüften zu Boden. Amelia entnahm ihrem Kleiderschrank ein Longshirt und schlüpfte hinein.

Barfuß schlich sie über das kühle Parkett zum inzwischen kreischenden Wasserkessel in der Küche zurück. Amelia fühlte sich unwohl und beobachtet, als sie ihren Tee aufbrühte. Ein unheimliches Gefühl hatte Amelia beschlichen. Verängstigt stand sie in der Tür zum Wohnzimmer und blickte auf eine Umgebung, die sich im Nebel aufzulösen schien.

Das Schlimmste aber war eine Stimme, die beständig in ihr Ohr flüsterte: „Amelia – nimm mich mit …“


Anmerkung des Autors:
* Shtriga ist eine Hexe, welche sich von der Lebensenergie anderer ernährt. Sie bevorzugt Kinder, da sie mehr Lebensenergie haben als Erwachsene. Die Shtriga "saugt" die Kinder über mehrere Wochen lang aus, bis diese schließlich sterben. [Quelle Wikipedia.de]




*** Ein Notruf ***



Viel zu selten durfte er sich entspannen und seiner Seele den Wunsch erfüllen, längst aufgegebenen Träumen nachzuhängen. Ausgerechnet jetzt ertönte dieses Summen - das lästige Geräusch eines auf dem Nachttisch vibrierenden Handys! Nur widerwillig befreite sich sein Bewusstsein aus der Umarmung des Schlafes und weckte Erinnerungen an die reale Welt. Eine Welt, die für die meisten Menschen unvorstellbar war. Und immer wieder zischte dieses Handy, das von alldem unbeeindruckt darauf bestand, angehört zu werden.

Brummend suchte Jim nach dem Schalter der Lampe oder dem Handy. Dieses schien sich einen Spaß daraus zu machen, immer wieder seinen Fingern zu entgleiten. Jim richtete sich auf und bekam das widerspenstige Gerät endlich zu fassen. Ein kurzer Blick auf die Nummer der Anzeige sagte ihm nichts. Er ließ sich wieder auf den Rücken fallen und hielt das Gerät an sein Ohr.

„Hallo, wer ist da“, fragte er.

Seine Augen weiten sich schlagartig. Der heftige Adrenalinstoß, der durch seine Venen peitschte, spannte seine Muskeln an und ließ seinen Körper blitzschnell in die Höhe schnellen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und pumpte Blut bis in die letzten Winkel.

„Bleib wo du bist – bleib ruhig, wir sind gleich bei dir!“

Jims Lungen schienen mehr Luft zu benötigen, als sie aufnehmen konnten. Unter heftigen Atemzügen weitete sich sein Brustkorb bis zum Zerbersten.

„Ron“, unterbrach Jim das leise, gleichmäßige Atmen seines Bruders.

„Ron – steh auf … wir müssen los!“ Er war aus dem Bett gesprungen und rüttelte seinen Bruder unsanft.

„Was ist denn? Wie spät ist es?“ Rons zerzauster Kopf tauchte unter der Bettdecke auf. Murrend öffnete er die Augen und blinzelte Jim an.

Dieser ließ nicht locker, was bedeutete, dass sein Anliegen keinen Aufschub duldete. Noch immer weich in den Knien rieb sich Ron den Schlaf aus den Augen, richtete sich auf und sah Jim fragend an. „Was ist denn passiert?“

„Es ist Amelia! Sie ist in Gefahr“, keuchte Jim.

Der Satz wirkte wie eine kalte Dusche. „Wo ist sie?“ Noch während der Frage sprang Ron aus dem Bett.

„Sie ist Zuhause. Sie sagt sie werde bedrängt“, antwortete Jim aufgeregt. Nachdem er hastig in seine Jeans gestiegen war, suchte er in der Reisetasche nach einem Hemd.

„Bedrängt? Was meint sie damit.“ Ron sah Jim verwirrt an. Er zog sich ein Shirt über den Kopf und schlüpfte, auf einem Bein hüpfend, ebenfalls in seine Jeans.

„Ich weiß nicht – aber es klang ernst – sehr ernst!“ Jim schloss die Knöpfe seines Hemdes und fuhr sich mit den Fingern durch seine ungeordneten Haare. Für einen Abstecher ins Bad fehlte ihm die Zeit.

Als Ron seine Lederjacke ergriff fragte er: „Was nehmen wir für Waffen mit?“

Jim hastete an Ron vorbei zur Tür. „Alle!“, antworte er.

*** *** ***

„Geht das nicht schneller?“ Jims Finger trommelten wild auf seinen Oberschenkeln. Er starrte immer wieder auf die Uhr und hatte das Gefühl die Zeit würde rückwärts laufen.

„Tut mir leid Jim, aber das hier ist kein Rettungswagen. Ich muss mich wenigstens etwas an die Verkehrsregeln halten“, erwiderte Ron, den Blick nervös auf die Fahrbahn gerichtet. Krampfhaft hielt er das Lenkrad fest, während er das Gaspedal des Ford Mustang bis zum Anschlag durchtrat. Grollend bewegte sich der schwarze Wagen durch die nächtlichen Straßen. Infolge des horrenden Fahrtempos erschienen die leuchtenden Reklameschilder an den Geschäften wie lange, sich ineinander verschlingende Fäden eines vorbeirauschenden Regenbogens.

„Rechts, rechts … rechts!“, schrie Jim mit hoher Stimme und zeigte zum Straßenrand. Ron riss das Lenkrad hart herum. Der Wagen hüpfte noch einmal über die Bordsteinkante, um dann ruckartig zum Stehen zu kommen.

Schon öffneten sich seine Türen. Während Ron die Waffentasche mit allen erdenklichen Hilfsmitteln aus dem Kofferraum bestückte, eilte Jim ohne zu Zögern auf eine der weißen Eingangstüren des Backsteinreihenhauses zu. Eines der unteren Fenster war erleuchtet.

Jim lehnte mit dem Rücken an der Wand und lauschte. Seine Hand lag an der, unter seiner Jacke verborgenen, abgesägten Schrotflinte. Als Ron neben ihm auftauchte, nickte ihm Jim zu und griff nach der Klinke.

Geräuschlos öffnete sich die Tür. Sie gab die Sicht auf einen kleinen Korridor frei. Durch eine geöffnete Tür fiel Licht auf den Boden.

„Amelia“, flüsterte Jim, als er sich durch die Eingangstür schob. „Amelia – wo stecken Sie?“ Auf das Äusserste gespannt, musterte er den Raum und erschrak, als plötzlich das summende Geräusch des Infrarot-Scanners hinter ihm ertönte.

Ron hatte ihn eingeschaltet, nachdem auch er den Korridor betreten hatte. Rote Lichtfäden zerteilten die Dunkelheit. Aufmerksam folgten Rons Blicke den bunten Streifen. Mit einem Kopfschütteln sah er zu Jim: „Nichts!“

Langsam schlichen die Jäger voran und vernahmen plötzlich einen gequälten Laut. Er kam aus dem Nebenzimmer.

*** *** ***

„Nein, nein, nein, nein! …“, schrie Jim. Als er Amelia erblickte, schien ihm die Luft wegzubleiben. Ein Gefühl aus Angst, Wut und Hilflosigkeit machte sich in seinem Körper breit. „Wir sind zu spät!“

Amelia lag zusammengekrümmt am Boden. Ihre Beine hatte sie angezogen, ihre Hände waren schützend um ihren Kopf geschlungen, ihr Atem rasselte.

Sofort war Jim bei ihr. Er kniete am Boden und hob behutsam ihren Kopf an. Mit der Hand strich er eine braune Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Was ist passiert?“, fragte er mit leiser Stimme.

„Es …. bringt …. mich ….um“, röchelte Amelia. Ihre Lungen füllten sich allmählich mit Blut.

„Was?“, seine Stimme wurde lauter.

Jim hatte Mühe, das hübsche Mädchen wieder zu erkennen. Amelias Gesicht war eingefallen, die Augen glanzlos, die Haut grau und kalt. Sie schien um Jahre gealtert zu sein.

Mit einem Blick, der fähig war zu töten, sah Jim zu Ron und seine Kopfbewegung schickte den Älteren los, das Haus zu durchsuchen. Dieser fasste nach seinem Gewehr und verschwand wortlos aus der Tür.

Ratlos irrten Jims Blicke durch das Wohnzimmer. Er konnte weder etwas sehen noch hören. Wieder sah er auf Amelia und drückte sie an sich. Mit den Armen umschlang er das Mädchen, in dem verzweifelten Versuch sie vor etwas zu schützen, das er selbst nicht wahrnehmen konnte. Er spürte ihren fliegenden Atem an seiner Schulter und ihre gequälten Laute schlugen wie Hiebe auf sein Herz ein.

Außer Atem erschien Ron wieder im Zimmer. „Es ist niemand hier“, keuchte er. „Ich habe alles überprüft, Jim!“ Er hob die Schultern. „Hier sind nur wir.“

„Das kann nicht sein“, donnerte ihm Jim entgegen. „Irgendetwas tötet sie!“ Tränen überfluteten seine Augen. „Wir müssen etwas tun, Ron!“

Mit erstarrtem Gesicht sah Ron auf Jim, der auf den Knien liegend das Mädchen hielt – fest entschlossen, sie um keinen Preis der Welt zu opfern.

Bitte, Bitte – Ron schloss die Augen - nicht schon wieder.

Seine Hilflosigkeit ließ ihn verzweifeln, lähmte ihn. Langsam ging er tiefer in den Raum und beobachtete bei jedem Schritt die Umgebung. „Was meint sie nur?“, flüsterte er.

Plötzlich schreckte ein Piepsen die Jäger auf. Sofort warf sich Ron auf den Boden und wühlte im Inhalt ihrer Waffentasche, bis er den EMF – Messer in der Hand hielt. Die Anzeige schlug leicht aus. Mit ausgestrecktem Arm folgte Ron der Spur des EMF´s durch das Zimmer. Sorgfältig ließ er das kleine Gerät an den Fenstern, Möbeln und Wänden entlang gleiten.

Die winzige Spur der Hoffnung in Jims Augen erlosch, als Ron den EMF-Messer in seine Richtung drehte und ihn entsetzt ansah.

„Was ist?“ flüsterte Jim. Panik legte sich auf sein Gesicht.

Ron schüttelte den Kopf. Er traute seinen Sinnen nicht mehr. „Der Geist … ist … sie …!“, brachte er erschüttert hervor.

„Das kann nicht sein“, keuchte Jim. Kritisch fixierte er seinen Bruder. Nach kurzem Zögern ließ er Amelia langsam aus seinen Armen gleiten und sah in ihr Gesicht.

Ron hatte sich ebenfalls in die Hocke begeben und schaute auf das Mädchen. Als er mit dem Messgerät über ihren Körper fuhr, verstärkte sich der Ton zur eindringlichen Warnung.

Amelias Brustkorb begann sich hektisch zu heben und zu senken. Jim spürte die Vibrationen ihres Körpers. Sie veränderte sich. Immer schneller wurde sie von einem unsichtbaren Etwas verzehrt, bis die Knochen blass unter ihrer Haut schimmerten.

Flehend nagelten sich ihre Blicke auf Jims Gesicht, als sie mit letzter Kraft hauchte: „Amelia … nimm … mich …mit!“

Jim nagte an seiner Lippe. Seine Tränen tropften auf ihr Gesicht, bis er seinen Kopf in den Nacken riss und schrie: „Wer … bist … du?“

Stöhnend bäumte sich Amelia in seinen Armen auf, Jim spürte wie ihre Rippen knackten. Amelias Wimmern verstummte, ihr Kopf sank zur Seite. Ein Faden blutiger Speichel tropfte über ihre Lippen. Unfähig, den eigenen Körper zu beherrschen, ließ Jim seine Arme sinken und das Mädchen glitt, leicht wie eine Feder gänzlich zu Boden. Sein eisiger Blick traf Ron.

Dieser hatte sich abwendet und kämpfte seinerseits mit vorgehaltener Hand gegen das Entsetzen, das sich aus seinem Magen wühlte.

*** *** ***

Schweigend knieten die Brüder nebeneinander und sahen auf einen leblosen Körper, der ihnen spottend verdeutlichte, wie aussichtslos ihr Bemühen gewesen war. Jim hatte den Kopf gesenkt. Er fühlte sich leer und ausgebrannt wie der Rest des Mädchens, das vor ihm lag. Ihr Leben war ihm wie Sand durch die Finger geglitten und er hatte, wie zu oft, nicht verhindern können, dass ein Mensch starb. Dieser Kampf war so sinnlos. Tief im Inneren fühlte er sich genau so tot wie Amelia.

Erst nach einigen Minuten bemerkte Jim die Kälte in seinem Nacken. Das Rauschen in den Ohren kam nicht vom Schmerz, den sein Gewissen eben ertragen musste. Dieses Rauschen war ein Atmen – und es flüsterte seinen Namen.

„Jim … nimm … mich … mit!“

Er spürte die schwere Kälte langsam und unbeirrbar seinen linken Arm entlang gleiten. Seine Sinne konzentrierten sich. Er hielt den Atem an, zwang sich zur Ruhe bis sein Herz fast aufhörte, zu schlagen. Den Körper aufs Äußerste angespannt, bewegte Jim nur die Augen und suchte mit der rechten Hand nach der Schrotflinte - irgendwo am Boden.

Als Jim die Waffe entsicherte, sah Ron überrascht herüber. Jim gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass er gleich schießen würde.

Erstaunt weiteten sich die Augen des Älteren. Ron inspizierte den Raum erneut und obwohl er nichts sehen oder hören konnte, war er sicher, dass Jim einen guten Grund für sein Verhalten haben musste.
Jim war sein Bruder – und sein Partner. Es gab niemanden auf der Welt, dem er mehr vertraute.

Ein lauter Knall zerriss die Stille, nachdem Jim die Waffe mit einem überraschenden Ruck über seine Schulter geschwungen hatte. Ein furchterregendes Fauchen folgte - diesmal konnten es die Jäger deutlich hören. Nachdem sich der beißende Qualm verzogen hatte, sah Ron, dass einige der scharfen Steinsalzkristalle Jims linke Schulter gestreift hatten. Aus mehreren Schnittwunden quoll Blut durch sein zerrissenes Hemd. Doch Jim spürte den Schmerz nicht. Zu sehr blockierte Adrenalin die Warnsignale seines Körpers.

Die Brüder standen längst auf ihren Beinen und lauschten. Suchende Blicke eilten durch das Zimmer, sie waren mit jeder Faser ihres Körpers zum Gegenschlag bereit.

Ein unsichtbarer Stoß erwischte Jim unerwartet im Kniegelenk. Mit einem kurzen Schrei stürzte er nach vorn, rollte sich über seine Schulter ab und blieb rücklings auf dem Boden liegen. Er konnte augenblicklich einen dumpfen Druck auf seinem Oberkörper spüren. Sein Gesicht verzog sich schmerzverzerrt unter der luftraubenden Last.

„Ron! – Den Camcorder … hol den Camcorder“, keuchte Jim während er mit einem gezielten Hieb seines Ellenbogens versuchte, sich von dem zu befreien, das seine Rippen zerbersten lassen wollte. Mit einem Satz war er wieder auf den Beinen und drehte sich um die eigene Achse. Seine Augen formten sich zu Schlitzen, als er die Umgebung fixierte.

Einige Male gelang es Jim, den Angreifer mit gezielten Faustschlägen und geschickten Ausweichmanövern von sich fern zu halten. In Sekundenschnelle hatte er begriffen, dass ihm seine Sehkraft hier nichts nützte. Er reagierte auf den Windzug, den das Geschöpf mit seiner Geschwindigkeit verursachte.

Verdutzt hatte Ron einen Moment lang den seltsamen Kampf seines Bruders beobachtet, bevor er das Gerät holte. Hektisch klappte er den Monitor auf und schaltete den Camcorder ein. Dann griff er nach der Schrotflinte.

In einem sanften Blau gab das elektronische Auge die Umgebung wider. Mit einem kurzen Schrei stürzte Jim erneut zu Boden. Er hatte das Gefühl, den Hieb einer Eisenstange in seine linke Kniekehle bekommen zu haben. Am Boden liegend hielt er sich ächzend das Bein.

Durch die Kamera sah Ron einen Schatten über Jim erscheinen. Ohne zu Zögern drückte er ab und durch die Luft pfeifende Salzkristalle zerrissen das Gebilde.

Einen Augenblick später spürte Ron einen brennenden Schmerz an seiner rechten Seite. Er kam mit solcher Wucht dass es ihn von den Beinen riss. Hart schlug er auf und spürte, wie sich eine Reihe scharfer Zähne in sein Fleisch bissen. Unbewusst entwich ihm ein Schrei. Ein enormes Gewicht legte sich auf seine Brust. Stöhnend schloss er die Augen und stemmte sich gegen den Angreifer. Aber die Last ließ sich nicht abschütteln, seiner Lunge fehlte bald der Platz zum Atmen.

Jim hatte sich aufgerappelt. Er zielte mit der Waffe knapp über Ron’s Körper. Die Salzladung fegte das erdrückende Gewicht weg. Stöhnend richtete sich Ron auf und betastete die schmerzende Stelle.

Erneut hörten die Jäger das Fauchen und sie postierten sich in der Mitte des Raumes.

Dann wurde es still, unheimlich still.

Angespannt harrten sie aus – aber alles, was sie hörten, war das helle Läuten der Glocke eines Milchwagens, der soeben vor dem Haus einparkte.

Vorsichtig näherte sich Jim dem Fenster, schob die geschlossenen Vorhänge etwas auseinander und blickte auf die Straße. Am Horizont zeigten sich die ersten goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne.

„Es ist weg“, keuchte Ron aus dem Hintergrund. Seine Haltung war gekrümmt. Er hatte sein Hand schützend auf die brennende Stelle gelegt. „Wir müssen hier verschwinden.“ Bittend sah er zum Jüngeren hinüber.

Jim nickte. Er stand regungslos am Fenster und starrte nach draußen. „Lass uns die Spuren verwischen“, sprach er rau.

*** *** ***

Als der Ford Mustang vor dem kleinen Motel einparkte, pulsierte die Stadt bereits unter den wärmenden Strahlen der Morgensonne. Erschöpft, verwundet und am Boden zerstört, verließen die Jäger den Wagen und schleppten sich zu ihrem Zimmer. Ihre Hoffnung, etwas Ruhe zu finden, erfüllte sich nicht. Es war unmöglich das Erlebte durch Zuschlagen der Tür auszusperren.

Ron ließ die Waffentasche zu Boden sinken. Nachdem er seine Jacke ausgezogen hatte, betrachtete er missbilligend den dunkelroten, klebrigen Fleck in seinem Shirt. Als er es sich hastig über den Kopf zog, lösten sich die Stofffasern schmerzhaft vom angetrockneten Blut auf seiner Haut. Ein leises Schnaufen kam über seine Lippen während er den Biss in Augenschein nahm. „Da wird ja der weiße Hai vor Neid erblassen“, zischte Ron bitter grinsend. Aber der klägliche Versuch seines Scherzes stieß auf taube Ohren.

Jim hatte am Tisch Platz genommen und sah auf das dunkelbraune Holz. Seine Jacke hing über dem Stuhl. Blut hatte die Fasern seines Hemdes durchtränkt. Das Steinsalz ließ seine Wunden nicht zur Ruhe kommen und fraß sich unbeirrt weiter ins Fleisch.

„Du musst das auswaschen“, flüsterte Ron. Er war an Jim heran getreten und versuchte, die zerrissenen Streifen von Jims Hemd auseinander zu ziehen, um seine Verletzung zu begutachten. Doch Jim entzog sich seinem Bruder. Schnaufend riss er seinen Kopf in den Nacken.

„Ich meine es ernst – Jim! Das wird sich entzünden“, mahnte Ron. Er war nicht bereit, die Lethargie seines Bruders zu akzeptieren. Emotionslos wandte Jim seinen Blick wieder nach unten. Die abwehrende Körperhaltung signalisierte, dass es besser war, ihn in Ruhe zu lassen.

Seufzend verschwand der Ältere im Bad. Man konnte hören, wie der Wasserhahn aufgedreht wurde. Dem Plätschern folgten mehrere gequälte Laute, die sich unweigerlich über Rons Lippen quetschten, als er sich die Wunde ausspülte.

Jims Blicke glitten sofort in Richtung Bad. Über sein Gesicht zog ein Hauch von Sorge. Er stand auf und wollte nach Ron sehen. Ihm tat sein impulsives Verhalten leid, denn er wusste, dass er ihm lediglich helfen wollte, dass niemand die Schuld an dem trug, was passiert war.

Ron kam in gekrümmter Haltung in das Zimmer zurück. Er hatte ein Handtuch auf seine Seite gepresst und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Jüngeren hinüber. Dieser bat ihn, sich seine Verletzung ansehen zu dürfen. Ron folgte dem Wunsch und entfernte vorsichtig das Handtuch.

Mitfühlend schnaufte Jim, als er den Kieferabdruck betrachtete. Die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Gebiss war unübersehbar - nur viel größer. An einigen Stellen schien der Druck so stark gewesen zu sein, dass sich die Zähne tief ins Fleisch gebohrt hatten. Den größten Teil machten jedoch Quetschungen aus, die sich langsam von rot in blau und schließlich in violett verfärbten.

Jim ergriff die Whiskyflasche auf dem Nachttisch und Ron schloss in Erwartung der zu erwartenden Tortur seine Augen. Als sich der Alkohol in feurigen Rinnsalen über seine Wunden ergoss, spie er etliche Flüche in den Raum. Anschliessend liess er sich auf sein Bett sinken um zu verschnaufen.

Einige Minuten später ließ Jim endlich zu, dass Ron seine Schnittwunden begutachtete. Auch seine Verletzung wurde mit Alkohol desinfiziert.

*** *** ***

„Das läuft uns hier komplett aus dem Ruder“, schimpfte Jim ins Telefon während er wie ein Tiger im Käfig, gereizt im Zimmer auf und ab lief. Er strich sich nervös durch die Haare.

Ron saß auf dem Bett. Hin und wieder sah er auf und verfolgte mit seinen Augen aufmerksam seinen Bruder. Vor seinen Füßen lag der Inhalt der Waffentasche ausgebreitet, den er regelmäßig kontrollierte.

„Bill! Wir haben keine Ahnung, mit wem oder was wir es hier zu tun haben. Es gab bereits drei Tote und wir sind nicht einen Schritt weiter!“ Entnervt ließ Jim seine Blicke nach oben gleiten und blieb stehen um den Worten zu lauschen, die aus dem Hörer drangen. „Nein – nein …Ich …“, sein Satz wurde unterbrochen. Jim sah vorwurfsvoll seinen Bruder an. „Ja, wir haben geschossen … irgendwas hat es bewirkt – aber nicht genug.“

„Was meint Bill“, fragte Ron, der sorgfältig eine Pistole mit einem ölgetränkten Lappen polierte.

„Er weiß auch nichts“, antwortete Jim seufzend und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch aus dem Handy. „Ja – es hat uns angegriffen – ich habe es gehört. … Nein …Was?“

Jim sah erneut auf Ron. Sichtlich genervt, dass Bill ihn nicht ausreden ließ, hob er die Brauen. „Beruhige dich Bill – wir sind okay …. nur ein paar Kratzer“, seufzte er. „Wie? …. nimm mich mit!“

Jims freie Hand fuhr in seine Hosentasche als er schweigend zuhörte. Dabei nickte er ab und zu. „Es muss eine Art Geist sein. Das Steinsalz hat es vertrieben – „… Körperlos … nur … Camcorder“, sprach Jim in sein Handy. „Ja wir fangen nochmal von vorn an. Ich werde die Sicherheitskameras des Krankenhauses überprüfen. Ron geht zu Lilly – dort hat ja alles angefangen.“ Jims Blick streifte erneut Ron, der ihm bestätigend zunickte.

„Das ist eine gute Idee, Bill – beeil dich!“ Erleichtert klappte Jim das Handy zu und warf es auf sein Bett. „Bill kommt uns zu Hilfe. Er wird morgen früh hier sein.“ Mit diesen Worten setzte er sich und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Hast du Lilly schon angerufen“, murmelte er.

Ron hob seinen Kopf. „Ja – wir sind heute Abend verabredet.“

Jim ließ die Arme auf seine Oberschenkel sinken und sah Ron fragend an. „Bist du sicher dass es dir um unseren Fall geht?“

„Was hast denn du für eine Meinung von mir“, konterte der Ältere und warf die Pistole in die Tasche. Dann stand er auf. „Ich gehe jetzt ins Bad“, mit einem unschuldigen Gesichtsausdruck verschwand Ron hinter der Tür.

„Tu das“, flüsterte Jim, „ich werde mich um die Sicherungsbänder kümmern.“ Er ließ sich rücklings auf sein Bett fallen und starrte an die Decke.

*** *** ***

Langsam rollte der Ford Mustang am Straßenrand aus und stoppte an einem schattigen Plätzchen unter einer der Linden, die ihre gewaltigen Kronen über der ruhigen Nebenstraße ausbreiteten. Nachdem Ron den Wagen abgeschlossen hatte, bewegte er sich zielstrebig auf ein kleines, sonnengelbes Haus hinter einem weißen Zaun zu. Er öffnete die Gartenpforte und klingelte wenige Sekunden später an der Tür. Ungeduldig sah er sich noch einmal um. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages suchten ihren Weg durch das grüne Blätterdach und tauchten den kleinen Vorgarten in ein märchenhaftes Licht.

Als sich die Tür öffnete, strahlten ihn zwei braungraue Augen an. Während der letzten schmerzlichen Stunden hatte Ron fast vergessen, wie dieser Glanz ihn vor zwei Tagen verzaubert hatte.

„Ron …“, Lillys Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er wäre fast zusammengezuckt, als er seinen Namen hörte. „Komm doch rein – ich freu mich, dass du gekommen bist.“ Lillys Haar schien im Licht der untergehenden Sonne zu brennen und umschmeichelte in langen Strähnen ihre Schultern.

„He Lilly – schön dass es dir wieder besser geht“, flüsterte Ron. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er ins Haus.

Im Flur schaute er sich um.

„Hier entlang“, sagte Lilly augenzwinkernd und wies auf eine geöffnete Tür.

Ron ging voran.

„Setz dich doch.“ Lilly deutete auf eine kleine Wohnlandschaft aus hellgrünem Leder in der Mitte des Wohnzimmers. Sie strich sich über ihr Kleid und flüsterte: „Ich hol uns was zu trinken.“

Brav setzte sich der Jäger und musterte das Zimmer. Über seine Lippen huschte ein Lächeln. „Nicht schlecht“, murmelte er. Nach einem kurzen Zögern lehnte er sich zurück und breitete die Arme aus.

„Was möchtest du trinken?“, erklang es aus der Küche.

„Vielleicht ein Bier?“, rief Ron unsicher und rutschte nach vorn, um einen Blick in die Küche zu erhaschen.

Lilly antwortete lachend: „Hätte ich mir fast denken können.“ Wenige Sekunden später erschien sie mit zwei Flaschen im Wohnzimmer. „Möchtest du ein Glas?“

„Ist schon okay“, erwiderte Ron und griff nach der Flasche. Er trank einen Schluck und stellte sie auf den Tisch. Lilly setzte sich in einen Sessel. Sie musterte den Jäger neugierig. „Nun Ron, wie kann ich dir helfen?“

Ron räusperte sich. „Es ist wegen der Geschichte mit eurem Koch“, sagte er verlegen. Er bemerkte sofort ihre Traurigkeit.

„Das ist so schrecklich“, murmelte Lilly und sah auf den Boden. „Und nun auch noch Jeremy.“ Verständnislos schüttelte sie ihren Kopf. „Wie kann denn so etwas nur passieren?“

„Ehrlich gesagt, wir wissen es nicht!“, gab Ron zu. Er beugte sich in ihre Richtung und flüsterte: „Es gab noch einen ähnlichen Fall gestern Nacht!“

„Das ist unheimlich“, erwiderte Lilly. Dann holte sie tief Luft und sah ihn fragend an: „Was habt ihr damit zu tun?“

„Wir brauchen deine Hilfe – so wie es aussieht haben diese seltsamen Dinge in dem Diner begonnen, in dem du arbeitest.“ Ron hatte seine Stimme gesenkt. Er wollte Lilly nicht verängstigen – aber lügen wollte er auch nicht. „Wir sind hier um das zu beenden.“

Lillys Augen weiteten sich erstaunt. „Wie?“

„Nun zuerst solltest du mir sagen, ob dir irgendetwas Merkwürdiges aufgefallen ist“, fuhr Ron fort, ohne auf ihre Frage zu reagieren.

Lilly drückte sich in die Sessellehne. Sie schien nachzudenken. Einige kleine Fältchen zeigten sich auf ihrer Stirn.

„Jack hätte am Sonntag arbeiten sollen“, begann sie zu berichten. „Aber er ist nicht erschienen. Ich dachte zuerst, er sei beleidigt und hätte deswegen zu viel getrunken.“

„Beleidigt? Warum?“ Fragend sah Ron Lilly an.

Lilly rutschte verlegen auf ihrem Sessel herum. „Na ja, wir hatten uns am Freitagabend verabredet.“ Sie zögerte kurz. „Ich habe ihn versetzt.“ Leise schnaubend schloss sie die Augen.

Erstaunt hob Ron eine Braue. „Wart ihr zusammen?“

„Nein!“ Lilly schüttelte ihren Kopf. „Er wollte wohl – aber ich hatte kein Interesse. Armer Jack – so etwas hat er nicht verdient.“

Ron lehnte sich ins Sofa zurück. „Wo war das“, fragte er.

„Im Club - hinten im alten Gewerbegebiet beim Parkfriedhof“, antwortete Lilly. Sie hob die Schultern und strich sich eine Locke aus der Stirn. Ihre Augen formten sich zu Schlitzen, als sie Ron musterte. „Was macht ihr nochmal beruflich?“ Sie stand auf: „Warum interessiert ihr euch für so grausige Fälle? Seid ihr die Men in Black?“ Lilly lachte mehr aus Verlegenheit und verschwand in der Küche.

Heimlich folgten ihr Rons Blicke. Seine Finger pressten sich in die zerschlissene Jeans über seinen Oberschenkeln als er murmelte: „Nah dran - Kleines.“

Als Lilly zurückkam, stellte sie ein Glas auf den Tisch. Sie setzte sich neben Ron und sah ihm in die Augen. Eine leichte Röte schimmerte auf ihren Wangen. „Es war unheimlich nett von dir, dass du dich um mich gekümmert hast“, hauchte sie und berührte seine Hand. Erschrocken über die eigene Courage, zuckte sie zurück. Dabei streifte ihr Arm Rons verletzte Seite. Ein kurzer heftiger Atemstoß entwich dem Jäger.

Lilly hatte es sofort bemerkt. „Was ist das – bist du verletzt?“ Sie ergriff das Shirt am unteren Saum und zog daran.

„Da ist nichts“, versuchte sich Ron zu rechtfertigen. Aber Lilly ließ sich nicht einfach abwehren. Sie musterte den Abdruck einige Sekunden lang – so dass es dem Jäger fast peinlich wurde. „Das hat weh getan“, flüsterte sie und fuhr mit ihren Fingern sanft über die blauschwarzen Flecken.
Ihre Blicke wanderten heimlich über seinen Körper um ihm schließlich in die Augen zu sehen. Diese waren sanft, fast traurig und passten so gar nicht zu seinem harten, kantigen Gesicht. Die blonden Haare hatte er kurz geschoren. Lilly war sich sicher, die blassen Sommersprossen auf seiner Nase würden bei etwas mehr Sonne den frechen Jungen verraten, den er sorgfältig zu verbergen trachtete.

Geräuschvoll atmete sie ein. Eine skrupellose Anziehungskraft, so wie Lilly sie bisher nicht kannte, zwang sie, so nahe wie möglich an seinen Körper zu rücken. Vom ersten Augenblick an war sie von ihm gefesselt. Sie konnte gar nicht glauben, dass er jetzt neben ihr saß. Lass ihn um keinen Preis der Welt wieder gehen, schrie es in ihr, als sie ihn ansah.

Ron stockte der Atem – sein Herz stolperte ihm fast in den Schoß. Er begriff immer noch nicht ganz, welcher unbekannte Impuls ihn dazu gebracht hatte, Lillys Berührung nicht abzuweisen. Aber genau diese Berührung entfachte eine kaum zu kontrollierende Glut in ihm und offensichtlich ging es ihr ähnlich, denn sie zog ihn zu sich heran, bis er ihre Lippen auf seinem Mund spürte.

Schlagartig wurde sein Verlangen entfesselt. Mit einer fahrigen, von Lust getriebenen Bewegung, schob er die Träger des Kleides über ihre Schultern und griff in ihren Nacken. Lilly`s weiches Haar glitt wie Seide durch seine Finger.

Sie gab seiner fordernden Zunge nach und zog sein Shirt nach oben. Lillys Finger glitten forschend über seine Brustmuskeln, ertasteten die kräftigen Arme und den straffen Bauch. Rons Körper zog sie magisch an. Zwar hatte sie ihn noch nie nackt gesehen, aber ihr Gefühl konnte sie nicht täuschen …

Ihre Finger verschlangen sich in seinem Nacken. Ihr Atem pulsierte an seinem Hals, als Ron sie sanft, aber bestimmend nach hinten drückte, bis er gänzlich ihre weiche Haut spüren konnte. Hastig streifte er seine Jeans ab und bedeckte ihre Schultern mit Küssen. Er umfasste ihre Hüften, während er gierig den berauschenden Duft ihrer Haut einsog.

Als sich Lillys Beine fest um seinen Körper schlangen, schloss sie die Augen - ihr Kopf legte sich auf das weiche Polster. Sie strich über seine Arme, seine Brust und liebkoste seinen Nacken. Lilly war schon immer viel stärker gewesen, als man ihr gemeinhin zutraute. Dafür schien sein Körper auf einmal so schwach zu sein. Ein leiser Schrei stieß über ihre Lippen, als sie seinem Drängen nachgab und mit seinen Rhythmus verschmolz.

Die Welt verschwand aus ihren Wahrnehmungen. Nur das blasse Licht des Mondes fiel durch die Fenster auf zwei atemlose Körper, die eng umschlungen immer tiefer stürzten – bis ihre Leidenschaft jeden ihrer Gedanken verdrängt hatte.


*** Was das Auge nicht sieht ***



Im Zimmer glomm eine alte Messinglampe. Ihr verstaubter, mit schweren Kordeln behangener Schirm entließ einen rostfarbenen Lichtkegel, der kaum über das Nachtschränkchen hinausreichte.

Jim saß am Tisch. Seine Augen konzentrierten sich auf unscharfe Bilder, die über den Monitor flimmerten. Ab und zu griff er nach dem Pappbecher neben dem Laptop und trank einen Schluck Kaffee. Sein rechter Zeigefinger klickte unermüdlich auf der Maus, während die Zeiger einer alten Uhr über der Kochnische unaufhaltsam dem Ende des Tages entgegensprangen.

Ein gelegentliches Seufzen kam über die Lippen des Jägers. Stundenlanges Starren auf den verwaisten Krankenhauskorridor hatte ihn ermüdet.

Der Blick auf die digitale Anzeige unterhalb der Aufnahmen zeigte, dass bald die Ereignisse folgen würden, die ihn und seinen Bruder veranlasst hatten, das Gebäude zu verlassen, um unangenehmen Fragen der Polizei aus dem Weg zu gehen.

Jim rieb sich die Müdigkeit aus den Augen. Er drückte sich gegen die Stuhllehne, bis ihr sprödes Knarzen die Bewegung stoppte. Seine Augen verdunkelten sich, als Amelia im Korridor erschien. Plötzlich hatte Jim das Gefühl, ihr Name würde sich in seine Seele einbrennen. Für einen kurzen Augenblick spürte er ihren zitternden Körper wieder in seinen Armen und stieß zischend einen Atemzug durch seine Nase.

Nur wenige Sekunden später sah er sich selbst in Begleitung seines Bruders den gleichen Weg gehen.
Er war ein seltsames Gefühl, die Vergangenheit noch einmal zu erleben – mit dem schrecklichen Wissen, das er jetzt hatte.

Kurze Zeit später verließen beide Jäger in Begleitung der Schwester den Raum. Amelia war sichtlich angeschlagen. Sie taumelte an seiner Seite, bis das schwarze Auge der Kamera sie aus ihrem Blickwinkel verlor.

Jim war erstaunt, denn in der Realität war ihm die Zeit viel länger erschienen. Plötzlich hellwach, fuhr er mit dem Mauszeiger zurück und betrachtete konzentriert einzelne Bilder, die mit jedem Klick einen winzigen Augenblick der Vergangenheit vor seinen Augen einfroren.

Über Amelias Schultern schwebte ein Schatten. Er war zerfetzt. Sicher aber war, dass zwei seiner Auswüchse auf ihren Schultern hafteten. <Was ist das?> Jims Stirn zog sich in Falten. Er schob sein Gesicht näher an den Monitor, um das verrauschte Standbild zu fixieren.

<Fingerabdrücke!> Schoss es ihm durch den Kopf. Alle Opfer hatten violette Abdrücke auf ihren Schultern.

Jim atmete tief durch. Dann erhob er sich, um zum Fenster zu gehen. Er öffnete es und genoss den kühlen Atem der Nacht, der sich in den braunen Strähnen über seiner Stirn verfing.

Es war kurz vor Mitternacht und Jim wusste, dass Ron vor morgen früh nicht zurückkehren würde. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über seine Lippen. Doch nur Sekunden später hatten die Ereignisse um diesen rätselhaften Fall seine Gedanken wieder in Besitz genommen, um als zusammenhanglose Fakten seinen Verstand zu quälen.

Der junge Jäger sah in die Nacht. Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Im einfallenden Mondlicht zeichnete sich die Silhouette seines hochgewachsenen Körpers deutlich vor dem Fenster ab.

*** *** ***

Sonnenstrahlen kitzelten in Ron’s Nase. Kurz bevor er die Augen öffnete, huschte ein Lächeln über seine Lippen, denn die erwachende Erinnerung jagte eine Armee kleiner Ameisen durch seine Adern. Der warme Körper, der sich in seine Arme schmiegte, bezeugte, dass er nicht träumte.

Ron blinzelte kurz in das helle Licht. Dann richtete er den Blick auf Lilly, die ihren Kopf auf seine Brust gebettet hatte. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, strich er mit dem Zeigefinger diese widerspenstigen Locken aus ihrer Stirn und beobachtete lächelnd ihren Schlaf. Lillys Kopf hob sich mit jedem seiner Atemzüge. Für einen Augenblick wurde der Wunsch in ihm nach einer Familie übermächtig. Wie in Trance ließ er die blonden Strähnen durch seine Finger gleiten und schloss die Augen. Aber er wusste, für Seinesgleichen würde es niemals ein Zuhause geben. Seufzend befreite sich Ron aus der wärmenden Umarmung.

„Du bist schon wach?“, flüsterte Lilly.

„Ich muss gehen“, antworte Ron so leise, dass er seine eigenen Worte kaum verstand. Er zuckte zusammen, als er sich aufrichtete, denn die Verletzung - gestern Nacht durch den Rausch der Sinne zum Schweigen gebracht - meldete sich nun umso heftiger zurück.

Lillys Hand ergriff seinen Arm. Fragend sah sie ihn an. „Kommst du zurück?“.

In Rons Augen zeigte sich ein Leuchten. „Immer“, flüsterte er rauchig und gab Lillys Forderung, sie noch einmal in seine Arme zu schließen, nach.

Doch sein letzter Kuss schmeckte nach Abschied.

*** *** ***

„Jetzt erzählt mir alles noch einmal von vorn“, forderte Bill. Der alte Jäger hatte auf einem der Betten Platz genommen und sah die Brüder aufmerksam an. Ungeduldig trommelten seine Finger auf dem Nachttisch. Die Anreise steckte ihm in den Knochen und stimmte ihn mürrisch.

Die jungen Jäger hatten sich an den Tisch gesetzt. Vor ihnen türmten sich die Reste ihres späten Frühstücks in Form von Papiertüten.

„Angefangen muss es wohl mit dem Koch im Diner haben“, begann Ron zu berichten. Er sah auf Jim, der ihm bestätigend zunickte.

„Wir hörten einen Schrei und dann rannte der Junge aus der Küche“, fuhr dieser fort. Jim war bemüht, es sich auf dem Stuhl bequem zu machen. Doch seine langen Beine fanden nirgends Platz und schoben leere Pappbecher vor sich her.

Ron versuchte sein Grinsen zu verkneifen. „Er hat unseren Kleinen fast zu Boden gerissen als er ihm in die Arme stolperte.“

„Alter … ! Musst du ständig darauf herumreiten“, maulte Jim und sah zur Decke.

Ron hob beschwichtigend die Hände: „Als wir in die Küche kamen war der Koch bereits tot. Er lag angekokelt auf dem Grill. Laut unseren Recherchen ist er der erste Tote“, berichtete er und schob seinen Oberkörper nach hinten, bis auch sein Stuhl knarrte. Erschrocken sah er über seine Schultern und rückte wieder nach vorn.

Jim hatte das Treiben seines Bruders grinsend beobachtet. „Wir konnten ihn leider nicht richtig begutachten. Aber er hatte genau wie der Küchenjunge und Amelia diese Druckstellen auf seinen Schultern“, fuhr er fort. Jim beugte sich in Bills Richtung. Seine Stirn zog sich in Falten. „Wir wurden von etwas Unsichtbarem angegriffen – nur durch die Kamera konnten wir beim Angriff einen Schatten erkennen.“ Verheißungsvoll richtete Jim seinen Oberkörper wieder auf. „Genau diesen Schatten habe ich gestern Nacht auch auf dem Sicherheitsvideo des Krankenhauses entdeckt, als er über Amelia schwebte.“

„Ja – aber, Jimmy“, fiel ihm Ron ins Wort. „Bedenke, unser EMF hat Amelia eindeutig als den Geist ausgewiesen.“

Jims Augen streiften den Älteren zornig. „Komm runter, Ron! Das Mädchen war doch kein Geist!“ Er machte eine Pause und murmelte: „Vielleicht war sie irgendwie besessen?“

Bill zupfte an seinem grauen Bart. Er sah einige Momente gedankenversunken in den Raum, bevor er sich erneut an die Jäger wandte. „Was ist im Krankenhaus passiert? Konntet ihr was sehen?“ Bill lehnte sich etwas zurück.

„Nichts – wir kamen zu spät“, antworte Ron. Er holte tief Luft. Seine Finger spielten ratlos mit einer der Papiertüten auf dem Tisch.

„Wieder einmal“, zischte Jim.

Rons missmutiger Blick traf ihn augenblicklich.

„Amelia lag am Boden – offensichtlich war sie gestolpert.“ Jim war aufgestanden und hatte sich zur Wand gedreht. Er seufzte, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig.

„Gestolpert …“, widerholte der Alte leise.

„Ja – zum Glück“, stellte Ron fest. „Wenn ich mir vorstelle, dass sie die Vorhänge des Bettes weggezogen hätte. Die Arme, sie hätte bei diesem Anblick einen Schock fürs Leben bekommen.“

Jim drehte sich schlagartig um: „Ja - aber das ist egal, denn sie lebt nicht mehr…!“, fauchte er.

Ron senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen.

Bill saß immer noch auf dem Bett. Aufmerksam beobachtete er die Brüder. „Was war mit dem Küchenjungen? Los Jungs! Muss ich euch denn alles aus der Nase ziehen?“ drängte er.

„Er war tot und er sah auch so aus, als wäre das schon seit Jahren so.“ Rons Stimme klang gereizt. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und kippelte mit dem Stuhl.

„Später waren wir in der Pathologie, um ihn uns genauer anzusehen“, sagte Jim. Er setzte sich wieder und atmete einmal tief durch.

„Wie seid ihr denn da rein gekommen“, fragte Bill erstaunt.

Die Brüder wechselten einen kurzen Blick und antworteten grinsend: „Frag lieber nicht …“

Jim gebeugt sich nach vorn. „Der Tote hatte diese Flecken auf der Schulter – sein Körper war völlig ausgezehrt und offensichtlich waren seine Rippen Matsch.“

Bill hob nachdenklich seinen Kopf.

„Als wir bei Amelia ankamen, war sie noch am Leben“, sprach Ron leise. Seine Augen waren auf Jim gerichtet. Dieser hatte den Kopf in seine Hände gelegt.

„Wir konnten zuerst nichts finden. Dann zeigte der EMF Messer etwas an … es war Amelia…!“ Ron stoppte. Er konnte die aufwallende Erregung seines kleinen Bruders daran erkennen, dass sich seine Atmung wieder beschleunigte.

„Und dann?“, fragte Bill zögernd. Er verstand Rons warnende Geste und beobachtete nun ebenfalls den impulsiven Jüngeren.

„Sie starb einfach“, antwortete Ron.

„Du meinst wohl, wir haben sie sterben lassen“, fuhr es unkontrolliert aus Jim heraus. Er schnellte in die Höhe und sein Körper baute sich zu Furcht einflößender Größe auf.

Ron war ebenfalls aufgesprungen. Er sah Jim eindringlich an. Mittlerweile raste auch sein Puls. „Wir konnten nichts tun“, versuchte er Jim zu besänftigen.

„Wir hätten sie retten müssen - Mann“, schrie der Jüngere gequält. Seine Augenwinkel füllten sich mit Tränen.

„Wie denn“, fragte Ron leise. Er ging einen zaghaften Schritt auf Jim zu und breitete die Arme aus. „Sag mir wie, Jimmy – wir hatten nichts …!“ Unglücklich sah er seinen Bruder an.

„Jungs - Jungs - Jungs bleibt ruhig!“ Bill war aufgestanden und unterbrach das Gespräch. Das Letzte was er jetzt gebrauchen konnte war, dass die Beiden wie Kampfhähne aufeinander losgingen. Bill hob beschwichtigend seine Arme, als er sich ihnen näherte. „Was ist danach passiert?“, fragte er.

„Dann wurden wir selber angegriffen“, antwortete Jim als erster und stieß zischend Luft aus seinen Lungen. Manchmal wünschte er sich etwas mehr Kontrolle über seine Gefühle. Als seine Augen den Älteren betreten streiften, entspannten sich auch dessen Gesichtszüge.

Ron ging zurück zum Stuhl, um wieder Platz zu nehmen.

„Zuerst wurde ich attackiert und anschließend Ron. Wir konnten den Angreifer nicht sehen“, berichtete Jim weiter und wanderte im Zimmer auf und ab. „Er hat meinen Namen gerufen!“

„Was hat er genau gesagt“, wollte Bill wissen.

Jim hielt inne und antworte: „Er sagte: Jim, nimm mich mit.“ Seine Augen wanderten hilfesuchend zu Ron.

Dieser hob ratlos seine Schultern und sprach weiter: „Also mich hat er nur gebissen. Der Mistkerl muss verdammt groß gewesen sein. Er hat mich mühelos umgerissen und war verdammt schwer. Dieser Typ hat mir fast die Rippen gebrochen.“

Jim nickte Bill bestätigend zu. „Ging mir auch so“, sagte er als er sich wieder auf seinen Stuhl setzte.

Die Augen des alten Jägers blitzten. „Was ist dann passiert?“, fragte er.

„Dann war er weg“, antwortete Jim.

„Zum Glück“, bemerkte Ron. „Der hätte uns echt fertig gemacht.“

„Wie weg?“, bohrte Bill nach.

„Was weiß ich denn – er war einfach weg. Vielleicht wars die Sonne“, murmelte Jim ratlos.

„Ja es war bereits Morgen“, stellte Ron fest. „Der Milchwagen läutete vor der Tür.“

Bills Augen weiteten sich. „Ihr meint, so ein alter Milchwagen - wo der Fahrer noch mit einer Glocke seine Kundschaft ruft?“

Ron und Jim sahen sich erstaunt an. „Ja …“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Bill stand auf und ging murmelnd im Zimmer auf und ab. Er hatte den Kopf gesenkt und kraulte seinen Bart. Nach einer Weile wandte sich der alte Jäger den Brüdern zu. „Jim?“, frage er. „Der Küchenjunge riss dich um, weil er stolperte?“

Erstaunt sah Jim zurück. „Hab ich doch schon gesagt“, seufzte er.

„Es gehört ziemlich viel Kraft dazu dich umzureißen“, fuhr Bill schmunzelnd fort.

Über Jims Gesicht huschte wieder dieser beleidigte Gesichtsausdruck. Gerade als er widersprechen wollte unterbrach ihn Bill.

„Nein, nein – ist schon gut. Ich glaube es dir.“ Bill streckte Jim seine Hände entgegen. Mit gekräuselter Stirn fasste er die Aussagen zusammen: „Die Krankenschwester … sie lag am Boden weil sie“ –
„…gestolpert war …“, fielen ihm die Brüder ins Wort und rissen die Augen auf.

„Los sag schon Bill – du weißt doch was“, drängte Jim.

Der alte Jäger nickte besorgt: „Jungs! Ich weiß, mit wem wir es hier zu tun haben …“

*** *** ***

Etwas Derartigem waren sie noch nie begegnet. Jim sah mit besorgtem Gesicht auf Bill. Ron spielte mit einer der Papiertüten auf dem Tisch. Auch er nahm den Alten ins Visier. Bill setzte sich seufzend zurück auf das Bett. Die durchgelegene Matratze gab sofort dem Gewicht des alten Jägers nach. Schnaufend kämpfte er, wild mit den Armen rudernd, um sein Gleichgewicht.

Auf Rons Stirn zeigte sich mittlerweile eine steile Falte. Bills Wortarmut beunruhigte ihn und er drängte den Alten, endlich sein Schweigen zu beenden.

„Also Jungs!“, begann Bill. „Nach euren Informationen haben wir es hier aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Druckgeist zu tun.“ Abrupt beendete er den Satz, indem er die Lippen zusammenpresste.

„Druckgeist?“ Jim schaute ihn ungläubig an.

„Was zum Henker ist denn ein Druckgeist?“ Ron richtete sich weiter auf – sorgsam darauf bedacht, den alten Stuhl nicht übermäßig zu strapazieren.

„Nachdem, was ihr mir erzählt habt, tippe ich mal auf einen Aufhocker“, fuhr Bill fort.

„Aufhocker? – hab ich noch nie was von gehört“, fiel ihm Ron ins Wort. Gleichzeitig wandte er sich an Jim. „Steht was zum Thema in John`s Tagebuch“, fragte er.

Jim stand auf und kramte im Schubfach seines Nachtschränkchens. Nachdem er das Tagebuch ihres Vaters in den Händen hielt, blätterte er durch die eng beschriebenen Seiten. Seine Augen flogen über Texte und handgezeichnete Skizzen von seltsamen Kreaturen, in der verzweifelten Hoffnung, etwas zu entdecken. Dies, obwohl er die Zeilen, Seite für Seite, schon auswendig kannte. „Hier steht auch nichts drin“, seufzte er und schloss das Buch.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er den Alten neugierig und warf schwungvoll das Buch auf eines der Betten.

Bill schnaubte. „Die Indizien verraten es mir. Obwohl ich noch nie von einem wirklichen Fall gehört habe.“ Seine Stimme klang nachdenklich. „Ein Aufhocker ist ein koboldähnliches Geschöpf. Seine typischen Spukorte sind Bäche, Brücken, Seen, Wälder, Wegkreuzungen, Kirchhöfe und Mord- oder Richtstätten. Begegnungen mit dem Aufhocker haben für seine zufälligen Opfer oft körperliche und seelische Krankheiten zur Folge. Er springt den Leuten auf die Schultern oder auf den Rücken. Dann ernährt er sich von der Lebensenergie des Opfers und wird mit der Zeit immer schwerer.“ Während Bill berichtete, schweifte sein Blick über die alte Blumentapete.

„Bis den Opfern nach einer gewissen Zeit durch diese Last die Knochen brechen“, stellte Ron kopfnickend fest. „Kein Wunder, dass sie so ausgelaugt aussahen“, fügte er hinzu und schaute bestätigend auf den alten Jäger.

Jim nahm seinen Laptop vom Bett und ging zum Tisch. Mit einem Wisch schob er den Papiermüll zur Seite. Er ließ seine Finger über die Tastatur fliegen. Bills Tipp machte es leicht, nach weiteren Informationen zu googeln.

„Ja, eure Schilderungen stimmen mit meinen Informationen fast überein“, erklärte Bill weiter: „Wenn die Opfer angesprungen werden, geraten sie oft durch die Wucht des Ansprunges ins Stolpern.“

Seine Hände fuhren wieder durch die grauen Barthaare. „Ich habe allerdings noch nie gelesen, dass diese Kobolde töten. Sie verwirren ihre Opfer so, dass sie wie in einem Alptraum gefangen sind“, murmelte er.

„Möglicherweise ist dieser hier besonders hungrig“, versuchte Ron den merkwürdigen Umstand zu erklären und hob seine Schultern.

Bill und Ron beobachteten Jim, der fast mit dem Monitor seines Laptops verschmolz. Seine schmalen Augenbrauen hatten sich zusammen geschoben. Unter ihnen folgten aufmerksame Augen den Zeilen zahlloser Artikel.

„Die modernen Sagen bestätigen deine Aussage, Bill“, murmelte der Jüngste und hob den Kopf. Seine Augen funkelten hinter seinen Strähnen. „Aber … !“ Jim holte Luft und seine Stimme bekam einen verheißungsvollen Singsang-Ton. „Die ältesten Berichte über Aufhocker sprechen eindeutig von aufhockenden Leichen und nicht von Kobolden. Im Gegensatz zum Nachzehrer, der sein Grab nicht verlassen musste, wenn er den Lebenden Schaden zufügen wollte, stiegen andere Untote ähnlich den Vampiren hinaus und raubten den Menschen die Lebenskraft.“

Jim sah wieder auf den Laptop. Er klickte mit der Maus, um sich durch den Text zu scrollen. „Jetzt kommt’s!“ Jim erhob erneut den Kopf. „Im Westen Deutschlands verschmilzt der Aufhocker mit dem Werwolf zum Stüpp, einem gefährlichen Unhold, der die Menschen anspringt und sich so lange herumtragen lässt, bis das Opfer an Entkräftung stirbt.“ Erfreut über diese Spur schlug er mit den Händen auf seine Oberschenkel und bemerkte: „Also kann die Heimsuchung doch tödlich enden.“

Ron senkte verächtlich den Kopf. Er fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Stoppeln und erwiderte verärgert: „Was ist denn das für ein beschissener Geist! Eine Mischung aus Zombi, Vampir und Werwolf mit einer Prise Succubus? Wie kann man ihn töten?“ Entschlossen hatte er die wichtigste Frage gestellt. „Es ist einfach unglaublich“, murrte er. „Jetzt müssen wir uns auch noch mit deutschen Legenden rumplagen!“

Über Jims Gesicht huschte ein Grinsen. „Ja Bruderherz – Geister kennen wohl keine Grenzen! Vermutlich wurde er von Einwanderern importiert.“ Seufzend wandte er sich wieder den Informationen aus dem Internet zu und las weiter: „Der Aufhocker bleibt auf dem Wanderer sitzen, bis dieser durch Sonnenlicht, ein Gebet oder Glockengeläute von ihm erlöst wird.“

„Die Glocke des Milchwagens“, flüsterte Ron und sah Bill an. Dieser nickte bestätigend.

„Heißt das nun, dass er weg ist?“

Bill wollte etwas sagen, doch Jim fiel ihm ins Wort: „Das glaube ich nicht – Ron“, seine Stimme war leise. „Die Glocke hat ihn sicher nur verscheucht. Er wird wieder zuschlagen.“

Ron stand auf. Er sah seinen jüngeren Bruder an: „Dann ist er noch in Amelias Wohnung?“-

„Und er wartet auf das nächste Opfer“, vollendete Jim den Satz.

„Steht da nun, wie man dieses Ding erledigt, oder nicht?“, fragte Ron ungeduldig. Nach einer Besinnungspause wandte er sich an Jim und flüsterte: „Hey, Kleiner – ich habe dir wohl Unrecht getan!“ Er lächelte versöhnlich. „Offensichtlich war der Küchenjunge doch schwerer, als er aussah.“

Jim hob seine Hand und begann wieder mit der Recherche. „Ist schon okay, Alter“, murmelte er.

Nach einer Weile hektischer Suche trafen seine Augen fragend auf den alten Jäger. „Hier steht nicht wie man ihn erledigt. Hast du eine Ahnung, Bill?“

Dieser sah an die Zimmerdecke und schnaubte wie ein alter Gaul. „Das genau ist unser Problem! Man kann ihn nur vertreiben, aber nicht töten! Jungs, ihr habt wahnsinniges Glück gehabt. Wenn der Mistkerl erst mal auf einem hockt … lässt er sich nicht mehr so einfach durch Glockenläuten vertreiben – dann ist er praktisch unverwundbar und kann sich sogar von Angriffen erholen. Sehr zum Schaden der armen Opfer.“

Bills Gesicht sprach Bände. „Solange wir nicht wissen, wie wir ihn erledigen können, müsst ihr verhindern, dass jemand diese Wohnung betritt.“

„Wie sollen wir das anstellen? Das ist ein Tatort – also wird die Polizei längst da gewesen sein“, meinte Jim.

„Dann wird es inzwischen wieder jemanden erwischt haben“, sinnierte Ron.

*** *** ***

Detektiv Mike Miller kniff die Augen zusammen und kräuselte die Stirn, als das entgegenkommende Licht ihm die Sicht nahm. Nach wenigen Sekunden war der gleißende Strahl vorbeigesaust. Mit hypnotisierender Wirkung zogen die gelben Begrenzungsstreifen der Fahrbahn wieder gleichmäßig am Auto vorbei.

Dieser Fall war unheimlich. In seiner gesamten Dienstzeit war ihm etwas derartiges noch nicht untergekommen. Drei grausame Todesfälle in drei Tagen und noch immer kein Anhaltspunkt. Wer war der Täter und wie konnte er seine Opfer derart schrecklich zurichten? Es schien fast, als würde sich das Sterben wie eine Virusinfektion ausbreiten. Ein Seufzen kam über Millers Lippen, als er einen Gang runter schaltete. Langsam nahm die Steigung der Straße zu, was ihm sagte, dass er bald am Ziel ankommen würde. <Noch eine Stunde>, dachte er und wischte sich übers Gesicht. Aufkommende Dunkelheit und Nebel zerrten an seinen Nerven.

Am liebsten hätte Miller den Fall jetzt nicht aus der Hand gegeben. Aber er hatte schon vor Wochen den längst überfälligen Urlaub eingereicht und sein Chef bestand nun darauf, dass dieser auch eingehalten wurde. Wenn Miller ehrlich zu sich selbst war, hatte er einige Tage Auszeit auch dringend nötig. Er war nicht unentbehrlich und konnte sich auf sein Ermittlerteam verlassen. Mit Sicherheit würde die frische Luft am See seinen Kopf befreien. Das war für seine Arbeit unerlässlich.

Mike Miller fuhr in die Berge, um seine freien Tage in einer Blockhütte zu verbringen. Der Kofferraum seines Wagens war mit Lebensmitteln, Kleidern, sowie einer beeindruckenden Anglerausrüstung bestückt.

Lauter werdendes Knirschen unter den Rädern seines Autos verriet, dass sich die asphaltierte Landstraße zu einem schmalen Pfad verengt hatte, der sich durch das Dickicht eines alten Waldes schlängelte. Fest umklammerte der Detektiv das Lenkrad. Sein Blick war konzentriert auf die Straße gerichtet, deren Ränder von Büschen überwuchert wurden. Ausladende Zweige klatschten immer öfter gegen die Windschutzscheibe des Wagens und glitten geräuschvoll an den Seiten entlang. Der unbefestigte, unebene Weg ließ das Auto schlingern. Miller musste seine Fahrt durch die bizarren Schatten der alten Eichen immer weiter verlangsamen.

Endlich lichteten sich die Büsche rechts und links des Weges. Zwischen den Stämmen der Baumriesen schimmerte die Oberfläche des Sees im Mondlicht. Nicht weit vom Ufer entfernt, konnte Mike die Umrisse seiner Blockhütte erkennen. Fast lautlos rollte der Wagen aus dem Schatten und kam auf einer Wiese vor der Hütte zu Stillstand.

Als Mike die Autotür öffnete, schlug ihm frischer Duft von Wasser, Moos und Erde entgegen. Er atmete tief ein und genoss den reinen Atem des Waldes.

Entschlossen ging Miller zum Kofferraum und trug sein spärliches Gepäck ins Haus. Der moosige Untergrund dämpfte die Geräusche seiner Schritte.

Eine Stunde später saß er zufrieden in seinem Lieblingssessel und blickte gedankenversunken in die knisternden Flammen des Kamins. Miller liebte den würzig harzigen Geruch, den die Wände der Blockhütte auch nach Jahrzehnten noch ausdünsteten.

Sein zufriedenes Gesicht verdunkelte sich nur hin und wieder. Es war immer dann, wenn er an die Mordserie dachte. Wieder hatte er dieses schreckliche Bild vor Augen. Eine junge Krankenschwester lag tot am Boden. Ihr Körper war mumifiziert, als läge sie schon Jahre unbemerkt in ihrer Wohnung - und doch war erwiesen, dass diese Frau noch am Vortag in der Klinik gearbeitet hatte. In der gleichen Klinik, wie Opfer Nummer zwei – ein Küchenjunge. Im Wohnzimmer der Frau gab es deutliche Hinweise auf einen Kampf. Leider konnte die Spurensicherung keinen einzigen verwertbaren Finger- oder Fußabdruck finden. Wer auch immer in dieser Wohnung gewesen war, er hatte seine Spuren gründlich beseitigt. Miller seufzte. Er selbst war einer der Ersten, die den Tatort auf Grund eines anonymen Hinweises in Augenschein genommen hatten. Miller streckte sich und fluchte leise, als er ein plötzliches Stechen in seiner Schulter verspürte. Wahrscheinlich hatte er sich doch verletzt, als er gestern ungeschickt über die Schwelle der Wohnzimmertür des letzten Opfers gestolpert war.

*** *** ***

Mürrisch warf Ron die Waffentasche in den Kofferraum des Ford Mustang. „Und du meinst wirklich, wir müssen jetzt rauf in die Berge zu dieser Blockhütte?“

„Ich habe alle Personen überprüft, die bei den Ermittlungen dabei waren“, antworte Jim. „Alle sind heute Morgen wohlbehalten zur Arbeit erschienen. Niemand klagte über Müdigkeit, Ohrensausen oder Rückenschmerzen, Ron! Detektiv Miller ist der einzige, den ich noch nicht überprüfen konnte, da er laut Angaben seines Chefs für einige Tage zum Fischen gefahren ist.“

„Vielleicht ist dieser Aufhocker ja auch verschwunden?“ Ron sah über seine Schulter zu Bill. „In Amelias Wohnung war er jedenfalls nicht mehr!“

Bill zog den Kopf in den Nacken und fixierte einen Punkt am Himmel.

Bevor er etwas sagen konnte, hatte Jim das Wort ergriffen. „Ron! – Wir müssen der Sache nachgehen!“ Seine Augen schauten ihn drängend an.

„Ich weiß, Jim“, seufzte Ron und beugte sich in den Kofferraum. Nach einer Weile erschien sein Kopf über dem Wagendach. In der Hand hielt er einen matt glänzenden Gegenstand aus Messing mit einem Holzgriff. Als er den Arm in die Höhe hob erfüllte ein helles Läuten die Luft.

Ron nahm seinen Bruder ungläubig ins Visier. „Jim! Sag mir bitte nicht, dass du mit so Etwas einen Geist jagen willst!“ Seine Brauen hoben sich: „Wenn Dad das sehen könnte, würde er uns zum Teufel jagen!“ knurrend warf er die Glocke zurück

Jim sah zu Boden. Seine Hände verschwanden in den Taschen seiner Jeans. „Ron, wir haben nichts anderes, um ihn abzuschrecken!“

Bill lauschte belustigt dem Gespräch der Brüder.

„Sag doch auch mal was“, fauchte Ron, nachdem sich sein Blick abermals auf den Bärtigen gerichtet hatte.

Aber der alte Jäger neigte nur den Kopf und drängte: „Können wir jetzt endlich losfahren?“

„Sag mal Jimmy – hast du eigentlich irgendeinen Plan, wie wir dieses Ding fangen sollen“, wollte Ron wissen.

„Keine Ahnung! – Wir müssen versuchen, ihn einzusperren.“ Ratlos blinzelte Jim gegen die Sonne.

„Toller Plan! … Jimmy … echt toller Plan! Dummerweise habe ich mein Protonenpäckchen nicht dabei“, bellte Ron und schlug den Kofferraum zu.

Einige Minuten später bog der nachtschwarze Ford Mustang röhrend auf die Straße ein.

*** *** ***

„Detektiv Miller?“, flüsterte Ron, als er sich durch die geöffnete Tür ins Innere der Hütte schob. Die abgesägte Schrotflinte in seiner Hand hatte er mit Steinsalzpatronen geladen. Er erhielt keine Antwort, deshalb drehte er sich kurz um. Mit einem überlegenden Zucken auf den Lippen forderte er seine Begleiter auf, ihm zu folgen. Blitzschnell huschten drei Schatten in das Haus.

Die Blicke der Jäger schweiften durch den Raum. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Eine halb geöffnete Tragtasche stand auf den Holzdielen. Das Feuer im Kamin war erloschen. Außer ihrem eigenen Atem hörten sie nichts.

Jim bemerkte als erster die Haarbüschel hinter der hohen Lehne des Polstersessels vor dem Kamin. Seine Augen trafen mahnend auf Ron. Dieser nickte kurz und bewegte sich entschlossen darauf zu. Als er um den Sessel herum war, presste sich ein Atemstoß über seine Lippen. Rons Gesichtsausdruck verriet, was er sah: Mike Miller war tot.

Bill hatte augenblicklich damit begonnen, alle Fenster und die Eingangstür des Zweizimmerhäuschens mit Steinsalz zu versiegeln. Ron ließ den EMF-Messer über die Leiche gleiten. „Er hockt jedenfalls nicht mehr auf seinen Schultern“, interpretierte er das Schweigen des Gerätes. Anschließend überprüfte er den Raum und die Küche. „Hier ist er nicht“, flüsterte Ron und näherte sich vorsichtig seinen Partnern.

Jim richtete einen warnenden Blick nach oben. Eine schmale Leiter führte auf den Schlafboden, der etwa einen Drittel des Raumes einnahm. Wortlos gab der Jüngste zu verstehen, dass er hochsteigen wollte. Ron überließ ihm das EMF.

Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Jim, Sprosse für Sprosse, dem Boden. Sein Blick schweifte über die groben Holzdielen. Langsam hob er den EMF-Messer und scannte den Raum, der sich in Augenhöhe vor ihm ausbreitete.

Als der schrille Pfeifton seine Ohren betäubte, fegte bereits ein Körper über ihn hinweg. Jim schrie unter dem reißenden Schmerz, der seine Brust traf. Er verlor den Halt und stürzte von der Leiter.

Heftig schüttelte der Alte die Glocke. Bill und Ron spürten einen Luftwirbel, als der Unsichtbare, offenbar durch das Gebimmel aufgeschreckt, den Raum durchraste. Innerhalb weniger Sekunden schien es, als hätte ein Orkan gewütet. Noch einmal hörten sie ein Fauchen. Dann fiel die Küchentür krachend ins Schloss.

„Er ist da drin“, flüsterte Bill.

Ron reagierte nicht. Er war bereits auf dem Weg zu seinem Bruder und warf sich neben ihm auf die Knie.

Jim lag stöhnend am Boden. Seine Finger verkrampften sich auf seinem rechten Brustmuskel, Blut durchtränkte die Fasern seines Hemdes.

„Versiegele die Tür mit Steinsalz!“, schrie Ron. Dann versuchte er, Jims Hand zu lösen. „Verdammt Jim, lass los!“, entwich es ihm heiser. Er zerrte am Arm des Jüngsten. Der Anblick des Blutes ließ Ron panisch werden. „Jimmy, komm schon“, bettelte er.

Aber Jims Hand wollte einfach nicht nachgeben. Benommen vom Sturz irrten seine Augen durch den Raum.

Nachdem Bill das Steinsalz entlang der Küchentür gestreut hatte, eilte er zu Ron und murmelte. „Es ist eingesperrt!“

„Scheiß drauf, Bill!“ stieß Ron hervor: „Verdammt hilf mir!“ Ihm war im Augenblick egal, wo sich dieser Geist herumtrieb und ob er eingesperrt war. Jims Anblick war das Einzige, was ihn in Angst und Schrecken versetzte.

Jim zog die Beine an. Er stöhnte gequält auf und presste seine Hand auf die Wunde.

„Er ist völlig benommen“, keuchte Ron und sah kurz zu Bill. Dann zog er mit aller Gewalt am Handgelenk seines Bruders. Bill ging in die Hocke, um dem Älteren zu helfen. „Jimmy! … JIM! Verdammt lass doch endlich los“, schrie Ron verzweifelt. Die beiden Männer hatten Mühe, den harten Griff des Jüngsten zu lösen.

Als Bill endlich einen Blick auf die Verletzung werfen konnte, entwich ihm nur ein Fluchen. Er sah Ron mit aufgerissen Augen an. „Das ist verdammt übel. Ron, dein Bruder braucht einen Arzt!“ Der Bärtige schwang sich auf die Beine. „Warte hier, ich hole Verbandzeug!“ Hastig verschwand Bill aus der Tür.

Jim wurde ruhiger. Er versuchte seinen Kopf zu heben, um sich die schmerzende Stelle selbst anzusehen.

„Bleib liegen, Jimmy“, flüsterte Ron und legte seine Hand mit sanftem Druck auf die Stirn des Bruders. Stöhnend gab der Jüngere nach und bewegte sich nicht mehr. Seine Atmung war schnell und sein Körper zitterte, als er Ron fragte: „Ist es schlimm?“ Nur mühselig quetschten sich die Worte durch seine Zähne.

Ron sah auf die Verletzung und schluckte. Sie erinnerte an den Prankenhieb eines Bären. Vier Krallen hatten sich zentimetertief durch die Haut und das darunterliegende Fleisch gepflügt. Sie hinterließen klaffende, zerrissene Gräben, welche stark bluteten.

„Wir kriegen das wieder hin, Kleiner“, murmelte Ron und streichelte Jims Wange. Schweißtropfen glitzerten an seinen Schläfen. Aber Ron wusste nicht, ob es an der Hitze lag oder ob es Angstschweiß war. Mit aller Macht versuchte er, sein Zittern vor Jim zu verbergen.

„Bill wird dich wieder zusammenflicken – es wird alles gut“, flüsterte er und beobachtete mit erstarrtem Gesicht die Blutlache, die sich auf den Dielen immer weiter ausbreitete.


*** Blutende Herzen ***



Angespannt starrte Ron auf die Fahrbahn. Die Lichtkegel des Ford Mustang zerrissen die Dunkelheit und trafen auf üppiges Grün, das über den Pfad wucherte.

Sein Blick wanderte über den Innenspiegel, der den hinteren Raum der schwach erleuchteten der Fahrerkabine abbildete. Er konnte den Kopf seines Bruders unsicher auf seinen Schultern wanken sehen. Jims Haut schimmerte feucht, Haarfransen klebten auf seiner Stirn. Er saß auf dem Rücksitz, den Körper in die Ecke gezwängt, um Halt zu finden. Seine Beine hatte er auf der Rückbank angewinkelt.

Der Druckverband, den Bill angelegt hatte, schien die Blutung gestoppt zu haben. Zumindest hatte sich der Blutfleck, der noch vor wenigen Minuten die Binde rot färbte, nicht mehr vergrößert.

Ron krallte seine Hände in das Lenkrad. Er fuhr so schnell wie es ging, sorgfältig darauf bedacht, das Auto so ruhig wie möglich über den unebenen Pfad zu manövrieren. Denn bei jedem Hopser, den der Wagen machte, ließ ihn ein Stöhnen aus dem Hintergrund zusammenfahren.

Ron presste die Lippen aufeinander und schaute wieder nach vorn. Wabernde Nebelschwaden machten es immer schwerer, den Weg zu finden.

Wieder ein kurzer Blick in den Spiegel. „Jimmy?“

Als Ron das mühsame Ja seines Bruders hörte war er erleichtert. „Schlaf mir jetzt bloß nicht ein - hörst du Jim?“ Sein harter Ton tat ihm im gleichen Moment leid. Aber Jim durfte auf keinen Fall einschlafen.

„Ist gut Ron – ich pass auf ihn auf“, murmelte Bill nebenan auf dem Beifahrersitz. „Konzentriere dich auf die Straße, sonst landen wir alle noch im Gebüsch.“ Er sah den Älteren an.

„Verdammt, ist dieser Weg nicht bald zu Ende“, fluchte Ron. Seine Hände umklammerten das Lenkrad noch fester. Zwischen seinen Augen bildete sich eine steile Falte. Er holte tief Luft und flüsterte: „Was machen wir jetzt nur, Bill?“ Sein Blick streifte kurz den alten Jäger.

Über Bills Lippen kam ein Seufzen. Er wollte gar nicht hören, was Ron zu sagen beabsichtigte.

„Bill…!“ Verzweifelt holte Ron Luft und verfluchte sich innerlich. „Wenn wir ihn in die Klinik bringen, müssen wir Fragen beantworten!“

Ron schluckte. Sein Blick glitt erneut in den Spiegel, um nach Jim zu sehen. „Es ist keine Schusswunde!“

„Ron …!“, presste Bill hervor.

Rons fragender Blick heftete sich auf das Gesicht des Alten. „Bill …. Packst du das?“ Er hatte seine Stimme gesenkt. Seine Augen irrten durch die Fahrgastzelle.

Bill senkte seinen Kopf und atmete geräuschvoll aus. Dann traf sein Blick zornig auf Ron. Er sah wie ein glitzernder Tropfen über Rons Wange glitt, bevor er sich mit der Hand übers Gesicht wischte.
Fast unhörbar sprach Ron weiter: „Du hast dieses Ding da oben eingesperrt. Miller wird in den nächsten Tagen nicht vermisst werden. Wir dürfen nicht riskieren, dass noch jemand stirbt. Außerdem gewinnen wir Zeit, bis wir eine Lösung haben.“ Ron richtete seinen Blick wieder starr auf die Fahrbahn. Seine Kiefer zuckten.

Bill warf einen kurzen Blick auf Jim. Er war in sich zusammen gesunken und hatte die Augen geschlossen. Sein Körper schwankte im Rhythmus des Wagens auf dem Rücksitz.

Bill war unfähig, den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, runter zu schlucken. „Er hat viel Blut verloren“, flüsterte er. Sein Blick wanderte wieder zum Älteren.

„Ron … wir reden hier nicht von zwei oder drei Stichen!“ Schnell sah er aus dem Fenster und suchte irgendein Ziel in den vorbeifliegenden Büsche.

Es folgten Minuten ratlosen Schweigens.

„Ich kann das nicht.“ Seufzend unterbrach Bill schließlich die Stille: „und Jim hält das nicht durch – keiner kann das durchhalten.“ Seine bebenden Worte kondensierten an der Glasscheibe.

Ron atmete aus. Er nickte „Ist okay … Bill.“

„Nein! – Ron hat Recht!“ Jims keuchende Stimme schreckte die Jäger auf.

„Jim?“ Ron sah wieder in den Rückspiegel. Er presste seine Lippen zusammen.

Jim hatte den Kopf gehoben. Seine matten Augen sahen Bill an, der sich ebenfalls dem Jüngeren zugewandt hatte. „Wir dürfen kein weiteres Leben mehr riskieren. Es sind genug gestorben.“ Kummerfalten zeichneten kleine Schatten auf seine Stirn.

„Du machst es, Bill!“ Jims Worte waren leise aber bestimmend.

„Bist du dir sicher?“ Rons Stimme zitterte. Seine Hände verkrampften sich so sehr ins Lenkrad, dass die Fingerkuppen blau anliefen. Er sah in das blasse Gesicht seines Bruders. Jims schmale Lippen hatte keine Farbe mehr. Mit einem Mal bereute Ron, diese Möglichkeit überhaupt angesprochen zu haben.

Jim nickte leicht und fixierte Bill. Der Alte sah Jim hilflos an, schloss nach einem Atemzug kopfschüttelnd die Augen und senkte seinen Blick. Ein tiefer Seufzer stieß aus seinem Mund.

Der Wald hatte den Ford Mustang freigegeben. Das Auto folgte leise grollend der Fahrbahnmarkierung und trug die drei Jäger durch die Nacht - in Richtung Motel.

*** *** ***

Seine Zähne bissen wieder in den von Speichel und Blut durchdrängten Weichholzknebel auf dem sich schon unzählige tiefe Abdrücke befanden. Der heisere Schrei, der sich aus seinem Hals quälte, wurde durch das Stück Holz in seinem Mund blockiert und rollte gurgelnd an den Seiten vorbei in den Raum. Jims schweißgebadeter Körper stemmte sich rebellierend gegen die Hände des Bruders, der mit aller Kraft versuchte seine Schultern auf der Matratze zu halten.

Ron hatte die Augen geschlossen und biss sich auf die blutigen Lippen als er den Druck erhöhte, damit Jim im Abwehraffekt nicht um sich schlug oder Bills Kräfte verzehrende Bemühungen, mit einem unkontrollierten Ruck zu Nichte machte. Der Schweiß lief ihm von der Stirn. Ron hatte sich schon vor Stunden dafür verflucht, diese unmenschliche Aktion eingegangen zu sein. Bill hatte Recht gehabt. Es war eine nicht enden wollende Tortur. Wie konnte er das Jimmy nur zumuten? Übelkeit würgte sich durch seinen Hals. Er schluckte sie runter und öffnete die Augen. Mit erstarrtem Gesicht blickte er auf Bill, der halb auf Jim kniete und seine Wunden nähte.
Gequält von diesem Anblick verschloss Ron wieder die Augen. Seine Lunge verlangte nach Sauerstoff, erhieltbekam aber nur schweißgetränkte, nach Blut riechende Hitze, als er einatmete. Seine Finger vergruben sich in die feuchten Schultern seines Bruders, dessen Körper beim verzweifelten Akt seiner reflexartigen Abwehr schier unglaubliche Kräfte entwickelte.

Erst als Bill die Nadel zur Seite legte um beide Enden des Fadens zu verknoten, sank Jims Körper kraftlos zurück. Der Knebel glitt ihm aus dem Mund als sein Kopf keuchend auf die Seite fiel. Jeder Luftstoß den seine Lunge in den Raum presste, vermischte sich mit heiserem Stöhnen. Jim war schon lange nicht mehr in der Lage Worte zu formulieren. Seine geröteten Augen irrten, wahnsinnig von Schmerzen und vernebelt vom Alkohol durchs Zimmer und schienen selbst durch Ron hindurch zu sehen.
Rons Hände lösten sich und er griff nach dem Knebel. „Jimmy … Jimmy … bitte!“ --- Sein Körper zuckte und seine Stimme erstickte in Tränen, als er versuchte, das Stück Holz wieder in Jims Mund zu befördern.
Aber Jim weigerte sich – er presste die Lippen zusammen und riss den Kopf zur Seite. Seine verkrampften Hände öffneten sich. Die Sehnen zerrten seine Finger auseinander. Jims Atem quälte sich gehetzt durch seine Nase.

„Bitte Jim“, wimmerte Ron. Er konnte durch seine nassen Augen kaum noch etwas erkennen. „Es ist gleich vorbei … bitte – nur noch einmal.“ Seine Hand folgte zitternd Jims flüchtender Kopfbewegung. Als es ihm endlich gelang, das verhasste Stück Holz wieder zwischen die Zähne seines Bruders zu pressen, musste er hilflos zusehen, wie Jim seine Augen aufriss, sein Körper zu zittern begann und sich seine Atmung schlagartig beschleunigte.

„Sch … Sch … ich bin bei dir – Jimmy …“, flüsterte er und strich ihm über die verschwitze Stirn. Dann suchten seine Augen flehend Bills Blick, um ihm noch ein paar Sekunden Verschnaufpause für Jim abzuringen.

Bill nickte müde …

„Jimmy? … noch einmal …. Bitte …“, flehte Ron. Er hatte sich zu Jim hinunter gebeugt und mit den Händen seinen Kopf fixiert, um ihm in die Augen zu sehen.

Tränen liefen über Jims Wangen. Sie vermischten sich mit kaltem Schweiß. Trübe Pupillen versuchten, Ron zu fixieren, als er verzweifelt nickte. Dabei drängte sich seine Atmung pfeifend am Knebel vorbei. Er umklammerte mit den Fingern Rons Handgelenke und schloss die Augen.

Ron sah nickend zu Bill hinüber. Er schluckte trocken, dann biss auch er seine Zähne zusammen und richtete sich auf, um die Hebelwirkung seiner Arme zu verstärken.
Bill sah kurz mit hasserfüllten Augen zu Ron auf. Sein Knie stemmte sich fest gegen Jims Brustbein. Er holte tief Luft. Dann zwang der Alte die gebogene Nadel wieder durch das Fleisch.
Jim stöhnte auf. Seine Zähne vergruben sich in das Holz, das dem Druck knirschend nachgab und allmählich splitterte. Sein sich aufbäumender Körper erforderte Rons gesamte Kraftreserven beim Versuch, ihn zu halten. Als Jim seinen Kopf nach hinten riss, war sein Gesicht rot von der Anstrengung, sein Schreien zu unterdrücken. Die Adern an Schläfen und Hals traten unter der feucht schimmernden Haut hervor. Jims Atmung geriet ins Stocken. Seine Finger umklammerten eisern Rons Handgelenke, an denen sich längst dunkle Abdrücke gebildet hatten.
Verzweifelt riss Ron seinen Kopf in den Nacken und ein markerschütternder Schrei machte seiner Seele Luft.

Nach einer Ewigkeit – angefüllt mit gurgelnden, gequälten Lauten, bohrte sich die Nadel durch die widerspenstige Haut auf der anderen Seite der Wunde. Mit fiebrigen Fingern schnitt Bill den Faden ab und legte die Nadel in ein Glas. Dann zog er die beiden gegenüberliegenden Enden zusammen. Langsam schloss sich das klaffende Fleisch. Mit konzentriertem Blick verknotete er die Fäden und tupfte abschließend das nachsickernde Blut von der Wunde.
Bill wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er konnte gar nicht mehr erkennen, was er da überhaupt tat. Die Wundränder waren durch die Einstiche geschwollen und unzählige Knoten versperrten ihm die Sicht. Sein Blick fiel auf Jim, der nach der Prozedur wieder kraftlos zurück gesunken war. Die Lider flatterten vor seinen Augen. Sein Kopf bewegte sich gehetzt hin und her. Dann fiel er zur Seite und zuckte unruhig. Keuchender Atem stieß über seine Lippen und ein schimmernder Film überzog seine bleiche Haut.

Bills Blick flog auf eine Flasche Whisky neben dem Nachttisch. Sein kurzes Nicken forderte Ron auf, Jim den letzten Schluck ihres Inhaltes einzuflößen.
Ron nickte erschöpft. Er setzte sich neben Jim auf das Bett. Vorsichtig ließ er seinen Arm hinter Jims Nacken gleiten und versuchte diesen wackelnden Kopf irgendwie zu halten.

„Komm Jimmy – hier!“, flüsterte er stockend und führte die Flasche an Jims Lippen.
Jim versuchte instinktiv Ron anzusehen – aber seine schweren Lider versperrten ihm die Sicht und sein Körper wollte ihm nicht mehr gehorchen. Angewidert wich er zurück, als ihm der Geruch aus der Flasche entgegen strömte.
Als die bräunliche Flüssigkeit durch Jims Hals rann, begann er zu würgen. Sein Körper wehrte sich heftig gegen den Alkohol. Reflexartig drehte er sich zur Seite und sein Mageninhalt platschte schubweise auf den Boden. Der Schmerz des Brechkrampfes entriss Jim nur weiteres Stöhnen, das Ron sofort veranlasste den sinnlosen Versuch abzubrechen. Die Flasche kreiselte über Boden und Ron richtete den Jüngsten hastig auf, um ihm das Atmen zu erleichtern. Unkontrolliert glitt der kraftlose Körper in seine Arme. Jims wankender Kopf fand Halt auf seiner Schulter.

Eine Hand hatte Ron auf Jims Rücken gelegt und die andere versuchte seinen Kopf zu stützen. Er spürte wie warmes Blut sein Shirt durchtränkte. Fliegender Atem stieß ihm ins Ohr und löste ein Gefühl der Ohnmacht aus, dass ihn fast zerriss. Ron öffnete den Mund um irgendetwas sagen … irgendetwas - dass Jim helfen oder trösten sollte - aber es war so schwer Worte zu finden. Sein Herz raste als er Jim verzweifelt an seinen Körper presste.
Irgendwo weit entfernt konnte Jim die Stimme des Bruders noch hören und er spürte seine wärmende Anwesenheit. Aber die Worte die Ron sprach, drangen nicht mehr zu ihm durch. Schon viel zu weit war sein Bewusstsein der Welt entrückt. Er wünschte nichts sehnlicher, als sich fallen zu lassen in den lindernden Schoß der Dunkelheit die ihn rief. Jim bemerkte nichts von Rons Tränen, die er über seinen Schultern vergoss.
Irgendwann spürte Ron Bills Hand, die sich auf seine Schulter legte und er konnte dem Blick des Alten nicht mehr ausweichen, der ihn mit erfrorenen Augen aufforderte, den quälenden Kampf noch einmal aufzunehmen.
Mit tränennassen Augen zwang sich Ron auf die Beine. Ein letztes Mal griff er zum Knebel - und er wünschte sich dafür in die Hölle.

*** *** ***

Die untergehende Sonne tauchte bereits zum zweiten Mal den Motel-Parkplatz in rötliches Licht. Alte Ahornbäume am Rand warfen lange Schatten auf seine schimmernde Betonfläche. Gefiltert durch das dichte Blätterdach fiel das Licht der Abendsonne durch die Vorhänge und beleuchtete die tanzenden Staubkörnchen.
Ron saß auf einem Stuhl neben dem Bett. Seine Gelenke waren durch die unbequeme Haltung steif geworden und knackten bei jeder Bewegung. Hin und wieder sank sein Körper in sich zusammen und versuchte, etwas Schlaf zu erzwingen. Jedes Mal, wenn Ron sich hochgerissen hatte, griff er nach einer bereitstehenden Thermoskanne mit Kaffee.
Tiefer Schlaf, ähnlich einer Bewusstlosigkeit, hielt Jim seit zwei Tagen gefangen. Nachdem Bill sich einige Stunden Schlaf gegönnt hatte, hatte er sich aufgemacht, um Lebensmittel zu besorgen. Der alte Jäger wusste, dass Ron seinen Bruder keine Sekunde lang allein lassen würde. Lieber würde er verhungern, als zu riskieren, nicht bei ihm zu sein, wenn er erwachen sollte.
Ron rieb sich mit den Handballen die Augen und streckte sich. In seinem Blick lag Besorgnis, als er Jim beobachtete.
Dieser atmete gleichmäßig und ruhig. Nur hin und wieder zuckten seine Augen nervös unter verschlossenen Lidern, oder er riss plötzlich seinen Kopf herum und ein leises Stöhnen entwich seinen Lippen.
In solchen Momenten, raste der Schreck durch Rons Nervenbahnen und führte hinter seinen Schläfen zu einem Stich, der ihn augenblicklich vom Stuhl riss.
Ron nahm ein Handtuch vom Nachtschränkchen. Er befeuchtete es mit Wasser und tupfte winzige Schweißperlen von Jims Stirn.

Bill und Ron hatten nach der Tortur auf alles verzichtet, was den Jüngeren auch nur eine Sekunde länger gequält hätte. Mit Mühe hatten sie es geschafft, seinen ohnmächtigen Körper von der blutgetränkten Matratze seines Bettes in Rons Bett zu schaffen. An Stelle eines über den Rücken verlaufenden Wundverbandes hatte Bill die Nähte mit Verbandtüchern abgedeckt und mit Heftpflastern fixiert. Jims Oberkörper war nackt. Es war auf diese Weise einfacher, die Verletzung zu kontrollieren. Sein fiebriger Zustand schien sich in den letzten Stunden bereits etwas gebessert zu haben.

Nach endloser Zeit verzweifelten Wartens zeigte sich auf Rons Gesicht erstmals wieder ein Lächeln, als er das Handtuch zurücklegte.

Jims Atem erfüllte leise den Raum. Seine Arme lagen bewegungslos auf der Bettdecke, den Kopf hatte er zur Seite gelegt. Sogar jetzt, so nahe dem Abgrund, schien Jim sich Sorgen zu machen. Kleine Kummerfalten zeichneten Schatten auf seine Stirn.
Ron fuhr sich seufzend mit den Fingern durch seine Haarstoppeln. Jimmy machte sich immer Sorgen um alle Menschen, die ihn umgaben – bedauerlicherweise am wenigsten um sich selbst. Klar er war stur und hart im Nehmen – ein typischer Barker eben. Aber diesmal hatte er seine Leidensfähigkeit eindeutig überschätzt. Die enorme Energie, die sein Körper benötigte, um die Wunden zu heilen, verzehrte sichtbar seine letzten Reserven.
Mit einem tiefen Atemzug stieß Ron die Luft aus seinen Lungen. „Jimmy …bitte wach auf“, flüsterte er und kontrollierte sorgfältig den Verband. Erst jetzt fiel ihm, auf wie zerbrechlich Jim trotz seiner enormen Größe wirkte. Die schmalen Lippen und Augenbraunen gaben ihm etwas Filigranes, sehr verletzliches. Im Zwielicht sah Jim aus wie eine Statur aus hauchdünnem, weißem Porzellan.

*** *** ***

Schreie erfüllten das Zimmer. Ron hatte Jims wild um sich schlagenden Arme ergriffen, um ihn daran zu hindern, sich selbst zu verletzten. Die Haut unter seinen Fingern fühlte sich fiebrig heiß an.
Jim starrte mit aufgerissenen Augen in den Raum und reagierte nicht auf Rons beruhigende Worte. Mit einem Ruck riss Ron den Verband herunter und sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Nahtstellen hatten sich schwarz verfärbt und krümelige Krusten türmten sich auf der Wunde. Rote Ausläufer breiten sich strahlenförmig auf der umgebenden Haut aus. Jims Pupillen waren so geweitet, dass sie fast die gesamte Iris verdrängten. Sein Atem raste. Plötzlich verkrampften sich Jims Muskeln und zogen seinen Kopf nach hinten. Nur Sekunden später sackte er zusammen und wurde still – viel zu still …

„Jimmy? … JIM!“ Mit beiden Händen Jims Schultern fest umklammernd, schüttelte ihn Ron. Aber Jim reagierte nicht mehr.

Hastig tastete Ron nach der Halsschlagader und konnte nichts fühlen. Er versuchte es wieder. Er suchte fiebrig nach einem Lebenszeichen.
Rons Herz verkrampft sich. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand die Beine unter dem Körper weggerissen. Als er sein Ohr auf Jims Brust presste, verlangsamte sich sein Herz bis es fast stehen blieb. Ron lauschte. Aber da war kein Laut – kein Herzschlag – kein Atemzug – keine winzige Bewegung - Nichts …

„JIM! … verdammt, gib jetzt nicht auf!“ In Rons Worten vibrierte Panik. Wieder schüttelte er seinen Bruder! – Keine Reaktion.

Mit einem verzweifelten Ruck riss Ron den leblosen Körper in die Höhe. Jims Kopf taumelte bei jeder Bewegung hin und her. Sein Gesichtsausdruck war beängstigend friedlich. Er bewegte sich in Rons Händen wie eine Schlenkerpuppe.

Bestürzt ließ Ron Jim zurückfallen. Seine Blicke irrten hilfesuchend durch das Zimmer. Nach Sekunden der Ratlosigkeit drückte Ron entschlossen seinen rechten Handballen auf Jims Brustbein. Die Faust seiner linken Hand presste er auf seinen rechten Handrücken. Dann verlagerte er sein gesamtes Gewicht auf seine Arme begann rhythmisch zu drücken.

Eins ... zwei …drei … vier …

„Verdammt komm schon!“

… sechs … sieben …

„Jim – du verdammter Mistkerl! ATME!“

… neun … zehn

„Tu mir das nicht an! Ich schwöre dir ich schlag dich windelweich – komm atme!“

… elf … zwölf …

NICHTS …

Ron ergriff den Kopf des Jüngeren und streckte ihn nach hinten durch. Er fasste nach Jims Unterkiefer und verschloss damit seinen Mund. Erst atmete Ron tief ein und presste den gesamten Inhalt seiner Lunge durch Jims Nase. Seine Augen klebten angstgeweitet auf der Brust des Bruders, die sich leicht anhob. Als Ron erneut einatmete, sank Jims Brust wieder. Er versuchte es noch einmal.

Jims Brust hob und senkte sich mechanisch, das war alles. Ron versuchte es weiter, bis ihm schwarz vor Augen wurde und begann erneut mit der Druckmassage.

Eins … zwei … drei … vier …

„JIM – BITTE!“ ----- schrie Ron. „Verdammt – wer gibt dir das Recht aufzugeben! Atme! Das ist ein Befehl!“

Fünf … sechs … sieben …

Rasend vor Wut und Verzweiflung ballte er seine Hand zur Faust. Er holt aus und schlug auf Jims Brustbein.

Einmal – zweimal – dreimal …

Durch die Wucht der Hiebe schnippte Jims Körper bei jedem Schlag nach oben. Aber sein Gesicht blieb emotionslos.

In Rons Herzen kämpften Verzweiflung und Hass um die Vorherrschaft. Wieder riss er seinen Arm in die Höhe und seine Faust sauste pfeifend durch die Luft.

„DU“ – es folgte ein Schlag

„SOLLST“ – ein weiterer Schlag

„ATMEN!“ - noch ein Schlag

Selbst atemlos, spürte Ron das eigene Herz nicht mehr. Sterne tanzten vor seinen Augen. Durch einen Schleier aus Tränen sah er, wie Jims Körper zurücksank. Sein Gesicht hatte einen eigenartig friedlichen Ausdruck angenommen. Es schien fast, als würde Jim lächeln.

Ron kniete am Boden neben dem Bett. Seine Stirn presste sich auf Jims Brust, als alles aus ihm herausbrach. Es war, als würde sich sein Innerstes nach außen kehren – als würde seine Seele aus seinem Körper gerissen.

„Jim! Lass mich nicht allein zurück!“ wimmerte Ron. Er zitterte am ganzen Leib. „Jimmy – bitte! Wir sind doch gerade erst wieder Brüder geworden.“ Sein Blick richtete sich suchend nach oben.
„JIM!“

Ron hatte das kleine Jagdmesser gezogen, das er immer am Fußgelenk verbarg. Als die Klinge auf seine Brust nieder sauste, blitzte das Licht des Mondes im Stahl.

„JIMMY! Ich bleib nicht hier ohne dich!“

*** *** ***

„RON!“

Weit entfernt vernahm er eine Stimme. Sein Körper begann sich gegen seinen Willen zu schütteln.
„Ron wach auf!“

Die Stimme wurde deutlicher. Entsetzt riss Ron die Augen auf. Bill hatte einen Kochlöffel in der Hand und sah ihn erschrocken an. „Du hast im Traum geschrien“, sagte er.

„Ein Traum? – Ich habe geträumt… “ Rons verkrampfte Finger lösten sich. Noch vom Schrecken geplagt, sprang er auf seine Beine und stand schlotternd vor Bill. Ihm war speiübel. „Geträumt – “
Mehrmals kniff Ron die Augen zusammen. Sein hetzender Herzschlag verlangsamte sich. Langsam befeuchtete sich sein ausgetrockneter Mund.

--- GETRÄUMT ---

Wie ein Stromschlag schoss es durch seine Gedanken. „Wie geht es Jimmy?“ Sein Blick schob sich ängstlich an der Schulter des Alten vorbei.

„Er schläft immer noch“, antwortete Bill und musterte besorgt den blassen Barker.

„Das meinte ich nicht. Wie geht es ihm!“ Wollte Ron wissen und drängte sich am Alten vorbei.

„Es geht ihm gut“, flüsterte Bill. Er versuchte, Ron an der Schulter zurückzuhalten.

Ron riss sich los: „Ich muss die Wunde kontrollieren“, zischte er. Langsam bekam er wieder die Kontrolle über seinen Körper.

Bill konnte Ron nur ausweichen, als dieser entschlossen an ihm vorbeistürmte. Betrübt sah er ihm nach und flüsterte. „Ron! – Das habe ich vor 10 Minuten getan. Es ist alles in Ordnung! Beruhige dich.“

Aber Ron war bereits am Bett. Angespannt betrachtete er den Verband. Er war blütenweiß. Vorsichtig strich er mit den Fingerspitzen über Jims Haut. Erst als er sich überzeugt hatte, dass keine entzündeten Stellen zu sehen waren und keine Fieberwellen durch Jims Körper peitschten, entspannte er sich. Ron beobachtete minutenlang, wie sich die Brust hob und senkte. Jims leises Atmen ließ erneut Tränen in seine Augen steigen. „Jimmy! Bitte, bitte wach auf! Ich halte das nicht aus“, flehte er.

Ruckartig drehte er sich zu Bill um und fluchte: „Verdammt – Warum hast du mich einschlafen lassen!“ Der Alte sah mitfühlend in seine Augen und hob die Schultern.

Ein leises Stöhnen erfüllte den Raum. Auf Jims Stirn kräuselte sich ein Fältchen …

*** *** ***

Sofort lag Ron auf den Knien und verfolgte aufmerksam die ersten Anzeichen seines Erwachens.

Jims Lider flatterten. Mühselig quetschte er seine Zunge durch die verschlossenen Lippen, um sie zu befeuchten. Ein leises Stöhnen folgte, als er den Kopf bewegte und schluckte. Seine Hände ballten sich zu kraftlosen Fäusten. Dann schlug Jim die Augen auf.

„Jimmy?“ Rons Stimme war rauchig und ungeduldig. Er beugte sich über das Gesicht seines Bruders und registrierte mit klopfendem Herzen jede noch so winzige Bewegung. Seine Finger umklammerten Jims Handgelenk. „Jimmy? – Ich bin hier – ich bin bei dir!“

Jims Kopf wandte sich augenblicklich in die Richtung, aus der er die vertraute Stimme vernahm. Seine Blicke irrten vernebelt durch das Zimmer, bevor sie schließlich mit einem warmen Glanz Rons Gesicht fixierten. Jim blinzelte lichtscheu und seine Mundwinkel hoben sich zu einem stummen Lächeln.

„Mensch Kleiner“, raunte Ron. „Du hast uns aber Sorgen bereitet.“

Die Fältchen auf Jims Stirn gerieten in Bewegung. Rons Stimme kam ihm unendlich weit entfernt vor. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Sein Körper fühlte sich taub an und widersetzte sich hartnäckig seinem Willen. Er grübelte.

Doch als er Bills Gesicht schemenhaft erkannte, holten ihn Fetzen der Erinnerung ein. Ein Anflug von Panik blitzte in seinen Augen auf. Heftige Luftstöße entwichen seiner Lunge und für eine Sekunde spannte sich jeder seiner Muskeln reflexartig an – wie bei einem Tier, das flüchten wollte. Jim biss sich auf die Lippen. Er erinnerte sich an Schmerzen, Schreie und berstendes Holz zwischen seinen Zähnen.

„He, he Jimmy – es ist alles okay.“ Mit leisen Worten versuchte Ron, Jim zu beruhigen. Er streichelte ihm sanft über die Wange. „Du hast es überstanden, Kleiner.“ Ron ergriff mit beiden Händen seinen Kopf und hob ihn behutsam an. „Jimmy? Verstehst du mich? Niemand tut dir mehr weh!“

Diese Bedeutung breitete sich zähflüssig in Jims Gedanken aus. Erschöpft sank er ins Kissen zurück, schloss die Augen und nickte stumm. Schließlich wandte sich Jim erneut seinem Bruder zu. Noch einmal holte er tief Luft bevor er flüsterte. „He Ron!“ Jims Stimme war zerbrechlich wie Glas, als er fragte. „Wie lange habe ich geschlafen?“

Am liebsten hätte Ron seinen Bruder in die Arme geschlossen. Aber er fürchtete sich. Zum Einem hatte er Angst, seinem kleinen Bruder weh zu tun. Zum Anderem musste er sein Gesicht bewahren – so wie er es vom Vater gelernt hatte. Solche Gefühle waren was für Schwächlinge.
Aber trotzdem, noch nie war ihm die Zeit so lang und schrecklich vorgekommen. Die ständige Angst, Jim zu verlieren hatte ihn zermürbt. Er war unendlich froh, Jims Stimme zu hören – auch wenn es nur ein Wispern war.
Also kräuselte Ron die Stirn. Mit aller Macht zwang er sich zur Ruhe und räusperte sich. „Mann, Jim – du hast fast zwei Tage gepennt. Es wird Zeit, dass du mal die Augen aufmachst“, schimpfte er mit gespielter Gleichgültigkeit. „Oder dachtest du, ich mache den ganzen Scheiß hier alleine!“

Jim sah Ron aufmerksam und still an. Über seine Mundwinkel huschte ein Lächeln, denn Ron kam nicht weiter mit seiner Predigt. Plötzlich stand ihm das Wasser in den Augen und seine Worte schlugen Purzelbäume, wie bei einem stimmbrüchigem Teenager.

„Jimmy – Mann … ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht.“ Er strich dem Jüngeren mit zitternden Fingern Haarsträhnen von der Stirn. „Ich hatte eine Todesangst.“ Explosionsartig sprudelten die Emotionen aus Ron heraus. „Ich schwöre dir, wenn du das noch einmal machst – dann hau ich dir Eine rein.“

Ron schluckte abrupt und sah überglücklich in Jims Augen. Dieser sah Ron mitfühlend an und brummte. „Mhhh …!“ Das Formulieren von Worten fiel Jim schwer. Sein Kopf wurde bleiern und sank kraftlos in Rons Hände.

Als dieser Jim behutsam auf das Kissen gleiten ließ, schlossen sich seine Augen, von Müdigkeit übermannt.

*** *** ***

Nach und nach spürte Jim das Leben in seine Adern zurückkehren – Verbunden damit auch den Schmerz. Hinter seinen Augen hämmerten Schlagbohrer. Sein Hals kratzte und seine Kiefergelenke schienen sich pulverisiert zu haben. Als er versuchte, seinen brennenden Kiefer zu betasten, stach es in seinem rechten Brustmuskel. Das verdeutlichte ihm, dass die tiefen Risse noch der Schonung bedurften. Überwältigt vom Schmerz, entwich Jim ein kurzer Schrei, seine Hand fiel zurück auf die Bettdecke.

„He he – mach langsam, Tiger.“ Ron hatte sich einen Stuhl genommen und wartete geduldig.

Jim versuchte, sich mit den Armen in die Höhe zu stemmen. Das Stechen seiner Brustmuskeln ließ ihn zusammenzucken. Er presste die Lippen zusammen und zwang sich, dem Schmerz trotzend, nach oben - bis er unerwartet Hilfe bekam.

„Immer mit der Ruhe, Jimmy - du musst hier nichts beweisen“, mahnte Ron und sah besorgt in das Gesicht des Jüngeren. Er hatte seine Arme um Jims Schulter gelegt und half ihm. Die Anstrengung ließ Schweißperlen am Haaransatz des Jüngeren glitzern.

Ron ergriff einen Plastikbecher: „Komm – trink erst mal.“ Vorsichtig führte er den Becher an Jims ausgetrocknete Lippen. „Langsam, langsam“, flüsterte Ron. Er hatte eine Hand um Jims Rücken gelegt. „Nimm dir Zeit Kleiner.“ Ron befürchtete, dass Jim sich in seiner Gier noch verschlucken würde. Nachdem der Becher leer war, wandte sich Jim keuchend an seinen Bruder. „Wo ist Bill?“

Ron hob verheißungsvoll seine Augenbrauen und sagte: „Er kocht uns was zu essen.“

Jim blickte erstaunt.

„Du brauchst etwas Richtiges, Kleiner. Du musst wieder zu Kräften kommen“, antwortete Ron und lächelte.
Jim nickte. Ein Zittern durchlief seinen Körper.

„Was ist“, fragend sah Ron seinen Bruder an.

„Ich muss ins Bad“, flüsterte dieser dringlich.

„Oh …“, verlegen kratzte sich Ron am Hinterkopf. „Klar – ich helfe dir.“ Sofort griff er nach Jims Oberarm.

„Lass das“, zischte Jim. „Das krieg ich noch alleine hin!“ Errötend wehrte er Ron ab und schob seine Beine unter der Decke hervor. Als Jim auf den Boden sah, musste er feststellen, dass sein Bett verdammt hoch geworden war. Alles drehte sich. Schnaufend sah er an die Zimmerdecke und schloss die Augen. Nach einem tiefen Atemzug stemmte Jim sein Gewicht auf die Beine und war dankbar, Rons helfende Hand an seinem Oberarm zu spüren.

„Geht’s?“

Jim nickte leicht und konzentrierte sich auf seine zitternden Knie. Dann zwang er sich, geradeaus zu sehen, ignorierte den Schwindel und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Er war erstaunt über sein eigenes Gewicht, das ihn zu Boden zu reißen drohte.

Ron hatte losgelassen, folgte Jim aber - bereit, ihn aufzufangen, falls er stürzen sollte. Er hatte noch nicht sehr viel Vertrauen in den erschöpften Körper, der sich vor ihm mehr schwankend als gehend in Richtung Badezimmertür bewegte.

Nach einem unendlich lang erscheinenden Weg hatte Jim die Tür erreicht. Seine Hand legte sich erleichtert auf die Klinke. „Ron! Ich bin kein Baby. Ich kann das alleine!“, knurrte er beschämt seinen Bruder an, der ihm offenbar folgen wollte.

Ron hob die Schultern und sah in Jims Gesicht. Es war rot vor Anstrengung und Schweißperlen rannen in Bächen über seinen Hals. Für Ron war es unübersehbar, wie viel Energie jeder einzelne Schritt Jim kostete und wie verkrampft er versuchte, seine Schmerzen zu verbergen. Aber gegen den dickköpfigen Stolz seines kleinen Bruders war kein Kraut gewachsen. Ron schüttelte den Kopf. „Du hast Recht Jimmy – du bist kein Baby mehr … aber ein sturer Esel!“

Jim nickte zufrieden und öffnete die Tür.

*** *** ***

Unwiderstehlicher Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft. Jim sah kurz in Rons strahlende Augen. Dieser saß ihm gegenüber und konnte kaum glauben, was er sah. Jim hatte mit beiden Händen den Kaffeebecher umfasst und schlürfte das schwarze, belebende Getränk. Sein Blick glitt dabei immer wieder über Rons Gesicht. Es war gezeichnet von durchwachten Nächten. Unter seinen Augen waren Schatten und der unrasierte Bart verlieh ihm ein verwahrlostes Aussehen.

„Geht es dir gut?“ murmelte Jim in den Kaffeebecher. Die Frage war rhetorisch. Er wusste, dass Ron wegen ihm kaum geschlafen hatte. „Du solltest dich etwas hinlegen Ron – du siehst müde aus!“

Fassungslos schüttelte Ron den Kopf. „Mann, Jimmy! Wichtig ist, dass du wieder auf die Beine kommst. Jetzt hör bloß auf mit diesem Gequatsche!“

„Tadaaa …“, plötzlich schob sich ein Teller mit duftendem Fleisch, Gemüse und Bratkartoffeln direkt unter Jims Nase. Der alte Bill war aus der Kochnische hervorgekommen und präsentierte stolz sein Werk.

Schmunzelnd sah ihn Jim an. Bill sah so … ungewöhnlich gewöhnlich aus – mit einer Grillschürze vor seinem Bauch.

„Guten Appetit Kleiner.“ Bill zwinkerte Jim zu. „Es ist alles frisch zubereitet.“

Mit strahlenden Augen verfolgte Ron das Geschehen. Dann sagte er, keinen Widerspruch duldend: „Los iss was. Du musst doch hungrig sein wie ein Löwe.“

Jim nickte. Mit einem schmerzverzogenem Lächeln griff er zum Besteck. „Bill – du solltest uns öfters begleiten“, stellte er kauend fest.

„Jungs – mit euch habe ich mir ja was aufgehalst“, maulte Bill. Er sah Jim an und seine Augen wurden feucht. „Es tut mir so leid Jimmy – bitte verzeih mir!“

Jim nickte nur, während er sich genüsslich seinem Essen widmete.

Bill brachte die anderen zwei Teller an den Tisch. „Euch Hitzköpfe kann man aber auch nicht allein lassen“, stellte er fest, als er eine Portion in Rons Richtung schob.

„Was ist mit dem Aufhocker“, fragte Jim, den letzten Bissen kauend. Irgendwie konnte er sich an den Ausgang der Exkursion zum Blockhaus nicht mehr erinnern.

Ron sah ihn müde an. „Wir haben ihn eingesperrt.“

Jims Augen weiteten sich. „Er existiert noch?“

„Ja – er ist in der Blockhütte“, antwortete Ron ohne ein zweites Mal seinen Kopf zu heben. „Bill hat ihn in der Küche eingesperrt.“

Bill holte Luft. „Ich weiß nicht, wie man ihn töten kann. Wir sollten versuchen, ihn zu bannen.“

Die Brüder blickten den Alten fragend an.

„Na ja – ich habe eine Fluchkiste gebaut.“ Bill hob hilflos die Schultern. „Momentan ist es das Einzige, was mir einfällt“, gab er zu.

„Dieser Aufhocker muss doch irgendeinen Ursprung haben“, bemerkte Jim. Er war blass. Das frische Shirt begann durch die Hitze im Zimmer auf seiner Haut zu kleben. Unter skeptischen Blicken seines Bruders stand er auf und ging zum Nachttisch, um ein kleines Röhrchen mit Tabletten aus der Schublade zu holen. Rasch warf er sich zwei davon in den Mund und spülte sie mit Wasser runter. Ron erkannte, dass Jim unter Schmerzen litt und forderte ihn auf, sich wieder zu setzten.

„Du hast Recht Jim“, antwortete der Alte. „Wenn dieses Ding in Deutschland seinen Ursprung hat, muss es eingeschleppt worden sein. Ich habe mir die Chroniken dieser Stadt kopiert und werde nachher die Einwanderungsunterlagen durcharbeiten.“

„Wenn es so ist, sollten wir schnellstens zur Hütte fahren und die Sache beenden, bevor ein weiteres Unglück geschieht“, seufzte Jim. Er lehnte sich schnaufend zurück, um eine Körperhaltung zu finden, die dieses stetige Reißen in seinem Brustmuskel etwas linderte.

Ron holte tief Luft und sah streng in die Augen seines Bruders. „DU! ... Wirst nirgendwo hinfahren Jim – in deinem Zustand bist du eine fette Beute für dieses Ding!“ Ron schlug warnend mit den Handflächen auf den Tisch. „Wir haben Zeit. Niemand sucht Miller. Also atme mal entspannt durch, großer Krieger!“ Sein Blick wurde wieder versöhnlicher, als er leise weiter sprach: „Jimmy! ... Wir haben dich fast verloren. Ich möchte so etwas nicht noch einmal durchmachen. Hörst du! Du solltest ein bisschen vorsichtiger sein.“ Mit feuchten Augen sah Ron seinen Bruder an.

Jim senkte den Blick. Ron hatte Recht. So angeschlagen wie er war, würde er mehr im Wege stehen als behilflich sein.

„Das ist einfach unglaublich mit euch!“ Bill ergriff das Wort und sein Blick tadelte die Brüder. Sie wirkten im dämmrigen Zimmer wie ein doppeltes Häufchen Elend. „Wir sollten uns alle etwas ausruhen, bevor wir uns den nächsten Schritt überlegen - denn tot nützen wir keinem etwas!“ Er räumte die Teller vom Tisch und brummte: „Ihr werdet jetzt beide etwas schlafen!“ Sein Blick traf, keinen Widerspruch duldend, auf die jungen Barker, die seine Beharrlichkeit bereitwillig akzeptierten.

*** *** ***

Nur leises Atmen unterbrach die Stille im Zimmer. Bill hatte sich an den Tisch gesetzt, um die Chronik der Stadt zu lesen. Es fiel ihm schwer, im Dämmerlicht den Worten zu folgen. Seufzend streifte sein Blick durch das Zimmer. Dann beobachte er die Brüder, die leise schnaufend, ins Land der Träume gesunken waren.
Ein liebevolles Lächeln schlich über Bills Gesicht, als er sich einen Stuhl nahm und zwischen ihren Betten platzierte. Erneut betrachtete er die Jungs. Ihre ausgezehrten Körper hatten den nötigen Schlaf nicht lange abwehren können. Schwer wie Blei lagen sie auf den Kissen und wirkten so verletzlich. Bill streckte sich auf seinem Stuhl und genoss den Frieden, der – und das wusste Bill – nur für kurze Zeit hier Einzug gehalten hatte.
Das Schicksal hatte ihm eine eigene Familie verwehrt – und doch hatte er auf seinem einsamen Weg als Jäger zwei Söhne gefunden, die ihm ans Herz gewachsen waren. Bill würde ihnen beistehen – egal was kommen würde, denn er fühlte es: Familie hört nicht beim Blute auf.


*** Eingebungen ***



Jim öffnete seine Augen, als er in der Ferne dumpfes Grollen vernahm. Irritiert blinzelte er, um sich an die Dunkelheit im Zimmer zu gewöhnen. Das Geräusch wurde durch gleichmäßige Atemzüge von Ron und Bill abgelöst.
Frische Luft strömte durch die gekippten Fenster. Sie ließ Jims erhitzten Körper leicht zittern. Ein Gewitter hatte es endlich geschafft, der lähmenden Hitze des Tages den Garaus zu machen. Im gleißenden Licht zu Boden zuckender Blitze zeigten sich ruckartige Momentaufnahmen der Umgebung. Es waren Bilder, die seinen wiederkehrenden Visionen ähnelten. Doch wusste Jim, dass es sich hier nicht um eine der gefürchteten Visionen handelte, denn der stechende Schmerz, den ihn solche Ereignisse jeweils zugefügt hatten, blieb aus.

Der Jäger wandte sein Gesicht in die Richtung, aus der er das Atmen vernahm und sah mit Erstaunen die Silhouette von Bill, der auf seinem Stuhl zusammengesunken war. Sein Kinn ruhte auf der Brust und wurde mit jedem Atemzug angehoben.

Leise, um seine Mitbewohner nicht zu wecken, stemmte sich Jim nach oben. Er unterdrückte ein Stöhnen, als sein Brustmuskel gegen die Beanspruchung protestierte.
Schließlich schlich er auf Zehenspitzen zum Tisch und schaltete den Laptop ein.
Jim konnte nicht mehr schlafen. Er spürte zwar, dass sich sein Körper noch nicht erholt hatte, ignorierte aber die Schmerzen. Ständige Gedanken an die Morde raubten ihm den Schlaf. Vier Menschen waren bereits gestorben. Aber am meisten quälte ihn die Erinnerung an Amelia. Immer wieder sah er das Mädchen in seinen Armen sterben. Seine Unfähigkeit, sie zu retten, stieß ihm wie ein Dolch ins Herz. Jim hasste diesen Aufhocker oder was immer er auch war und er wollte ihn um jeden Preis vernichten – nicht bannen, sondern endgültig vernichten! Leider ging das nicht ohne mehr Wissen über dieses Geschöpf. Also tat Jim das, was er am besten konnte. Er setzte sich an den Tisch, während der Computer leise summend hochfuhr. Mit wenigen Klicks war er in die Tiefen des Webs eingetaucht – dem Aufhocker auf der Ferse.

Das Gewitter war weitergezogen, sanfte Regentropfen trommelten auf die Dächer der vor dem Haus geparkten Autos. Ihr leises Rauschen hatte etwas Beruhigendes, konnte aber Jims Zorn nicht mildern.
Nach einiger Zeit stand er, gequält vom Stechen in seinem Fleisch, auf und huschte zum Nachttisch. Im rostigen Schein der Messinglampe suchte er nach den Tabletten. Missbilligend betrachtete er die kleinen Schmerztöter in seiner Hand. Sie waren zu seinen ständigen Begleitern geworden. Schon nach wenigen Minuten zeigten sie Wirkung und betäubten nicht nur die Nervenbahnen in seiner Brust, sondern auch seine aufbrausenden Gedanken.

Entspannt streckte Jim seine Beine unter dem Tisch aus und seine Augen flogen über das Buchstabengewirr der vielen Fenster, die seine Stichwortsuche auf den Monitor rief.

*** *** ***

„Mann, Jim – wie lange sitzt du denn schon da?“ Rons Stimme schreckte nicht nur Jim aus seinen Recherchen auf, sondern weckte auch Bill, der sich nun reckte und sich seine Augen rieb.

Jim lächelte. Durch wirre Haarfransen hindurch sah er auf Ron und hob die Schultern. „Ich konnte nicht mehr schlafen!“

Ron räkelte sich. Sein zerzauster Kopf tauchte unter der Bettdecke auf. Er blinzelte in die Morgensonne, deren Strahlen sich durch die leicht geöffneten Vorhänge in das Zimmer drängten. Schließlich schweifte sein Blick auf die hoch gewachsene Gestalt seines Bruders am Tisch. Als er sich aus dem Bett schwang, bemerkte er Bill.
Schlaftrunken wankte der Alte auf seinem Stuhl und hatte einige Schwierigkeiten, seine müden Knochen zu bewegen. Erstaunt kräuselten sich einige Falten auf der Stirn des Älteren. „Dann werde ich wohl mal ins Bad gehen“, schnaufte er und musterte Bill amüsiert.

„Tu das“, murmelte Jim gegen den Monitor. Seine Finger sausten über die Tastatur als er fragte: „Bill? Hast du gestern noch was rausgefunden?“

„Nicht viel“, krächzte Bill und erhob sich schwerfällig. „Es könnte sein, dass der Aufhocker in dieser Gegend um 1600 aufgetaucht ist. Zu dieser Zeit gab es hier eine große Einwanderungswelle – besonders aus Europa - die einherging mit seltsamen Todesfällen. Man vermutete damals, dass die Auszehrung der langen Überseefahrt für einige Siedler zu belastend gewesen sei und sie deshalb an Skorbut starben. Die einzelnen Namen habe ich aber noch nicht überprüft“, fügte er etwas verlegen hinzu.

„Mhhhh …“, Jim nickte. Er reckte sich ausgiebig und Bill bemerkte, wie Jim zusammenfuhr. „Wie geht es dir?“ In den Augen des alten Jägers zeigte sich Besorgnis. „Du solltest nichts überstürzen. So eine Verletzung braucht Zeit, um zu verheilen.“ Er stand auf und ging auf Jim zu.

„Geht so“, schnaufte Jim. Er sah aus dem Fenster, um Bills fragendem Blick auszuweichen. Der Alte kratzte sich verlegen am Hinterkopf und ging zur Tür. „Ich kann euch beide doch mal für eine Stunde allein lassen?“
Als Jims Blick erstaunt auf den alten Jäger traf, musste dieser schmunzeln. „Ich werde duschen gehen. Außerdem benötige ich noch einige Unterlagen aus meinem Zimmer“, erklärte er und schob sich durch die Tür.

*** *** ***

Zwei Stunden später zwängten sich die drei Jäger um den Tisch, auf dem sich wieder braune Papiertüten mit Werbung türmten.

„Mann, das ist nervig“, knurrte Jim. „Warum sind wir nicht zum Diner gefahren?“ Als er seinen Kaffeepott ergriff, glitt ein versöhnliches Lächeln über sein Gesicht. Er sah Bill an und murmelte: „Na, wenigstens ist der Kaffee gut.“ Dann wühlte er unentschlossen in den Frühstückstüten, bis er einen Donut zwischen die Finger bekam. Deutlich war dem Jüngeren die wachsende Unruhe, verursacht durch den Zwangsarrest, anzumerken. „Ich möchte aber Eierkuchen mit Sirup“, maulte er und betrachtete den Donut.

„Wenn du wieder fit bist, Jimmy, holen wir das nach. Im Moment ist mir das mit deinen Verletzungen zu riskant.“ Rons Augen hefteten sich auf Jim: „Deine extravaganten Frühstückswünsche lassen sich so schlecht verpacken“, knurrte er und biss in ein Brötchen.

Jim tat so, als hätte er Rons Antwort nicht gehört und wandte sich an Bill: „Was macht deine Fluchkistengeschichte?“

„Die Fluchkiste ist nicht das Problem“, antwortete der Alte. „Die habe ich fertig. Ich weiß leider nicht wie wir diesen Aufhocker da hinein bekommen.“ Bill kraulte sich am Bart und sah grübelnd auf sein Rührei. „Bisher habe ich immer nur Gegenstände gebannt. Aber wie man einen Geist, oder was auch immer dazu bewegt, freiwillig in eine Fluchkiste zu steigen, übersteigt mein Wissen.“ Er hob den Kopf und sah Jim ratlos an. Dieser lachte auf. „Dass du mal was nicht weißt, ist mir neu.“

Ron schüttelte genervt den Kopf.

Jim holte tief Luft: „Also gut!“ Er lehnte sich zurück und begann zu plaudern: „Vielleicht müssen wir das auch gar nicht.“

Ron und Bill sahen sich erstaunt an. Dann trafen ihre Blicke auf Jim, der sich aufrichtete und ihren neugierigen Blicken grinsend begegnete: „Diese Aufhockergeschichte ist ziemlich verwirrend – das gebe ich zu. Es gibt je nach Region sehr unterschiedliche Varianten dieses Mythos.“ Jim warf den Donut zurück in die Tüte und erhob sich, um zum Bett zu gehen, auf dem sein Laptop lag.

Als er sich wieder an den Tisch setzte, verstaute er den Computer auf seinem Schoß. „Im Grunde genommen gehen sie aber alle auf eine Urform zurück“, erklärte Jim, während er das Verdeck öffnete und sofort begann, die Tastatur zu malträtieren.

„Eine Urform?“, knurrte Ron. Er schielte argwöhnisch nach Jim.

„Ja – und zwar auf den sogenannten Wiederkehrer. Das hatte ich ja schon erwähnt“, erklärte der Jüngere, „Ich bin dieser Geschichte mal nachgegangen.“

Ron fiel ihm ins Wort: „Wiederkehrer sind doch Zombies!“ Schnaufend rollte er die Augen. Jim nahm seine Reaktion gelassen hin und sprach weiter: „Gegen Wiederkehrer oder Wiedergänger gibt es aber Maßnahmen!“ Jims Augenbrauen hoben sich triumphierend.

Ron nuschelte mit vollem Mund. „Welche?“

Jim sah seufzend auf den Laptop und begann zu lesen: „Der Wiedergänger ist ein Untoter des südosteuropäischen und russischen Volksglaubens. Dies ist ein Verstorbener, welcher seinem Sarg entsteigt und wieder unter die Lebenden geht. Sein Erscheinen wird nahezu immer mit Unheil und Tod in Verbindung gebracht, und er verursacht daher Grauen.“ Jim hob kurz seinen Kopf.
„Ab hier wird es Interessant“, betonte er: „Oft hat der Wiedergänger noch etwas aus seinen Lebzeiten zu erledigen oder will Rache an seinem Mörder üben, oder Ähnliches. Auch wenn der Tote zu sehr betrauert wird, hält ihn das vom endgültigen Übergang in das Jenseits ab.“ Verheißungsvoll sah Jim in Bills Gesicht. Dieser konnte dem Jüngeren nicht folgen und blickte verwirrt zurück.
Mit einem tiefen Atemzug richtete Jim seine Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor. „In alten Gräbern finden sich noch heute Leichen, die gefesselt wurden, denen die Sehnen durchtrennt, die Gliedmaßen zertrümmert oder abgeschnitten und über Kreuz auf die Brust gelegt, die ins Herz gepfählt oder denen Kreuze oder mit Gras bewachsene Erdschollen in den Mund oder auf die Stirn gelegt wurden. Alle diese Bestattungsriten sollten das Wiederkehren des Toten verhindern und wurden auch gemeinsam und in Variation mit Knoblauch ausgeführt.“ Als Jim den Artikel vorgelesen hatte sah er erwartungsvoll in die kleine Runde.

Ron hatte ihm aufmerksam zugehört: „Ziemlich viel Zeug, um einen einzelnen Untoten davon abzuhalten, sich auf Lebende zu stürzen – findest du nicht Jimmy?“ Er fluchte. „Verdammt - ich hasse Zombies! Die machen nur Ärger!“ Ron brabbelte noch einige unverständliche Worte gegen sein Brötchen, bevor er hinein biss.

„Kein Zombie!“, entgegnete Jim gelassen.

„Du meinst also, wir suchen einen verärgerten Verstorbenen“, schlussfolgerte Bill. Dabei wandte er sich an Ron, der sein Frühstück nun doch für einen Moment unterbrach und interessiert den Kopf hob.
„So was wie einen rachsüchtigen Geist?“ fragte er. In seinen Augen zeigte sich ein Funkeln. Endlich eine Tatsache, die greifbar war. Er legte seine Handflächen auf den Tisch und sah zum Alten. „Na dann Bill – es wird Zeit, die Chroniken nach Namen und den dazugehörigen Familiendramen zu durchforsten.“ Ron stand auf und in seinem Gesicht war die wachsende Begeisterung für diese Jagd deutlich zu erkennen. „Das kann doch nun nicht so schwer sein. Einer hat bestimmt noch eine Rechnung offen. Und wenn wir herausgefunden haben, wer es ist, buddeln wir den Typen aus und flambieren seine Knochen.“ Er grinste breit: „Ich liebe Geister - die kann man wenigstens ins Jenseits befördern.“ Seine grünen Augen richtenden sich auf Jim: „Und ich bin froh, dass dieses Mistvieh nur deine Brust zerfetzt hat – Jimmy - und nicht etwa dein kluges Fransenköpfchen.“ Er holte aus und ein aufmunternder Handschlag traf Jim unerwartet an der linken Schulter. Mit einem schmerzverkniffenen Lächeln quittierte dieser die Aktion.

Ein Summen ließ die Jäger aufhorchen.

„Meins ist es nicht“, verteidigte sich Jim und sah zu Ron. Dieser hob erstaunt die Schultern, sah zum Nachttisch und stand auf, um sein Handy zu ergreifen. Als er auf das Display schaute, bekam sein Gesicht sehr weiche Züge. Er drehte seinen Partnern den Rücken zu und flüsterte mit rauchiger Stimme: „Es tut mir leid – ich war die letzten Tage verhindert.“

Bill sah ihn verdutzt an: „Wenn es ein neuer Job ist, Ron – sag ihn ab. Wir haben genug um die Ohren.“

Rons Augen streiften kurz den Bärtigen bevor er weiter ins Telefon raunte: „Ich weiß – tut mir leid. Mein Bruder war krank. Ich erkläre es dir nachher. Sagen wir in zwei Stunden? Versprochen!“
Rons Stimme wurde immer leiser, während er in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers ging. Die beiden Jäger am Tisch sahen sich verblüfft an. Als Ron das Handy zurücklegte, kratzte er sich am Hinterkopf und schaute verlegen auf den Boden. „Es war …“ –

„Lilly“, platzte es aus Jim heraus. „Du hast ihr doch nicht etwa deine Telefonnummer gegeben?“ Überrascht sah er Ron an. „Alter! – Was sind denn das für neue Seiten an dir?“ Jim biss sich auf die Unterlippe um nicht los zu kichern, bevor er weiter flötete: „Kein One Night Stand? … Jetzt sag bloß, das ist was Ernstes – dann bekomme ich nämlich Angst vor dir!“

Als sich Ron zurück an den Tisch setzte, musterte ihn Jim bissig und gab den Schulterschlag, den er vor wenigen Minuten kassiert hatte, zurück. „Ist schon okay Ron – das kann jedem passieren.“

Bill hatte sich zurückgelehnt und beobachtete die Brüder misstrauisch. „Hab ich irgendwas nicht mitbekommen?“, fragte er.

Ron antwortete mit einem Räuspern, während Jim an seiner Unterlippe nagend, den Blicken des Alten auswich.

„So! Wie geht’s nun weiter?“ Ron schlug die Hände auf den Tisch und unterbrach die peinlich werdende Stille.
„Nun, Bill und ich werden wohl allein die Unterlagen nach deutschen Einwanderern mit unerledigten Aufgaben durchforsten müssen“, stellte Jim fest und eine Falte kräuselte sich bedeutungsschwanger auf seiner Stirn. „Du hast ja offensichtlich schon was Besseres vor!“ Sogleich entspannte sich aber sein Gesicht und er zwinkerte Ron zu: „Aber glaub bloß nicht, du könntest dich die ganze Zeit amüsieren, während wir hier schuften.“

*** *** ***

Nervös sah Ron auf die Uhr. „Ich geh dann mal“, murmelte er schuldbewusst, angesichts der Berge von zu sichtenden Unterlagen. Als Jims vorwurfsvoller Blick ihn traf, fügte er schnell hinzu: „Ich bin ihr ein paar Erklärungen schuldig.“

„Sicher“, flötete Jim, „aber verrate ihr nicht zu viel.“ Er legte einen staubigen Ordner zurück auf den Stapel und streckte sich gähnend. „Ich glaub, ich mach auch mal ne Pause!“

Bestätigend nickt ihm Ron zu. Dann warf er sich seine Jacke über, griff nach dem Zündschlüssel und verschwand aus der Tür.
Bill stand überrumpelt in der Mitte des Zimmers und hob beide Hände. Sein fragender Blick traf auf Jim, der sich mit ausgestreckten Armen auf sein Bett gelegt hatte. Anschließend schaute Bill verzweifelt auf die Tür, die sich hinter Ron geschlossen hatte. „Jetzt bleibt diese Drecksarbeit doch glatt wieder an mir hängen“, brummte er und setzte sich an den Tisch. Orientierungslos begann er im Durcheinander fliegender Blätter zu wühlen.

*** *** ***

Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür des Ford Mustang ins Schloss. Ron drehte sich kurz um. Nach einem prüfenden Blick über sein nachtschwarzes Auto, eilte er mit riesigen Schritten durch den kleinen Vorgarten, dem sonnengelben Haus im Schatten der alten Linden entgegen. Er holte tief Luft, als seine Finger zitternd auf die Klingel drückten. Noch eh er losgelassen hatte, öffnete sich die Tür.

„Ron!“ Lillys helle Stimme erfüllte den Vorgarten, als sie ihm gegenüber stand. „Du solltest dich was sch…äm ….n.“ Bevor sie den Jäger tadeln konnte, pressten sich seine Lippen auf ihren Mund. Mit beiden Händen hatte er ihre Hüften umfasst und drängte sie zurück ins Haus.

„Ich habe dich vermisst!“, brummte er in ihr Ohr. Voller Verlangen wanderten seine Hände über ihren Körper.

„Was war denn…?“, hauchte Lilly in seine Küsse. Sie legte ihren Kopf an die Wand und ihre Wangen erröteten, als Rons Zunge heiße Wellen durch ihren Körper jagte. „Was i..t denn p...ssiert?“, fragte sie keuchend.

„Das erzähle ich dir später“, raunte er. Seine Finger griffen hart in Lillys Haar und sein fordernder Kuss machte ihr unmissverständlich klar, dass ihm der Sinn jetzt nicht nach Diskussionen stand. Bereitwillig gab sie nach. Jäh aufflammende Lust ließ sie fahrig nach Rons Lederjacke greifen um sie über seine Schultern zu schieben. Klatschend fiel sie auf den Boden. Ohne zu zögern riss sich Ron das Shirt über den Kopf und ließ es hinterher fallen.

Der Anblick seines durchtrainierten Oberkörpers und der Duft seiner Haut raubten Lilly die Sinne. Forschend wanderten ihre Hände über seine Brust, streiften über die festen Bauchmuskeln und umfassten seine Handgelenke. Erwartungsvoll führte sie seine Hände zu ihren Oberschenkeln.
Dieser klaren Aufforderung konnte Ron nicht widerstehen und ließ seine Hände fieberhaft unter ihr Sommerkleid gleiten.

„Nicht so stürmisch …!“, kicherte Lilly, kaum im Stande, der rasenden Leidenschaft des Jägers zu folgen. Sie spürte seine Hände überall. Ihr Höschen hielt seinen leidenschaftlichen Fingern nicht stand. Nach einem kurzen Ruck hing es in Fetzen um ihren Knöchel. Unvermittelt griffen Rons Hände fest um Lillys Taille und der Jäger hob sie mühelos auf das Sideboard an der Wand.
Er vergrub sein Gesicht in ihr Dekolleté und schnurrte bei jedem Atemzug wie ein Kater. Schließlich öffnete er hastig seinen Gürtel und Sekunden später landete seine Jeans samt klingelnder Gürtelschnalle auf dem gefliesten Boden.
Lilly krallte ihre Finger in sein Haar. Als sich der Jäger zwischen ihre Schenkel drängte, schaute sie in erregt geweitete Pupillen. Sie schlang ihre Beine fest um Rons Taille und stöhnte auf, als er in sie eindrang.

Unter ihren rhythmischen Bewegungen knarrte das Sideboard, wurde jedoch bald von leidenschaftlichem Keuchen übertönt.

*** *** ***

Belebt durch den Regen der letzten Stunden trällerte eine Amsel lautstark über den Parkplatz des Motels. Auf dem kleinen Tisch und den Betten im Zimmer hatte die Höhe der Stapel von losen Blättern, alten Büchern und vergilbten Ordnern kaum abgenommen. Jim saß, nach vorn gebeugt, auf einem Stuhl über geöffneten Dokumenten. Seine Augen flogen über eng beschriebene Zeilen. Erschöpft hatte er sein Kinn in die Hände gelegt, seine Ellenbogen stützten sich auf dem Tisch ab. Trotz einiger Stunden Schlaf fühlte sich Jim unwohl. Er streckte sich und atmete tief ein. Seine Finger legten sich massierend an seiner Stirn und versuchten, die pochenden Schläfen zu besänftigen.

Ron saß ihm gegenüber. Er hatte sein Versprechen gehalten und war nicht lange weg gewesen. Unwillig blätterte er in einem der Ordner. Er seufzte und beobachtete Jim. „Mann – das ist nichts für mich“, stöhnte er auf. Seine Blicke irrten hilfesuchend durch das Zimmer. „Ich werde mal die Waffentasche holen“, schnaufte er. „Schließlich sollten wir auf alles vorbereitet sein, wenn es losgeht.“ Etwas verlegen kraulte er sich am Kopf, wohlwissend, dass seine Ausrede durchschaut worden war.

Jim sah ihn lächelnd an: „Tu das“, sagte er, „aber bleib nicht so lang.“ Dann vertiefte er sich wieder in die Recherche.

Ron griff nach seiner Lederjacke und schlenderte zur Tür. „Ich bin gleich zurück.“

Das Recherchieren hatte Jim ermüdet. Er beobachtete Bill, der auf einem der Betten saß und konzentriert in einem alten Buch las. Als er die knisternden Seiten umschlug, kräuselte sich seine Stirn und er murmelte irgendetwas vor sich hin.

„Weißt du, Bill“, unterbrach ihn Jim schnaufend. „Eins verstehe ich nicht. Hier ist zwar etwas zu lesen über merkwürdige Todesfälle in einem Zeitraum von ein paar Wochen. Aber dann hört es plötzlich auf.“ Jim hatte das Blatt angehoben und ließ es nun entmutigt zu Boden gleiten. Seine Hand schürfte über der rechten Brust.

Der Alte hob sein Gesicht und musterte Jim. Er neigte den Kopf und legte das Buch aus den Händen. „Juckt es?“, fragte er.

Jim wurde klar, dass er sich unbewusst an seiner Verletzung zu schaffen machte. Er nickte: „Und wie!“, knurrte er.

„Das ist gut“, sagte Bill zufrieden. „Dann können wir morgen die Fäden ziehen, bevor sie noch einwachsen.“ Für diesen Satz erntete der Alte einen missbilligenden Blick.

Jim stand auf und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu wandern. „Warum jetzt? Warum ist er auf einmal wieder da und warum nach über 400 Jahren?“ Nachdenklich sah er zu Boden. Die Hände hatte er in den Taschen seiner Jeans vergraben.

Bill sah Jim an, hob kurz die Schultern und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.

Stöhnend blieb Jim stehen. Das leichte Summen, das sich vor einer Stunde in seinen Ohren eingestellt hatte, wurde langsam nervig. „Irgendetwas stimmt hier nicht“, seufzte er und ging zum Bett. Er schob die Bücher beiseite, um sich dem Alten gegenüber zu setzten. „Was also hat ihn wieder aktiv werden lassen?“

„Keine Ahnung“, antworte der Alte ohne den Kopf zu heben. „Vielleicht hat er ja anderswo zugeschlagen?“

„Das glaube ich nicht“, entgegnete er. „Bei der Todesrate, die der hinterlässt, wäre uns das schon viel früher aufgefallen. Irgendetwas muss ihn zurückgehalten haben.“ Jim kniff die Augen zusammen und legte seinen Kopf in die Handflächen bevor er weitersprach. „Ich habe nicht so viele europäische Einwanderer für diesen Zeitraum gefunden“, erklärte er schließlich und sah wieder auf den Alten. Schweißperlen glänzten an seinen Schläfen. „Eine Familie aus der Gegend von München, zwei aus Hamburg, eine aus Bedburg und eine Familie aus Nordhausen.“

Bill hob fragend die Augen: „Nordhausen? Hab ich noch nie gehört. Kann nicht groß sein“, schlussfolgerte er.

„Richtig!“, bestätigte der Jüngere. „Die Stadt liegt am Harz – und der ist bekannt für seine Hexen“, bemerkte er schmunzelnd.

Bill nickte erstaunt. „Was du nicht sagst!“

„Also …!“, berichtete Jim weiter: „Alle diese Familien kamen Oktober 1589 mit der Spirit of Fire hier an und haben offenbar keinen Hintergrund, der annehmen lässt einen Aufhocker mitgebracht zu haben.“ Abrupt klappte er den Mund zu.

Bill kraulte sich am Bart und begann, nach einem Ordner zu suchen. Irgendwie erinnerte er sich daran, etwas über dieses Schiff gelesen zu haben. „Warum mache ich mir nie Notizen?“, grummelte er und blätterte hastig zwischen den Seiten. Endlich war Bill fündig geworden. „Na ja Jimmy – nicht ganz. Eine gewisse Familie aus Bedburg hatte laut Bestattungsunterlagen schon einen Todesfall zu betrauern – noch bevor das Schiff hier anlegte.“

Jim horchte auf. „Was war denn passiert?“

Bills Augen verengten sich zu Schlitzen. Er hielt den Ordner etwas entfernt, um besser Lesen zu können. Dann sagte er: „Hier steht: am Morgen bevor die Spirit of Fire anlegte fand man die Tochter des Hauses erhängt in der Kabine der Eltern. Man vermutete Selbstmord.“ Zischend holte Bill tief Luft durch die Zähne. „Böse Zungen behaupteten auch was Schlimmeres.“

Jim sah den Alten interessiert an. „Wie kommst du denn darauf?“ Er schnaufte und rieb sich erneut die Stirn.

Bill sah Jim skeptisch an. „Junge ist alles ok?“, fragte er.

Jim nickte angespannt „Mhhhh… ich habe nur etwas Kopfschmerzen.“ Er richtete seine Augen wieder auf den alten Jäger.

Dieser erzählte weiter. „Sie soll schwanger gewesen sein.“

Jim hob unbeeindruckt die Schultern. „Und?“

„Früher war es eine Tragödie, ein uneheliches Kind zu bekommen“, antwortete Bill. „Besonders, wenn eine Tochter aus wohlhabendem Hause das Kind eines verarmten Bauernburschen erwartete!“ Er richtete sich auf und legte den Ordner zur Seite.

„Du meinst, deswegen hat man sie …?“ Die Augen des Jüngeren sahen den Alten ungläubig an. Bill nickte schweigend.

„Was ist mit ihrem Leichnam geschehen?“, fragte Jim. Erneut kniff er seine Augen zusammen, schluckte trocken und flüsterte: „Ich vermute mal, sie wurde ohne den Segen eines Pfarrers am Rande des Friedhofes verbuddelt.“

„Wie es für die damalige Zeit üblich war für Selbstmörder“, bestätigte Bill.

„Wenn sie aber gar keinen Selbstmord begangen hat“, dachte Jim laut nach.

„Hat sie einen guten Grund ziemlich verärgert zu sein“, beendete Bill seine Vermutung.

Jim stand ruckartig auf, um sich wieder an den Tisch zu setzten. Seine Knie schlotterten und dieses grässliche Summen in seinen Ohren wurde so laut, dass es schmerzte. Als er sich auf den Stuhl niederließ umfassten seine Finger die spröden Kanten des Tisches.

„Ich werde jetzt mal nachsehen, welcher Friedhof dafür in Frage kommt“ keuchte Jim.

„Eine gute Idee!“ Geistesabwesend nickte Bill in das Buch, welches er in den Händen hielt.

Es dauerte einige Sekunden, bis der Alte das flatternde Geräusch wahrnahm. Es hörte sich an, als würde eine Holzschüssel über den Boden kreiseln. Verwirrt hob er seinen Kopf und sah zu Jim hinüber.

Sein Kopf war nach vorn gesunken. Sein Gesicht wurde durch Haarfransen verdeckt. Jims Finger umklammerten die Tischkanten und übertrugen sein Zittern auf das alte Möbelstück. Aus seinem Mund glitt Speichel. Einige lose Blätter rutschten durch die Erschütterungen vom Tisch und taumelten zu Boden.
Auf Bills Rufen reagierte er nicht. Panisch eilte der Alte heran und griff mit beiden Händen nach Jims Kopf.
Die Augen des jungen Jägers waren nach oben gerollt. Entschlossen rüttelte er Jim.
Jims Muskeln schickten Stöße durch seinen gesamten Körper. Der Kopf glitt ihm unkontrolliert in den Nacken als sich ein Stöhnen über seinen Lippen bahnte. Seine Lider flatterten, seine Atmung beschleunigte sich.
Plötzlich riss er seine Arme mit solcher Wucht vom Tisch dass er dem Alten dabei einen gewaltigen Hieb verpasste, der ihn in den Raum schleuderte. Jim presst seine Handflächen auf die Ohren: „NEIN!!!“ Im Affekt riss er seinen Oberkörper nach oben, um auf die Beine zu gelangen. Sie waren nicht mehr im Stande sein Gewicht zu tragen und ließen ihn rumpelnd zu Boden stürzen.
Bill hatte sich wieder aufgerappelt und starrte mit aufgerissenen Augen auf den jungen Barker, der sich am Boden krümmte. Seine Blicke irrten ziellos durch das Zimmer. Die Handflächen hatte er immer noch fest auf seine Ohren gepresst.

Bill riss Jims Handy vom Nachttisch und wählte Rons Nummer.

Langsam schien die Vision an Kraft zu verlieren. Jim lag zuckend am Boden und atmete flach. Sein Schreien war längst zum Wimmern geworden. „Aufhören, aufhören“, keuchte er und schleuderte seinen Kopf von einer Seite auf die Andere.
Als Ron sich am anderen Ende der Leitung meldete, erkannte Bill mit Entsetzen ein blutiges Rinnsal, das sich seinen Weg durch Jims Finger bahnte, während er seine Ohren zuhielt.

*** *** ***

Er konnte es nicht abwehren, nicht aufhalten oder unterdrücken. Ein stechender Schmerz hinter seinen Augen hämmerte unentwegt Bilder in seinen Kopf. Bilder die schlagartig zwischen Licht und Schatten auftauchten und keinen Sinn erkennen ließen. Es war, als würde ein gesamtes Menschenleben vor seinen Augen zerspringen und die Splitter, die es hinterließ, schnitten sich messerscharf durch seinen Verstand.
Jim fühlte die Schmerzen und die Hoffnungslosigkeit eines Anderen. Menschliche Schreie vermischten sich mit Musik aus einem Leierkasten. Aber ihre Gesichter blieben unsichtbar. Sie verschwanden hinter einer Wand aus zu Boden sinkenden Blütenblättern. Für Sekundenbruchteile erkannte Jim zwischen den Fetzen die gekrümmte Gestalt eines Mannes. Unzählige Tränen, die er über einen leblosen Körper vergoss, schmeckten salzig auf den eigenen Lippen. Jims Herz war kaum noch in der Lage, sein Blut durch die vorgesehen Bahnen zu pumpen. Es schlug immer gehetzter. Er hörte den Schrei dieses Mannes im Sekundentakt und versuchte, sein Gesicht zu erkennen oder ihn zu berühren, denn da war etwas, dass sie verband. Auch er kannte diesen Schmerz und ihm wurde klar, dass er nicht von klaffenden Wunden herrührte. Doch das Schlimmste war dieses Pfeifen in seinem Kopf. Es wurde mit jeder Sekunde lauter, es klang wie eine Drohung. Verzweifelt presste Jim seine Hände auf die Ohren um den marternden Gesang abzuwehren. „Aufhören, aufhören“ schrie er keuchend.

Nach einer Weile wich das Pfeifen einem anderen Ton.

„JIM! …. Jimmy?“ Die vertraute Stimme seines Bruders kämpfte sich durch ein Knäuel von Schmerz und Angst. „Verdammt Jim – Komm zu dir!“

Jim begann, sich der Vision zu widersetzen. Stöhnend drängte er Bilder und Blitze beiseite, sein Bewusstsein strebte der vertrauten Stimme hinter dem Nebel entgegen. Als er es schaffte, die bleischweren Lider zu heben, sahen ihn angstgeweitete Augen an.

„Um Himmelswillen, Jimmy – was ist denn nur los mit dir?“ Ron hockte am Boden. Er zog Jim am Kragen seines Hemdes herauf und rüttelte ihn. Die Waffentasche lag am Boden, inmitten ihres schaurigen Inhaltes, der sich im gesamten Zimmer verteilt hatte.
Hastig tätschelte Ron Jims Wangen. Sein Kopf wankte und die ständig zufallenden Augen verrieten, dass Jims Bewusstsein erneut ins Nichts abdrifteten wollte.

„Jimmy … hörst du mich?“ Auf Rons Stirn bildete sich eine Sorgenfalte, als er die klebrigen Rinnsale an Jims Hals bemerkte. Die letzten Tage hatten seinem Bruder viel abverlangt – zu viel! Ron wusste, dass Jim in den vergangen Tagen härter gekämpft und schlimmer gelitten hatte, als er es in seinem Stolz je zugeben würde.
Eine Hand stützend in den Rücken des Bruders gelegt, musterte er das blasse Gesicht und ihm wurde klar, dass er in diesem Augenblick das Wertvollste festhielt, das er besaß. Er hatte es verloren geglaubt und durch den gemeinsamen Auftrag, geboren aus einem gemeinsamen Schicksal, wieder gefunden: seinen Bruder. Blankes Entsetzten ergriff das Herz des Älteren und die sichere Gewissheit, dass Jim am Ende seiner psychischen und physischen Belastungsfähigkeit angekommen war, lähmte es. Eine einzige, alles beherrschende Frage schnitt sich Angst einflößend durch seine Gedanken: Würde seine Kraft für Beide reichen?

Jim versuchte zu sprechen – aber seine Zunge fühlte sich an wie ein fusseliger Tennisball. Nur ein trockenes Krächzen entwich seiner Kehle. Halt suchend glitt sein Körper dem Bruder entgegen. Als sich Jims dröhnender Kopf auf Rons Schulter legte, spürte dieser, wie der rasende Herzschlag den eigenen mitriss.

„Ich bin bei dir.“ Flüsterte Ron und hielt Jim fest, obwohl ihm selber der Boden unter den Füßen entglitt. Seine grenzenlose Angst, er könnte den Kampf um Jim verlieren, riss einen gähnenden Abgrund vor ihm auf. „Ich bin bei dir Jimmy … wir stehen das durch … egal was da nach dir greift … ich lasse nicht zu, dass es siegt!“

Bill war herangetreten. Er beobachtete die Brüder und sah Tränen der Verzweiflung. Ron bot einem zitternden Körper Schutz, obwohl er selbst den Ereignissen schutzlos ausgeliefert war. Es schien, als sei die Zeit eingefroren.

Nach Minuten des Schweigens spürte Ron, wie sich Jims Herzschlag beruhigte und sein Zittern verschwand. Nur ein verkniffenes Stöhnen entwich noch seinen Lippen, als er den Kopf hob und in das Sonnenlicht blinzelte.

„Ron?“

„War das eine Vision?“, wollte Ron wissen. In Jims flackernden Pupillen spiegelte sich sein Gesicht. „Ron, es tut mir so leid!“ flüsterte Jim.

„Was?“ Rons Augen öffneten sich erstaunt.

„Zur Zeit bin ich dir nur ein Hindernis“ fuhr Jim fort und senkte den Blick.

„Was soll das denn jetzt heißen“, raunzte Ron.

Deprimiert erhob sich Jim und Ron konnte erkennen, wie schwer sein Körper schließlich auf den Stuhl sank.

Seufzend stand auch er auf, um Jim gegenüber am Tisch Platz zu nehmen. „Was war das, Jim?“ flüsterte er.

„Ich denke, eine Vision!“

„Erzähl keinen Quatsch! Seit wann blutest du aus den Ohren wenn du eine Vision hast?“ Er deutete auf die Blutspur am Hals.

Bill stand neben dem Tisch. Er hielt sich immer noch die Rippen und beobachtete die Brüder.

„Keine Ahnung, Ron“, schnaufte Jim. „Es war als wollte mich etwas daran hindern, diese Vision überhaupt zu haben.“ Ratlos sah er in Rons geweitete Augen. Dieser schüttelte nach einer Weile den Kopf und fragte. „Was hast du gesehen, Jimmy?“

Jim starrte auf den Tisch. „Das Gleiche, wie beim letzten Mal.“ Auch als er weitersprach, mied er den Blickkontakt. „Ich steige nicht dahinter, Ron! Da war dieses Pfeifen oder Kreischen.“ Er schluckte. „Es war fast so, als wollte mich dieser Ton von den Bildern fernhalten.“

Ron bemerkte, wie diese Tatsache Jim zu schaffen machte. Er wollte nicht tiefer bohren und ihn nicht mit weiteren Fragen quälen. „Jimmy – deine Visionen waren noch nie besonders einleuchtend. Wir werden es herausfinden – ich verspreche es dir.“ Tröstend legte er die Hand auf Jims Schulter. Dieser vergrub das Gesicht in den Handflächen und nickte.

„Geht es dir wieder besser? Brauchst du etwas gegen die Schmerzen, Jimmy?“, fragte Ron besorgt. Sein Blick wanderte auf die geschlossene Schublade des Nachtschränkchens. Jim sah in seine Handflächen. Blut hatte sich mit Tränen vermischt. Er schüttelte wortlos seinen Kopf.

*** *** ***

Ron überprüfte die Funktionstüchtigkeit der Schrotflinte und warf sie entschlossen in die Waffentasche.

„Hast du alles dabei?“ fragte Jim beiläufig, als er das Buch in seinen Händen zuschlug und sich erhob. Er sah den Älteren fordernd an. „Salz, Benzin dein Feuerzeug?“

„Was soll das, Jimmy!“ knurrte Ron, „Ich bin kein Anfänger!“

Wieder kratzte Jim an seiner Wunde und stöhnte leise. Dieses Jucken trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er musste sich dringend ablenken.

Ron warf sich seine Jacke über und ergriff den Zündschlüssel. „Na, dann will ich mal.“ Entschlossen schulterte er die Tasche und eilte zur Tür. Kurz blieb er stehen. „Und du bist sicher, dass es der alte Friedhof am Stadtpark ist?“ Fragend sah er noch einmal zu Jim.

„Todsicher! Bill hat meine Recherchen noch einmal überprüft“, antwortete Jim nickend. „Das Grab liegt an der Ost Mauer.“

Ron lächelte zuversichtlich. „Okay, dann will ich der Lady mal einen Besuch abstatten“, murmelte er und griff nach der Türklinke. Jim nahm seine Jacke und wollte ihm folgen.

„Was soll das werden?“ Ron drehte sich um. Seine Brauen schoben sich drohend zusammen.

„Na, ich komme mit, platzte es aus Jim heraus.

„Daraus wird nichts, Jimmy! Du bleibst hier. Ich möchte nicht, dass dir was zustößt – du bist noch nicht fit.“ Ron musterte Jim, der seine Hände in den Taschen der Jeans vergraben hatte. Er sah nach oben. Seine Schultern drückte er leicht nach hinten. Dadurch wirkte er hünenhaft.
Ron war gleichermaßen erfreut wie überrascht, dass Jim sich so schnell von der Vision erholt hatte. Auch seine Wunden schienen ihm keine Beschwerden zu machen. Aber Ron wollte den Jüngeren nicht schon wieder einer Gefahr aussetzen. Er wusste nur zu gut, dass Jim ihm niemals etwas vorjammern würde – selbst wenn es ihm noch so schlecht ginge. In dieser Beziehung schlug Jims Starrköpfigkeit – ein sehr dominantes Erbe ihres Vaters, ungefiltert durch.

„Ich flambiere nur ein paar Knochen, Jim – das ist eine Routinearbeit. Ich packe das schon!“ bemerkte Ron und hob spöttisch eine Braue.

Jim holte Luft. „Ron ….!“ Da war er wieder, dieser Unterton in seiner Stimme. Ron lächelte. Irgendwie hatte er das vermisst.

„Verrate mir, Ron, wann eine sogenannte ROUTINEARBEIT bei uns einmal routinemäßig ablief“, trällerte Jim. Ron kratzte sich am Hinterkopf und öffnete den Mund, um zu antworten.

Mit erhobenen Augenbrauen sah ihn Jim an und sein Grinsen wurde breiter als er, wie erwartet, keine Antwort bekam.

Ron schnaufte überrumpelt. „Na gut – die Taschenlampe wirst du ja wohl halten können.“ Er zwinkerte Jim zu. Es blieb auch keine Zeit mehr, sich auf weitere Diskussionen einzulassen. In ein paar Stunden würde die aufgehende Sonne eine weitere Chance, diesen Mistkerl zu erledigen, vereiteln.

*** *** ***

Leichter Regen trommelte auf das Dach des Ford Mustang. Nachdem der Wagen an der Ostmauer des Parkfriedhofs zum Stillstand gekommen war, stiegen die Jäger aus und orientierten sich. Sie standen vor einer Kalksteinmauer und suchten nach einem geeigneten Überstieg.

„Wenigstens ist die nicht zu hoch“, stellte Ron erleichtert fest und ließ die Waffentasche zu Boden fallen.
„Naja – wir hätten ja auch den offiziellen Eingang nehmen können.“ Missbilligend schweiften Jims Blicke über die zerklüfteten Steine, an denen das Regenwasser herunter lief.

„Bist du verrückt?“, erwiderte Ron. „Ich schleppe doch dieses ganze Zeug nicht wer weiß wie weit durch den Park.“ Mit einem Satz hatte er sich auf die Mauer geschwungen. Seine Füße suchten strampelnd Halt zwischen rieselnden Steinchen und Moos. Oben angekommen wanderte sein Blick über ein weiträumiges Gelände, das sich hinter der Mauer auftat.

„Schmeiß mal das Zeug rauf“, flüsterte er und streckte Jim seine Hände entgegen. Nachdem das Werkzeug auf der anderen Seite zu Boden gefallen war, half Ron Jim über die Mauer. Lautlos landeten die Jäger im hochgewachsenen Gras. Zwei dünne Lichtstrahlen zerschnitten die Dunkelheit und flogen über verwitterte Grabsteine, die sich zwischen hohen Brennnesseln versteckten.

„Sie wird keinen Grabstein haben“, flüsterte Jim. In gebückter Haltung folgten die Jäger dem Licht ihrer Taschenlampen und kämpften sich durch widerspenstiges Gebüsch, das ihnen vom Rand der Mauer aus ins Gesicht schlug.

„Hier müsste es sein“, murmelte Jim.

„Woher willst du das denn wissen?“, zischte Ron.

„Im Zeitungsarchiv stand, dass man die Gräber vor etwa einem Jahr umgebettet hatte, als der Teich angelegt wurde.“ Jim zeigte auf eine Lichtung seitlich von ihnen. Das Mondlicht spiegelte sich auf der Oberfläche eines kleinen, von alten Eichen umringten Gewässers.

Nach einigen erfolglosen Suchaktionen zwischen zerbrochenen Grabplatten und wuchernden Brennnesseln, traf Jims Fuß auf einen weiteren Schutthaufen. Knirschend schob seine Schuhsole Schmutz und Moos von der zersprungen Platte.

„Elsa Schmiedel“, bestätigend nickte Ron, als der Lichtstrahl den Namen erleuchtete. „Also gut – mein Herzchen. Dann wollen wir mal.“ Mit einem tiefen Seufzer stellte er die Tasche ab und ergriff einen Spaten, den Jim ihm reichte. „Sag mal Jimmy – wieso hat man diese alten Gräber nicht einfach platt gemacht, als hier gebaut wurde? Um die kümmert sich doch sowieso keiner mehr.“

Ratlos hob der Jüngere seine Schultern. „Keine Ahnung Ron. Vielleicht ist es so eine Art kulturelles Erbe. Immerhin waren das ja die ersten Einwohner dieser Stadt.“

„Mhhhh ….“, Rons Brummen war nicht überzeugend, als er den Spaten ansetzte. Knirschend spaltete die Schneide den feuchten Boden und brach erste Schollen aus dem Erdreich.

*** *** ***

Jim kauerte am Rand einer Grube, die in den vergangen zwei Stunden entstanden war und beobachte Ron. „Wenigstens ist der Boden nicht so hart“, rief er, durch die Tatsache, dass er mit seiner Verletzung nicht helfen konnte, verlegen in die Tiefe.

„So? – Na, dann kannst du ja mal eine Weile buddeln.“ Prustend und schnaufend erschien Rons Kopf an der oberen Kannte der Ausgrabung. Er wischte sich über sein mit Dreck verschmiertes Gesicht. Regen und Schweiß hatte sein Shirt durchnässt. Es klebte auf seinem Körper wie eine zweite Haut. An seiner Jeans hatte sich Schlamm bis über die Knie hochgearbeitet. Bei jedem Schritt schmatzte aufgeweichtes Erdreich unter Rons Füßen.
Mit schmerzenden Fingern griff er wieder nach dem rauen Holzstiel und stieß den Spaten in den Boden. Wasser und Schweiß lief in Strömen über sein Gesicht als er sich bückte. Beim nächsten Tritt traf der Spaten knirschend auf Widerstand.

„Na endlich!“, keuchte Ron. Erleichterte legte er den Spaten weg und schob mit den Füßen das übrige Erdreich weg.

Der Lichtstrahl aus Jims Taschenlampe irrte durch das Grab, über eine Holzkiste.

„Sieht ziemlich neu aus“, stellte Jim erstaunt fest. Er hatte sich nach vorn gebeugt und sein tröpfelnder Fransenkopf schob sich neugierig über den Grubenrand.

„Dann hat man sie wohl neu verpackt“, entgegnete Ron japsend. „Jim! Vielleicht ist sie deshalb verärgert“, fügte er hinzu. Mit einem kräftigen Tritt zertrümmerte er das Holz und ein Gewirr aus braunen, spröden Knochen wurde sichtbar. Ron räusperte sich in die Faust bevor er rau feststellte: „Die Knochen jedenfalls – sind uralt.“

Zufrieden mit dem Fund gab er Jim ein Zeichen. Hastig reichte dieser seinem Bruder Salz und Benzin hinunter. Wie schon so oft, begoss der Ältere damit die Überreste. Er drehte sich um und versuchte, an der rutschigen Wand nach oben zu gelangen. Jim packte seinen Bruder entschlossen am Arm und zerrte ihn mehr oder weniger unsanft aus dem Loch.
Die zaghaften Flammen fanden im Benzin schon nach kürzester Zeit genügend Nahrung und erleuchteten die gesamte Umgebung. Silhouetten alter Eichen gesellten sich zu den Silhouetten der Brüder und wurden als Schatten gegen die Friedhofsmauer geworfen.
Ein Schatten aber bewegte sich nicht im Rhythmus der Flammen, sondern baute sich lautlos im Rücken der Jäger zu gewaltiger Größe auf. Zuerst sehr undefinierbar und verschwommen, zeichnete sich ein Körper mit breiten Schultern und Furcht einflößenden, kräftigen Armen ab. Ganz langsam erhob sich ein mächtiger Kopf. Gelbe Augen, mit senkrechten Schlitzen als Pupillen blitzen auf und nur Sekunden später rieselten die Regentropfen nicht mehr durch einen Schatten hindurch, sondern trafen auf Widerstand. In glitzernden Bächen glitten sie nun durch schwarzes dichtes Fell, das die muskulösen Konturen eines festen Körpers bedeckte.


*** Herzflimmern ***



Die Jäger standen Seite an Seite am Rand der Grube. Ihre Gedanken verloren sich in knisternden Flammen, die einen lebhaften Tanz aus roten und gelben Lichtern auf ihre Gesichter zeichneten. Als Jim tief einatmete, füllte sich seine Lunge mit warmer Luft, die aus dem Inneren der Grube aufstieg. „Meinst du es ist vorbei?“ Seine Stimme war so leise, dass sie vom Zischen der Regentropfen im brennenden Grab fast übertönt wurde. Ron hob seine Schultern: „Das will ich doch hoffen“, antwortete er kurz. Wie immer war er der Faszination des Feuers erlegen und vermochte es nicht wegzusehen.

Jim seufzte. Seine Augen schweiften ebenfalls in die flammenden Säulen. Sie schlugen meterhoch aus dem Grab und verwandelten Atemluft in Hitze.

„Warum fragst du“, wollte Ron wissen.

Jim zuckte zusammen. „Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache“, flüsterte er und sah seufzend in die Ferne. Nicht eine einzige Welle kräuselte sich auf der Oberfläche des Sees, die das Spiegelbild eines sichelförmigen Mondes erschuf.

Ein bedrohliches Fauchen im Rücken der Brüder bereitete der Stille ein jähes Ende. Instinkt und antrainierten Reflexen folgend, sprangen sie mit einem gewaltigen Satz auseinander, um die nächstmögliche Deckung, die sich ihnen bot, zu nutzen.

Mit einem dumpfen Aufprall landete Ron im Gras. Er rollte sich über seine Schulter ab. Dann begann sich auch schon die Umgebung um ihn herum zu wickeln. Zweige und Halme schlugen ihm ins Gesicht. Moos zwängte sich durch seine Lippen, als er auf dem Bauch liegend, durch die regennasse Wiese abwärts rutschte. Grashalme zerschnitten seine Finger beim Versuch sie zu ergreifen. Hindernisse rissen ihn auf den Rücken, um ihn im nächsten Augenblick wieder auf den Bauch zu werfen. Ron wusste nicht mehr was oben und was unten war. Er spürte kalte Nässe auf seiner Haut und die rasanten Drehbewegungen seines Körpers raubten ihm jede Orientierung. Schützend schlang er seine Arme um den Kopf.
Plötzlich verschwand der Erdboden unter seinem Körper und nur einen Moment später ließ ein heftiger Schlag gegen seine Stirn Sterne vor seinen Augen explodieren. Die Wucht des Aufpralls warf ihn auf den Rücken. Stöhnend versuchte er sich zu erheben und betastete seinen Kopf. Unter seinen Fingern spürte er Blut, noch bevor er den salzigen Geschmack im Mund wahrnahm. Schlammiges Erdreich gluckerte an seinen Ohren. Ron war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Benebelt irrten seine Augen über den Nachthimmel und langsam löste sich die Umgebung auf.

*

Jim war in die entgegengesetzte Richtung ausgewichen. Er fand Schutz hinter einem alten Grabstein. Seine heftige Atmung unterdrückend, presste er den Rücken gegen die verwitterte Oberfläche und lauschte. Das Erste, was er vernahm, war sein rasendes Herz. Was war passiert? Sie hatten niemanden kommen hören. Jim wagte es nicht, sich zu bewegen. Angespannt versuchte er dieses gurgelnde Fauchen in seiner Nähe zu lokalisieren.

Das Wesen schien sich nicht von der Stelle zu rühren, denn es folgten nicht wie erwartet, schwere Schritte im Gras oder das Knacken zerbrechender Zweige. Stattdessen wurde die Luft von einem sonderbaren Klopfen und Kratzen erfüllt. Jim zog seine Beine an und stellte erleichtert fest, dass er sich nicht verletzt hatte. Er presste die Lippen aufeinander. Seine Augen streiften vorbei an der spröden Kante des Grabsteines mitten hinein in die wuchernde Wildnis. Im Schein des Feuers erkannte er eine riesige Gestalt. Sie musste sich angeschlichen haben. Aber wie? Hinter ihnen befand sich die Mauer. Jims Augen verengten sich zu Schlitzen, um das Geschöpf besser fixieren zu können. Er glaubte nicht was er sah und betrachtete zweifelnd den sichelförmigen Mond. Hin und wieder erstrahlte sein Licht zwischen vorbeiziehenden Wolken. Erneut musterte er die Kreatur. Mittlerweile hatte sie ihn bemerkt und bewegte langsam ihren Schädel in seine Richtung. Ein paar gelbe Augen blitzten auf. Erschrocken wich Jim wieder hinter den Stein zurück. In seinem Kopf kämpften Wahrnehmungen gegen Verstand. Das konnte doch nicht sein. Die Hände zu Fäusten geballt, dachte über den nächsten Schritt nach. Was dort an der Friedhofsmauer stand, war eindeutig ein Werwolf. Es war mit Abstand der größte Werwolf den Jim jemals erblickt hatte. Und… er war atemberaubend!

*

Kälte hatte seine Gelenke erstarren lassen, als Ron wieder Regentropfen in seinem Gesicht spürte. Ächzend bewegte er die Beine und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er sah direkt in den Nachthimmel. Erdreich knirschte zwischen seinen Zähnen. Moosiger Geschmack vermischte sich auf seiner Zungen mit salzigem Blut.
Ron versuchte sich orientieren. Seine Augen erfassten steile Wände nackten Erdreiches. Sein Blick wanderte nach oben und die Erfahrung lehrte ihm, dass es ohne Hilfe unmöglich sein würde, diesem Gefängnis zu entkommen.
Die obere Kante der Grube befand sich in drei Metern Höhe. „Jim“, flüsterte Ron heiser. Wo war nur sein Bruder? „Verdammt“, fluchte er und begann sich im Kreis zu drehen - in der Hoffnung eine Wurzel oder einen Stein zu entdecken an dem er sich hinaufziehen könnte.
„Jim? – Verdammt wo bist du?“
Irgendetwas hatte sie angriffen und dieses Etwas könnte noch in der Nähe sein. Plötzlich schoss ihm ein Stich durch die Brust. Hatte dieses Ding Jimmy erwischt? Sein Bruder war noch nicht wieder fit genug. Im Kampf mit einem solchen Gegner wäre er chancenlos. „Jim?“ Rons Stimme wurde energischer. Egal – wenn dieses Ding ihn hören sollte war es wenigstens abgelenkt – abgelenkt von Jim …

*

Zwei Mal holte Jim Luft, dann schaute er abermals in Richtung Werwolf. Bewegungslos stand das gigantische Tier immer noch an derselben Stelle. Seine funkelnden Augen hatte es direkt auf ihn gerichtet. Jims Finger umklammerten die rissigen Kanten des Grabsteines, als er sich langsam erhob. Er war sorgfältig darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen und ließ den Werwolf nicht aus den Augen.

Leises Grollen entwich dem, mit einer Batterie von messerscharfen Zähnen bewaffneten Rachen des Wolfes. Er legte die Ohren an und richtete sich auf. Dann neigte er seinen Kopf, die Augen starr auf den jungen Jäger gerichtet. Jim war sich sicher, dass er längst entdeckt worden war. Doch warum wurde er nicht angegriffen? Vorsichtig bewegte sich Jim auf das gut zweieinhalb Meter hohe Geschöpft zu. Seine Angst wich Faszination. Das schwarze Fell des Tieres schimmerte im Licht der Flammen. Sein mächtiger Brustkorb erhob sich mit jedem Atemzug und ausgeprägte Muskeln warfen unterschiedliche Schatten auf seinen Körper.

Ein Summen in Jims Ohren ließ seinen Herzschlag langsamer, seine Atmung ruhiger und seine Schritte sicherer werden. Entgegen jeder Vernunft bewegte er sich weiter, den Blick gebannt auf den Werwolf gerichtete. Das Tier verfolgte seinerseits jeden Schritt des Jägers und neigte hin und wieder den Kopf. Die Lefzen an seinem Oberkiefer kräuselten sich und entblößten dolchartige Reißzähne. Mehrere Fäden durchsichtigen Geifers tropften aus seinem Maul. Plötzlich erhob der Werwolf seine linke Pranke und streckte sie Jim entgegen.

Dieser hatte sich dem riesenhaften Geschöpf bis auf zwei Meter genähert und beobachtete interessiert jede seiner Aktionen. Ein warmes Kribbeln, beginnend in seiner Narbe, durchflutete Jims Körper. Mit einem unwiderstehlich euphorischen Gefühl betäubte es seine Sinne. Jim versank im verlockenden Gelb der Augen seines Gegenübers. Er legte seine Hand auf die Narbe. Sein Brustkorb wurde durch die heftig pumpende Lunge auf und ab getrieben.

Der Werwolf sah zu Boden und brummte leise. Jims Blick folgte ihm. Er erkannte zwischen eingeknickten Grashalmen eine weiße kristalline Substanz, die das Geschöpf einschloss. Jim versuchte sich zu konzentrieren aber der Boden unter seinen Füßen wankte und Doppelbilder kreisten vor seinen Augen. Benebelt wandte er sich wieder dem Tier zu. Wie in einem Traum erschien Jim die Situation und er verstand dieses Rauschen in seinen Ohren. Es war das pulsierende Blut des Werwolfes, das angetrieben vom Herz durch seine Adern strömte. Jim konnte dieses Herz schlagen hören. Es synchronisierte sich allmählich mit seinem eigenen Herzschlag und ließ ihn vor Erregung zittern. Jim spürte den unwiderstehlichen Drang, diesen Wolf, dessen Lunge nach jedem Atemzug kondensierte Luft nach außen stieß, zu berühren. Er wagte sich noch einen Schritt näher. Seine Hand strebte langsam auf die klauenbewaffnete Pranke zu, die sich ihm einladend entgegenstreckte.

„Jim?“ Wie durch einen Nebel hörte er seinen Namen. Verwirrt kniff Jim die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

„Verdammt! Jim wo steckst du?“, schrie eine vor Panik verzerrte Stimme, die sich quälend in sein Bewusstsein drängte. Sie entfachte eisige Kälte auf seiner Haut. Der verlockende Herzschlag in seinem Kopf geriet außer Rhythmus und wurde zur Warnung.

„Ron?“ Zaghaft antworte der Jüngere, als das berauschende Gefühl verschwand. Er presste seine Hände auf die Ohren, um sich aus dieser unheimlichen Umarmung zu befreien. „Ron!“

Es folgte das heisere Gebrüll des Werwolfes, der den Schädel in den Nacken riss und mit seinem höllischen Gesang Jim erstarren ließ. Messerscharfe Zähne blitzen auf. Gelähmt vor Angst spürte Jim den nach Verwesung riechenden Atem der Bestie auf seinem Gesicht und sah aus dem Augenwinkel die mörderische Pranke zum Schlag ausholen. Er wusste, dass dieser Hieb seinen Schädel zertrümmern würde.

*

„Jim?“ Ron schrie nach seinem Bruder. Wie ein gefangenes Tier drehte er sich im Kreis und suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit diese Wand zu erklimmen. „Jim! Verdammt, wo steckst du!“ Wieder lauschte der Ältere. Angst ließ ihm kaum noch Platz zum Atmen. Seine Finger vergruben sich im rutschigen Lehm. Kleine Steinchen rissen sich unter seine Fingernägel, als sie verzweifelt durch den Lehm pflügten.

Plötzlich hörte Ron Jim aus einiger Entfernung rufen. Erleichtert antwortete er sofort. Noch einmal wurde er gerufen und ihm entging nicht die grenzenlose Panik die jetzt in der Stimme mitschwang. Dämonisches Wolfsgeheul, gefolgt von entsetzlichem Knirschen zerschnitt die Luft und die darauffolgende Stille war vernichtend. Ron stand zu Stein erstarrt in seinem Grab und betrachtete mit aufgerissenen Augen den Nachthimmel. Ein sichelförmiger Mond strahlte ihm spöttisch ins Gesicht.

*** *** ***

Gelähmt stand Jim im Schatten einer Bestie, die mit erhobenem Kopf die Nacht anheulte. Dann neigte sie ihren Schädel und wutentbrannte Augen erfassten ihn. Der riesige Körper zeichnete sich scharf gegen das Mondlicht ab, als sich eine klauenbewaffnete Pranke zum Schlag erhob. Wie ein unheilvoller Schatten sah Jim diese tödliche Waffe auf sich zurasen. Es war zu spät um auszuweichen. Unzählige Erinnerungen schossen durch seinen Kopf. „Es tut mir so leid Ron …“, flüsterte er, bevor der Luftzug sein Gesicht erreichte. Dann folgte ein sprödes Knirschen. Das Letzte was Jim wahrnahm, war flimmernde Luft, als zuckende Blitze die Welt vor seinen Augen zerrissen.

*

Das kann nicht sein … NEIN …. Das kann nicht sein. Während Ron immer noch den Mond anstarrte, erfüllte dieses furchtbare Knirschen die Luft. Er hatte es schon einmal gehört, als Amelia in Jims Armen starb. Sein Verstand weigerte sich, die furchtbare Vermutung zu akzeptieren. Ron spürte nicht mehr, wie sein Körper zu zittern begann. Erst als seine Knie im glucksenden Erdreich versanken, wurde ihm bewusst, dass er außer Stande war, das eigene Gewicht zu tragen.

„Das ist unmöglich – Das ist unmöglich!“, schrie es in ihm. Der Regen hatte aufgehört, aber sein Gesicht war nass. Unzählige Tränen hinterließen salzige Rinnsale auf seinen Wangen. Er hätte Jim nicht mitnehmen dürfen. Wie konnte er nur so verantwortungslos sein. Jim war sein kleiner Bruder! Es war seine Pflicht ihn zu beschützen. Es war sein verdammter Job! Und was tat er? - Er hatte ihn direkt in die Klauen des Todes gestoßen! Ron sank nach vorn, seine Hände versuchten, im schlammigen Boden den schwer gewordenen Körper zu stützen. Er verschloss die Augen – wollte nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen und wünschte sich, dieser Werwolf hätte sein Leben genommen. Der Tod war leichter zu ertragen, als die gähnende Leere, die der Verlust seines Bruders hinterließ. Er glaubte immer noch, Jims Stimme zu hören und erinnerte sich an ihren nervigen Unterton, dem er nie widerstand, wenn Jim wieder einmal seinen Namen flötete: „RON?“

Dieser Klang war so real und doch für immer verstummt.

„RON! He Ron! – Alter! - Alles okay?“

Aufgeregt purzelten diese Worte hinab in die Grube. Sie verpassten Ron einen Adrenalinstoß, der ihn augenblicklich auf die Beine katapultierte. Mit aufgerissenen Augen starrte er nach oben und sah gegen den Nachthimmel die Silhouette seines Bruders, der sich über den Rand der Grube gebeugt hatte. Tropfnasse Haarfransen baumelten ihm entgegen. Schon klebte das Licht der Taschenlampe mitten in seinem Gesicht. Stöhnend kniff der Ältere die Augen zusammen und schob die Hand vor seine Augen.

„Sag mal, was machst du denn da unten? Kannst du nicht antworten, wenn ich nach dir rufe?“ Jims Augenbrauen schoben sich vorwurfsvoll in die Höhe.

Ron holte tief Luft … „JIMMY…?“ Die Last, die von ihm wich, löste eine Reihe von Stichen hinter seinen Schläfen aus und gab ihm gleichzeitig das Gefühl, zu schweben. Bevor ihn der wacklige Lichtstrahl ein zweites Mal traf, wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Das war doch Unmöglich! Stumm und ungläubig blickte er nach oben.

„Mann, Alter, du siehst aber Scheiße aus!“ Jims besorgte Bemerkung traf wie Balsam auf Rons Seele. „Ich werde dich jetzt da rausholen. Warte eine Sekunde. Ich hole ein Seil“, sagte Jim und war im nächsten Augenblick verschwunden.

„Beeil dich“, schallte Rons Stimme aus der Tiefe.

*** *** ***

Wenige Minuten später stand Ron am oberen Rand der Grube und sah fassungslos in Jims Augen.

Dieser musterte die mit Kieselsteinen und Dreck verklebte Platzwunde an seiner Stirn. Das Adrenalin in Rons Adern schien ihn jeder Schmerzempfindung beraubt zu haben. „Da hast du aber einen ziemlichen Schlag abbekommen“, flüsterte er besorgt.

„Was zum Teufel war denn hier los“, fragte Ron heiser. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

„Es ist alles okay - Ron! Es geht mir gut“, versuchte Jim seinen Bruder zu beruhigen.

„Ich habe dich schreien hören und dann …“, Ron schluckte, sein Blick irrte suchend über den Erdboden. „Da war dieses Knirschen – wie bei den Opfern!“ Ron packte ihn. Aber Jim hob nur die Schultern. „Da war ein Werwolf“, hauchte er. Sein Blick richtete sich zu Himmel, als er seufzte.

„Ich weiß Jimmy – aber wie kann das sein? Der Zyklus stimmt nicht.“ Rons Stirn zog sich zusammen. „Jim! … Wie konntest du entkommen?“

Der Jüngere schloss kurz die Augen. Seine Hand schürfte über den rechten Brustmuskel. „Ich habe keine Ahnung Ron“, sagte er leise. „Ich glaube … er ist explodiert!“

Verblüfft zog Ron seinen Kopf nach hinten. „Explodiert …“, wiederholte er und sah Jim zweifelnd an. Dann wanderte sein Blick auf Jims Hand, die immer noch nervös über seine rechte Brust fuhr. Ron griff nach der Taschenlampe, die der Jüngere hielt.

Das schmale Licht eilte über Jims Körper. Er schien unverletzt. Beherzt schob Ron die Hand seines Bruders zur Seite. Es zeigte sich eine angesengte Stelle im Hemd – direkt über seiner Wunde formten braune, von Hitze zermürbte Stofffasern, eine Kontur. Selbst ein Mensch mit wenig Fantasie konnte erkennen, was sie abbildete. Die schwarzbraunen Umrisse, die sich in die Fasern eingebrannt hatten, zeichneten den Abdruck einer riesigen Pranke. Ron musterte das schaurige Tattoo: „Darüber sollten wir noch reden…Jimmy!“

Jims Blick war mittlerweile dem Weg des Lichtes gefolgt und blieb nun seinerseits auf dem Abdruck liegen. Erstaunt strich er mehrere Mal über die Stelle als wollte er den Umriss verwischen.

„JIM!“ Ron holte tief Luft, dann sah er seinem Bruder beschwörend an. „Was hat sich hier wirklich abgespielt?“

Der Jüngere ließ seinen Blick gequält durch den alten Friedhof schweifen. „Ich erinnere mich nicht …! Ich muss ohnmächtig geworden sein“, seufzte er. Es folgten Minuten peinlicher Stille. Plötzlich riss Jim den Kopf in die Höhe. „Komm Ron, ich muss dir was zeigen!“ Unvermittelt packte er ihn an der Schulter und zog ihn wie einen alten Trolli hinter sich her, in Richtung Friedhofsmauer.

*** *** ***

Ron und Jim eilten keuchend den Abhang nach oben. Die aufsteigende Sonne färbte den Horizont bereits rot und Vögel in den alten Eichen des Parks begrüßten den anbrechenden Tag mit ihrem Gesang. Doch Ron hatte nicht viel Sinn für das Konzert oder das Farbenspiel am Himmel übrig. Er kämpfte, vor sich hin fluchend, gegen Erschöpfung und Schmerzen. Stöhnend und stolpernd folgte er dem Jüngeren.

Jims Finger hatten sich in das Shirt seines Bruders gekrallt und zerrten ihn bergauf, bis sie am ausgehobenen Grab standen. Das Feuer war erloschen. Kleine Rauchschwaden stiegen vereinzelt aus der grauen Asche und waberten aus der Grube. Sie wurden vom Luftzug über dem Boden fortgerissen. Zwischen niedergetretenem Gras lagen, um die Waffentasche verstreut, die Utensilien der Jäger.

„Sieh dir das an“, flüsterte Jim. Er zeigte auf eine etwa zwei Meter große, kreisrunde Stelle direkt vor der Mauer. Im Inneren des Kreises waren die Grashalme bis auf den Boden abgesengt. Selbst die über die Begrenzung wuchernden Pflanzen waren der Hitze im Kreisinneren zum Opfer gefallen. Außer Staub und punktgenau abgebrannten Zweigen war nichts zu erkennen. Das Interessante jedoch war die Abgrenzung dieses Kreises. Eine sich auflösende, aber immer noch gut sichtbare weiße Substanz zeichnete sich am Rand ab. Ron sank auf seine Knie und betrachtete argwöhnisch das kristalline Material. Dann nahm er einige Körnchen zwischen die Finger und versuchte sie zu zerdrücken. Mit erstauntem Blick wandte er sich an Jim: „Das ist Steinsalz!“

Jim nickte und hob ratsuchend seine Hände. „Sieh mich nicht so an. Ich habe keine Ahnung wie das dahin gekommen ist.“ Seine Stimme vibrierte. Dann holte er tief Luft. „Ich glaube, der Werwolf war darin gefangen.“

Ron schüttelte den Kopf. „Was ist das hier für ein verdammter Mist, Jimmy?“ Er hatte die Kristalle zurück geworfen und erhob sich ächzend. „Irgendetwas läuft hier gewaltig aus dem Ruder.“

Jim fiel das Zittern seines Bruders auf. Jetzt, wo seine Anspannung langsam nachließ, begann das patschnasse Shirt seinen Körper auszukühlen. „Wir sollten hier verschwinden“, meinte Jim und suchte das Werkzeug zusammen. Er ergriff nebenbei die Lederjacke seines Bruders, die sich darunter gemischt hatte und reichte sie ihm. Dann schulterte er die Tasche und sah Ron fragend an. „Alles okay?“

Ron nickte müde.

Der Rückweg über die Mauer fiel Ron ungleich schwerer als der Hinweg. Seine steifen Finger rutschten immer wieder von der Wand. Seine Beine baumelten beim Versuch ihn in die Höhe zu stemmen kraftlos an der Mauer. Ron stöhnte unter hämmernden Schlägen in seinem Kopf.

Jim ließ die Tasche auf der anderen Seite der Mauer zu Boden fallen und zerrte Ron schließlich über das Hindernis.

Wortlos stiegen sie in den nachtschwarzen Ford Mustang und Ron protestierte nicht einmal, als sich Jim ganz selbstverständlich ans Steuer setzte. Der Wagen erwachte mit einem satten Grollen zum Leben und rollte über den unbefestigten Randstreifen auf die Straße.

Jim konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Hin und wieder trafen seine besorgten Blicke auf den Älteren, der wortlos neben ihm saß. Jim schluckte. Seine Finger umgriffen härter das Lenkrad als sein Fuß den Druck auf das Gaspedal erhöhte. Dieses vorwurfvolle Schweigen hatte ihm schon immer zu schaffen gemacht – aber heute empfand er die Stille als Folter. Er wollte etwas sagen. Doch Rons ablehnende Haltung ließ die Worte in seinem Hals ersticken.

Langsam rollte der Ford Mustang auf den Parkplatz vor dem Motel und kam in einer Lücke zwischen den staubigen Autos zum Stehen.

Jim wich Rons fragenden Augen aus, als sie sich der Zimmertür näherten. In seinem Kopf pulsierten Fragen und seltsame Gefühle. Jedes Mal, wenn er an diesen Werwolf dachte, spürte er wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er konnte sich nicht erklären, warum sich seine Empfindungen gegen seinen Verstand stellten. Jim wollte seinen Bruder nicht beunruhigen. Er erkannte, wie sehr Ron angeschlagen war und im Augenblick war es wichtiger, dass er versorgt wurde. Er durfte nicht erwarten, dass Ron auch noch seine Probleme löste. Es war nun seine Aufgabe, eine Lösung zu finden und die unheimlichen Omen, Stück für Stück, zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Eines war ihm jedoch bewusst geworden: Irgendetwas war in der Blockhütte geschehen, als er von diesem Geschöpf angegriffen wurde – das mit Sicherheit kein Werwolf war, wie die Mythologie ihn beschrieb.

*** *** ***

„Jetzt halt bitte still“, flüsterte Jim. Er hatte sich auf seinen Stuhl gesetzt und betastete vorsichtig die Platzwunde am Kopf des Älteren. Dieser saß ihm gegenüber und erduldete nur widerwillig die notwendige Visitation. Vorsichtig tupfe Jim den Schmutz mit einem alkoholgetränktem Wattebausch aus dem Riss. Dann legte er das blutige Utensil auf den Tisch, der ausgestattet mit Verbandszeug, Scheren und Nadeln an einen Operationstisch in einem Lazarett erinnerte.

Eine heiße Dusche hatte Rons vor Kälte knackende Gelenke aufgewärmt. Er saß Jim gegenüber und drückte sich gegen die Rücklehne des Stuhles. Jims Augen eilten über den Oberkörper seines Bruders und ein Seufzen gesellte sich zu den Fältchen auf seiner Stirn. Ron hatte mehr abbekommen, als es zu Anfang schien. Mehrere dunkle Flecken über seinen Rippen ließen Prellungen vermuten. Seine Fingerknöchel waren aufgerissen und die Fingerspitzen zerschunden. Krümelige Schürfwunden bedeckten seine Knie und Arme. Ron hatte Mühe, sich auf dem Stuhl gerade zu halten. Er presste seine Lippen zusammen und schloss die Augen. Aber so sehr er sich auch bemühte, die Schmerzen zu verbergen, dem geübten Blick des jüngeren Bruders entgingen die gequälten Signale seines Körpers nicht. Er konnte Jim nichts vormachen.

Ron zuckte zusammen, als Jim mit den Fingerspitzen über die Flecken strich. Er fixierte kritisch einen Bluterguss auf dem linken Rippenbogen. Vorsichtig erhöhte er den Druck, um festzustellen, ob da eine Rippe gebrochen war.

„JIM …“, entfuhr es dem Älteren heiser, als der Schmerz durch seinen Körper preschte.

„Schon gut – schon gut“, flüsterte Jim schuldbewusst. „Ich weiß, das tut weh.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „Es scheint nichts gebrochen zu sein.“

„Was für ein Glück“, ächzte Ron und stieß Luft durch die Nase. Seine Brust hob und senkte sich schnell. „Wann willst du mit mir darüber reden Jimmy?“ fragte er unvermittelt.

Jim sah an die Zimmerdecke. „Ron …“, seufzend begann er zu reden. „Jetzt werden wir erst einmal dich zusammenflicken und wenn es dir etwas besser geht, dann erzähle ich dir alles, woran ich mich erinnere. Versprochen!“

Erleichtert über das Friedensangebot entspannte sich Ron und nickte.

Ein Schatten huschte über Jims Gesicht als er flüsterte. „Die Platzwunde, ich muss sie nähen!“

„Verdammt“, fluchte Ron. Seine Hände schossen in die Höhe. Jim war schon im Begriff aufzustehen, als Ron durch die geöffneten Vorhänge auf den Parkplatz starrte. Die kraftvolle Sonne hatte alle Regentropfen auf den mit Straßenstaub gepuderten Wagendächern getrocknet. Zurück blieben kreisrunde Tupfer auf dem Lack, die Ron an Windpocken erinnerten.

Jim kam mit einem Glas aus der Kochnische. Er füllte es mit Alkohol. Danach suchte er im Verbandskasten nach einer geeigneten Nadel und legte das notwendige Arbeitsmaterial bereit. Sein Blick streifte immer wieder den Älteren, dessen Blicke irgendwo außerhalb des Zimmers verweilten. Jim drehte sich kurz weg und fädelte den störrischen Faden ein. Er machte das nicht zum ersten Mal – aber immer wieder jagte es ihm kalte Schauer über den Rücken.

Ron fixierte mit bleichem Gesicht den spitzen Gegenstand, der im Sonnenlicht reflektierte. Es hatten sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet. „Na dann“, schnaufte er und legte seine Hände auf die Oberschenkel. „Mach es kurz Jimmy. Ja?“

Jim ergriff mit seiner Linken die Schulter des Älteren und sah ihm in die Augen. „Okay – Bist du soweit“, fragte er leise und wartete auf eine Reaktion. Zur Bestätigung nickten sich die beiden zu. Die Fältchen auf Jims Stirn vertieften sich zur Falte. Als er die Nadel an die Wunde führte, rannen ihm kleine Schweißperlen von den Schläfen.

Ron stöhnte auf, als sich die Nadel durch seine Haut bohrte. Seine Finger krallten sich in die Jeans. Er hielt den Atem an. Verdammt! Warum mussten sich diese Dinger immer anfühlen wie zentimeterstarke Brecheisen, wenn sie einem durch die Haut glitten? Er keuchte. Seine Zähne pressten sich mit solcher Kraft aufeinander, dass die Kiefer knackten. Aber er konnte nicht vermeiden, dass sein Kopf langsam nach hinten glitt.

Jims Hand löste sich augenblicklich von Rons Schulter. Sie presste sich nun eisern gegen den Hinterkopf des Älteren. „Ich hab’s … ich hab’s… ich hab’s gleich“, schnaufte er. Jims Finger fingen an zu zittern. Während seine Augen konzentriert auf die Nadel gerichtet waren, ließ sein angespannter Armmuskel dem Älteren keine Chance mehr, seinen Kopf auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Mit einem Ruck durchstieß die Nadel auf der gegenüberliegenden Seite die Haut und zog den Zwirn hinterher.

Ron hielt den Atem an. Als Jim seinen Griff löste, atmete er heftig ein. Jim legte die Nadel auf den Tisch, verknotete die Fäden und klebte ein Pflaster auf die Wunde. Erleichtert flüsterte er: „Geschafft!“

„Das war die Retourkutsche was“, keuchte Ron mit schmerzverzerrtem Gesicht und versuchte seinen Bruder anzugrinsen.

„Ruh dich aus, Ron“, befahl Jim und nickte in Richtung Bett. „Ich werde jetzt duschen und dann sehen, ob ich was über dieses Ding herausfinden kann. Er erhob sich, nachdem er sein versengtes Hemd zu Boden geworfen hatte und zog sein Shirt über den Kopf.

„Es bleibt dabei“, rief Ron ihm zu, „nachher wirst du mir ein paar Erklärungen geben.“ Dann stand er auf und schleppte sich zum Bett. Seufzend ließ er sich in das Durcheinander von Kissen fallen. „Und keine Ausreden!“

Jim seufzte. Sorgfältig schloss er die Vorhänge an den Fenstern und verschwand im Bad. Minuten später vermischten sich gleichmäßige Atemgeräusche des Älteren mit dem Rauschen der Dusche hinter der Tür.

*** *** ***

Die Sonne hatte den Zenit überschritten. Unerträglich schwüle Hitze schien die kleine Stadt regelrecht zu lähmen und ein nachtschwarzer Horizont kündigte ein aufziehendes Gewitter an.

Bill und Ron hatten am kleinen Tisch vor den Fenstern Platz genommen. Sie sahen erwartungsvoll auf den Jüngsten, der auf seinem Bett saß. Jims Oberkörper war leicht nach vorn gebeugt. Sein Blick richtete sich auf den abgescheuerten Teppich. Nervös zuckten seine Mundwinkel.

Ron wartete geduldig. Nur seine Finger, die leise auf die Tischplatte trommelten, verrieten seine Anspannung. Der Schlaf hatte ihm gut getan. Außer den offensichtlichen Blessuren waren ihm die Anstrengungen der letzten Nacht kaum noch anzusehen.

Bill war immer wieder aufs Neue erstaunt, über welche enormen Selbstheilungskräfte die jungen Barker verfügten. Schon nach kürzester Zeit begannen ihre Körper die Spuren ihrer Kämpfe effizient zu verwischen. Vielleicht lag es daran, dass sie so jung waren? Der Alte seufzte leise. Möglicherweise hatten ihre Körper bei dem rasanten Lebensstil keine andere Chance zum Überleben … es schien fast, als hätten sie keine Zeit zum Bluten.

Jims tiefer Atemzug riss ihn aus seinen Gedanken …

„Nach dem fauchenden Geräusch bin ich zur Seite gesprungen und habe mich hinter einem Grabstein versteckt“, begann er mit seinen Ausführungen. Seine Finger schürften wieder auf der Wunde, während die Worte aus ihm heraussprudelten. „Dann spürte ich den Luftzug seiner Pranke auf meinem Gesicht und dachte, jetzt ist es vorbei.“ Jim schluckte. Er richtete sich auf. „Aber plötzlich zerrissen weiße Blitze das Tier direkt vor meinen Augen. Die Luft flimmerte. Es sah aus, wie eine Wand aus fließendem Wasser.“
Er sah in Rons Augen und fuhr fort. „Na ja – dann kam dieser brennende Schmerz auf meiner Brust und ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, lag ich direkt vor diesen seltsamen Kreis.“ Auf Jims Stirn zeigten sich kleine Grübelfältchen. „Dann habe ich nach Ron gesucht. Das war’s!“ Er klappte den Mund zu, als wollte er sich die Zunge abbeißen.

Der alte Jäger hatte seine Augen zu Schlitzen verengt und kraulte sich am Bart. Er sah Jim fragend an. „Dieses aufregende Gefühl? Hattest du es noch, als der Werwolf verschwand?“

Jim schüttelte den Kopf. Er fuhr sich verlegen mit der Hand durch sein Haar. „Nein, als ich Rons Stimme hörte, verschwand es. Ich bekam Angst und mir wurde schwindlig.“

Bill neigte seinen Kopf „Wie hat der Werwolf darauf reagiert“, wollte er wissen.

„Das schien ihn wütend zu machen“, antwortete Jim unsicher.

Ron war beunruhigt aufgesprungen. „Warte mal, Jimmy!“ Er holte tief Luft und suchte nach Worten. Seine Augen irrten aufgebracht über die Zimmerdecke. „Willst du damit etwa sagen: Während ich in dieser Scheißgrube vor Sorge, dass dich dieses Vieh zerreißt, bald wahnsinnig werde, du das dringende Bedürfnis hattest, mit ihm zu schmusen?!“ Seine Augen trafen auf Jims verdatterten Blick.

„Ron …“, beleidigt fuhr der Jüngere zurück und erhob sich.

Ron holte tief Luft. „Also, Jimmy“, begann er nun in einem ironischen Tonfall. „Ich glaube wir sollten dich zu einem Arzt fahren. Ich befürchte, beim Sturz von der Leiter haben sich mehr Schrauben in deinem Schädel gelockert als wir angenommen hatten.“ Spöttisch grinsend sah er Jim an. Dieser machte eine abweisende Handbewegung und starrte zähneknirschend an die Zimmerdecke.

Bill erhob sich auch. „Jungs, Jungs“, versuchte er zu beschwichtigen, „also so unlogisch erscheint mir das Ganze gar nicht.“

„Was meinst du damit, Bill“, fuhr Ron ihn an. „Meinst du damit die Tatsache, dass wir einem explodierenden Werwolf bei Halbmond begegnet sind?“ Kurz fixierte er Jim: „Oder erscheint es dir normal, dass mein Bruder plötzlich so auf Hundeschnauzen steht!“

Der Alte sah grinsend zu Boden. Als er den Kopf anhob wurde seine Stimme wieder ernst. „Was haben wir letzte Woche herausgefunden“, fragte er – den Blick auf Jim gerichtet. Dieser verzog den Mund und hob die Schultern.
„Jungs, euch müssen in der letzten Nacht die Gehirnzellen aufgeweicht sein“, schimpfte Bill. Er trat einige Schritte in die Mitte des Zimmers, um sein Notizbuch vom Nachtschränkchen zu holen und begann daraus vorzulesen. „Der Ursprung des Aufhockers liegt beim Wiederkehrer bzw. Nachzehrer – oder?“

Die Brüder nickten.

Bill richtete sich an Jim. „Was ist uns darüber bekannt?“ Fordernd hoben sich seine Augenbrauen.

Jim sah ihn an, als sei er dabei erwischt worden, die Hausaufgaben nicht erledigt zu haben. Schließlich atmete er ein, überlegte eine Sekunde und begann, wie aus der Pistole geschossen, zu zitieren: „Die Sagen und mündlichen Überlieferungen beschreiben den Nachzehrer wie folgt: Im Gegensatz zum Vampir, der sein Grab verlassen müsse, liege oder sitze der Nachzehrer unter der Erde und sauge den Lebenden – meistens seinen Hinterbliebenen oder den Bewohnern seines Dorfes – die Lebenskraft ab. Bei dieser Vorstellung ist zu berücksichtigen, dass auch die meisten traditionellen Berichte über Vampirattacken gar nicht vom Blutsaugen sprechen, sondern eher diffus vom Würgen oder Schwächen des Opfers. Der Nachzehrer vollbringe sein unheilvolles Werk, indem er durch den offenen Mund sein Opfer ruft oder durch das offene böse Auge eine telepathische Verbindung mit ihm aufnehme. Häufig kaue er an seinem Leichentuch oder sogar an seinen Armen herum, bis alles weggenagt sei. Solange er noch kaue, stürben die Menschen entweder an Auszehrung oder an einer Seuche. Wer durch das Wirken eines Nachzehrers starb, wurde allerdings nicht selber zum Untoten.“

Er sah auf Bill, der bewundernd lächelte. „Und – fällt euch was auf?“

„Moment mal“, fuhr Ron dazwischen. Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Meinst du, dieses Ding hat so was wie eine telepathische Verbindung zu Jim aufgebaut?“ Seine Augen hefteten sich fragend auf den Jüngeren, der nun seinerseits verwirrt auf den Alten sah.

„Die Frau ist über 400 Jahre tot“, zischte Jim. „Ich kann ihre Augen also nicht gesehen haben!“ Trotzig wandte er seinen Blick ab.

Bill schnaufte: „Junge, überleg doch mal.“ Er konnte genau spüren, wie unangenehm Jim das alles war. „Du hattest zweimal Kontakt mit diesem Aufhocker. Zuerst in Amelias Wohnung und später in der Blockhütte.“

Davon wollte Jim nichts wissen. Mit verschränkten Armen starrte er an die Decke und nuschelte: „Ron wurde auch angegriffen.“

Bill ging vorsichtig auf Jim zu und senkte die Stimme. „Aber du bist das Medium Jimmy.“ Seine Augen hefteten sich auf Jims rechte Brust, „und … dich hat er gezeichnet.“ Bill legte seine Hand auf Jims Schulter.

„Ich heiße Jim“, knurrte dieser und wich zurück. Doch allmählich schien sich seine angespannte Haltung zu lockern. Er konnte die Fakten nicht leugnen.

„Also gut“, fiel Ron dazwischen. Langsam begann ihm diese Sache wirklich unheimlich zu werden. „Wir haben die Knochen verbrannt – vielleicht hat es nur etwas gedauert, bist sich das Ding aufgelöst hat.“

Bill seufzte: „Ich befürchte, eurer Gebuddel war umsonst. So einfach bekommen wir das nicht geregelt. Ich glaube, der Aufhocker ist immer noch in der Blockhütte gefangen und Jim hat ihn irgendwie auf den Friedhof geholt.“

Jim sah den Alten mit aufgerissen Augen an. „Wie bitte soll das gehen!“ Sein Puls schoss in die Höhe. Er biss sich auf die Unterlippe, denn er befürchtete, dass sein Temperament jetzt doch jeden Augenblick mit ihm durchgehen könnte.

„Du meinst, dieses Ding auf dem Friedhof war so eine Art Hologramm von Jims Gedanken?“ Ron konnte seinen eigenen Worten nicht glauben. Er schüttelte ungläubig den Kopf.

Jim hatte tief durchgeatmet und überlegte laut. „Das erklärt zumindest den Steinsalzring und die Tatsache, dass er nicht wirklich Schaden anrichten konnte. Er war immer noch gefangen.“ Jim griff sich an die Stirn. „Dein Rufen hat möglicherweise die Verbindung unterbrochen und er verschwand, bevor er richtig da war.“

Ron sah skeptisch auf Bill. „Hat dieses Ding etwa versucht mit Jims Hilfe frei zu kommen?“

Der Alte nickte unsicher.

„Na toll!“ Rons Augen rollten in den Höhlen. „Kann sich das wiederholen?“ Fragend sah er den Alten an.

Dieser sah hilflos zu Jim, der auf den Boden starrte.

„Heilige …“, entfuhr es Ron. „Jimmy - um Himmels Willen, mach bloß deinen Kopf leer – wag es gar nicht erst, daran zu denken!“ Drohend verengten sich Rons Augen. „Ich möchte nicht eines Nachts aufwachen und am Fuße meines Bettes dieses Vieh stehen sehen!“ Er konnte sich, angesichts Jims völlig entgleisten Gesichtsausdruckes, ein Grinsen nicht verkneifen. Also holte er Luft und fragte Bill: „Wieso sieht der aus, wie ein Werwolf?“

Betreten sah der Alte in Jims Richtung. „Vielleicht stammt die Form aus Jims Fantasie“, sagte er.

Entrüstet wehrte sich Jim. „Ich habe nie an einen Werwolf gedacht – ich habe an überhaupt nichts gedacht!“

Ron seufzte: „Also gut, Jimmy! Versprich mir bitte – wenn du unbedingt an ein Vieh denken musst – bitte denk dabei an etwas weniger gefährliches … vielleicht eine kleine Fee, ein Einhorn, oder so?“ Um seine Lippen zuckte wieder ein Grinsen.

„Warum ist es ein Werwolf“, überlegte Jim laut.

„Ich befürchte, du hast ihn dazu gemacht“, stellte Ron fest. Er war zu Jim hinüber gegangen und setzte sich neben ihn auf das Bett.

„Das ist nicht wahr – wir liegen falsch“, murmelte Jim. „Zumindest teilweise.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und stöhnte. Ron legte seine Hand auf Jims Schulter.

Plötzlich schoss Jim in die Höhe. Sein Gesicht schien zu versteinern. „Mein Gott“, hauchte er und schluckte betroffen. „Warum ist mir das nicht aufgefallen.“ Seine Augen hefteten sich geweitet auf Bill. Dann neigte er den Kopf: „Du sagtest, die Schmiedel war schwanger?“

Bill nickte.

„Das war Ende 1589 - als das Schiff hier ankam?“ Jims Stimme wurde heiser und vibrierte. Er hatte sein Laptop ergriffen und fingerte auf der Tastatur herum. „Der Vater ist ein Bauer gewesen?“

Bills Augen verengten sich. „Ja“, antworte er. „Worauf willst du hinaus, Jim?“

Jim schüttelte den Kopf. Er war zu beschäftigt um zu antworten. Seine Blicke brannten sich förmlich in den Bildschirm. Nach einer Weile murmelte er. „Ihr werdet es nicht glauben Jungs.“ Sein Gesicht war leichenblass und sein Brustkorb weitete sich in rhythmischen Abständen vor Aufregung …

*** *** ***

Jim spürte, wie sich Augen voller Neugier und Erstaunen auf seine Lippen hefteten. „Wir haben bei der ganzen Aufhockergeschichte einfach die Querverbindungen nicht beachtet und uns von den vielen Variationen dieses Mythos in die Irre leiten lassen“, sagte er. Dann nahm Jim seinen Laptop und setzte sich an den Tisch.

Ron und Bill folgten ihm. Neugierig sahen sie über seine Schultern.

„Ich denke, wir können ausschließen, dass die Form des Werwolfes meinen Gedanken entsprungen ist“, bemerkte Jim mit einem triumphierenden, vor allem aber erleichterten Tonfall. „Wir haben das Naheliegende übersehen!“ Sein Rücken berührte die Lehne des Stuhles, als er seine Arme nach oben streckte. Seine Brust weitete sich unter dem unglaublichen Luftvolumen, das er gerade einatmete.

Rons Kopf schob sich weiter über die Schulter seines Bruders. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf den flimmernden Monitor.

„Die Mythologie um den Aufhocker wurde in den letzten 200 Jahren ziemlich verwässert“, plauderte Jim, während seine Augen den Buchstaben folgten. „Es ist im Prinzip genauso wie mit den Volksmärchen – im Laufe der Jahre wurden aus blutrünstigen Erzählungen voller Brutalität und Gewalt harmlose Gutenachtgeschichten.“ Jim strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Unser Aufhocker wurde im Laufe der Zeit von einem wirklich fiesen, mordenden Monster zu einem mehr oder weniger lästigen Kobold, der nur noch einige Unannehmlichkeiten verursachte. Letztendlich wurde er uninteressant und deshalb einfach vergessen.“

Ron folgte noch immer zweifelnd den Ausführungen seines Bruders „Wonach suchst du?“, fragte er.

Bill griff sich den zweiten Stuhl und setzte sich. Die Schwüle, die dem Gewitter voraus schlich, wurde langsam unerträglich. Vor den geöffneten Fenstern bewegten sich die zerschlissenen Gardinen nicht mehr. Auch die veraltete Klimaanlage war dieser Herausforderung nicht gewachsen. Sie hatte schon vor Stunden das Zeitliche gesegnet.

Jim holte abermals tief Luft. „Unser erster Ansatz war richtig.“ Er sah über seine Schulter auf Ron. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. Mit kritischen Augen fixierte ihn Jim und räusperte sich, bevor er weiter sprach: „Wir haben es hier mit einer uralten und fast vergessen Legende aus dem westlichen Deutschland zu tun.“ Triumphierend schlug sein Zeigefinger auf die Entertaste. „Das ist es!“ Jim erhob sich vom Stuhl, um Platz zu machen. Die Hitze raubte ihm ohnehin die Luft und Rons heißer Atem an seinem Ohr empfand er schon längst als lästig.

Seine Hand glitt erneut über die juckenden Narben auf seiner Brust. „Ich denke, es ist ein Stüpp - eine sehr gefährliche Form des Aufhockers“, schlussfolgerte Jim und ging zum Kleiderschrank. Als er ihn öffnete sah er auf zwei große, zerschundene Sporttaschen und wenige Kleidungsstücke, die einsam auf Holzwurmmehl in den Fächern lagen. Jim wühlte im Verbandskasten nach einer Schere, Mullläppchen und einer Pinzette. Er seufzte, als er zurück zum Tisch ging. „Ich habe jetzt genug – befreit mich mal jemand von diesen juckenden Knoten?“

Ron sah fragend auf den alten Jäger. Bill nickte zustimmend. Also stand Ron auf, um seinem kleinen Bruder wieder den Stuhl anzubieten. Dieser hatte schon das Fließ entfernt. Er sank auf die Sitzfläche und ergriff die Schere. Sein Kinn, soweit es ging, nach unten gebeugt, hantierte er ungeschickt an der Wunde.

„Ist okay – Jimmy! Du verrenkst dir noch den Hals. Ich mache das“, sprach der Ältere und nahm Jim die Schere aus der Hand. Nachdem er den Laptop etwas zur Seite geschoben hatte, setzte er sich auf die äußerste Tischkante und betrachtete zufrieden den breiten, gut abgeheilten Prankenhieb. „Nun – ich glaube nicht, dass unser Erlebnis auf dem Friedhof ein Märchen war“, murmelte Ron, während er vorsichtig mit der Schere den ersten Knoten durchschnitt. „Für mich war es ziemlich real.“ Seine Augen trafen wieder auf Jim. „Was war nochmal ein Stüpp“ fragte er leise nach.

Jim erhob seine Augen, die skeptisch Rons Finger beobachtet hatten und berichtete: „Im Westen Deutschlands verschmilzt der Aufhocker mit dem Werwolf zum Stüpp, einem gefährlichen Unhold, der den Menschen anspringt und sich so lange herumtragen lässt, bis das Opfer an Entkräftung stirbt.“ Kurz stockte er. Die Pinzette hatte den ersten Faden erfasst und aus der Haus gerissen. Sein Muskel beantworte den ungewöhnlichen Reiz mit einem Zucken. „Der Stüpp unterscheidet sich vom Werwolf, wie er in den meisten westeuropäischen Volksüberlieferungen auftritt, dadurch, dass er seine Opfer in der Regel nicht zerfleischte“, fuhr Jim fort, „sondern ihnen auflauerte, meistens an einem Kreuzweg, der Friedhofsmauer oder einem Bach oder Fluss, sie von hinten ansprang und sich von ihnen tragen ließ.“ Skeptisch beobachtete er Ron, der die Knoten fixierte und langsam einen nach dem anderen mit der kleinen Schere zerschnitt. Eine steile Falte auf seiner Stirn hatte das Pflaster verschoben.

Jim erklärte weiter: „Das Beängstigende an der Geschichte ist, dass dieser aufhockende Werwolf nicht an den Mondzyklus gebunden ist und auch sonst nicht viel von den üblichen Regeln für Werwölfe hält.

---- Autsch …. !!!!“ Vorwurfsvoll sahen sich die Brüder an.

„Sorry Jimmy – da war wohl etwas Haut dazwischen!“ Ron zog rasch seinen Kopf ein und legte den kurzen Faden zu den anderen auf dem Tisch.

„Nun gut – das klingt alles recht einleuchtend“, mischte sich Bill in das Gespräch. „Aber wo kommt der her?“ Fragend sah er auf Jim.

„Du sagtest die Spirit of Fire kam Ende des Jahres 1589 hier an.“ Der Alte nickte. „Und die Schmiedel war schwanger von einem Bauern oder?“

„Nun, so ungewöhnlich ist das nun auch wieder nicht“, reagierte Bill ungeduldig. Auch ihm nagte die schwüle Hitze zusehends an den Nerven.

„Kannst du nachsehen, aus welchem Ort der Bauer kam?“, bat Jim und hob ruckartig die Hand, um sich an der pieksenden Wunde zu kratzen.

„Pfoten weg“, drohte Ron und ergriff mit der Pinzette wieder einen der Fäden. Feuchte Flecke zeichneten sich mittlerweile im Stoff seines Shirts ab. Seine Haarstoppeln glänzten.

Bill war aufgestanden und blätterte in den Logbuchkopien. „Die waren aber sehr gewissenhaft mit ihren Notizen“, bemerkte er erstaunt. „Hier steht sogar der Name des Bauern dabei. Sehr ungewöhnlich!“ Bill fuhr sich nachdenklich durch seine weißen Barthaare.

„Es war ein gewisser Peter Stübbe aus Bedburg“, berichtete er und sah den Jüngsten erwartungsvoll an.

„Das habe ich befürchtet“, ächzend drehte sich Jim zur Seite, um den Laptop auf seinen Schoß zu holen.

„JIM!“ … Fauchte Ron. „Wenn du nicht still hältst, werde ich hier nie fertig.“ Er funkelte den Jüngeren an.

Sogleich entspannte sich sein Gesicht: „Warum hast du das befürchtet, Jimmy“, murmelte Ron und ergriff erneut einen Faden mit der Pinzette.

Jim zog den Laptop auf seinen Schoß und war bemüht, sich nicht zu bewegen, als er auf die Tastatur einhämmerte. Seine ungeschickten Bewegungen ließen Ron schmunzeln, während er sich wieder der Arbeit als Krankenschwester widmete.

Jim fing an zu lesen: „Seinen Namen verdankt der Stüpp dem Bauern Peter Stübbe, der als Werwolf von Bedburg in die Kriminalgeschichte einging. Der Mann wurde am 31. Oktober 1589“, bedeutungsvoll hob Jim seine Brauen, „zusammen mit seiner Tochter und seiner Geliebten hingerichtet, weil er angeblich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte und sich in einen Wolf verwandeln konnte. In dieser Gestalt hatte er angeblich mindestens dreizehn Menschen grausam getötet. Der Fall wurde in Flugblättern und Pamphleten ausführlich geschildert. Eine umfangreiche Druckschrift, die 1590 in London veröffentlicht wurde, ist die einzige wirkliche Quelle.“

Ein erneutes Ziepen lies Jim schief grinsen. Seufzend legte er seinen Kopf in den Nacken. „Ron … bist du bald fertig“, flötete er.

„Gleich, gleich …“, murmelte Ron und zog mit einem Ruck den letzten Faden.

Bill musterte zufrieden die rosafarbenen Narben auf Jims Brust. „Noch ein paar Tage, Kleiner, dann wird man die Einstiche kaum noch erkennen“, sagte er.

Ein Blitz erhellte für eine Sekunde das Zimmer, gefolgt von dunklem Grollen und einem plötzlichen Windstoß, der durch das geöffnete Fenster stürmte. Die willkommene Abkühlung fegte über die Jäger hinweg und ließ einige Blätter tanzend zu Boden gleiten.

Bill betrachtete den Himmel, der sich zusehends verdunkelt hatte. „Da braut sich ordentlich was zusammen“, bemerkte er und zog die alte Gardine wieder herein. Sie war durch den Sog nach außen entflohen und flatterte hilflos im Wind.

„Nicht nur da draußen braut sich was zusammen“, stellte Jim besorgt fest. Er beobachtete Ron, der die Pinzette zur Seite gelegt hatte und sorgfältig einige blutrote Perlen von der Narbe tupfte. Die brennende Eigenschaft des Alkohols entlockte dem Jüngeren ein Schnaufen.

„Sieht wirklich gut aus, Jimmy – echt.“ Ron nickte begeistert. „Glaub mir Jim, Frauen stehen auf so was.“ Er wies mit dem Zeigefinger auf vier breite Streifen, die nun den kräftigen Brustmuskel des Jüngeren zierten. Jim schüttelte ungläubig den Kopf und riskierte einen Blick auf sein ungewolltes Tattoo.

„Jim, was ist deine Vermutung?“ Bill hatte sich erneut an den Jüngeren gewandt.

„Ich bin mir nicht sicher.“ Jim sprach lauter, damit sich seine Stimme gegen den plötzlich einsetzenden Regen durchsetzen konnte. Schwere Tropfen prasselten auf den Parkplatz nieder und verursachten einen Trommelwirbel auf den Dächern der geparkten Autos.

„Ich glaube nicht, dass die Schmiedel der Aufhocker war“, erklärte Jim. Seine Finger tippten nervös auf den Oberschenkeln. „Wenn es nun so ist, dass Elsa Schmiedel die Geliebte von Stübbe war, irgendwie entkommen konnte und nach Amerika geflohen ist?“ Jim schaute auf den Alten. Bill presste die Lippen zusammen und neigte nachdenklich seinen Kopf. Dann holte er tief Luft.

„Was meinst du Jim?“ Rons Stimme war entsetzt. „Willst du damit andeuten, die Schmiedel war schwanger von einem aufhockenden Werwolf?“ Seine Augen weiteten sich erstaunt.

„Naja, Ron – einem Werwolf sieht man nicht unbedingt an, dass es ein Werwolf ist“, seufzte Jim. Sein Gesicht verdunkelte sich, als er auf die vergilbte Blumentapete starrte. Beim Gedanken an Madison zuckten seine Kiefer.
Ron zog den Kopf in den Nacken und nagte an seiner Unterlippe. Der Satz war unüberlegt. Ihm wurde bewusst, welch schreckliche Erinnerung er gerade ausgegraben hatte.

Nach einer Pause verengten sich Jims Augen. Er sprach leise weiter: „Ich denke, sie hatte tatsächlich Selbstmord begangen. Ich vermute, sie hat herausgefunden, was sie da in sich trägt.“ Jim stockte … „Sie wollte verhindern dass ES geboren wird.“

Ron war aufgestanden und sah zum Fenster. „Jim! – das ist auch eingetreten. Dieses Kind wurde nie geboren“, hauchte er gegen die Scheibe.

„Das ist uninteressant, Ron, denn ein Stüpp ist nicht irgendein Aufhocker oder Werwolf … sondern ein direkter Vorfahre aller modernen Werwölfe, ein Wesen das nicht unbedingt körperlich sein muss, um weiter zu existieren.“ Jim blickte zu Boden „Dieses Ding hat es irgendwie geschafft, sich zu befreien.“

„Oder es wurde befreit“, warf Bill ein. „Sagtest du nicht, die Gräber wurden umgebettet?“

Jim sah den Alten aufmerksam an. „Du hast Recht - was immer man mit der Leiche damals gemacht hat – es hat fast 400 Jahre gewirkt. Man muss ihn entfesselt haben, als die Gräber verlagert wurden.“ Er seufzte: „Die ursprünglichen, aufhockenden Werwölfe benötigen nicht den Vollmond zur Verwandlung.“ Jim nahm seinen Laptop erneut und überflog die Buchstaben. „Oft ist es ein anderes Hilfsmittel, das die Verwandlung herbeiruft, wann immer sie gewünscht wird. Den alten Legenden zufolge benutzte man dafür bestimmte Hilfsmittel, wie zum Beispiel einen sogenannten Werwolfsgürtel.“

Sein Blick traf auf Ron. „Wir sollten uns dringend mit der Baufirma auseinander setzen und abchecken, ob wirklich Alles umgebettet wurde.“

Ron nickte zustimmend, bevor er nach kurzer Überlegung fragte: „Wenn der Stüpp aber nun eine Art Geist ist, warum erscheint er so plötzlich auf dem Friedhof? An was ist er gebunden?“ Ron war verwirrt.

„Besser, an Wen ist er gebunden“, sprach Bill weiter. „Seine komplette Rückkehr ist wohl dann abgeschlossen, wenn er ein geeignetes Medium gefunden hat, das in der Lage ist, ihm einen menschlichen Körper zu geben.“ Er seufzte und seine Augen richteten sich auf Jim. „Dann ist er auch nicht mehr darauf angewiesen, irgendwo auf seine Opfer zu warten und sich von einem zum anderen tragen zu lassen, sondern kann selber aktiv nach ihnen suchen.“

Plötzlich weiteten sich Jims Augen. „Ron!“ Entsetzten lag in seinem Gesicht. „Wenn er kein Geist mehr ist, hält ihn auch das Steinsalz nicht mehr auf.“ Jims Lunge begann hektisch zu pumpen. Er war aufgesprungen und starrte an die Zimmerdecke.

„Die Blockhütte“, keuchte Ron auf, „er wird sich befreien!“

Jims Stimme bebte, seine plötzliche Erkenntnis ließ ihn mehrmals schlucken, trotzdem konnte er seine Tränen kaum zurückhalten. „Mein Gott, ich habe die Urform des Werwolfes zurückgeholt. Das Alphatier, das unabhängig vom Mondzyklus agiert und über telepathische Fähigkeiten verfügt“, murmelte er erschüttert.

Rons Hand legte sich auf die Schulter seines Bruders. „Jim – du hast ihn nicht befreit. Das geschah schon, bevor wir hier eintrafen.“

*** *** ***

Das heranrasende Gewitter hatte die kleine Wandergruppe völlig überrascht. Innerhalb von wenigen Minuten färbte sich der Himmel schwarz und ein bedrohliches Grollen, das grellen Blitzen folgte, zwang die Naturfreunde, unverzüglich ihr Lager abzubrechen und den Heimweg anzutreten.

Ash ermahnte seine Schützlinge, sich zu beeilen. Er wollte nicht nass werden, deshalb wurde es höchste Zeit, den kleinen Bus anzusteuern. Auch befürchtete er, der mit Sicherheit bald einsetzende Regen könnte die unbefestigte Straße hinab ins Tal in einen Sturzbach verwandeln.

Seine kleine Schwester würde ihn erschlagen, sollte er den Kleinbus im Schlamm versenken. Ash hatte nie richtig begriffen, was Lilly an dem klapprigen Gefährt fand. Er war aber trotzdem dankbar für ihr großzügiges Herz, das diesen Waldausflug mit seinen Jungs erst ermöglicht hatte. Offensichtlich war die soziale Ader in der Familie sehr ausgeprägt. Warum sonst nahm Lilly diese Doppelbelastung auf sich. Mit der Arbeit im Diner finanzierte sie sich ihr Studium als Pädagogin. Wann immer sie es zeitmäßig realisieren konnte, lud sie sich diese bundbemalte rostige Kiste mit kreischenden Vorschulkindern voll, um dem Trubel in der Stadt zu entfliehen. Meistens besuchte sie einen Rummelplatz, sie liebte Jahrmärkte.

Ash hetzte die aufmüpfigen Teenager durch die Büsche am Ufer des Bergsees zum Bus. Maulend kämpften sich die sechs Halbstarken durch das Unterholz, schwer beladen mit Rucksäcken und Zelten.

„Los, beeilt euch, Jungs“, keuchte Ash, „ich will keinen Ärger.“ Erleichtert erkannte er durch die Baumriesen bereits die Wiese, auf der die kleine, ihm vertraute Hütte entschlossen dem nahenden Unwetter zu trotzen schien. Der Bus stand direkt neben Mike Millers Wagen. Ash hatte ihn am Morgen verwaist vorgefunden. Sein Nachbar war offensichtlich noch beim Angeln, da niemand auf seine Rufe reagiert hatte. Ash lächelte. Er kannte Mike, seit er selber noch ein Junge war. Damals hatte ihn der angehende Inspektor oft hierher zum Angeln mitgenommen. Er war überzeugt, Mike würde an irgendeinem entlegenen Winkel des Sees seine Angel ins Wasser halten und diesem Unwetter genauso trotzen wie das alte Blockhaus.

Aufkommende heftige Windböen rissen an den Wipfeln der dunklen Tannen. Mit riesigen Sätzen rannte die Gruppe über die Wiese zum Bus, als die ersten Regentropfen ins Gras schlugen.

Schon von weitem vernahm Ash das rhythmische Krachen der Haustür. Sie stand offen und schlug, vom Wind gehetzt, gegen die Außenwand der Blockhütte.

„Steigt schon mal ein - ich komme gleich nach“, befahl er den Kids, die sich sogleich lautstark anschickten, die Reihenfolge des Einsteigens festzulegen. Grinsend beobachtete Ash einen Moment lang das Schauspiel seiner Testosteron geplagten Schützlinge, die sich ruppig und schimpfend gegenseitig von der Einstiegstür drängten.

Er schob sich vorsichtig durch die Tür des Häuschens. Seine Blicke schweiften über den Boden, um festzustellen was da unter seinen Schuhen knirschte.

„Hallo?“ Zaghaft rief Ash in den Innenraum. „He, Mike? Bist du da?“ Stirnrunzelnd musterte er das verwüstete Zimmer. Die Leiter zum Schlafboden war umgerissen. Eine Tragetasche lag auf dem Boden und ihr Inhalt hatte sich gleichmäßig im Raum verteilt. Möbelstücke waren umgeworfen und die Küchentür aus den Angeln gerissen. Ash schüttelte verständnislos seinen Kopf, als er das Steinsalz erblickte, das überall verstreut lag. „Was ist denn hier passiert.“ Langsam beschlich ihn ein unheimliches Gefühl. „Mike?“ Unsicher rief er nochmals den Namen seines Freundes. Dann bemerkte er einen großen schwarzen Fleck auf den Dielen. Er kniff seine Augen zusammen und beugte sich nach unten. Der Schreck fuhr ihm durch die Glieder. „Das ist eingetrocknetes Blut!“, flüsterte er entsetzt.

*** *** ***

Um Himmelswillen – was ist hier nur passiert? Ash musterte den verwüsteten Raum. Erst jetzt fiel sein Blick auf die Rücklehne eines Polstersessels. Vereinzelte Haarbüschel an der oberen Kante jagten eisige Schauer über seine Haut. Vorsichtig ging er in die Richtung. Angetrieben von Neugierde und gleichzeitig schlotternd vor Angst, rief er unsicher: „Mike?“ Stammte dieses Blut womöglich von seinem Freund? Ash fasste nach der Lehne des Sessels und zwang sich trotz des mulmigen Gefühls in seinem Magen, um das Möbelstück herumzugehen. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzten. Er wollte schreien, aber sein Hals war wie zugeschnürt. Nur ein gurgelndes Krächzen entwich seiner Kehle.

Auf dem Stuhl saß Miller – oder das, was von ihm übrig geblieben war: Ein ausgetrockneter Körper, dessen braune, spröde Haut sich über blanke Knochen spannte. Ash schüttelte ungläubig den Kopf. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus.

Inspektor Miller schien schon seit Jahren tot zu sein. Seine knochigen Finger hatten sich in das Polster verkrampft. Der Kopf war nach hinten durchgestreckt. Auf Rosinengröße zusammengeschrumpelte Augen kullerten in dunklen Höhlen. Ein lippenloser Mund, weit geöffnet, gab den Blick in eine gähnende Leere frei. Vor diesem schwarzen Abgrund wirkten die Zähne wie riesige weiße Steine. Unbeschreibliches Grauen lag auf dem ledrigen Gesicht des Toten, dessen Haar sich bereits büschelweise vom Schädel löste. Mike Miller schien in der Sekunde des Todes versteinert zu sein. Ash meinte, er könne den letzten Schrei seines Freundes noch hören.

Brennendheiß schoss es ihm durch den Hals. Schon im nächsten Augenblick ergoss sich sein Mageninhalt auf die Dielen. „Wir müssen hier weg!“, schoss ihm durch den Kopf, als ein kreischender Blitz vor dem Haus in den Boden einschlug. Ash rannte zur Tür. Kurz bevor er ins Freie stolperte, hielt er inne. Seine Finger suchten Halt am Türrahmen, während er aufmerksam die Lichtung beobachte. Ihm war, als hätte er einen Schatten unter den wankenden Tannen gesehen. Regen rauschte mittlerweile in langen Bindfäden aus tiefschwarzen Wolken. Das Gewitter hatte den vorauseilenden Wind eingeholt. Es war kaum noch möglich, in der Ferne irgendetwas zu erkennen. Ash stürmte hinaus und rannte über die Wiese. Bei jedem seiner ausladenden Schritte spritzte Wasser empor. Mit eingezogenem Kopf kämpfte er sich durch die Regenwand. Irgendwann blieb er stehen und drehte sich um die eigene Achse. Seine Blicke irrten über den Horizont. Sie streiften ungläubig den Boden und suchten den Waldrand ab. Seine Kleidung war bereits bis auf die Haut durchnässt. In Strömen rann Wasser über sein Gesicht.

„Nein, nein, nein – das kann doch nicht sein“, keuchte er.

Mit zitternden Fingern suchte er in seiner Hosentasche nach dem Zündschlüssel. Wo in Gottes Namen ist der Bus?

*** *** ***

Ein nicht aufhören wollender Regen ließ Gullys überquellen und verwandelte den Parkplatz des Motels in einen flachen See. Immer noch grollte das Gewitter über den Bergen. Jim hatte seine Arme hinter dem Kopf verschränkt. Er lag auf seinem Bett und lauschte dem Plätschern der vom Himmel stürzenden Wassermassen. Ab und zu vernahm er auch das Summen des Kühlschrankes und die gleichmäßigen Atemzüge seines Bruders.

Jim seufzte leise. Er konnte keinen Schlaf finden. Die Ereignisse verdichteten sich in seinem Kopf zu einer unheilvollen Symphonie, die unermüdlich Moll spielte. Wie sollten sie diesem Geschöpf, das mit seiner Hilfe den Weg zurückgefunden hatte, Einhalt gebieten? Schuldgefühle und Angst nagten an ihm, wie ein bösartiges Geschwür.

Er atmete tief ein, genoss die kühle Luft in seinen Lungen. Die aufeinander treffenden Wetterfronten hatten für diese willkommene, erfrischende Prise gesorgt. Wie von Geisterhand bewegten sich verschlissenen Gardinen vor den Fenstern und gaben die Sicht auf den wolkenverhangenen Nachthimmel frei.

Jim genoss den Luftzug, der ihn streifte. Wie zärtliche Finger berührte er seine Haut und ließ ein prickelndes Gefühl zurück. Er konnte die Nacht atmen hören und öffnete seufzend die Augen.

Seine Pupillen weiteten sich schlagartig. Er presste die Lippen aufeinander, als er in ihre Augen sah. Sein Herz raste, um im nächsten Augenblick beinahe zum Stillstand zu kommen. Benebelt vom Anblick, erhob er die Hand um ihr schulterlanges, schwarzbraunes Haar zu berühren. Er wollte ihren Namen flüstern, aber schmale Finger verschlossen seine Lippen.

Er schluckte - spürte, wie fiebrige Erregung von seinem Körper Besitz ergriff und seinen Atem in rastloses Keuchen verwandelte. Er spürte ihre Schenkel, die sich an seine Hüften pressten. Die Berührung ihrer weichen Haut ließ seinen Verstand taumeln.

Madison gestattete ihm lächelnd einen tiefen Atemzug, bevor sie ihn küsste. Dann spannten sich ihre Schenkel. Sie glitt langsam an ihm herab und nahm ihn ganz auf. Gierig nach Liebe, wanderten seine Blicke über ihren Körper, der sich im Mondlicht auf und abwärts bewegte und seine Hände konnten nicht anders, als dem Weg seiner Augen zu folgen.

Er presste den Kopf ins Kissen und biss die Zähne zusammen. Hitze umfing ihn und schneller werdende rhythmischen Bewegungen. Als er seine Finger in Madisons Taille vergrub, spannte sich jeder seiner Muskeln. Er vermochte ein Aufstöhnen nicht zu unterdrücken.

Ihre Hände wanderten über seine Arme und griffen in sein Haar. Sie brachten seinen Körper beinahe zum Zerbersten. Als er kaum noch in der Lage war, der anwachsenden Erregung standzuhalten, legte sie ihre Hand auf seine Brust und ein reißender Schmerz vermischte sich überraschend mit dem berauschenden Gefühl explodierender Leidenschaft. Mit einem kehligen Schrei bäumte sich Jim auf.

Nasses Haar klebte auf seiner Stirn. Schweißperlen vereinigten sich auf seinem Hals und seinen Schultern zu Sturzbächen. Sein Herz raste, als er erschrocken seine Narbe betastete.

Jims Blicke irrten durch das Motelzimmer und trafen auf Ron, der im anderen Bett fest schlief. Immer noch berauscht lauschte Jim. Dann rieb er sich über das Gesicht. Etwas hatte sich zwischen seinen Fingern verfangen und schwachem Licht der Tischlampe, die er anknipste erkannte er ein langes schwarzbraunes Haar.

Schweißgebadet sank Jim zurück ins Kissen. „Finde den Sarg“, hauchte Madison in seine Gedanken.

*** *** ***

„Du siehst müde aus. Hast du schlecht geschlafen, Jimmy“, fragte Ron, bevor er in seinen Burger biss.

Der Kaffeebecher rotierte in Jims Händen, während er gedankenversunken in das schwarze Getränk starrte. „Mhhhhh …“, murmelte er.

Ron fixierte ihn. „He, Jim! … Erde an Jim – bitte melden!“

„Jaaa”, seufzend sah Jim auf.

Ron sah ihn an. „Hast du mir überhaupt zugehört?“

„Ich hatte kaum Schlaf“, antwortete Jim und reckte sich. Räuspernd beobachtete er Ron. Hatte sein Bruder letzte Nacht etwas bemerkt? Oder war alles nur ein Traum gewesen? „Es war verdammt heiß …“, flüsterte Jim vorsichtig.

„Wem sagst du das“, erwiderte Ron kopfnickend und biss wieder in den Burger. „Diese Hitze ist unerträglich – gut, dass es sich durch den Regen etwas abgekühlt hat“, nuschelte er mit vollem Mund.

Jim nickte erleichtert und vertiefte sich wieder in seinen Kaffeebecher.

Ron schubste schwungvoll eine Styroporschachtel in Jims Richtung. „He Kleiner, dein Lieblingsfrühstück.“ Mit leuchtenden Augen sah er ihn an. „Eierkuchen mit Ahornsirup!“

Blitzschnell hatte Jim den über den Tisch sausenden Karton gestoppt, bevor er samt klebrigem Inhalt auf seinem Schoß landete. „Danke!“, hauchte er und hielt auf dem Tisch Ausschau nach einem Besteck.

„He Jungs … was spielt ihr da? Pingpong?“ Bill war zur Zimmertür eingetreten und hatte die letzte Aktion mitbekommen. Er sah sich nach einem Stuhl um. „Gibt es auch was für mich“, fragte er, als er zur Kochnische stapfte, um sich einen Hocker zu holen – die einzige noch vorhandene Sitzmöglichkeit. Er setzte sich zu den Brüdern und wartete auf eine Antwort. Rons Zeigefinger kreiste über den braunen Tüten. Da sein Mund zu voll zum Reden war, forderte er Bill nickend auf, sich etwas zu nehmen.

„Also, was steht an?“ Bill sah erwartungsvoll auf Jim.

„Jimmy und ich werden heute dieser Baufirma mal auf den Zahn fühlen“, hatte Ron das Wort ergriffen. Wieder beobachte er Jim. Geistesabwesend piekte dieser mit einer Gabel im Eierkuchen herum. Ron räusperte sich in die Faust. „Wenn es so ist, dass dieser Stüpp einen Werwolfsgürtel braucht, dann muss der ja irgendwo abgeblieben sein. Nicht wahr, Jimmy?“

„Mhhhhh ….“ Jim hatte ein Stück Eierkuchen aufgespießt und drehte die Gabel vor seinen Augen um die eigene Achse. Nachdenklich betrachtete er den Bissen.

Bill sah Jim irritiert an. Dann richteten sich seine Augen fragend auf Ron. Dieser hob verwundert die Schultern.
„Finde den Sarg“, hauchte Jim der Gabel entgegen.

„Wa….f?“ Fast rutsche dem Älteren der Bissen wieder aus dem Mund. Er sah erstaunt auf und hüstelte.

Jim legte die Gabel zur Seite. „Ron …“, flötete er, „findest du es nicht merkwürdig, dass die Knochen in einer Fichtenholzkiste lagen?“

Ron legte den Rest seines Burgers aus den Händen und schluckte angestrengt. Ratlos kreisten seine Blicke auf dem Gesicht des Jüngeren.

„Es war eine neue Kiste – nicht älter als ein Jahr, da bin ich mir sicher“, beschwor Jim und hob die Augenbrauen. Bill nickte verwirrt. „Ja und?“ Er wusste nicht recht worauf Jim hinaus wollte.

„Vielleicht ist der alte Sarg beim Umbetten kaputt gegangen“, bemerkte Ron und griff nach dem Rest seines Burgers.

Jim seufzte: „Bill, kannst du mal nachforschen, was mit dem Originalsarg geschehen ist?“

„Sicher“, antwortete der alte Jäger. Er musterte Jim, der wieder im Eierkuchen stocherte. Die Wortarmut des sonst unablässig plappernden Jüngsten war ungewöhnlich.

Ron räusperte sich. „Jim?“ Auf seiner Stirn zeigten sich kleine Fältchen. „Könntest du mal etwas deutlicher werden?“ Erwartungsvoll blieben seine Blicke auf Jim haften. Doch dieser schien mit seinen Gedanken schon wieder meilenweit entfernt zu sein.

„JIM!“ Ron schlug fordernd die Hände auf den Tisch.

„Was?“ verträumt sah Jim auf.

„Warum meinst du, soll das von Bedeutung sein?“ Rons Stimme klang angesichts dieses merkwürdigen Verhaltens besorgt.

Jim richtete sich auf, sein Rücken drückte sich gegen die Stuhllehne als er sich ausgiebig streckte. Schließich streichelte er behutsam die Narbe auf seinem rechten Brustmuskel und murmelte: „Ich hatte so eine Art Eingebung letzte Nacht!“ Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als er mit der Gabel ein Stückchen Eierkuchen aufspießte und es in die Luft schleuderte, um es unter den verblüfften Blicken seiner Partner mit seinen Zähnen aufzufangen.


*** Ein Sturm zieht auf ***



In der Luft lag Geruch von Schweiß, Motorenöl und heißem Teer, als die Jäger den gelben Container auf der Baustelle im Stadtpark wieder verließen. Knirschend gab der lose Untergrund dem Druck ihrer Schuhe nach.

Jim schüttelte sich und zog eine Grimasse. „Mann, war das ein Typ“, entfloh es ihm angewidert.

Ron konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Was hast du erwartet, Jim? Baustellen sind nun mal keine Hochschulen.“ Er griff sich in den Hemdausschnitt, um der immer schlimmer werdenden Würgeattacke seiner Krawatte ein Ende zu bereiten.

Jim kräuselte die Stirn: „Und ich dachte immer, wir hausen erbärmlich in diesen Motels.“ Die Erkenntnis erheiterte ihn. Heimlich vor sich hin grinsend, beobachtete er einige Sekunden das emsige Treiben auf der Baustelle.
Begleitet vom unerträglichen Lärm starker Motoren, fraßen sich die 50 Zentimeter langen stählernen Zähne einiger Bagger in das Erdreich. Mehrere mit Schaufeln bewaffnete Bauarbeiter erledigten den Rest. Sie wirkten zwischen den Maschinen-Kolossen wie überforderte Tierpfleger aus der Dinoabteilung des Jurassic Park.

„Meinst du der Typ hat uns die Wahrheit gesagt?“ Jims Frage klang nicht sehr überzeugt. Er zog das Jackett aus und warf es über seine Schulter.
Entschlossen bewegten sich Ron und Jim auf den provisorischen Parkplatz zu. Ihr Ford Mustang wirkte zwischen den anderen verstaubten Fahrzeugen fast majestätisch.

Ron hob gelassen die Schultern. „Warum sollte er lügen?“ Sein Blick schweifte zu den stählernen Ungetümen, die sich hinter ihrem Rücken unermüdlich durchs Erdreich wühlten. „Was denen zwischen die Fänge gerät, ist ein für alle Mal hinüber“, stellte er klar. Er holte Luft, bevor er weiter sprach: „Eigentlich sollten wir froh darüber sein, dass sie wenigstens die Knochen eingesammelt haben.“

Jim schüttelte misstrauisch seinen Kopf: „Ja, aber Ron“, entgegnete er, „können wir uns denn wegen der Knochen überhaupt sicher sein?“

„Jim, das ist doch egal – genauso egal wie es dem Stüpp ist, ob seine Knochen brennen oder nicht, ob Vollmond ist oder nicht. Wir müssen eine andere Lösung finden, ihn zu vernichten.“ Ron seufzte: „Wir sollten endlich diesen Gürtel finden“. Er grinste schief: „Jedenfalls hat sich Bills Job damit erledigt! Der gute alte Eichensarg ist hinüber.“ Ron verpasste seinem jüngeren Bruder einen Hieb in die Rippen: „War wohl nichts mit deiner Eingebung?“

„Alter, ich bin mir da nicht sicher“, murmelte Jim, zweifelnd hob sich sein Blick. Er dachte an die Ausstattung in diesem Bürocontainer. Neben rostenden Eisenstühlen, einem gusseisernen Ofen, jeder Menge Pinup-Girls an den Wänden und einem Bürotisch aus dem letzten Jahrhundert, war ihm nicht entgangen, dass diverse kleine Sammlerobjekte auf einem an der Wand hängenden Eisenregal lagen. „Und wenn wir den Gürtel haben? Was machen wir dann?“, fragte er.

„Wir verbrennen ihn“, antworte der Ältere.

„Halt! Warten sie!“, rief ihnen jemand nach. Verdutzt drehten sich die Jäger um und sahen, wie ihr Gesprächspartner mit schweren Schritten die Eisentreppe seines stählernen Büros herunter polterte. Dabei fuchtelte er wild mit seinem rechten Arm. Schnaufend wie eine alte Dampflok, kam er näher. Bei jedem seiner hastigen Schritte wabbelte sein Bauch unter einem verschwitzten Trägerhemd. Nachdem der Mann die Jäger erreicht hatte, nahm er seinen Helm, der ohnehin viel zu klein erschien, vom Kopf und wischte sich mit der Hand über seinen kahl geschorenen, puterroten Schädel. Dann reichte er Jim ein Foto. „Hier, wir haben den Sarg fotografiert“, prustete er. Jim war froh, nicht mehr im Container zu sein, denn eine abgestandene Fahne, die sich nicht zwischen Bier oder Whisky entscheiden wollte, klebte an jedem Wort, das ihm entgegen wehte.

„Warum haben sie den Sarg fotografiert“, fragte Ron und zog seinen Kopf aus dem Dunstkreis des Mannes.

„Na, falls es Ärger mit der Stadtverwaltung gibt, von wegen kulturellem Erbe oder so – es ist der Beweis, dass diese verdammte Kiste zerbrochen ist. Sie können das Foto übrigens behalten. Ich habe noch einige davon.“ Mit diesen Worten wandte sich der Dicke ab und stolperte wieder seinem Stahldomizil entgegen, um sich hinter seinem heruntergekommenen Schreibtisch zu verschanzen.

Jim blickte auf ein Foto, das einen mit unbekannten Symbolen verzierten Sarg abbildete. Er war in zwei Teile zerbrochen. „Ziemlich beeindruckend für einen Sarg aus dieser Zeit und ziemlich gut erhalten“, murmelte er erstaunt. Dann flog sein Blick auf Ron, der schon weiter gegangen war. Jims Augenbrauen zogen sich zusammen. „War das jetzt sein schlechtes Gewissen, oder wollte uns der Kerl wirklich helfen“, überlegte er und ließ das Foto in seiner Hosentasche verschwinden. Mit zwei Riesenschritten holte er seinen Bruder ein.

*** *** ***

Langsam steuerte Ron den Wagen durch die erhitzen Straßen. Er hatte seine Augen konzentriert auf die Fahrbahn gerichtet. Mit einer Hand hielt er das Lenkrad fest, während die Finger der anderen auf seinem Oberschenkel trommelten. Die Musik hatte Ron leise gestellt und ein paar Mal tief durchgeatmet. Verstohlen beobachtete er Jim.
Dieser ließ gedankenversunken die Häuser und Passanten auf der Straße vorbei gleiten. Jim wusste nicht, was er von seinem Traum halten sollte, geschweige denn, ob es überhaupt ein Traum gewesen war. Er seufzte gegen die Glasscheibe. Die Erinnerung an Madison und die niederschmetternde Tatsache, dass er sie damals nicht retten konnte, tat verflucht weh. Trotzdem - sie war ihm letzte Nacht verdammt real erschienen und jagte immer noch heiße Wellen durch seine Adern. Sollte er darüber mit Ron reden?

„Du hast Recht!“ Ron ließ seine Worte spontan in den Fahrerraum plumpsen. Kurz streiften seine Augen Jim, bevor sie, erschrocken über die eigene Courage, wieder das Geschehen auf der Straße beobachteten.

Der verträumte Bruder an seiner Seite zuckte auf. Es ging nicht um den Fall, das spürte Jim sofort. „Womit?“, fragte er leise.

Ron holte tief Luft. Seine Finger umklammerten fest das Lenkrad. „Ich verstehe es jetzt!“

Jims Brauen rückten noch enger zusammen. Er nagte kurz an seiner Lippe, bevor er fragte: „Was?“

Die Straße nicht aus den Augen verlierend, presste Ron hervor: „Ich verstehe, dass du aussteigen wolltest.“

Jim sah seinen Bruder aufmerksam an. Plötzlich blitzte eine Vermutung in seinen Augen auf. Er neigte den Kopf und flüsterte. „Es geht um Lilly, stimmt’s?“

Ron drückte sich gegen die Rückenlehne. Er nickte kaum sichtbar. Eins musste er seinem jungen Bruder lassen. Jim hatte ein perfektes Gespür für seine Gedanken.
„Manchmal denke ich auch, wir sollten aussteigen“, sprach Ron. „Manchmal träume ich von einem hübschen, gelben Häuschen hinter einem weißen Gartenzaun und einer stinklangweiligen Arbeit in einer Autowerkstatt.“ Er seufzte. In den letzten Tagen hatte er sich mehr denn je nach einem normalen Leben gesehnt. Ein Leben, das ihm seit dem Tod ihrer Mutter und dem alles vernichtenden Brand in Jims Kinderzimmer für immer entrissen wurde und ihnen ein Nomadendasein bescherte, weit ab von Freunden und Familie.

Jim lächelte bitter. Der warme, blaugraue Glanz seiner Iris verwässerte sich. „Ich verstehe. Sie bedeutet dir sehr viel – nicht wahr?“ Seine Kiefer zuckten. Er musterte Ron. Kleine glitzernde Perlen an Stirn und Schläfen des Älteren verrieten, wie aufgekratzt er war.

Ron nickte wortlos. Sein Blick blieb starr auf die Straße gerichtet. „Wenn ich bei ihr bin“, seine Stimme vibrierte, „Jimmy … Dann bekomme ich Heimweh. Ich meine …!“ Rons Blicke schweiften durch die Fahrgastzelle. „Was wird aus uns werden? Was wird von uns übrig bleiben – bei all dem Mist den wir erleben, Jimmy?“

Jim schloss die Augen. Sein Hals kratzte vor Trockenheit.

„Sieh uns doch an. Wir sind jetzt schon völlig kaputte Typen und nicht mal 30“, entwich es Ron. „Ich will nicht als ein verbitterter alter Mann enden, der irgendwo im Nirgendwo, in einem verrotteten Motelzimmer auf sein Ende wartet und als einzigen Freund eine Flasche Jonny Walker hat.“ Sein Blick traf auf Jim.

Dieser holte tief Luft und nagte an seiner Lippe.

Ron hatte sich wieder der Straße zugewandt: „Ich möchte, dass etwas von mir bleibt. Ich möchte Kinder – eine Familie – ich möchte Sicherheit.“ Er schluckte gequält: „Ich möchte bei ihr bleiben!“
Jim sah die winzige Träne in seinem Augenwinkel und seufzte: Auch er kannte diese Sehnsucht und war sich der bittereren Wahrheit bewusst, die es Ron und ihm verbot, diesem Wunsch jemals nachzugeben. Jim wusste, dass alle Menschen, die ihnen nahe standen, früher oder später einen schrecklichen Tod starben. Er dachte an seine Freundin Jessica und spürte wieder die Hitze des Feuers, in dem sie verbrannte, auf seinem Gesicht. Der Schmerz dieses Verlustes verfolgte ihn bis in seine Träume. Seine Finger verkrampften sich im Stoff seiner Jeans. Jim wusste von dem aussichtlosen Kampf im Inneren seines Bruders.

Erneut trafen ihn Rons Blicke: „Es tut mir so leid, dass ich dir das alles genommen habe. Jim – ich hatte doch keine Ahnung.“ Unglücklich sah er ihm in die Augen. „Ich hätte dich niemals zurück zur Jagd holen dürfen. Du hattest deine Zukunft, Jim. Du hättest ein spießiger Anwalt werden sollen. Du solltest Kinder haben.“ Mit einem heftigen Atemstoß versuchte sich der Ältere, Luft zu machen: „Stattdessen zerre ich dich hier über die Landstraße von einer tödlichen Gefahr in die Nächste.“

Jim schluckte. Auch er hatte oft überlegt, was aus ihnen geworden wäre, wenn dieser Dämon in jener Nacht nicht ihre Mutter geholt hätte. Auch Jim hatte sich wieder und wieder gefragt, warum das Schicksal ausgerechnet ihre Familie auseinandergerissen hatte. Warum es ihre verdammte Aufgabe war, das Leben der Anderen zu retten? Warum waren sie auserkoren, in einem Krieg zu kämpfen, von dem die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnten! Sie hatten so viel verloren – so viel geopfert und so viel gelitten. Warum war es nie genug?
Jim richtete sich auf: „Ron …“, hauchte er. „Der Dämon hätte Jessica so oder so geholt. Es ist nicht deine Schuld. Du hättest nichts ändern können. Du hast mir damals das Leben gerettet. Hast du das etwa vergessen?“ Beschwörend sah er Ron an.

„Vielleicht“, murmelte Ron. „Aber ich habe dir auch deine Zukunft genommen!“, fügte er mit einem selbstzerfleischenden Ton hinzu.

Jim zog den Kopf in den Nacken. Er brauchte Luft, seine Brust hob und senkte sich hastig. In seinen Augen glitzerten Tränen, als er Ron erneut ansah. „Dann müssen wir umso besser auf uns aufpassen, Ron! Denn wir sind alles, was noch übrig ist – alles was wir haben!“

Ron nickte und ein bitteres Lächeln zuckte um seine Mundwinkel: „Und Bill“ – bemerkte er. „Wir können doch den alten Hund nicht allein lassen.“ Mit diesen Worten schlug seine Hand, in dem Versuch die unumstößliche Wahrheit zu verdrängen, auf den Oberschenkel seines kleinen Bruders.

„…und Bill“, wiederholte Jim. Er sah Ron in die Augen. Dieser drehte das Radio auf volle Lautstärke und trat aufs Gaspedal.

*** *** ***

Irgendwie hatte es den Anschein, als könne sich dieser Sommer nicht entscheiden, welches Gesicht er aufsetzen wollte. Tagsüber lud sich die Atmosphäre unter den sengenden Strahlen der Sonne auf, um gegen Abend in einem heftigen Gewitter zu explodieren.

Als der Ford Mustang den Parkplatz des Diners ansteuerte, war die Luftfeuchtigkeit bereits derart angestiegen, dass man befürchten musste, schon beim Einatmen zu ertrinken. Menschen und Tiere ächzten unter Schwüle. Bewegungslos standen die Bäume im Licht der späten Sonne und warteten auf den Schauer, der sich am Himmel ankündigte. Ihre langen Schatten verdunkelten die Fassade des kleinen Gebäudes, dessen einziger Zweck es war, mit seinen aufdringlichen Farben die Reisenden vom Highway zu locken, um sie mit dem Duft von frischem Kaffee zu verführen.

Die Jäger entstiegen ihrem Wagen. Sie ließen für den Moment alle bedrückenden Gedanken im Fahrzeug zurück. Mit eiligen Schritten trabte Ron der Eingangstür entgegen.

Als sie am Nachmittag im Motel angekommen waren, hatten sie den alten Jäger nicht antreffen können. Bill war noch unterwegs, um mehr über den Sarg zu erfahren.
Später, nachdem sich die Brüder ihrer Anzüge entledigt und eine Dusche genommen hatten, legte Jim das Foto samt einer kurzen Nachricht auf den Tisch um Ron zum Diner zu begleiten.

Suchend flogen Rons Blicke durch den Gastraum, während er sich an einem der Tische seinem Bruder gegenüber setzte. Zwei Studentinnen begrüßten ihn freundlich und begannen, miteinander zu flüstern. Dabei trafen ihre Blicke auf den jüngeren der Jäger, dem sofort eine leichte Röte ins Gesicht schoss.
Nach einem kurzen Augenblick näherte sich eine der Kellnerinnen, um die Bestellung entgegen zu nehmen. Sie zwinkerte dem Älteren zu: „Guten Abend Herr Barker. Was darf es denn heute sein?“ Die Begrüßung der jungen Dame löste in Jims Gesicht einen fast ehrfürchtigen Ausdruck aus. Ron räusperte sich in die Faust und bestellte gleich für seinen verdutzen und selten so sprachlosen Bruder mit.

Als das Mädchen gegangen war, hatte sich Jim wieder gefasst und fixierte sein Gegenüber. „Mann, Alter“, platzte es aus ihm heraus. „Wie oft warst du denn schon hier?“ Sogleich erinnerte er sich jedoch an Rons neue Gewohnheit, täglich für das Frühstück zu sorgen, das kurioserweise in eben solchen bunten Tüten steckte, wie sie hier angeboten wurden.
Der mahnende Blick des Älteren zwang ihn, das freche Grinsen hinter seiner vorgehaltenen Hand zu verstecken. Feixend sah Jim aus dem Fenster auf die nahe gelegene Landstraße. Immer wieder zogen verstaubte Autos vorbei, ohne Notiz von der Leuchtreklame zu nehmen.

Als die junge Kellnerin mit einem Tablett erschien, nickte ihr Ron freundlich zu. Fast beiläufig fragte er nach Lilly.

„Oh – Lilly hat sich heute frei genommen. Hat sie es Ihnen nicht gesagt?“ Erstaunt musterte das Mädchen den Jäger.

Überrascht antworte Ron: „Nein!“

„Ach, dann wird sie sich bestimmt noch melden. Lilly ist mit ihrem Vater in die Berge gefahren, um ihren Bruder Ash abzuholen. Er ist wahrscheinlich mit dem Bus gestern Abend im Schlamm stecken geblieben. Lilly hat sich Sorgen gemacht, weil er sich nicht gemeldet hat.“

„In welche Berge“, schoss es Jim über die Lippen. Er war schneller als sein Bruder.

„Oben am See“, sagte das Mädchen und lächelte den Riesen mit den sanften Augen, an. Dann strich sie sich verlegen einige Strähnen aus dem Gesicht. „Ash wollte in der Nähe von irgend so einer Blockhütte mit ein paar Jungs campieren“, antwortete sie.

Der letzte Satz ließ die Gesichter der Jäger zu Masken erstarren. Eine Sturmbö, des herannahenden Unwetters riss die Eingangstür auf und stürmte in den Raum. Die kleinen bunten Servietten flatterten von den Tischen, die Dekorationen wurden umgerissen.
Weit in der Ferne hörte man das unheilvolle Grollen eines Gewittersturmes, der sich über den Bergen zusammenbraute.

*** *** ***

„Das ist Selbstmord!“, schrie Bill aufgebracht ins Telefon. „Ihr habt nichts, womit ihr diesen Stüpp aufhalten könntet! Er wird euch in Stücke reißen.“ Verzweifelt rang der alte Jäger nach Luft. Seine Stimme war so laut, dass sogar Ron, der den Ford Mustang rücksichtslos durch den Regen steuerte, sie hören konnte.

Jim saß auf dem Beifahrersitz des schlingernden Wagens. Er versuchte, Bill über die alptraumhafte Entwicklung der Ereignisse zu informieren. Verstohlen warf er Ron einen kurzen Blick zu. Rons Augen waren kalt und zu allem entschlossen. Es schien, als hätte diese Nachricht jede menschliche Wärme in ihm ausgelöscht.

Kalte Schauer überrollten Jim. Ihm war klar, dass es Rons Herz zerreißen würde, wenn es ihnen nicht gelänge, Lilly zu retten. Obwohl ihm die Aussichtslosigkeit ihrer Lage bewusst war, hatte er keine Sekunde gezögert, Ron zu begleiten. Auch Jims Gesicht war blass und der erschütternde Anblick seines Bruders sorgte keineswegs für Besserung.

Schwer wie Blei lag Rons Fuß auf dem Gaspedal und peitschte den Wagen über die schwimmende Landstraße. Die gelbe Fahrbahnmarkierung wirkte wie die Warnfarbe eines Reptils, das zum Rückzug mahnte. Langsam zeichnete sich eine schwarze Silhouette gegen den blutroten Abendhimmel ab. Nur wenige Minuten später tauchte der Wagen in das Dickicht des alten Eichenwaldes ein.

Vereinzelte Regentropfen, die es schafften, das Blätterdach zu durchstoßen, schlugen gegen die Frontscheibe. Lose Steine knirschten unter den Rädern des Wagens. Ron schaltete einen Gang zurück, um den immer größer werdenden Rinnsalen, die ihnen entgegen sprudelten, besser ausweichen zu können. Nach und nach trank der Wald den Regen und verwandelte die Luft in wabernden Dunst. Zweige klatschten gegen das Auto.
Keiner der Jäger sprach ein Wort. Aber die steigende Anspannung in ihren Körpern, die sich angesichts eines bevorstehenden Kampfes mit Adrenalin vollpumpten, legte sich als feuchter Film auf ihre Haut.

Langsam gewöhnten sich Jims Augen an die Dunkelheit und an die zerfetzten Bilder, die das Licht der Scheinwerfer bei jedem Hopser aus der Nacht schälten. Jim war erstaunt, dass der Himmel immer noch leuchtend rot durch das Blätterdach brach. Angestrengt kniff er die Augen zusammen.
Plötzlich trieb ihn eine schnelle Bewegung auf der Straße gegen die Rückenlehne seines Sitzes. Jim riss die Arme vor sein Gesicht, um den entgegenrasenden Schatten abzuwehren, der jeden Augenblick die Windschutzscheibe zu durchschlagen drohte. Mit einem Schrei formte sich sein Körper zu einer schützenden Kugel.

Ron hatte den Wagen mit einer Vollbremsung zum Stillstand gebracht. „Was ist?“, fragte er erschrocken.

„Was war das?“, keuchte Jim. Fragend sah er seinen Bruder an.

„Was war was“, flüsterte Ron und beobachtete ebenfalls die Umgebung.

„Hast du das denn nicht gesehen?“ Jim streckte seinen Hals. „Haben wir jemanden überfahren?“, murmelte er, während seine Augen suchend über die Motorhaube glitten.

Die Augen des Älteren öffneten sich erstaunt. „Jim? – Was meinst du?“ Unsicher folgte er seinem Blick. Nebelschwaden, die langsam über den steinigen Untergrund der Fahrbahn krochen, behinderten die Sicht.

Jim hatte die Beifahrertür geöffnet und schob sich in die feuchtwarme Umgebung. Er suchte auf dem mit Rinnsalen durchzogenen Weg nach einem Körper.

Ron hatte das Auto ebenfalls verlassen und lehnte sich an die Fahrertür. Seine Blicke eilten am Rücken seines jüngeren Bruders vorbei. Es war weder etwas zu sehen noch zu hören. Einzig das monotone Trommeln des Regens auf dem Blätterdach wurde vom Tuckern des Ford Mustang begleitet. Vereinzelte Wassertropfen hinterließen auf der Kleidung der Jäger dunkle Flecken.

Jim hob die Schultern. Seine Mundwinkel zogen sich nach unten. „Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.“ Mit einem Ruck schwang er sich zurück in den Wagen und schlug die Tür zu.

Ron folgte. Nur Augenblicke später gruben sich die Räder wieder durch den Schlamm. Der Ford Mustang jaulte auf und brach mit dem Heck seitwärts aus. Er schleuderte Steine und Erdklumpen über den Pfad.

Es wurde immer schwieriger, den schlingernden Wagen auf den mit Moos überwucherten Steinen in der Spur zu halten. Langsam quälte sich das Auto weiter bis zur nächsten Kurve.

„Verdammt“, knurrte Ron, als er erneut auf die Bremse trat. Vor ihnen tauchte die Silhouette eines querstehenden Geländewagens auf. Wütend schlug er auf das Lenkrad. Dann öffnete er die Tür und eilte zum Jeep.

Jims Augen verengten sich zu Schlitzen, er streckte seinen Kopf aus dem Fenster, um das Geschehen mit dem Gehör zu verfolgen. Schon seit geraumer Zeit hatte er das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam umrundete der Ältere das wuchtige Fahrzeug und verschwand im Nebel.

Wenige Minuten später kehrte Ron mit bedrückter Miene zurück. Sein Shirt klebte durch die Feuchtigkeit auf seinem Oberkörper. „Hier ist Endstation, Jimmy“, keuchte er, „Ein umgestürzter Baum hat den Weg blockiert.“ Er eilte zum Kofferraum. Die Heckklappe quietschte beim Öffnen. Ron stützte sie mit einer abgesägten Schrotflinte ab, um die Waffentasche zu bestücken.

„Meinst du, das ist Lillys Jeep?“ murmelte Jim.

„Ist anzunehmen“, antwortete Ron knapp und warf die Taurus in seine Tasche. Nervös zerrte er am Reißverschluss.

Jim deutete mit wenig Begeisterung in Marschrichtung. Der Pfad wurde immer unwegsamer, die entgegenkommenden Rinnsale waren mittlerweile zu Sturzbächen angeschwollen. Seufzend griff er nach der Tasche und lächelte Ron an: „Alter, mit deinen Prellungen kommst du damit nicht sehr weit.“ Er schwang den Tragriemen über seine Schulter und stöhnte unter der Last, „Mann, Ron – was hast du denn alles eingepackt?“

Ron räusperte sich: „Alles! Also dann, Tiger!“ Er grinste: „Auf geht’s!“ Jim rollte die Augen und folgte seinem Bruder.

Der Fußmarsch erwies sich als eine Trekkingtour für Fortgeschrittene. Auf den glitschigen Steinen fanden die Jäger kaum Halt und immer wieder rissen rollende Kieselsteine oder ausgespülte Wasserrinnen den gleichmäßigen Schritt der Beiden aus dem Rhythmus. Ihre Bekleidung war komplett durchnässt, obwohl das dichte Blätterdach über dem Weg den Regen weitgehend abhielt. Keuchend folgten sie dem Schein ihrer Taschenlampen. Bei jedem Schritt bereute Jim, sich freiwillig als Packesel zur Verfügung gestellt zu haben.

„Na? Jimmy – geht’s noch“, fragte Ron zynisch.

„Halt die Klappe“, zischte dieser durch seine Zähne und konzentrierte sich den Weg.

Langsam lichtete sich das Unterholz. Von Laub gefilterter Regen rieselte als nasser Staub auf den Waldboden. Im Schatten der letzten Bäume blieben die Jäger stehen. Nachdem sie ihre Taschenlampen ausgeschaltet hatten, inspizierten sie unwillig eine Wiese, die keinerlei Deckung bot. In drei oder vierhundert Metern Entfernung konnten ihre geübten Augen bereits die Umrisse der Blockhütte erkennen.

Ron sah erschrocken über seine Schulter, als er einen dumpfen Aufprall hörte. Jim hatte die Tasche zu Boden fallen lassen und presste sich an den zerfurchten Stamm einer Eiche. Feuchter Atem schoss über seine schmerzverzerrten Lippen.

Sofort packte Ron zu: „Nein, nein, nein – tu mir das nicht an, Jimmy“, flüsterte er heiser. „Wir können jetzt keine deiner Visionen gebrauchen …verdammt…!“ Er rüttelte ihn heftig.


*** Die Bestie in dir ***



„Ron“, quetschte Jim heraus.

Dem Älteren wurde augenblicklich klar, dass Jim bei Bewusstsein war.

„Das ist keine Vision“, keuchte Jim. Ächzend riss er seinen Kopf nach vorn und dann nach hinten. Ein Zusammenstoß mit dem Baumstamm war unvermeidbar. „Warte – warte … da ist …!“ Seine Pupillen weiteten sich. Während er blinzelte, entwichen ihm Laute von Entsetzen und Lust bis er plötzlich erstarrte. „Niemals!“
Zweige und Äste verwandelten sich vor Jims Augen zu bizarren Silhouetten. Die Wiese wurde zu einem zähen Brei in Rottönen und die Ränder seines Sichtfeldes verblassten. Der Wald schrie ihn so erbarmungslos an, dass er befürchtete, taub zu werden. Zu Boden fallende Regentropfen donnerten wie Lawinen und Jim hörte das unzählige Getier im Erdreich wühlen, kriechen und schmatzen. Er roch den moosigen Waldboden mit solcher Intensität, dass er als faulender Geschmack auf seiner Zunge haften blieb.
Schließlich verknoteten sich die Farben, Laute und Gerüche zu einem Strudel, der ihn mitriss. Sein Kopf prallte gegen den Baumstamm. Ein gähnender Schlund öffnete sich vor ihm.
Aber Jim war nicht allein. Die Luft war angefüllt mit Klagelauten, keuchendem Atem und dem metallischen Geschmack von menschlichem Blut. Vor ihm tauchten Körper auf.
Zunächst noch mit Abscheu hörte er einen vertrauten Herzschlag. Doch dann explodierte ein euphorisch, warmes Gefühl in seinen Nervenenden. Es betäubte seine Schmerzen. Gierig glitt sein Blick über blutverschmierte Gesichter. Die Menschen – es waren noch halbe Kinder, waren ihm völlig unbekannt. Er roch ihre Angst und spürte fremdes Blut, unglaublich kraftspendend, durch seine Adern fließen. Der Rhythmus eines gewaltigen Herzens wurde mit jedem Schlag fordernder. „Niemals!“ Stöhnend stemmte sich Jim gegen den fremden Griff und sank in die Knie.

Ron sah in das verschwitzte Gesicht seines Bruders. Noch völlig außer Stande, Worte zu formulieren, versuchte er sich zu erheben.

„Was ist denn los mit dir, Jimmy?“ Ron griff nach dem Hinterkopf seines Bruders. Als er die dunklen Flecken auf seiner Handfläche erkannte, holte er tief Luft.

„Es ist nicht schlimm – nur ein Kratzer“, flüsterte Jim. Seine Augen flackerten. „Er ist hier!“

Ron hatte sich vor Jim gehockt und sah ihn erschüttert an.

„Er hat sie versteckt – irgendwo in einer Höhle“, keuchte Jim.

„Wie kannst du das wissen?“, fragte Ron.

„Ich kann seine Gegenwart spüren. Ich kann durch seine Augen sehen“, murmelte Jim.

Ron strich sich mit der Hand verzweifelt über das Gesicht. „Hast du Lilly auch gesehen“, fragte er.

„Nein, sie war nicht dabei.“ Jims Antwort ließ einen Hoffnungsschimmer über sein Gesicht huschen.

„Mein Gott - es sind fast noch Kinder …“, hauchte Jim fassungslos. Er biss sich auf die Lippen. „Ron! Dieses Wesen versucht, nach mir zu greifen.“

Ron hatte sich wieder aufgerichtet. Die steile Falte auf seiner Stirn verschob das Heftpflaster über seiner Platzwunde. „Kannst du es kontrollieren“, wollte Ron wissen. Seine Kiefer zuckten. Aber er brauchte Jim gar nicht zu fragen, er wusste, was sein Bruder fühlte. Er sah es mit eigenen Augen. Als Jim sich erhob, wurden seine sanften Augen plötzlich empfindungslos und gierig. Und diese Veränderung machte Ron eine höllische Angst.

Jim nickte unsicher. „Ich versuche es“, murmelte er.

„Gut! Dann haben wir einen Vorteil.“

Jim schüttelte zweifelnd seinen Kopf. „Ron … wenn ich durch seine Augen sehen kann, dann ist es umgekehrt auch möglich! Er weiß dass wir kommen.“ Zögernd ergriff er die Umhängetasche und warf sie über seine Schulter. Sein Blick glitt über eine Auenwiese, die im Zwielicht des Mondes schwarzgrün schimmerte. Uralte, knorrige Trauerweiden säumten in der Ferne das Ufer eines Bergsees. Ihre langen, nach unten hängenden Zweige bewegten sich wie Schleier im Wind. Mit ihren vernarbten buckligen Stämmen wirkten die Bäume wie alte Weiber. Jim schnaubte. Er mochte Wiesen.
Trockene Sommerwiesen, auf denen man sich im Sonnenschein niederlassen konnte, um gedankenversunken seinen Träumen nachzuhängen.
Duftende Sommerwiesen mit wilden Blumen, die von tanzenden Schmetterlingen umgarnt und von Bienen besucht wurden.
Warme Sommerwiesen, über denen im blauen, wolkenlosen Himmel die Lerchen ihre Lebensfreude in die Luft trällerten.
Diese Wiese erschien ihm jedoch wie eine gigantische Falle, die nur darauf wartete, ihre stählernen Zähne sekundenschnell ihrem Opfer ins Fleisch zu schlagen.
Sein Blick traf auf Ron, der ebenfalls skeptisch das offene Gelände betrachtete.

Es hatte den Anschein, als spielte das Wetter auf der Seite des Stüpp. Die Wolkendecke riss auf und erlaubte es dem zunehmenden Mond, die wuchernde Grasfläche zu erleuchten. Durch das fahle Licht angespornt, demonstrierten winzige Bewohner dieses Mini-Urwaldes ihre Präsenz. Unterschiedliches Zirpen und Säuseln von Grillen, Zikaden und anderem verborgenen Getier hallte den Jägern entgegen. Aus weiter Entfernung gesellte sich ein Chor von Lurchen dazu und vermischte sich mit dem Gesang der Grasmusikanten zu einem ohrenbetäubenden Konzert.

„Wenn wir den direkten Weg nehmen, können wir uns auch gleich eine Rundumleuchte auf den Kopf setzen“, knirschte Ron verärgert.

Jim nickte. Er taxierte aufmerksam den Waldrand. Es war jedoch keine Bewegung zu erkennen. Gerade deshalb riet ihm sein Instinkt zu doppelter Vorsicht, denn er konnte die Anwesenheit des Stüpps immer deutlicher spüren. In ihm wuchs die Angst, diesem Geschöpf gegenüber zutreten. Er war sich nicht sicher wie lange er dem Druck zweier Herzen noch standhalten würde.

„Wir gehen am Rand entlang“, entschied Ron und setzte sich in Bewegung. Seine Gedanken drehten sich im Kreise. Dass es keine Vision war, die Jim heimsuchte, beruhigte und verwirrte ihn gleichzeitig. Wie sollte er seinen kleinen Bruder schützen, wenn dieser sich ständig selbst im Wege stand? Konnte er Jim noch trauen? Eine unheimliche Verbindung mit diesem Geschöpf schien ihn immer mehr zu verändern. Die Kälte, die sich auf Jims Gesicht gelegt hatte, als er durch die Augen des Stüpps sah, machte Ron mehr Angst, als diese Bestie, die vermutlich längst zwischen den Bäumen lauerte.
Er hätte es wissen müssen! Jim hätte ihn niemals hierher begleiten dürfen. Ron biss sich auf die Lippe. Er hätte Jim vor einigen Tagen in der Blockhütte nicht den Schlafboden überprüfen lassen sollen. Es wäre seine Aufgabe gewesen. Er war der Ältere und er trug die Verantwortung. Diese schreckliche Verletzung, die Jim davongetragen hatte, erwies sich im Nachhinein um vieles furchtbarer, als die Tortur, die er ihretwegen schon durchleben musste. Ron schloss gequält die Augen.

Nasses Moos dämpfte ihre Schritte. Allmählich jedoch drängten sich immer mehr Kalksteine zwischen das Geflecht.
Angespannt näherten sich die Jäger der kleinen Hütte von der Rückseite her.

„Ron!“ flüsterte der Jüngere. Sein Kopf wies nickend auf eine Stelle seitlich von ihnen. Offensichtlich war hier etwas durch das Unterholz befördert worden. Am Boden zeigten sich deutliche Schleifspuren und abgeknickte Zweige. Wortlos verständigten sich die Jäger und folgten aufmerksam der Spur, die direkt in den Wald hinein führte. Nach wenigen Minuten erreichten sie einen steilen Abhang. Die schroffen Kanten hervorstehender Kalksteine und aufgewühltes Laub, vermischt mit krümeliger schwarzer Erde, verrieten den Weg. „Sie sind irgendwo da unten“, keuchte Jim, als seine Blicke der Fährte folgten. Dann hob er ruckartig den Kopf, um Ron aufzufordern, ihm zu folgen.

„Bist du dir da sicher?“ Ron betrachtete missbilligend den steilen Abhang, der sich weiter unten in einem dichten Wirrwarr aus Farnen und unzähligen, spindeldürren Laubbäumen verlor.

Jim sah zu seinem Bruder hinauf. „Ich kann ihr Blut riechen“, entfuhr es ihm überraschend. Feuchte Haarfransen vibrierten auf seiner Stirn.
Ron zuckte zusammen. Aus blaugrauen Augen funkelte ihn die Gewissheit eines animalischen Instinktes an. Jim hatte seine Hände bereits in den feuchten Boden gekrallt, um rücklings kletternd in die Schlucht zu gelangen.
„Jim - verdammt! Was ist los mit dir?“ Erschrocken wich der Ältere zurück.

Um Jims Mundwinkel zuckte ein Lächeln, als er sich aufrichtete. Sein aufgepeitschter, muskulöser Körper wirkte im blassen Licht des Mondes furchteinflößend. „Es ist der Stüpp!“ Jim atmete laut aus und beobachtete einen Moment den Atem, der vor seinen Lippen kondensierte. „Ich kann nicht nur durch seine Augen sehen, Ron!“ Er atmete die feuchte Waldluft geräuschvoll ein. Dabei blähten sich seine Nasenlöcher auf, wie die Nüstern eines wilden Mustangs. Jims Muskeln spannten sich. Bedächtig wandte er sein Gesicht dem fassungslosen Bruder zu und sah ihn mit blitzenden Augen an. „Ich verfüge über alle seine Sinne. Es ist atemberaubend!“ Fasziniert neigte Jim den Kopf. Seine Pupillen verengten sich, als er die pulsierende Schlagader am Hals seines Bruders fixierte. Er hörte Rons Herz, das sich rasant beschleunigte. Hetzender Atem donnerte in seinen Ohren und Angstschweiß strich ihm verführerisch in die Nase. Mit einem gewaltigen Schritt näherte er sich Ron. „Du solltest dich etwas beruhigen Alter. Sonst verlierst du noch dein Herz“, keuchte Jim.

Ron erstarrte. Das war doch nicht Jim! Sein Instinkt schrie: Fliehe oder töte ihn! Aber sein Herz hielt ihn zurück. Er ist dein Bruder – hämmerte es auf ihn ein. Ron war außer Stande, sich zu bewegen. In seinen grünen Augen flackerte Angst. Verdammt! Er ist dein Bruder. Du musst ihn beschützen!
Alles drehte sich im Kreis. Er würde Jim niemals töten. Nein - er musste ihn beschützen! Denn das war sein Job.

Sekundenschnell packte Jim zu. Der Angriff kam mit der tödlichen Präzision eines Raubtieres. Eiserne Finger bohrten sich in Rons Schultern, stahlblaue Augen blitzten auf. Jim hatte Ron an sich heran gerissen. Sein fliegender Atem schlug ihm ins Gesicht.

Ron versuchte, sich aus dem harten Griff zu befreien. Aber er war chancenlos und konnte nur hoffen, dass Jim zu sich zurückfand.
Regungslos standen die Jäger – Auge in Auge vor dem Abhang. Sie belauerten sich wie zwei Rivalen.
Schneller als Ron es überhaupt bemerken konnte, legten sich Jims Finger um seinen Hals und drückten zu.
Verzweifelt kämpfte er um Luft. Vor seinen Augen tanzten Sterne und ein dumpfes Rauschen in seinem Kopf signalisierte, dass der Sauerstoff knapp wurde. Seine Knie begannen zu zittern. Als Jim Ron mit einem Arm mühelos anhob, baumelten seine Beine kraftlos in der Luft. Ron blieb nicht einmal genug Atem, um zu krächzen.

„Wir sollten uns wirklich beeilen - Ron“, raunte Jim. „Sie leben noch … ALLE!“ Völlig überraschend hatte er seinen Griff gelöst, ergriff nun die Tasche und begann mit dem Abstieg.
Ron stürzte zu Boden, quälte sich auf die Beine und taumelte einige Schritte rückwärts. Während seine Lunge nach Sauerstoff schrie, lehnte er seinen schwankenden Körper gegen einen Baum. Nur langsam wich das Entsetzen aus seinen Knochen und sein Herzschlag beruhigte sich. Zerrissen vor Wut und Angst, bewegte er sich auf den Abhang zu. Seine Augen folgten aufmerksam Jim, der bereits einige Meter hinuntergeklettert war. Er schien von all dem völlig unbeeindruckt und konzentrierte sich auf den Abstieg.

„Jim?“ Rons Stimme vibrierte. „Du wirst mir doch nicht die Gurgel rausreißen - oder?“

Ruckartig schnellte Jims Kopf nach oben. Er fixierte Ron und stemmte sich gegen das mächtige Verlangen, das der berauschende Geruch seines warmen Körpers über ihm erneut entfachte. Nur mühevoll gelang es Jim, seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken.

Die letzten Meter des Abstieges waren die Jäger mehr gerutscht als geklettert. Scharfkantige Kalksteine zerbröselten immer wieder unter ihren Fingern und aufgeweichtes Erdreich gab bei jeder Bewegung nach.
Irgendwann gaben sie es auf und vertrauten dem Gesetz der Schwerkraft. Am Grund der Schlucht angekommen, streiften ihre Augen suchend über meterhohe, dunkelgrüne Farnblätter. Laub und Moos hatte sich in ihren Sachen gefangen.

Ron zog es immer noch vor, in einiger Entfernung hinter Jim zu gehen, um bei Bedarf rechtzeitig Deckung zu suchen oder genügend Zeit zu haben, die Waffe zu ziehen. „Mann Jim, hier unten sieht man gar nichts“, flüsterte er.

„Sie sind hier. Vertrau mir“, raunte der Jüngere und entlockte dem Älteren einen zweifelnden Blick.
Jim ließ seine Augen über bewegte Blätter gleiten und nickte Ron zu. Jetzt erkannte auch der Ältere schemenhaft die zerbeulte Karosse eines buntlackierten Kleinbusses. Der Blechhaufen sah aus, als hätte eine Abrissbirne ihren Tobsuchtsanfall an ihm ausgelassen. „Ist da noch jemand drin?“, fragte er unsicher.

Jim konzentrierte sich einige Sekunden, schloss die Augen, hob die Nase und roch. Mit einem Stoß trieb er den Atem wieder aus seinen Lungen: „Da ist nichts, was noch lebt“, antwortete er und wandte sich desinteressiert ab.

Kopfschüttelnd sah Ron zu Boden. Er ließ Jim wieder voraus gehen und murmelte kaum hörbar. „Ich schwöre dir Jimmy – wenn ich das hier überlebe, fahre ich mit dir höchstpersönlich zum Tierarzt und lass dir eine Tollwutimpfung verpassen.“

„Das habe ich gehört Ron“, lachte Jim auf. Er drehte sich um und sah Ron grinsend ins Gesicht: „Da – in der Höhle! Ich bin mir ganz sicher.“

Langsam näherten sie sich dem Ende der Schlucht. Erst jetzt bemerkte Ron den breiten Spalt, versteckt hinter dornenbewehrtem Gestrüpp, in der zerklüfteten Wand vor ihnen.
Jim zwängte sich durch die Büsche und verschwand in der Felsenlücke. Nach einem kurzen Zögern folgte Ron. Augenblicklich wurde es Nacht. Widerlicher Geruch von abgestandenem Wasser und schimmelndem Holz klebte in der Luft. Unter ihren Füßen knirschte loses Erdreich.

„Verdammt“, knurrte Ron und suchte nach seiner Taschenlampe. Zitternd irrte ihr Schein über Kalksteinwände. Einige Fledermäuse rückten enger zusammen, als das schmale Licht über sie hinwegfegte.
Fast entwich ihm ein Schrei, als Jims Gesicht vor ihm auftauchte. Die Kälte und Rohheit in seinen Augen war abstoßend. Jim fixierte ihn aus nächster Nähe.
Er grinste: „Was ist Kumpel, kannst du etwa nichts sehen?“ Geblendet vom Schein der Lampe, verkleinerten sich Jims Pupillen zu Punkten. Sie erinnerten an die Augen eines Haies.
Einen Wimpernschlag später erfüllten gequälte Laute den Raum. Sie kamen weit aus dem Inneren der Höhle. Jim drehte sich blitzschnell in diese Richtung - dann sprang er mit einem Satz hinter seinen Bruder und versperrte den Ausgang. „Ich hab´s dir doch gesagt, Ron!“ Seine Stimme schallte. „Sie sind alle hier.“ Jims Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Wir sind am Ziel – Bruder!“

Ron erschauerte. Reglos stand Jim im Höhleneingang und taxierte ihn mit dem Blick eines Schlächters. Dabei neigte er den Kopf. Seine Nasenflügel bebten bei jedem Atemzug.
Unendlich lange Minuten verstrichen, in denen Ron trotzte. Doch Jim griff nicht an. Er stand einfach nur da und starrte. Etwas hielt ihn zurück – das konnte Ron deutlich spüren. Irgendwo hinter dieser kalten Fassade versuchte Jim verzweifelt, sich einem übermächtigen Tier entgegen zu stellen.

Ron suchte nach einem Weg, um zu Jim durchzudringen. Langsam fasste er an seinen Hals, nach einem ledernen Bändchen mit Anhänger. Jim hatte es ihm als Kind zu Weihnachten geschenkt. Als Ron es mit einem Ruck zerriss, spürte er die neugierigen Blicke seines Gegenübers. „Fang“, rief er und schleuderte Jim den glänzenden Gegenstand entgegen. Reflexartig fing dieser die Figur auf.
Darauf hatte Ron gehofft. Als Jim neugierig das winzige Objekt musterte, zuckten seine Mundwinkel. Kleine Fältchen bewegten sich auf seiner Stirn.

„Jim“, flüsterte Ron. Er hatte die Reaktion sofort bemerkt, vor allem aber erhofft. Ein Schauer schien Jim zu erfassen. Ron hob beschwichtigend die Hände: „Bitte – kämpfe dagegen an.“ Vorsichtig näherte er sich seinem Bruder.
Plötzliche Schweißtropfen am Haaransatz des Jüngeren bezeugten einen verbissenen Kampf, der in seinem Inneren noch nicht entschieden war. Langsam ließ er seinen Kopf sinken.

„Jimmy – kämpfe“, flüsterte Ron bestimmend. „Denk an Mom! Denk an Jessica! Denk an Dad!“ Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. „Lass sie nicht umsonst gestorben sein! Bitte Jim – kämpfe!“ Rons Stimme bebte, er spürte sein Herz rasen. „Jimmy! Wehre dich!“ Seine Stimme wurde lauter. Er war nicht bereit, Jim aufzugeben, denn er spürte hinter der schroffen Fassade eine Seele, die sich mit aller Macht gegen das Böse stemmte. Er betete, dass seine Worte diesen Bann brechen würden. „Jimmy hörst du mich?“ Ron war abrupt stehen geblieben, nachdem Jim seinen Kopf erhoben hatte und ihn ausdruckslos anstarrte.
„Jimmy – erinnerst du dich daran, was du mir vor ein paar Stunden gesagt hast?“ Ron atmete tief ein, seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Wir sind alles, was übrig ist – alles was wir haben! Jimmy! Darum müssen wir auf uns aufpassen!“ Eisern unterdrückte er das Zittern seines Körpers. Solange Ron nur eine einzige menschliche Regung in Jims Gesicht erkennen konnte, klammerte er sich an diesen Hoffnungsschimmer. „Jim! Bitte erinnere dich! KÄMPFE!“
Jims Brust hob und senkte sich erregt und sein steinerner Gesichtsausdruck zerbröselte. Plötzlich riss er den Kopf in die Höhe, seine tränenüberfluteten Augen irrten über die Höhlendecke. „Ron“, flüsterte er. Dann stieß ein markerschütternder Schrei aus seiner Kehle. Jim sackte zusammen als hätte ihn jede Kraft verlassen.

Auch Ron war in die Hocke gegangen und beobachtete Jim, der sich unter seinen Blicken in Tränen auflöste. Er legte seine Hand sanft auf Jims Schulter. „Ich werde auf dich aufpassen Jimmy. Das ist ein Versprechen!“

Hastig entzog sich Jim dieser Berührung und blinzelte aus geröteten Augen: „Komm nicht näher – bitte.“ Seine Stimme stolperte Ron entgegen. „Ich kann es nicht kontrollieren. Ich will dich nicht töten!“ Immer wieder wurden Jims Worte von kurzen Luftstößen zerrissen. „Es tut so weh – sich dagegen zu wehren“, keuchte er. „Es wird mit jeder Minute schlimmer – er wird mich nicht los lassen, Ron.“
Jim presste ächzend die Augen zusammen. Er zog die Knie gegen seinen Bauch und umschlang sie mit den Armen. Ruhelos pendelte sein Körper vor und zurück. Seine Atmung wurde schneller. Schließlich drehte er den Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Die Gier nach dem Blut, das er immer noch in Rons Adern rauschen hörte, wühlte sich schmerzhaft durch seine Eingeweide. Jim lehnte an der Felswand hinter seinem Rücken. Seine Lunge schrie nach Sauerstoff, bekam aber nur den Geruch von Blut, der jeden Atemzug zur Tortur machte.
„Ron, du musst sie retten!“, befahl Jim keuchend. „Ich darf nicht mitkommen!“ Mit flehenden Augen sah er Ron an. „Ich kann ihr Blut nicht riechen. Ich ertrage es nicht. Nicht so nahe! BITTE!“

„Ist okay, Jimmy – ist okay“, raunte Ron. Angsterfüllt beobachtete er Jim, dessen Körper sich verkrampfte und ihn schreiend zur Seite kippen ließ. Als Jim ächzend am Boden lag, hielt Ron nichts mehr zurück. Er wollte Jim packen. Doch dieser schrie unter seiner Berührung auf. Verzweifelt wich Ron zurück.
Alles konnte er ertragen. Aber keine noch so schmerzhafte Wunde in seinem Fleisch und keine geprellte Rippe quälten ihn so grausam, wie dieser Anblick.

„Geh!“, schrie Jim. „Verschwinde Ron!“

„Was ist mit dir?“

„Verdammt! Geh schon!“ Angst ließ Jims Stimme vibrieren. Die Adern an seinen Schläfen traten hervor. „In Gottes Namen! Geh endlich!“ Seine Sehnen zerrten an seinen Muskeln. Jims Arme und Beine schienen am Boden festgenagelt zu sein. Aber nur Sekunden später schleuderte ihn eine unbekannte Kraft über den Boden. Jim prallte gegen herumliegendes Geröll und die dumpfen Schläge unnachgiebiger Steine ließen Sterne vor seinen Augen explodieren. Halb ohnmächtig blieb er liegen. Sein Kopf zog sich in den Nacken und furchtbare, gequälte Laute entflohen seinen Lippen.

Ron konnte die Schlagader am Hals des Bruders so heftig pulsieren sehen, dass er befürchten musste, sie würde gleich platzen. Stöhnend bäumte sich Jim auf und wurde auf den Rücken geworfen. Speichel stieß über seine Lippen als Ron mit aller Macht versuchte ihn zu halten.

„Verdammt Ron - ich rieche dein Blut – verschwinde endlich“, quiekte Jim nur noch. Sein Kopf war glutrot angelaufen. Schweiß klebte auf jedem Zentimeter seiner Haut. Als er die Zähne zusammenschlug, spritzte Blut über seine Lippen. Krämpfe blockierten sein Zwerchfell und seine Lunge, die vergebens versuchte, lebensnotwendigen Sauerstoff zu beschaffen. Mit aufgerissenen Augen sah Jim an die Decke – sein heiseres Schreien verwandelte sich in ein Röcheln.
Einzig sein Herz blieb verschont um ihn am Leben zu erhalten und so den erlösenden Sturz in den Tod zu verhindern. Angetrieben von Angst, raste es unter seinen Rippen wie ein Maschinengewehr.

Ron erkannte mit schlotternden Knien den verbitterten Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Schritt für Schritt wich er vor dem schrecklichen Schauspiel zurück, bis ihn ein Hindernis in seinem Rücken stoppte. Von Verzweiflung überwältigt, riss er schließlich den Körper herum und schlug mit der Stirn gegen die Wand. Rons Fäuste hämmerten ungebremst über seinem Kopf auf die rauen Steine ein und zeichneten rutschige, blutrote Bahnen auf den Felsen.
Nie gehörte, gequälte Laute drangen über Jims Lippen.
Ron presste seine Hände auf die Ohren. Es war vergebens – er konnte die Qualen seines Bruders nicht aussperren. Jeder wimmernde Ton, der dem zuckenden Körper am Boden entwich, schlug wie ein Peitschenhieb auf ihn ein. Einer Ohnmacht nahe fiel Ron auf seine Knie.

Die reißenden Sehnen an Jims Muskeln ermüdeten, irgendwann erkämpfte sich sein Bewusstsein den Weg zurück an die Oberfläche. Gequält sah er in Rons tränenüberflutete Augen und befahl. „Geh und rette sie – los, mach schon!“ Jim versuchte sich aufzurichten. Der Angriff hatte seine Kraftreserven verbraucht. Auf die Befehle seines Gehirnes reagierte sein Körper nur mit ohnmächtigem Zittern. Schließlich gelang es ihm, sich über den schmierigen Erdboden zum Ausgang zu schleppen. Als Jim an der Wand lehnte, schloss er die Augen und atmete gierig die einströmende Waldluft ein. Sie war um vieles erträglicher, als der süße Duft von Blut in der Höhle.

„Was ist mit dir?“, fragte Ron und betrachtete Jim. Seine Lippen und Mundwinkel waren blutverkrustet. Dunkle Flecken, vermischt mit Kalk bildeten eine lederähnliche Kruste auf den Fasern seiner Kleidung. Jims Haare waren mit Blut durchdrängt, das in mehreren Rinnsalen über sein Gesicht tropfte. Ron war entsetzt. Er wollte gar nicht wissen, welche Verletzungen sich unter Jims Kleidung verbargen.

„Er wird mich nicht töten“, versicherte ihm Jim hustend. Seine Stimme klang durch die angeschwollene Zunge fremdartig.

„Woher willst du das wissen“, entfuhr es Ron.

„Ich bin doch noch da…“, antwortete Jim leise und sah zu Boden.

Ron wagte es nicht mehr, sich Jim zu nähern. Einen weiteren Anfall würde er nicht überleben. „NEIN!“, stieß er hervor. „Das lasse ich nicht zu! Dieses Miststück wird dich nicht bekommen!“

Ruckartig schnellte Jims Kopf herum. „Geh!“ Seine Augen bekamen wieder einen kalten Glanz und sein Atem beschleunigte sich. „Ron – ich ertrage das nicht noch einmal“, presste er hervor. „Du weißt, was passiert, wenn ich dich begleite.“

Ron verstand. Zu qualvoll war Jims Kampf gegen die mörderischen Instinkte des Stüpps. „Was soll ich nur tun, Jimmy?“, schrie er. Seine Worte hallten als Echo durch die weit verzweigten Gänge. „Ich kann dich doch nicht allein lassen!“

Jim stand auf. Bei jeder noch so winzigen Bewegung schrie sein Körper. Er sah in Richtung Ausgang und sog die moosige Waldluft ein.
„Sie sind im Hauptgang. Etwa 150 Meter geradeaus. Am Ende der Schlucht ist ein Pfad. Er führt direkt auf den Waldweg zu den Fahrzeugen“, keuchte Jim und hielt sich die linke Seite. Das zersplitterte Ende einer gebrochenen Rippe hatte seine Lunge durchstoßen. „Bring die Kids in Sicherheit, Ron!“
„Was hast du vor?“ Die Panik in Rons Stimme veranlasste Jim, sich noch einmal umzudrehen. „Ich muss gehen. Denn solange ich noch menschlich bin, haben wir vielleicht eine Chance! Ich werde versuchen, ihn aufzuhalten“, antwortete Jim bevor er zum Ausgang wankte.

„JIM - Nein!“ Ron erstarrte.

Um Jims Mundwinkel legte sich ein bitteres Lächeln. „Er wird hinter mir her sein, Ron. Damit bekommst du genug Zeit, diese Menschen zu retten.“

Rons Herz hämmerte protestierend unter seiner Brust. Aber der Verstand sagte ihm, dass sein Bruder Recht hatte und nur eine Trennung das einzig Richtige sein konnte. Jim durfte ihn nicht weiter begleiten. Er musste von allem fern bleiben, was dieses dunkle Verlangen in ihm erneut anschüren konnte. Verzweifelt holte Ron Luft. Ätzender Kalkstaub stach in seiner Lunge. Die bittere Erkenntnis, dass es ausgerechnet seine Anwesenheit war, die Jims animalische Sinne in Brand setzte und ihn so der Bestie Stück für Stück in die Arme trieb, brachte Rons Verstand an den Rand des Wahnsinns. Er wusste: es war sein Blut, das diesen unersättlichen Hunger auslöste, sein Herzschlag verführte Jim und sein Schweiß brachte den barbarischen Zweikampf immer wieder zum Ausbruch. Mit jeder verstreichenden Sekunde wuchs die Gefahr, dass Jim nicht mehr in der Lage war, dieser Last standzuhalten.
Eine Träne rollte über Rons Wange. Mit versteinertem Blick beobachtete er Jim, der gleich einem Schatten lautlos zwischen den Farnen verschwand.

*** *** ***

Leise folgte Ron dem Schein der Taschenlampe, die gelegentlich eine quiekende Ratte oder ein überdimensioniertes Insekt am Boden aufscheuchte. Der Lederriemen seiner Umhängetasche drückte schmerzhaft gegen seine Rippen. Er bewegte sich lautlos durch den Hauptgang der Höhle. Seine Sinne auf höchste Alarmbereitschaft gesetzt, lauschte er in eine Dunkelheit, die ihn wie ein schwarzes Tuch umhüllte. Sein ganzes Handeln war mechanisch. Antrainiert durch den harten Drill seines Vaters, sowie unzähligen Kämpfen und Rettungsaktionen übernahm das Herz des Jägers widerspruchslos diese Aufgabe, während das Herz des Bruders verzweifelt gegen diese Entscheidung rebellierte.
Sein Hass auf den Stüpp wuchs und Ron war nur noch von einem Gedanken beseelt. Er musste dieses Miststück töten. Niemals würde er Jim diesem Wesen überlassen. Er war bereit, sein Leben zu opfern. Angst verspürte er schon lange nicht mehr. Die letzten Minuten hatten seine Schmerzgrenze zerfetzt.

Plötzlich hörte er ein Wimmern. Der Schall seiner Tritte wurde weiträumiger und verriet, dass sich der schmale Gang verbreiterte. Suchend fegte das Licht der Taschenlampe über Boden und Wände, um sich schließlich in den schroffen Kanten der Höhlendecke zu verlieren. Beißender Gestank nach geronnenem Blut, Schweiß und Exkrementen trieb ihm Tränen in die Augen. Noch immer konnte er nichts erkennen.
Als unterdrücktes Husten seine Aufmerksamkeit tiefer in einen seitlichen Hohlraum zog, blieb er stehen. Weit entfernt bewegte sich etwas. Mit jedem seiner weiteren Schritte schälten sich sieben Körper aus der Dunkelheit. An den Handgelenken gefesselt, hingen sie von der Höhlendecke herab. Ihre Füße berührten kaum den Boden. Die Gefangenen befanden sich in einem bedauernswerten Zustand. Ihre Gesichter, bis zur Unkenntlichkeit mit Dreck und geronnenem Blut verschmutzt, waren zu Boden geneigt. Üble Schwellungen hatten sich durch den Druck der Fesseln an ihren Handgelenken gebildet.

Als Ron in das erste Gesicht sah, wurde ihm klar, dass es sich um die vermissten Jugendlichen handelte. Er atmete erleichtert auf.
Das Erscheinen des Jägers brachte Unruhe unter die Opfer. Ermahnend legte Ron den Zeigefinger auf seine Lippen und zog sein Jagdmesser am Fußgelenk. Nach und nach durchtrennte er die Fesseln der Opfer, ließ ihre ermatteten Körper zunächst in seine Arme gleiten um sie anschließend auf den Boden zu setzen.

Etwas abseits hing ein Mann um die 30. Als Ron sich näherte, streifte ihn sein müder Blick.
„Ash“, fragte Ron. Der Mann nickte. „Ich bin Ron“, flüsterte er. „Ich werde euch jetzt hier raus bringen.“ Misstrauisch glitten seine Blicke durch die Höhle.

Ash sah zum Jäger hinauf. „Ron?“ Kam es erstaunt über seine Lippen. „Hat Lilly Sie geschickt?“

Bei der Frage zuckte Ron zusammen. „Nein“, antwortete er. Ash wollte etwas sagen, aber Ron unterbrach ihn. „Wir müssen hier weg“, drängte er ungeduldig und warf einen prüfenden Blick über seine Schulter. „Könnt ihr gehen?“
Erleichtertes Nicken und Flüstern breitete sich unter den Kids aus. Ihnen waren die schmerzenden Knochen egal – Hauptsache, sie kamen weg von diesem Ort.
Ron ließ der kleinen Gruppe noch einige Minuten Verschnaufpause, bis er sie nötigte, ihm zu folgen.

*** *** ***

Langsam bewegten sich die kleine Gruppe an der Felswand entlang. Ash hatte sich schnell erholt und sicherte das Ende, während Ron, seine 45-ziger, geladen mit Silberkugeln in der Hand, voran ging. Bald war der größte Teil der Strecke überwunden. Überlebenswille und Angst, dieser Kreatur erneut zu begegnen, überflutete ihre Adern mit Adrenalin. Durch diese Droge verspürten sie weder Schmerzen noch Müdigkeit.
Der Mond leuchtete spärlich hinter dem Ausgang und Ron atmete auf. Er gab mit einem Handzeichen zu verstehen, einen Moment abzuwarten. Obwohl sich vor ihm nichts bewegte, warnte ihn sein Instinkt. Irgendetwas stimmte nicht. Nur noch wenige Meter trennten sie vom Nachthimmel.
Zögerlich wanderte das Licht der Taschenlampe über herumliegendes Geröll, huschte über schmutzige Wände und glitschigen Boden. In ihrem Schein zeigten sich auch Steinkanten, die mit Blut bedeckt waren. Diese Spuren erinnerten an Jims verzweifelten Kampf.
Ein tiefer Atemzug stieß über Rons Lippen. Er hatte keine Ahnung, wo er nach Jim suchen sollte, oder wie er ihn retten konnte. Gequält atmete er wieder ein. „Später!“, dachte Ron, zunächst war noch eine Aufgabe zu erledigen. Er hatte versprochen diese Leute in Sicherheit zu bringen – und Ron hielt seine Versprechen.

Zögernd bewegte er sich in die Mitte des Raumes. Es schien alles normal. Nirgends war auch nur die geringste Bewegung auszumachen – und doch! Etwas hatte sich verändert. Ron wusste nicht, was es war. Die winzigen Härchen in seinem Nacken richteten sich auf, als er ratlos stehen blieb. Fragend wandte er sich an Ash. Dieser hob die Schultern und gab zu verstehen, dass er weiter gehen wollte. Fast verschmolzen die Kids mit den Steinen, als sie verängstigt an der Wand entlang schlichen. Rons wachsende Unruhe übertrug sich auf die jungen Menschen.

Sie befanden sich am Ausgang, als dem Jäger der Schrecken durch die Glieder fuhr. Seine Augen erfassten einen dunklen Fels, dicht neben dem Eingang. Dieser Stein war nicht kalkig hell, wie das herumliegende Geröll. Er gehörte einfach nicht in diese Höhle. Und sekundenschnell faltete sich dieser Brocken auseinander. Ein mächtiger Körper versperrte den Ausgang. Wolfsaugen blitzten im Dunkeln. Noch bevor Ron seine Waffe auf den Stüpp richten konnte, traf ihn dessen Pranke und schleuderte ihn durch den Raum. Ein heftiger Aufprall und reißende Schmerzen seiner geprellten Rippen entlockten ihm einen Schrei. Reflexartig versuchte Ron auf seine Beine zu kommen. Aber Sterne blitzten vor seinen Augen auf. Dann wurde es finster.

*

Ächzend öffnete Ron seine Augen und versuchte, den Kopf zu heben. Er biss die Zähne zusammen und verlagerte sein Gewicht auf die Ellbogen. Nach wenigen Sekunden wusste Ron, dass er nur kurze Zeit ohnmächtig gewesen war.
Sofort suchte er nach der Waffe, die er während des Angriffs verloren hatte. Er musste jedoch feststellen, dass sie auf der gegenüberliegenden Seite vor einem Geröllhaufen liegen geblieben war. Der Stüpp hatte sich in die Mitte der Höhle bewegt und schnitt auf diese Weise ihm, wie auch der Gruppe um Ash herum, den Weg ab.
Ash hatte sich mit ausgebreiteten Armen vor seine Schützlinge geschoben und sah mit erstarrten Augen auf die riesige Kreatur, die ihn zähnefletschend bedrohte. Verängstigt pressten sich die Teenager hinter ihm gegen die Wand.

Ron erschauerte. Er hatte den Stüpp noch nie gesehen - doch sofort wurde ihm klar, dass Jim recht gehabt hatte. Dieses Wesen war alles andere, als ein gewöhnlicher Werwolf. Langsam versuchte er sich zu erheben. Aber seine Bewegung entlockte dem Stüpp ein bedrohliches Grollen. Das Tier zögerte und sprang schließlich mit einem gigantischen Satz auf die Jugendlichen zu. Seine Lefzen kräuselten sich und dolchartige Reißzähne blitzen auf.

Ron wollte aufschreien, als sich die klauenbewaffnete Pranke zum vernichten Schlag erhob.

*

„He, du Mistvieh! Du willst doch mich!“, hallte es provozierend durch die stickige Luft. Erschrocken riss Ron seinen Kopf in Richtung Ausgang. Jim lehnte keuchend an der Steinwand und fixierte den Stüpp.
Dieser drehte sich ruckartig um. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, die den Jüngeren sofort ins Visier nahmen. Dann neigte das Tier seinen Kopf und legte die Ohren an, wie ein demütiger Hund. Langsam näherte sich die Bestie dem Jüngeren der Jäger.

Reaktionsschnell eilte Ron an die gegenüberliegende Seite. Er schob die eingeschüchterten Teenager, die sich zusammendrängten wie verängstigte Lämmer, dem Ausgang entgegen. Der Stüpp hatte jegliches Interesse an ihnen verloren. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich Jim.

Schon spürte Jim die Nase des Stüpps auf seinem Körper, als dieser gierig seinen Geruch aufsog. Speichelfäden wirbelten um die Lefzen des Wolfes als er triumphierend seinen Schädel in den Nacken riss und mit seinem dämonischen Gesang Schwärme von Fledermäusen aufschreckte, die panisch durch den Höhlenausgang flohen.
Jim schluckte. Zur Flucht war er nicht mehr in der Lage. Schon hatte der Stüpp seine gebrochene Rippe fixiert, als könne er sie sehen. Bei jedem stechenden Atemzug, der Jim quälte und langsam seine Lunge mit Blut füllte, entwich auch dem Wolf ein schmerzlicher Ton. Schließlich erhöhte das Tier den Druck seiner Pranke.
Jims quälende Schmerzen verblassten. Er fiel vor der Kreatur auf die Knie und seine Angst wich dumpfer Gleichgültigkeit. Stromstöße peitschten durch seinen Körper und übertrugen sich als kleine blaue Flammen auf den Arm des Stüpps, der ihn nicht mehr los ließ.

Langsam driftete Jim einem Abgrund entgegen. Seine Existenz wurde von einem fremden Bewusstsein verdrängt, das über 400 Jahre auf diesen Moment gewartet hatte.

*** *** ***

„Miststück!“ Rons Worte zerrissen die Stille. „Du willst meinen Bruder?“ In seinen Augen funkelte Entschlossenheit. „Dann komm und stell dich zuerst mir!“
Dreimal zerriss das Mündungsfeuer der 45-ziger in Rons Händen die Dunkelheit. Begleitet von ohrenbetäubenden Explosionen schlugen drei Silberkugeln nacheinander im Rücken des Stüpps ein. Blut spritzte aus den ins Fleisch gerissenen Wunden und der Wolf riss heulend den Körper herum. Eine Pranke zum Schlag erhoben, wankte er auf den Schützen zu. Ein weiteres Heulen ausstoßend, stürzte er zu Boden.
Blitze zerfetzten vor den Augen des Jägers seinen riesigen Körper. Der Stüpp flimmerte ein paar Mal und verschwand. Zurück blieb eine Blutlache.

Ron hatte die Arme schützend vor sein Gesicht gelegt. Langsam ließ er sie nun sinken und blinzelte. Nachdem sich der beißende Rauch verzogen hatte, erkannte Ron Jims Körper an der Felswand. Offensichtlich war sein Bruder bewusstlos, denn sein Kopf lag reglos auf seiner Brust.
Ron fiel vor ihm auf die Knie: „Jimmy?“
Als er Jim in die Arme nahm, breitete sich Feuchtigkeit unter seinen Händen aus. Hastig warf Ron einen Blick über Jims Schulter. Sofort wurde ihm schwarz vor Augen: Drei silberne Geschosse hatten auch Jims Rücken durchschlagen.


*** Seelenlos ***



… Was habe ich nur getan!? …


Blankes Entsetzen raubte ihm die Luft. Die Welt begann sich im Kreis zu drehen. Erst als er das Summen in seinem Kopf wahrnahm, erkannte Ron, dass er seit unzähligen Sekunden nicht mehr geatmet hatte.
In seinen Armen lag Jim. Ron presste ihn gegen seine Brust, seine Augen irrten ziellos über schroffe Steinwände. Als er seinen Mund öffnete, um zu schreien kam kein einziger Laut aus seiner Kehle.
… Mein Gott! Was habe ich getan? …

So verzweifelt Ron es auch versuchte, war sein Körper doch außer Stande, auch nur einen einzigen Ton hervor zu bringen. Seine Finger bohrten sich in Jims Rückenmuskulatur. Er wollte nicht loslassen – um keinen Preis der Welt.

Langsam, aber beständig glitt hellrotes Blut in Stößen aus drei Geschosseinschlägen, die Jims linkes Schulterblatt zerschmettert hatten. Gnadenlos wurde es von einem Herzen aus den Wunden getrieben, das ahnungslos mit jedem lebenserhaltenden Schlag dem Jüngsten ein Stück Leben entriss. Regungslos lag sein Kopf auf Rons Schulter.

Baboom Baboom Baboom ….

Jims Puls klopfte gegen seine Hände - im Rhythmus eines sterbenden Herzens.
Baboom Baboom Baboom ….

Rons Atmung sprengte ihm fast die Lunge, als er den Kopf in den Nacken riss und seine Verzweiflung mit einem markerschütternden Schrei endlich hinaus presste:
„ WAS HABE ICH NUR GETAN?“
Aus dem endlosen Labyrinth hallten seine Worte wie ein dämonischer Chor zurück.
„Jim … Jimmy!“ Ron drückte den wankenden Körper etwas von sich weg, um in sein Gesicht zu sehen.

Dunkle Augenbrauen ruhten über geschlossenen Augen. Jim schien zu lächeln. Selbst all das Blut, der Dreck und unzählige Schürf- und Schnittwunden auf seinem Gesicht waren nicht in der Lage, diesen warmen Glanz, der ihn umgab, zu verdrängen.

Ron strich ihm verklebte Haarfransen aus der Stirn.
„Jimmy!“ Er wünschte sich nichts sehnsüchtiger als eine Bewegung - ein geflüstertes Wort – ein Lächeln – einen einzigen Lidschlag … nur ein winziger Hauch Leben!
Aber Jim sank ihm reglos entgegen.

Baboom Baboom Baboom ….

… Was habe ich nur getan!? …
Baboom Baboom

„Jimmy!!! JIM!”
Baboom

Nach unendlichen Minuten befreite sich Ron aus seiner Starre. Er hatte solche Notfälle bis zum Erbrechen trainiert. So oft er seinen Vater auch für das harte Überlebenstraining gehasst hatte, war er jetzt unendlich dankbar dafür.
Tief Luft holend bündelte er alle Gedanken. Eines war ihm klar: Diese Verletzungen ließen Jim ohne ärztliche Hilfe keine Chance. Ron suchte nach seinem Handy in der Jeans und wählte 911!
Schweigend lag das Handy in seiner Handfläche. Sein Hilferuf erreichte niemanden, denn der Gewittersturm lag über der kleinen Schlucht wie ein bleierner Vorhang.

Stöhnend atmete Ron aus. Sein Blick traf auf Jim.
Der Körper seines Bruders begann zu zittern.

Ron biss sich auf die Lippen. Verdammt! Ihm lief die Zeit davon – sie glitt ihm buchstäblich blutrot durch die Finger. Ich muss irgendwie diese verdammte Blutung stillen!

Seine Blicke eilten durch die Höhle und blieben hoffnungsvoll auf der Waffentasche liegen.
Ron lehnte Jim zurück an die Wand. Sekunden später kniete er vor der Tragetasche und suchte nach Verbandszeug zwischen all diesen nutzlosen und tödlichen Waffen, die er mitgeschleppt hatte. Er musste etwas finden, um die Blutung zu stoppen. Vor allem aber durfte keine Luft mehr in den geöffneten Brustkorb eindringen. Der entstehende Unterdruck würde Jims Lunge früher oder später zusammenfallen lassen und ein Atmen unmöglich machen.

Ron wusste, solange das Herz weiter schlug, bestand eine geringe Hoffnung, den Tod so lange aufzuhalten, bis Jim in ein Krankenhaus gebracht werden konnte.
Fiebrig wühlten seine Finger zwischen Waffen, Amuletten und anderen Hilfsmitteln, auf der hektischen Suche nach einem Stück Stoff – einem verdammten Fetzen – irgendetwas, um diese Wunden zu verschließen. Scheppernd verteilte sich der Inhalt der Tragetasche auf dem Boden. Auf alles waren sie vorbereitet …nur nicht auf dies.
Endlich fand er eine Rolle Klebeband.

Wieder zurück, ließ er Jim erneut in seine Arme gleiten. Die silberne Rolle zwischen den Zähnen eingeklemmt, sah Ron über Jims Schulter. Rote Flüsse drängten sich dickflüssig aus den Eintrittswunden. Sie wollten einfach nicht versiegen und hatten bereits einen Fleck auf dem Höhlenboden gebildet.

Mit dem Shirt, das er Jim vom Leib gerissen hatte, säuberte Ron notdürftig die Verletzungen und schaffte es, von oben nach unten breite Streifen des Klebebandes schuppenförmig über die Wunden zu kleben. Jedes Mal, wenn er mit Hilfe seiner Zähne einen langen Streifen von der Rolle abriss, erfüllte ein knirschendes Geräusch die Höhle. Schließlich war alles verklebt und erinnerte an eine Ritterrüstung.
Erleichtert atmete Ron auf. Er lehnte Jim zurück an die Wand und betrachtete aufmerksam sein Gesicht, um zu sehen, ob sich irgendetwas darin regte.
Es geschah nichts.

Ron stolperte nach Draußen und wählte erneut den Notruf. Das Telefon verzweifelt dem Himmel entgegengestreckt, drehte er sich um die eigene Achse. Heulender Wind, der sich in zerklüfteten Felsenwänden verfing, war das einzige Geräusch. Sein Handy blieb stumm. Verzweifelt starrte Ron in den Nachthimmel. Schwere Wolken türmten sich vor dem blassen Mond. Aus ihnen rieselte Regenstaub auf ihn herab. Weiter oben am Rand der Schlucht, wo Bäume noch eine Chance zum Überleben hatten, zerrte der Gewittersturm unerbittlich an ihren Wipfeln.

Was war nur los. War er der einzige Mensch auf diesem verdammten Planeten? Hatte dieses nicht aufhören wollende Unwetter etwa die Leitungen der Stadt lahm gelegt?
Es gab keinen anderen Weg – er musste Jim hier raus schaffen… und zwar allein.

Keuchend kehrte Ron zurück und sank vor Jim auf die Knie. Vorsichtig hob er mit beiden Händen seinen Kopf an. „Jim, du musst mir helfen – bitte wach auf!“ Sanft rüttelte er ihn. „Jim – bitte … du musst hier weg - ich kann das nicht allein“, flehte Ron immer eindringlicher. Wieder fuhr er vorsichtig mit der Hand über Jims Stirn. Es war sinnlos. Aus purer Verzweiflung begann er, Jim kräftig zu schütteln. Unkontrolliert bewegte sich der ohnmächtige Körper in seinen Händen. „Jimmy – bitte … komm zu dir. Ich muss dich hier weg schaffen!“
Endlich quälte sich ein Stöhnen über die blutverkrusteten Lippen des Jüngsten. Ruckartig öffnete er den Mund und atmete ein. Seine Lider flackerten.

Jeder Knochen in seinem Körper schrie, als wäre er zertrümmert. Obwohl er das Gefühl hatte in Flammen zu stehen, zitterte er so heftig, das seine Zähne aufeinander schlugen. Er öffnete die Augen. Trübe Pupillen irrten durch die Umgebung. Jim wünschte sich zurück in die Dunkelheit, aus deren Schoß ihn dieser Mensch soeben gerissen hatte und schlug die Augen wieder zu.

„Jimmy – Jimmy … ich …ich.“ Ron war nicht in der Lage, zu sprechen. Er vermochte es nicht, in die Augen seines Bruders sehen.

Als Jim die Augen erneut öffnete, kreisten sie über einem fremden Gesicht. Seine Ohren vernahmen Worte – ohne Bedeutung. Die Fältchen auf seiner Stirn kräuselten sich. Unsicher hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Jim wusste nicht, warum der Fremde vor ihm weinte. Er erinnerte sich nur an gelbe Augen und daran, dass seine Angst einer erlösenden Taubheit gewichen war.
Sein gebrochener Körper flehte ihn an, sich nicht zu bewegen. Keuchend lehnte sich Jim zurück, gegen die feuchte Wand. Als er tief einatmete, vermischte sich kalte Luft mit Blut in seiner Lunge zu einer schaumigen Masse, die seine Brust immer mehr einengte.
Das einzige Gefühl, das durch seine Adern floss, in seinem Kopf hämmerte und in seiner Lunge brannte, war Schmerz.
Jim hatte nur einen Wunsch: Er wollte zurück in die Dunkelheit – Jim ertrug seinen Körper nicht mehr.
Fragend sah er in gebrochene, grüne Augen. Warum sollte er diesem Fremden folgen?

*** *** ***

Ein Adrenalinschub mobilisierte Rons letzte Reserven, als Jim die Augen aufschlug. „Jimmy?“
Jims Lippen zitterten.
Ron sah ihn an. „Jim, kannst du mich verstehen? Erkennst du mich“, fragte er. Seine Finger krallten sich in Jims Schultern. Doch ein erinnerungsloser, trüber Blick zerstörte augenblicklich die aufkeimende Hoffnung und ließ kalte Schauer über Rons Rücken gleiten. Jim sah ihn an, so ahnungslos, wie ein kleines Kind, das nicht begriff, was mit ihm geschehen war. Mit zitternden Fingern zog er Furchen durch den feuchten Staub am Boden. Seine Atmung wurde von rasselnden Geräuschen begleitet. Sie verriet, welche Qual jeder lebensspendende Luftzug ihm bereitete und wie wenig Zeit noch übrig war. Trotzdem klagte Jim nicht. Schweigend ertrug er die Tortur, wie ein Opferlamm. Sein Körper kämpfte immer noch instinktiv und hartnäckig ums Überleben – aber sein Wille war gebrochen. Der Stüpp hatte ihm alles genommen. Jim erwartete keine Hilfe. Er hatte vergessen, dass es Hilfe gab und hatte keine Ahnung von den Vorwürfen und der Angst, die seinem Bruder den Verstand raubten. Schutzsuchend hatte Jims Bewusstsein eine Mauer erbaut, denn auf seiner Seele war kein Platz mehr für eine weitere Wunde.

Sanft verwischten Rons Hände die letzten Tränen auf seinen Wangen. Jim ließ diese Berührung reglos über sich ergehen, denn er kannte weder Mitleid, Angst noch Hass oder Liebe. Als Ron seinen Bruder wieder in die Arme riss, spürte er diese entsetzliche Taubheit. Ihm wurde klar: In seinen Armen lag eine sterbende Hülle, deren Seele unter unsagbarem Leid erstickt war.

„Wir müssen hier raus“, flüsterte Ron, als Jim den Kopf auf seine Schultern legte. Wärme, linderte seine Qual und stemmte sich dem Vergessen entgegen. Der fremde Mann nannte ihn Jim! War Jim sein Name?

„Du musst mir helfen – bitte, Jim. Steh auf. Wir schaffen das nur gemeinsam.“ Jim schüttelte seinen Kopf.
Der Fremde blieb unerbittlich, duldete keinen Widerspruch und redete weiter auf ihn ein. „Steh auf Jimmy! Hilf mir! Bitte Jimmy… gib jetzt nicht auf!“

Jim wollte nicht aufstehen. Aufstehen bedeutete nur noch mehr Schmerzen. Aber was hielt ihn davon ab, dem lockenden Ruf der Dunkelheit zu folgen? War es diese raue Stimme? War es die Wärme dieses Unbekannten? War es die vage Vermutung, dass da mehr existierte, als Kälte, Dunkelheit und Schmerz? Tief in seinem Innersten entflammte ein Hoffnungsschimmer. Es war der Wunsch, nicht allein zu sein, den dieser Fremde mit seiner Unnachgiebigkeit beständig anschürte.

Jims Augen flogen hilfesuchend auf den Unbekannten, der ihn sofort verstand und an den Armen packte, um ihm auf die Beine zu helfen.
Jim verlagerte sein Gewicht, biss die Zähne zusammen, ignorierte Übelkeit und Schwindel und erhob sich. Jeder Knochen ächzte unter der Belastung. Schließlich stand er mit dem Rücken an der Felswand, am Höhleneingang. Schweiß bedeckte seinen Oberkörper. Fragend sah er in ein unbekanntes Gesicht, das trotz tränennasser Augen ermutigend nickte.
Er hatte es geschafft ---- SIE hatten es gemeinsam geschafft!
Ja - er würde dem Fremden folgen!

*** *** ***

Als Ron völlig entkräftet auf die Knie sank, schrie er seine Verzweiflung in die stürmische Nacht hinaus. Geprellte Rippen brannten unter dem Gewicht, das er schleppte, als würden sie in Flammen stehen. Jeder Atemzug stach in seinen Lungen. Er war so weit gekommen. Warum verweigerte ihm sein Körper nun den Dienst? Warum zitterten seine Beine wie Espenlaub und wollten ihn nicht mehr tragen? Warum waren seine Finger so taub und seine Muskeln so müde? Warum war sein kleiner Bruder so unendlich schwer, dass er ihm ständig von der Schulter rutschte?
Krampfhaft versuchte Ron, den zu Boden gleitenden Jüngeren festzuhalten.

Jim war ihm gefolgt. Der hohe Blutverlust und der vernichtende Kampf gegen den Stüpp hatten nicht nur seine Erinnerung gelöscht, sondern auch alle seine Kraftreserven verzehrt. Er konnte nur mühsam Schritt halten.
Ron verfluchte sich innerlich. Jim hatte ihm vertraut – trotz dieses totalen Verlustes seiner Erinnerung hatte er ihm – einem praktisch Fremden - vertraut!
Und was tat er?
Er schaffte es nicht einmal, Jim aus dieser verdammten Schlucht zu bringen! Sollte sein Bruder hier im Dreck verrecken, wie ein angeschossenes Tier, weil er zu schwach war? „NEIN!“ Keuchend widersetzte sich Ron seinem rebellierenden Körper. Erneut packte er Jims Handgelenke, um ihn wieder auf seine Schultern zu wuchten. Wenn seine Beine ihn nicht mehr tragen wollten, musste es eben auf den Knien weiter gehen. Mit einer Hand das Bündel Bruder geschultert, wühlte sich Ron auf allen Vieren durch vermoderndes Laub. Seine Füße stemmten sich gegen den Hang und versuchten, die Last Zentimeter um Zentimeter aufwärts zu schieben. Seine Finger waren aufgerissen durch scharfkantige Steine und Dornen. Kalter Waldboden ließ seine Gelenke erstarren. Die Jeans über seinen Knien hing in Fetzen und Kieselsteinchen klebten in verkrusteten Schürfwunden.

Jims spastische Bewegungen waren mehr hinderlich als unterstützend. Seine Hustenanfälle wurden immer häufiger, aber vor allem immer heftiger. Als der nächste Schwall Blut durch den Stoff seines Shirts sickerte, drohte Rons Herz auszusetzen.

Hinter Rons Augen hämmerten Vorschlaghämmer. Viel zu spät bemerkte er das Rauschen in seinem Kopf. Als er den Mund aufriss, um seinen an die Grenzen getriebenen Körper mit Sauerstoff zu versorgen, verschwammen die Bilder vor seinen Augen. Noch einmal bäumte sich Ron auf. Dann sank er auf den Waldboden. Jim verbittert fest haltend, versank sein Bewusstsein in Finsternis.

*** *** ***

Stimmengewirr wühlte sich in seinen Kopf. Es roch nach getrocknetem Holz und leises Knistern eines Feuers erfüllte die Luft. Ron drehte seinen Kopf in Richtung der Stimmen und öffnete die Augen. Hinter einem Schleier sah er mehrere Personen in merkwürdiger Aktivität vertieft.
JIM! Schoss ihm durch den Sinn. Er versuchte aufzuspringen. Aber seine Beine waren der plötzlichen Belastung nicht gewachsen und ließen ihn rumpelnd zu Boden stürzen. Unsanft schlug sein Gesicht auf raue Holzdielen.

„Ron!“ Lilly half ihm, sich umzudrehen. Ihre Stimme war leise. Verwirrt schaute der Jäger in ihr bleiches Gesicht. Ihre Haare waren regennass und verschmutzt. Auf ihren Armen zeichneten sich rotschimmernde Striemen von peitschenden Zweigen ab. Ohne Zweifel hatte sie einiges durchgemacht.
„Wir haben dich schreien gehört“, hauchte sie.

Ron richtete sich auf. Keuchend saß er vor Lilly und sah sich um. Seine Augen hefteten sich auf zwei Männer, die Jim gerade auf ein provisorisches Lager betteten.

„Wir haben euch gefunden“, erklärte Lilly. Ihr Blick schweifte durch ein Sprossenfenster zum Waldrand: „Gleich da drüben am Hang.“
„Wer ist wir?“, wollte Ron wissen und zwang sich in die Höhe. Einer der beiden Männer drehte sich spontan um. Es war Bill. Der zweite Mann war Ash.

Ron schüttelte verwirrt seinen Kopf. Seine Augen trafen fragend auf Ash. „Was ist mit den Kindern?“
„Unser Vater bringt sie mit dem Jeep in die Stadt. Wir wollten mitfahren – dann hörten wir deinen Schrei.“
Lilly zitterte am ganzen Körper. „Da war ein riesiger Grizzly – er hat uns gejagt. Plötzlich war er weg und wir irrten durch den Wald, bis wir auf Bill trafen. Er hat nach euch gesucht.“ Sie nickte dem alten Jäger zu.
Der Alte neigte seinen Kopf. „Das war kein Grizzly“, brummte er.

Lilly sah Ron fragend an. „Mein Gott, wie hast du es nur geschafft deinen Bruder aus dieser Schlucht heraus zu bringen?“ Sie musterte ihn. Seine Kleidung war blutverschmiert. Die Lippen waren aufgeplatzt und zerrissene Jeans entblößten blutige Knie. Rons gebeugte Haltung und sein pfeifender Atem ließen Lilly ahnen, welche Verletzungen sich wohl noch vor ihren Augen verbargen. „Jim muss sofort in ein Krankenhaus“ keuchte er und taumelte zu seinem Bruder. Als er vor Jim auf die Knie fiel, überfluteten Tränen seine Augen. „Jimmy ist angeschossen. Ich… ich habe ihn verletzt, als ich auf dieses verdammte Vieh geschossen habe.“
Bill hatte ebenfalls Tränen in den Augen, als er seine Hand auf Rons Schulter legte.
„Ich habe doch nicht geahnt, dass die Verbindung so stark ist und Jim die gleichen Verletzungen erleiden würde“, schluchzte Ron und sah zu Boden. „Wir müssen ihn hier raus bringen!“

Der Fingerdruck des alten Jägers auf seiner Schulter wurde eisenhart.
Jim lag fiebernd auf einer Decke. Sein Atem war nicht mehr, als ein Röcheln. Es quälte sich mühsam den Weg aus seiner Kehle.
Bills Stimme bebte. „Es ist zu spät“, flüsterte er. „Wir haben alles versucht. Wir können die Blutung nicht stoppen.“ Bill wischte sich übers Gesicht. „Wir können keine ärztliche Hilfe rufen und ein Transport in die Stadt dauert mindestens zwei Stunden.“ Ratlos holte er Luft. „Jimmy hat weniger als 30 Minuten. Er würde nicht einmal den Weg ins Auto überleben.“ Flehend sah der Alte Ron an: „Lass ihn nicht einsam sterben. Du bist sein Bruder! Es ist unfassbar, dass Jim überhaupt so lange überlebt hat, nachdem du den Stüpp erschossen hast.“
Bill seufzte, als er sein Gesicht in den Händen vergrub. „Seine Augen sind so furchtbar leer. Ich glaube, der Stüpp hat ihm die Seele genommen.“

„Ich weiß!“ Ron nickte: „Ich bin nicht einmal sicher, ob das Miststück tot ist. Es verschwand einfach so - wie auf dem Friedhof!“

Bill beugte sich zu Ron herunter. „Ich verstehe. Möglicherweise lebt der Stüpp noch. Aber sie sind schon zu lange Eins und jetzt sind beide gleichermaßen tödlich verletzt. Egal wer zuerst stirbt. Er wird den anderen mit in den Tod reißen.“

Ron richtete sich auf. In seinen Augen brannten Tränen. „Wie kannst du so etwas sagen!“ Entfuhr es ihm. Er war kaum noch in der Lage, seine Wut zu kontrollieren, die sich jetzt gegen Bill richtete. Sein Herz begann zu rasen. „Hier wird niemand den anderen mitreißen.“

Jim stöhnte auf, als sich sein Brustkorb zum Zerbersten dehnte. Seiner Kehle entwich ein gurgelnder Schrei, begleitet von glucksendem Husten. Er krampfte unter dem Erstickungsanfall. Wie ein Ertrinkender schlug Jim um sich.
Unter Rons entsetzten Blicken warfen sich Bill und Ash auf die Knie und versuchten, den erstickenden Körper noch einmal dem Tod zu entreißen, indem sie Jim weit nach vorn beugten. Ein Schwall schaumiges Blut ergoss sich aus seinem Mund. Pfeifend rang Jim nach Luft und sank kraftlos zurück auf die Decke.
Panisch suchte Bill nach Ron. Aber der war weg.
Der alte Jäger hörte nur noch das Krachen, als die Tür des Blockhauses ins Schloss fiel.

*** *** ***

Ron rannte … er rannte, wie von Furien gehetzt über die Wiese. Kalte Luft brannte in seiner Lunge. Bei jedem Schritt peitschte Regenwasser unter seinen Schuhen in die Höhe. Er flüchtete. Aber je schneller er wurde, umso mehr musste er feststellen, dass er keine Chance hatte, seinem Gewissen zu entkommen.
Im Blockhaus lag sein Bruder und starb. Jim ertrank am Blut der Wunden, die er ihm zugefügt hatte.
Verzweifelt blieb Ron stehen. Seine Blicke irrten über den Himmel. Niemand hörte seine Gebete. Nur Regen ergoss sich in sein Gesicht, als er den Mond anstarrte.
Ron schrie wie besessen. „Du verdammtes Miststück. Lass meinen Bruder frei!“
Er drehte sich um die eigene Achse. „Hörst du mich? Du verdammter Bastard!“ Seine Stimme überschlug sich. „Lass meinen Bruder leben. Nimm mich!“
Schluchzend sank Ron schließlich auf die Knie. „Gib Jimmy sein Leben zurück! Nimm meines …“
Ungehört schlug seine Bitte gegen eine Wand aus Regen und Kälte. In der Ferne grollte das Gewitter. Aufzuckende Blitze tauchte die Wiese in weißes Licht.
Die gebeugte Kontur des Jägers zeichnete sich gegen die silberne Oberfläche des Bergsees in der Ferne ab. Seine Finger vergruben sich im Graß. Feuchtkalter Nebel stieg aus der Erde und kündigte den anbrechenden Morgen an. Ron wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er hinter seinem Rücken schweres Atmen, begleitet von schleichenden Schritten vernahm. Langsam öffnete er die Augen. Im Zwielicht der aufgehenden Sonne erkannte Ron einen Schatten.

Er hielt den Atem an, als eisige Kälte sich auf seiner Haut ausbreitete. Wie bei seinem Bruder erkannte Ron erstickenden Atem.
Dann flimmerte der Schatten und verschwand. Zurück blieb eine Last auf seinen Schultern. Mit beiden Händen stemmte sich der Jäger ab. Klauen vergruben sich in seine Haut, als eine Stimme ihm zuflüsterte: „RON, NIMM MICH MIT!“



*** *** ***

In ohnmächtiger Verzweiflung versuchte Bill, Jims zuckenden Körper unter Kontrolle zu bringen. Ash half ihm, so gut er konnte. Doch Angesichts Größe des jungen Jägers und der unglaublichen Kraft die er immer noch aufzubringen vermochte, konnten die Männer kaum etwas ausrichten.
Bill war fassungslos. Er konnte einfach nicht begreifen, warum Ron geflohen war? Zumal er genau wusste, wie tief die Liebe der Brüder zueinander war. Jim hatte etwas Besseres verdient, als hier allein zu sterben. Gerade jetzt sollte Ron bei ihm sein.
Sicher, Bill konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, welches Leid Ron in diesem Augenblick ertragen musste. Aber einfach so zu verschwinden – und das, nachdem er alles gegeben hatte, um Jim aus dieser Schlucht zu bringen? Was war nur in ihn gefahren?

Der Bärtige sah Ash hilflos an. Hilfloses Zucken seiner Schultern war seine einzige Antwort. Auch seine Lippen bebten, er schluckte schwer und brachte keinen Ton über seine Lippen.

Jim lag keuchend vor ihnen. Sein Anblick war grauenerregend. Zitternde Finger vergruben sich in die Wolldecke, als ihn Fieberwellen überrollten. Mit jedem Atemzug stieß seine Lunge einen feinen roten Nebel aus.
Obwohl man das nahende Ende bereits spüren konnte, kämpfte Jim verbissen um jede Minute die noch verblieb - dem unerbittlichen Ticken der Uhr zum Trotz. Als ein erneuter Hustenanfall ihn heimsuchte, rissen die Männer, im verzweifelten Tauziehen gegen den Tod, seinen Körper in die Höhe, um der blutigen Explosion einen Weg nach außen zu ermöglichen.
Bill schloss die Augen, als die Attacke überstanden war. Seine Arme erschlafften und er ließ Jim zu Boden gleiten.
Er konnte den Anblick nicht mehr ertragen. Er konnte diese gequälten Laute nicht mehr hören. Er hatte keine Kraft mehr, Jims Körper zu halten. Seine Augen hefteten sich fragend auf Ash, der ihn auch ohne Worte verstand. Sollten sie Jim einfach liegen lassen? Diese Tortur war so unerträglich, wie sinnlos. Sie würden den Kampf verlieren – in wenigen Minuten schon. Und jede dieser letzten Minuten quälte den Jüngsten so erbarmungslos.

Bill nahm Jims Kopf in die Hände. Seine halbgeöffneten Augen waren trüb. Obwohl er vor Hitze glühte, ließ ein unentwegtes Zittern seine Zähne aufeinander schlagen.
Der alte Jäger wusste, dass sie hier mit dem Tod verbittert um eine leere Hülle stritten.
Wieder bäumte sich Jim auf. Knirschend weitete sich sein Brustkorb, bei dem Versuch, Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen. In seiner Lunge brodelte aufgeschäumtes Blut. Aber der erlösende Husten blieb aus. Abrupt riss seine Stimme ab.

Stille, die sich nun in den Raum legte, schrie die beiden Männern lauter an, als die vorangegangen marternden Laute. Mit zitternden Händen drehte Bill Jims Kopf in seine Richtung und Tränen überfluteten seine Augen. In starren Pupillen spiegelte sich sein Gesicht.
Bills Finger suchten fieberhaft nach einem Pulsschlag. Aber der hauchdünne Strohhalm, an den er sich geklammert hatte, zerbrach als er nichts fühlen konnte, außer feuchtkalter Haut.

Ash war aufgesprungen. Sein Gesicht vergrub er in den Händen. Jim hatte sein Leben geopfert, um seines und das der Teenager zu retten. Selbst die tröstende Umarmung seiner Schwester konnte diesen Schmerz nicht lindern.

Eine nie gefühlte Trauer lähmte Bills Herz. Er hatte noch nie einen Sohn verloren und begriff, dass es Wunden gab, die niemals heilen würden. Bill streichelte liebevoll Jims schmutzige Wangen und schob einige Haarsträhnen von seiner Stirn, bevor er seine Augen verschloss.
Langsam lösten sich Jims Finger von der Wolldecke. Der Brustkorb hatte aufgehört zu pumpen und als sich seine Bauchmuskeln entspannten, formte sich eine tiefe Kuhle, an deren Ränder die Rippenbögen scharf hervor stachen.

Bill stürmte zum Ausgang. Er hatte das Gefühl, hier drinnen zu ersticken. Regungslos stand der alte Jäger in der Tür und starrte auf die Wiese. Von urweltlichem Donnern begleitet, stießen Blitze durch den herabfallenden Regen in das Graß und zerrissen die aufkommende Morgendämmerung mit grellem Licht.
Bill konnte Rons Silhouette erkennen. Sie zeichnete sich deutlich gegen den roten Horizont ab. Er kniete mit gesenktem Kopf am Boden. Sein gesamter Oberkörper begann sich langsam nach vorn zu beugen, während seine Hände sich gegen die Erde stemmten.
Beim diesem Anblick überkam Bill eine unbeschreibliche Wut. Er würde es Ron nie verzeihen, Jim in der schrecklichsten Stunde seines Lebens allein gelassen zu haben.

*

Ein heiserer Schrei hielt ihn davon ab, auf die Wiese zu rennen. Zu Tode erschrocken wandte sich der Alte dem Hilferuf hinter seinem Rücken zu und erkannte Jim, der auf der Seite lag und Blut ausspie.

Bill begriff es nicht! Hatte er sich etwa geirrt? Mit einem Satz war er bei Jim, um ihm zu helfen. Dabei streifte sein Blick die Augen des Jüngsten. Sie flackerten vor Angst. Jim riss den Mund auf, aber über seine Lippen kam nur ein Husten. Er stemmte sich mit den Händen vom Boden ab. Während sein Gesicht nach unten gewandt war, wölbte sich sein Rücken rhythmisch, bis sich die Konturen seiner Rippen und der Wirbelsäule unter der Haut abzeichneten. Mit aller Macht trieben Jims Bauchmuskeln stoßweise Blut aus seiner lädierten Lunge. Gequälte Laute mischten sich unter reißenden Husten und verkrampftes Würgen.
Eine Attacke jagte die Nächste. Jim hatte keine Möglichkeit, zu sprechen oder zu schreien und kaum die Chance zu atmen. In den kurzen Sekunden Verschnaufpause, die ihm sein zorniger Körper zugestand, kämpfte er um Sauerstoff. Aber mit jedem blutigen Schwall wurde das tödliche Rasseln in seiner Lunge schwächer.

Bill, Ash und Lilly standen nur hilflos da, zu Stein erstarrt, blickten ungläubig auf das Geschehen.
Es schien, als speie Jim nicht nur das Blut aus seiner Lunge, sondern auch das ganze tödliche Gift, das ihm der Stüpp eingepflanzt hatte.
Heftig atmend hockte er auf allen Vieren und ließ erschöpft letzte glasig-rote Schlieren über seine Lippen gleiten. Plötzlich fingen seine Schultern an, zu beben. Jim weinte. Salzige Tropfen perlten über sein Gesicht und fielen in die zähflüssige Masse auf dem Boden.

Ein schlimmer Verdacht keimte in Bill auf. Sekundenschnell riss der Alte den Verband von Jims Körper. Nur drei kleine Narben in seinem Schulterblatt schienen eine Verletzung aus längst vergangen Tagen zu dokumentieren.
Bill wich zurück.
Jim hatte sich gedreht und saß mit angewinkelten Beinen im eigenen Blut. Fragend sah er auf Bill, die Lippen aufeinander gepresst. Bodenlose Verzweiflung loderte in seinen Augen. Dann riss er den Kopf in den Nacken: „Ron! – Warum hast du das getan?“

„Ich konnte dich nicht sterben lassen“, kam die Antwort leise. Fassungslose Gesichter drehten sich in diese Richtung. Ron stand im Türrahmen. Sein Gesicht war kreidebleich. Dunkle Schatten hatten sich unter seinen Augen gebildet.

Jim versuchte, sich zu erheben, aber seine Beine waren noch nicht bereit, ihn zu tragen. Kraftlos sank er zurück.

Lilly war zu Ron geeilt - sie stützte ihn. Ihre verständnislosen Blicke wechselten von einem zum anderen Bruder.

Bill schluckte. Dann neigte er sein Gesicht. Er würde sich am liebsten Ohrfeigen. Wie hatte er nur annehmen können, dass Ron geflohen war. Der Ältere würde Jim um keinen Preis im Stich lassen. Ron war bereit, für ihn zu sterben. Die Scham über seine letzten Gedanken brannte unverzeihlich.

„Was hast du nur getan, Ron?“, entwich es Jim.
„Bitte verzeih mir, Jimmy!“ Rons Stimme war kaum hörbar. Ich hatte keine Wahl. Ich konnte dich IHM nicht überlassen.“

Ron taumelte auf Jim zu. Dröhnendes Hämmern in seinem Kopf brachte den Boden unter ihm zum Wanken. Seine Rippen stachen mit jedem Schritt. Eisiger Atem traf auf seinen Nacken und eine Stimme flüsterte beständig: „Ron --- nimm mich mit.“
Ron war nicht länger in der Lage, sein Gewicht zu tragen. Er torkelte ohnmächtig zu Boden.
Seine Finger öffneten sich und drei silberne Patronen rollten aus seiner Handfläche. In der Waffentasche begann der EMF – Messer zu pfeifen.

*** *** ***

Erneut versuchte Jim, sich zu erheben. Sein Körper schien nach der unmenschlichen Tortur einem Fremden zu gehören. Doch als er seinen Bruder leblos am Boden liegen sah, explodierte Adrenalin in seinen Adern. Zitternd robbte Jim ihm entgegen und wurde mit jeder Sekunde stärker. Seine Hände krallten sich in die rauen Dielen, als er sich Meter für Meter durch den Raum zog. Schon bald fingen auch seine Beine an, seine Bewegungen zu unterstützen.
Bei Ron angelangt, griff er nach dessen Schultern und drehte ihn um. Gequält sah er in sein Gesicht und wusste, was geschehen war.

Jim hob ihn in seine Arme und sah auf Bill. Auch ihm stand blankes Entsetzen im Gesicht geschrieben. Sofort kehrten schreckliche Bilder von Amelias Tod zurück. Er fürchtete das Geräusch zerberstender Rippen, unter dem diese Kreatur Lebensenergie entzog.

Rons Gesicht war seit Stunden das erste Mal entspannt, als hätte er keine Ahnung vom grausamen Wirken des Aufhockers, der sein dämonisches Werk begonnen hatte.

Hass wühlte sich durch Jims Eingeweide. Diesmal würde er nicht versagen. Diesmal durfte er nicht versagen! Behutsam schob er Rons Shirt zur Seite. Auf seinen Schultern zeigten sich violette Punkte – es waren die Abdrücke unsichtbarer Klauen.
„Er ist nicht mehr allein“, flüsterte Jim. Unter den fassungslosen Gesichtern aller Beteiligten stemmte er sich in die Höhe.

Bill traute seinen Augen nicht, als Jim mitten im Zimmer stand und Ron in seinen Armen hielt. Er ging entschlossen zur Tür: „Lass uns das jetzt beenden Bill. Wir müssen uns beeilen, denn Ron hat nicht so viel Zeit, wie die letzten Opfer. Er war schon viel zu sehr geschwächt. Er wird die Last nicht lange tragen können. Und außerdem …“, schuldbewusst neigte Jim den Blick. „Was glaubst du, durch wessen Lebenskraft ich hier plötzlich stehe?“

Entsetzt öffnete Bill den Mund. Aber seine Worte verebbten, bestürzt über diese unheimliche Offenbarung. Statt etwas zu sagen, griff er nach der Waffentasche und forderte Ash und Lilly auf, ihnen zu folgen.

Eilig verließ die Gruppe das Haus am Rand der Wiese. Sie kämpften sich durch hohes Sumpfgras in Richtung eines kleinen Pfades. Hinter einem umgestürzten Baum stand der Ford Mustang.
Jim ging voran und bestimmte das Tempo. Er gönnte seinen Begleitern keine Verschnaufpause. Immer wieder wanderten seine Augen über das bleiche Gesicht seines Bruders.
Der Gewittersturm war vorüber und wieder hatte die kleine Hütte ihm getrotzt. Die alten Eichen, die hier schon seit hunderten von Jahren an der Grenze zwischen Himmel und Erde wurzelten, hatten den Kampf gegen den brausenden Wind gewonnen. Glutrot verfärbte die aufgehende Sonne das Land und schon begannen die ersten Vögel den neuen Tag mit ihrem Gesang zu begrüßen – wie nach jeder Nacht in den Bergen.

*** *** ***

Leise tuckerte der Motor des Wagens. Jim hatte das Steuer in der Hand und beobachtete konzentriert die Fahrbahn.
Bill saß neben ihm. Sein Blick streifte Jims Gesicht. Kummerfalten warfen tiefe Schatten auf seine jugendliche Stirn und das starre Gesicht verriet dem alten Jäger, wie angespannt Jim war. Aber da war noch ein anderer Ausdruck. Noch nie hatte Bill eine so verbissene Entschlossenheit in Jims Augen gesehen. Er konnte seinen Hass auf den Stüpp fast als Schrei hören.

Ash und Lilly saßen auf dem Rücksitz. Zwischen ihnen wankte Ron im Rhythmus seines Ford Mustang. Die Geschwister sorgten dafür, dass der Ältere nicht von der Sitzbank glitt oder sich in irgendeiner Weise verletzen konnte. Lilly hatte Rons Kopf auf ihre Schulter gelegt und strich zärtlich über seine Stirn. Ihre Augen irrten rastlos durch die Fahrerkabine, bis sie tief Luft holte und dem Schweigen ein jähes Ende bereitete: „Was geht hier eigentlich vor?“

Jim holte ebenfalls Luft. Dann begann er leise zu reden: „Ron und ich – wir sind Jäger …!“ Abrupt hielt er den Atem an und beobachtete das verwirrte Gesicht im Rückspiegel.

„Jäger?“, wiederholte sie ungläubig.

Bill schnaubte.

„Ja, wir haben einen Aufhocker gejagt. Er hat Jack und all diese Menschen umgebracht“, erklärte Jim und konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn.

„Was ist ein Aufhocker“, wollte Lilly wissen.

„Ein Geist – zur Hälfte jedenfalls“, antwortete Bill.

Lillys Augen weiteten sich. Sie schüttelte den Kopf. „Ihr jagt Geister?“

„Der Grizzly – das war keiner … es war ER“, flüsterte Bill und sah in den Innenspiegel.
Ungläubig betrachtete Lilly den Alten. Dann wandte sie sich an Ash. „Hast du das gewusst?“

Ihr Bruder nickte. „Das Wesen hatte mich und die Kid`s gefangen.“ Sein Blick glitt auf Ron und streifte anschließend Jim. „Diese Jäger haben uns das Leben gerettet.“
Lilly stockte der Atem. Sie wollte nicht glauben, was sie hörte. Aber zu viel Schreckliches hatte sie in den letzten Stunden erlebt. Ihre Finger umgriffen fester die Hand des Älteren: „Aber was passiert da mit Ron?“

Jim blinzelte durch seine braunen Haarsträhnen in den Spiegel. Seine Finger pressten sich noch fester um das Lenkrad. Seine Stimmbänder schienen gerissen zu sein. Keinen Ton brachte er hervor.

„Normalerweise fällt ein aufhockender Werwolf, also ein Stüpp, Menschen in der Nacht an, um sich von ihnen herumtragen zu lassen. Er entzieht ihnen die Lebensenergie, bis sie schließlich sterben“, versuchte Bill, Lillys Frage zu beantworten.

Jim sprach mit bebenden Lippen weiter. „Dieser hier ist anders. Er hatte nie einen eigenen Körper.“ Er schluckte und suchte nach Worten.

„Darum hat er versucht, sich Jims Körper zu bemächtigen“, übernahm der Alte wieder das Gespräch.
Lillys Augen weiteten sich bestürzt. „Das hat also Ron mit den Schusswunden gemeint!“ Entsetzt klappte sie den Mund zu.

„Ja – als Ron diesen Stüpp angeschossen hat – wurde damit auch Jim verwundet“, erklärte Bill weiter.

„Ein Mensch kann sich von solchen Verletzungen nicht erholen“, hauchte Jim. „Dieser Stüpp schon – indem er ein Opfer findet und sich mit Hilfe seiner Lebenskraft wieder regeneriert.“

Lillys Augen fixierten Jim, als sie flüsterte. „Du hättest tot sein müssen!“

Bill stöhnte und sah ebenfalls auf Jim. Dieser atmete ein und sprach weiter. „Indem sich der Stüpp geheilt hat, heilte er auch mich.“ Seine Stimme stolperte. „Ron wusste das und bot sich als Opfer an.“ Verbittert senkte Jim die Augen: „Wahrscheinlich wären wir jetzt beide tot und die Sache ausgestanden.“

„BEIDE?“ Entwich es Lilly vor Entsetzen. „Dann bist du immer noch mit ihm …?“ Jims Blick verlor sich auf dem nebelverhangenen Pfad. „Ja!“, antwortete er kühl.

Erschüttert wich sie zurück. „Aber!“ Die Worte wollten nicht recht über Lillys Lippen kommen.
Jim beobachtete sie im Spiegel. „Es ist okay, Lilly“, raunte er. „Als Aufhocker hat er weit weniger Macht über mich. Ich kann ihn beherrschen!“

Bills auffälliges Schnauben ließ ihre Aufmerksamkeit zu ihm umschwenken. „Wenn er sich vollständig regeneriert hat, wird Ron tot sein … und in dem Augenblick, in dem sich der Aufhocker von Ron löst – wird er als Stüpp endgültig in Jims Körper zum Leben erwachen.“ Der alte Jäger hatte die grausame Wahrheit ausgesprochen. „Wir können ihn also nicht töten.“ Seine Worte legten sich wie schneidender Raureif in die Luft: „Wenn wir keine Lösung finden, wird Ron sterben und Jim auch.“
Die Augen des alten Jägers fixierten den jungen Jäger, als er leise weiter sprach: „Denn dann muss ich dich erschießen, Jim.“
Bills Hand glitt in seine Hosentasche und brachte drei Patronen zum Vorschein. Er hatte Rons letzten Wunsch verstanden und sie in der Hütte aufgesammelt. Der Alte schluckte, als die tödlichen Geschosse wieder in seiner Hosentasche verschwanden.

„Dann ist der geisterhafte Aufhocker so etwas wie eine Vorstufe zum körperlichen Stüpp?“ Lilly war erschüttert. „Wie … wie - eine Larve?“
Bill wandte sich ihr zu. „Ja – so in der Art.“ Er machte eine Besinnungspause. „Er ist wie … ein ungeborenes Kind – besessen von einem einzigen Wunsch: zu Leben!“
„Wir werden ihn bannen“, entfuhr es Jim unerwartet laut.
Bill sah verdutzt auf den Jüngsten. Um Jims Lippen zuckte ein kaltes Lächeln, als er den Alten ansah: „Du hast doch noch die Fluchkiste, oder?“
Bill nickte verdattert. „Aber was soll ich denn um Himmelswillen bannen“, fragte er ratlos.
Jims Augen formten sich zu Schlitzen. Seine Pupillen blitzten: „Dieses Miststück kennt jetzt zwar alle meine Geheimnisse – aber ich kenne auch seine! Und ich weiß, wo wir seine Schwachstelle finden.“ Entschlossen trat er auf das Gaspedal.

*** *** ***

Roger kratzte sich am Hinterkopf, als er auf das Papier starrte. Ein Kugelschreiber wippte zwischen seinen wulstigen Fingern.
Dieses verdammte Unwetter hatte seine komplette Planung über den Haufen geworfen. Nach dem sintflutartigen Regen konnte er unmöglich den Einsatz der schweren Bagger auf dem durchgeweichten Erdboden verantworten. Er musste seine Bautrupps anderweitig einsetzen. Gut, dass er heute etwas früher auf der Baustelle war. Aber die Zeit drängte trotzdem. In einer Stunde würden seine Männer hier sein und er hatte nicht den Ansatz eines neuen Planes.
Stöhnend presste er sich gegen die Rücklehne seines Bürostuhles und sein Blick fuhr gedankenversunken über Stapel von Bauzeichnungen und Projektplänen zu den eisernen Wänden des Containers.
Das laute Krachen der Tür, als sie aufgestoßen wurde, fegte ihn fast vom Stuhl. Entsetzt starrte er auf einen Mann. Der gigantische Schatten, den der Unbekannte in den Raum warf, reichte bis zu seinem Tisch.
Roger wich instinktiv zurück. Seine Augen hefteten sich auf den Fremden, der sich vor ihm zu angsteinflößender Größe aufbaute. Einen schlimmeren Anblick hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen – und auf Baustellen liefen gewiss Typen herum, die einen das Fürchten lehren konnten.

Rogers musterte den Fremden. Seine Hose – man konnte noch erahnen, dass es sich um eine Jeans handelte, war dreckverkrustet und über den Knien zerrissen. Die schwarzglänzenden Flecken im Stoff ließen auf Blut schließen, das sich mit Erde vermischt hatte.
Sein nackter Oberkörper war übersät mit Schnitt- und Schürfwunden. Die Brust des Riesen schien mit jedem Atemzug anzuschwellen und veranlasste einige Schweißperlen, die über seinen Körper glitten, abrupt die Richtung zu ändern.

Als der Fremde abermals tief Luft holte, ballten sich seine Hände zu Fäusten und pumpten Blut in Venen, die sich deutlich unter der Haut seiner Arme abzeichneten. Seine Muskeln spannten sich. Unter störrigen Haarsträhnen funkelten ihn ein Paar Augen an.
Erschrocken schoss Roger in die Höhe. Jetzt erkannte er in dieser unheimlichen Gestalt, den smarten Anzugträger, der sich gestern Morgen in Begleitung eines weiteren Herrn als Mitarbeiter des Ministeriums für Heimatschutz vorgestellt hatte und sich für Ausgrabungen interessierte. Roger hatte nicht helfen können und ihm lediglich das Foto eines zerbrochenen Sarges mitgegeben. Erschüttert öffnete der Bauleiter seine Lippen, aber bevor er etwas sagen konnte, fiel ihm Jim ins Wort.
„Wo ist der Gürtel?“ fauchte er und ging auf den Bauleiter zu.

Der glatzköpfige Dicke stotterte: „Wovon reden sie, Mann!“ Er presste sich noch fester an die Wand. Mit der rechten Hand suchte er nach dem Feuerhaken des Werkstattofens.
Jim riss ungeduldig den Kopf in den Nacken und schnaufte, bevor sich seine Augen wieder auf den Dicken hefteten. „WO …. IST …. DER ….GÜRTEL“, dröhnte es aus ihm heraus. Seine rechte Hand hatte den Schreibtisch gepackt. Mit einem Ruck riss Jim ihn zur Seite. Quietschend glitten die Enden der Tischbeine über den Fußboden und das Möbelstück sauste quer durch den Raum bevor es gegen die Wand prallte. Lose Blätter wirbelten durch den Raum.
Jim trat noch einen Schritt näher. Nach geronnenem Blut riechender Atem stieß Roger ins Gesicht. Von Panik übermannt riss er den Feuerhaken in die Höhe, um auf den unheimlichen Hünen einzuschlagen.

Jim war schneller. Ruckartig schnellte sein rechter Arm in die Höhe. Das Eisen prallte gegen seinen Unterarm.
Roger erstarrte zu Stein. Der Schlag hatte nicht die geringste Regung ausgelöst. Es schien, als habe der Typ überhaupt keine Schmerzempfindung. Er war ein Raubtier und nicht einmal durch die Hölle aufzuhalten.
„Ich … ich weiß nicht …wovon sie r..dn!“, stammelte Roger. Seine Worte erstickten, als sich Jims Finger eisern um seinen Hals legten und zudrückten. Langsam schob er den Dicken an der Wand entlang nach oben, bis ihre Augen auf gleicher Höhe waren.
Jim neigte den Kopf und hob die Brauen. Dann folgte er den ängstlichen Blicken seines Gegenübers.
Mit einem Stoß schleuderte Jim den Glatzköpfigen von sich. Dieser blieb keuchend zwischen seinen verstreuten Ordnern liegen.

Jim eilte zum Regal, zu einer hölzernen Kiste. Ungeduldig suchte er nach einem Gegenstand, mit dem er das Schloss aufbrechen konnte. Schließlich ergriff Jim den Feuerhaken und hebelte die Kiste auf.
Über sein Gesicht huschte ein Anflug von Erleichterung. Ein schlichter aber sehr gut erhaltener Gürtel aus Wolfsfell mit Lederbändern lag darin.
Hastig schlug Jim den Deckel zu und klemmte sich die Kiste unter den Arm. Er würdigte den Dicken am Boden mit keinem Blick und verschwand aus der Tür so schnell wie er gekommen war.

*** *** ***

Als sich Jim dem geparkten Ford Mustang näherte, fühlte er sich, als würden Stahlbänder sein Herz umklammern.
Der schwarze Wagen schaukelte wie ein vom Sturm gepeitschtes Schiff. Nach vorne gebeugt, lehnte Ash außen an der Tür und würgte. Die Scheiben waren beschlagen. Jim erkannte nur zwei Schatten, die versuchten, einen Körper zu bändigen. Heisere, sich überschlagende Schreie dröhnten aus dem Inneren.

*** *** ***

Der Schmerz berstender Rippen riss ihn aus der Dunkelheit. Seine Lunge kämpfte um Platz zum Atmen. Aber ein unnachgiebiger Griff zerquetschte seine Knochen und ließ keine Bewegung mehr zu.
Panisch öffnete Ron die Augen, hinter einem Schleier erkannte er verzerrte Gesichter. Knochige Finger versuchten, ihn zu erwürgen. Er schlug mit den Armen um sich und schrie diesen widerlichen Dämonen Flüche entgegen – bis sein Hals so sehr brannte, dass er nur noch röcheln konnte. Diese Biester hatten ihn umzingelt. Ihr Geschrei stach in seinen Ohren. Dann drehten sie plötzlich ihre abscheulichen Fratzen weg und wichen zurück. Bedrohlich schob sich ein weiterer Schatten über seinen Körper. Eine weitere Kreatur näherte sich. Ihre Blicke schienen gewaltsam in ihn einzudringen. Pranken vergruben sich in seine Schultern und rissen ihn nach oben. Dieser Bastard kannte sogar seinen Namen und schrie ihn pausenlos an ...

… „Ron! … Verdammt, komm zu dir. Er täuscht dich. Ron … bitte!“ Verzweifelt schüttelte Jim seinen Bruder.
Die Lippen des Älteren färbten sich blau. Seiner Kehle entwich ein Gurgeln, als er entkräftet in sich zusammensank.
Bill und Lilly hatten Jim Platz gemacht, als sich dieser energisch in den Ford Mustang drängte. Seine Stimme schien den Älteren zu beruhigen.
Rons Kopf sank auf seine Brust. Langsam driftete sein Bewusstsein zurück ins Nichts.
Jim hob vorsichtig das Kinn des Bruders an und musterte ihn. Ron hatte die Augen geschlossen. Über seine Lippen schob sich ein Streifen Speichel.
„Ich bin es“, flüsterte Jim. „Bitte komm zu dir. Lass dich nicht täuschen.“
Behutsam schob Jim Rons Lider zurück. Geweitete Pupillen verrieten, wie weit er der Welt bereits entrückt war.

Jim zitterte. Ron war der einzige Mensch den er hatte – der einzige der noch übrig war. Er wollte ihn nicht los lassen, denn dann hatte er das Gefühl, ihn aufzugeben. Er verfluchte den Stüpp und sich selbst für dieses Grauen. Er selbst hatte diesem Ding einen Körper gegeben.
Nicht Ron gehörte in die Hölle – sondern er: Jim Barker war das Monster, das alle Menschen in den Tod riss. Die Abscheu über das, was er war, wuchs und Jim wünschte sich dieses elende Geschwür aus seinem Körper reißen zu können. Er betrachtete sein Spiegelbild im Fensterglas des Ford Mustang und sah ein Geschöpf, das er mehr hasste, als alles, was er jemals gejagt hatte. Angewidert wandte er sich ab und verließ den Wagen.
Bills Blicken wich er aus. Der Alte war leichenblass.
„Er halluziniert schon“, bemerkte Jim kühl. Er schritt am alten Jäger vorbei zum Kofferraum und öffnete ihn. Wenig später stand er vor der Holzkiste, die er angesichts der schrecklichen Heimsuchung achtlos auf dem Parkplatz fallen gelassen hatte. Er öffnete sie.
Bill eilte herbei und packte Jim an der Schulter. Ihn war blitzartig klar geworden, welche selbstmörderische Absicht der Jüngste verfolgte. „Jim – das kannst du nicht tun“, keuchte Bill. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Aber Jim stieß ihn zurück.

„Junge – bitte“, flehte Bill. Durch den Stoß gegen seine Brust stolperte er nach hinten. Seine Stimme erstickte. „Du wirst ebenso brennen wie er!“ Der Alte verstummte, als ihn Jim mit erhobener Hand davon abhielt einen zweiten Versuch zu unternehmen. Bill musste erkennen, dass er gegen den Jäger chancenlos war. Jim war jung, stark und durchtrainiert – und in seinem Körper befand sich der Keim eines uralten mächtigen Wesens. Einer Kreatur, die mit jeder Sekunde stärker wurde, durch die Lebenskraft, die er Ron gnadenlos entzog.

Jim ließ langsam Salz in die Kiste auf den Gürtel rieseln. Das Benzin, das er anschließend über das Fell goss, wurde restlos aufgesogen. Er zündete ein Streichholz an und sah fasziniert auf die winzige Flamme.

„Es ist nur gerecht wenn ich brenne“,

dachte er, „Nur das verdiene ich – das ist die Sühne für Jessicas und Mom`s Tod, die meinetwegen in Flammen starben. Ich habe die Hölle verdient. Durch mein vergiftetes Blut habe ich meine ganze Familie verflucht und sie zu Waisen und Nomaden gemacht. Es wird heute und hier enden …“.


Jim holte tief Luft. Mit einem entschlossenen Lächeln zog er seine Mundwinkel in die Höhe, als er die Finger öffnete und das brennende Streichholz fallen ließ.

*** *** ***

Lautlos taumelte das Holzstäbchen, das ein tanzenden Funken nährte, in die Kiste. Bill machte aus purer Verzweiflung einen Sprung in Jims Richtung. Es schien dem Alten wie eine Ewigkeit. Und es war eine Ewigkeit – denn er war zu spät. Schon stießen Flammen aus der Kiste und verwandelten den kühlen Wind in pure Hitze. Zischen und Knistern erfüllte die Umgebung.

Bevor Bill Jim erreichen konnte, stand dieser ebenfalls in Flammen. Schmatzend leckten rot-gelbe Zungen über seine Haut. In Sekunden hatten sie seinen gesamten Körper erfasst und hinderten mit ihrem heißen Atem jeden Menschen daran, in seine Nähe zu kommen.
Schreiend sank Jim zu Boden und krümmte sich, umhüllt von fauchendem Feuer. Seine Haut fiel rasend schnell den gierigen Flammen zum Opfer. Zuerst bildeten sich Blasen. Schließlich verfärbte sich die Oberfläche braun und platzte auf. Zischend spritzte Feuchtigkeit aus aufbrechenden Wunden und ein beißender Geruch von brennendem Fleisch stach in die Lungen seiner gelähmten Begleiter. Dichter Qualm machte den Tag zur Nacht, als Jims Schreie über den Parkplatz hallten. Sie vermischten sich mit dem pfeifenden Gesang von Feuersäulen, die aus seinem Körper stießen. Sein Blut siedete. Vor seinen Augen loderte die Welt, wie ein Vulkan, der seine Gedanken wegbrannte. Jims Finger verkrampften sich und schrumpfende Sehnen krümmten seinen Leib. In den ersten Sekunden konnte er noch schreien, aber schon bald verglühte jeder Atemzug in seiner Lunge. Die Tränen auf seinem Gesicht verdampften, als der Schock ihm das Bewusstsein entriss.

Doch plötzlich starb das Feuer, als würde es verhungern. Zurück blieb ein zuckender, mit weißer Asche überzogener Körper. Jim hustete die sengende Hitze aus seiner Lunge. Seine Finger versuchten, den Rand der Kiste zu erreichten, um sie umzukippen. Er stieß einen Schrei der Verzweiflung aus, denn der Gürtel rollte von den Flammen unversehrt, auf den Erdboden.

Bill war an Jim herangetreten und strich ihm vorsichtig Asche vom Körper. Die darunterliegende Haut war unverletzt. „Wir können ihn nicht töten, Junge“, flüsterte er mit bebender Stimme.
Jims Augen kreisten über den Himmel, als er sich stöhnend auf den Rücken warf. Er öffnete den Mund. Seine Lunge füllte sich mit lebenspendender Luft. Immer noch meinte er die Flammen auf seiner Haut zu spüren.
Er war wirklich ein Monster! Seine Arme umschlangen den Kopf, als er die Stirn gegen die Erde presste. Jim wünschte sich, sie würde sich öffnen, um ihn zu verschlingen. Aber selbst das Feuer hatte ihn angewidert ausgespien – nicht einmal die Hölle wollte ihn haben.
Wie sollte er Ron retten, wenn selbst der Tod vor ihm floh?

*** *** ***

Eine vertraute Stimme flüsterte in seinem Kopf. „Er hat euch getäuscht und euch ein flammendes Inferno vorgegaukelt.“ Liebevoll nannte sie ihn beim Namen. „JIM --- du bist ein Teil von ihm … er wird dich niemals sterben lassen. Du hast nur eine Möglichkeit, deinen Bruder und dich zu retten. Finde den Sarg und verschließe ihn!“
Jim konnte Madisons Atem spüren.

„Er ist zerbrochen“, flüsterte er. „Ich kann ihn nicht verschließen!“ Langsam richtete er sich auf und sah in entsetzte Gesichter. Selbst in den Augen seiner Freunde erkannte er Angst. Wortlos nahm er die Kiste mit dem Gürtel unterm Arm und taumelte zum Auto. Seine Augen streiften fragend Bill, der ihm sofort folgte.
Noch einmal kramte Jim im Kofferraum bis er seine Taurus in den Händen hielt. Schweigend reichte er sie dem alten Jäger. Dieser schob die Silberkugeln ins Magazin und gab Ash und Lilly zu verstehen, dass sie allein weiter fahren würden.

Bevor sich Jim ans Steuer setzte, wandte er sich kurz an Lilly. „Wenn du bis heute Abend nichts von uns hörst, dann belass es dabei!“ Seine Stimme war immer noch kratzig durch den Rauch.

Ash und Lilly verfolgten den Ford Mustang mit den Augen, als er über den staubigen Parkplatz zur Straße rollte.

*** *** ***

Ron war wieder bei Bewusstsein. Bill und Jim schleppten ihn stolpernd über den Parkplatz zum Motelzimmer. Bei jedem ihrer Schritte schrie Ron. Das Knirschen seiner Rippen hörten selbst die Jäger. Sie wussten, die letzten Minuten waren angebrochen. Mit einem heftigen Tritt stieß Jim die Türe auf. Ron hatte keine Kraft mehr, sich auf den Beinen zu halten. Schwer sank er im Zimmer zu Boden und Jim ging mit ihm in die Knie.
Bill holte bereits die Fluchkiste aus dem Schrank und öffnete sie. Er warf den Gürtel in die Kiste und schlug sie zu. Sein Blick flog betend über die Zimmerdecke.
Ron und Jim hielten sich gegenseitig fest. Keiner wollte loslassen. Es war schließlich Jim, der Ron in seinen Armen nach unten sinken ließ, um in sein Gesicht zu sehen. Seine ganze Hoffnung klammerte sich verzweifelt an diesen letzten Strohhalm.
Aber es geschah nichts …
Rons Brustkorb wölbte sich, sein Kopf sank nach hinten, als dieses furchtbare Knirschen erneut begann. Jim, konnte Rons Wangenknochen weiß unter der Haut schimmern sehen. Der letzte Hoffnungsschimmer war geplatzt, wie eine Seifenblase.
Bill erschauerte. Mit schlotternden Knien trat er an Jim heran und zog die Waffe. Er presste den Mündungslauf zwischen seine tränennassen Wolfsaugen. Jim nickte. Immer noch hielt er Ron fest. Dieser stemmte sich verzweifelt gegen den eigenen Tod, der Jim verwandeln würde.
Bills Herz schlug wild bei dem, was er sah.
Verzweifelt einander festhaltend, waren Jim und Ron gefangen zwischen Leben und Tod – jeder war bereit, sein Leben für den Anderen zu geben und gleichzeitig versuchte jeder, genau dieses Opfer des Anderen abzuwenden. Ein metallisches Klicken erfüllte das Zimmer, als der alte Jäger die Pistole entsicherte.

„Verschließe den Sarg“, flüsterte Madison in Jims Gedanken.



Bills Schultern bebten - sein Zeigefinger drückte gegen den Abzug der Waffe. Er hielt den Atem an. Aber er konnte es nicht. Die Taurus fiel zu Boden. Lieber würde Bill sterben, als einen seiner Ziehsöhne zu erschießen.
Im gleichen Augenblick ließ Jim unter seinen erstaunten Augen Ron los und robbte zum Tisch. Er stemmte sich in die Höhe und tastete nach dem Foto des Sarges. Es lag seit gestern Mittag dort. Rumpelnd stürzte Jim zurück und hielt dem Alten das Bild entgegen. Sein Mund öffnete sich, aber Bill konnte Jims Worte nicht mehr verstehen. Unverständliche, bellende Laute schwappten ihm entgegen.
Nun begannen Jims Knochen, gleichermaßen mit denen seines Bruders, zu knirschen um die Verwandlung zum Stüpp zu vollenden. Hastig entriss ihm Bill das Foto und wich entsetzt über den Anblick zurück. Jims Körper begann zu wachsen. Seine Gelenke verschoben sich und auf seinem Rücken brach Fell aus der Haut. Er riss seinen Kopf in den Nacken, als würde er bereits den Mond anheulen. „Schließ den Sarg!“ Mit einem verzweifelten Stoß quälte sich der letzte menschliche Satz aus seiner Kehle. Und Bill verstand endlich. Hastig suchte er in den Schränken nach Farbe oder einem Stück Kreide. Die gequälten Laute in seinem Rücken ließen ihn vor Angst erzittern. Bill wagte es nicht mehr, hinzusehen.
Endlich hatte er eine Color-Spraydose gefunden. Bill zwang sich zur Ruhe und studierte aufmerksam das Foto des alten Sarges. Daraufhin begann er, die ihm unbekannten, auf dem Foto deutlich erkennbaren Schnitzereien und Symbole auf die Kiste zu aufzusprayen. Seine Finger zitterten, als er das letzte Zeichen vollendet hatte.

Blitze stießen durch das Zimmer, zuckten um die Barker Brüder. Sie glitten wie leuchtendes Wasser von einem zum anderen und umschlossen schließlich wie ein Strudel beide Körper. Ein hoher Schrei – wie der eines Neugeborenen ertönte. Dann verschwand das blendende Licht und die Kiste vibrierte unter Bills Händen. Der Alte hielt mit aller Kraft den Deckel zu und drehte den Schlüssel um. Rons Körper bäumte sich auf. Er entglitt den Armen seines Bruders und stürzte zu Boden. Ohnmächtig folgte auch Jim und blieb neben Ron liegen.
Der alte Jäger stand keuchend im Zimmer.

*** *** ***

„He, he, Jungs …!“ Bill hockte am Boden und rüttelte Jim und Ron. Wie auf ein Kommando schienen sie gemeinsam das Bewusstsein wieder zu erlangen. Ächzend bewegten sie ihre Gliedmaßen. Als sie schließlich nebeneinander saßen, trafen sich ihre Augen. Jeder warf dem anderen eine vorwurfsvolle Mine zu.

Bill lächelte müde. „Ihr zwei seid ja wirklich ziemlich fanatisch“, flüsterte er und bot zuerst Jim die Hand an, um ihm auf die Beine zu helfen. Der Jüngste ordnete sein verklebtes Haar und blinzelte Ron entgegen.

„He Ron“, raunte er. „Alles klar, Alter? Siehst du immer noch Dämonen?“ Mit einem sanften Ruck zog er seinen Bruder hoch.

Ron stöhnte leise und stieß ein paar Flüche aus, wobei er sich die Rippen hielt. Dann spuckte er auf den Boden.
Seine Augen erfassten Jim. Übermütig hob er eine Braue und keuchte: „Nicht wirklich, Jimmy.“ Er musterte ihn grinsend. „Aber wenn du nicht bald mal duschen gehst, könnte es passieren, dass ich dich zur Hölle jage, weil ich dich mit einem dieser Mistkerle verwechsle.“ Ron sah fragend auf den Alten: „Sag mal Bill, rennt unser Kleiner schon den ganzen Morgen so rum, wie Rambo?“ Amüsiert kratzte er sich am Hinterkopf.

Jims Blick glitt am eigenen Körper hinab. Dann musterte er seinen Bruder. Pfeifend stieß er Luft durch die Zähne und konterte: „He Bruderherz – du siehst auch nicht mehr so ganz frisch aus!“ Schließlich wandte er sich fragend an Bill. „Ich spüre das Tier nicht mehr!“

Bill neigte den Kopf. „Der Tipp mit dem Sarg war genial, Jim. Woher hast du das mit den Symbolen gewusst?“

Jim lächelte. „Eingebung …!“

Bill verkniff sich eine weitere Frage. Seufzend zeigte er auf die Fluchkiste. „Der Stüpp ist nicht tot. Die Symbole haben ihn - wie vor 400 Jahren – nur gebannt. Wenn diese Kiste jemals geöffnet wird … Jimmy … dann!“

Ron war an die Kiste heran getreten. Interessiert drehte er sie in seinen Händen und betrachtete die alten Symbole. „Cooles Graffiti - Bill“, raunte er und sah Jim bedeutungsvoll in die Augen: „Du weißt schon, dass diese Kiste deine persönliche Büchse der Pandora ist, Jimmy?“

Der Jüngste hob abwehrend die Hände. „Ist mir egal – ich geh jetzt duschen“, schnaufte er müde.

„Tu das …!“ Ron grinste.

„Halt die Klappe“, konterte Jim augenzwinkernd und verschwand im Bad.


*** 3 Wochen später … ***



Auf Rons Stirn zeigte sich eine steile Falte. Er hatte den Kopf nach unten geneigt und strich sich nervös durch das kurze Haar. „Und du kommst wirklich klar?“ Skepsis schwang in der Stimme des Älteren.

„Ron …! Jetzt hör auf, dir ständig Sorgen zu machen“, flötete Jim. Er richtete den Blick nach oben und pendelte leicht mit dem Oberkörper. Selten hatte er eine solche Vibration in Rons Stimme gehört.

Ron ließ ihn kaum zu Wort kommen: „Ruf mich an, wenn du angekommen bist, okay?“ Etwas eigenartig war das Ganze schon. Irgendwie konnte sich Ron nach zwei Jahren gemeinsamer Jagd nicht vorstellen, seinen kleinen Bruder gehen zu lassen. Zumal er ihn selbst zurückgeholt hatte. „Jimmy! … Brauchst du noch irgendetwas. Hast du Geld für den Bus?“ Grübelnd kratzte sich Ron am Hinterkopf, während er unter Lillys schmunzelnden Blicken wie ein Tiger im Käfig auf und ab lief.

„Ron! – Ich heiße Jim und hör auf mich so zu beglucken“, wehrte sich Jim amüsiert. „Ich bin kein Baby. Außerdem verschwinde ich ja nicht vom Erdboden, sondern gehe nur zurück an die Hochschule. Ich komme euch auf alle Fälle in den Semesterferien besuchen!“

„Pass auf dich auf! Versprochen?“ Rons Stimme war gesenkt.

„He Alter – mein Bus fährt in zwei Stunden und ich muss noch auschecken. Also ich melde mich, okay?“ Jim beendete schlagartig das Telefonat als er bemerkte, dass auch seine Stimme zitterte.

*** *** ***

Hilflos sah Ron auf Lilly, nachdem sein Handy nur noch tutete. Sie antwortete lächelnd. „Jim ist 24. Er wird schon klar kommen.“ Mit einem Schritt ging sie auf Ron zu und umschlang seine Hüften. Sie zog ihn näher. „Entspann dich mal, großer Bruder“, hauchte sie auf seine Lippen.

„Aber ich habe doch versprochen, auf ihn aufzupassen“, nuschelte Ron. Er hatte sein Leben lang nichts anderes getan. Kleine Brüder konnten wirklich nervig sein, dass wusste Ron am besten. Jim war immer der Dreh- und Angelpunkt in seinem Leben gewesen und wenn er ehrlich war, vermisste er ihn schon jetzt. Das fühlte sich fast genauso schlimm an, wie die höllische Angst, die er jedes Mal durchstehen musste, wenn sein Jimmy in Gefahr war.
Nach einer kurzen Pause sah Ron Lilly mit funkelnden Augen an: „Meinst du, wir hätten es ihm schon sagen sollen?“, flüsterte er aufgeregt. Seine Hände umschlangen Lillys Hüften.

„Er wird es noch früh genug erfahren“, hauchte sie, gab ihm einen Kuss und löste sich aus der Umarmung. Auf ihrem Gesicht erstrahlte ein Lächeln. „Ich weiß, wie wir dich etwas entspannen können“, flüsterte sie und strich sich eine goldblonde Locke aus der Stirn.

„So? Wie denn?“

Die Erwartungshaltung in Rons rauchiger Stimme liebte Lilly. „Weiß du was? Auf dem Marktplatz gastiert seit einigen Tagen ein Zirkus. Lass uns dahin gehen – ich liebe Jahrmärkte“, flüsterte sie und schob ihre schmalen Brauen in die Höhe.

Ron schnaufte enttäuscht: „Mhhhh – ich weiß nicht, ob mich das entspannt“ Seine Hände legten sich provozierend auf ihren Po. „Aber Jimmy würde es gefallen. Weißt du“, er lachte, „Jim liebt Clowns!“


„Ron …“, bettelte Lilly auf eine Art und Weise die ihn zum Schmelzen brachte. „Bitte, lass uns auf den Rummel gehen. Dann kommst du auch auf andere Gedanken.“

Ron rollte mit den Augen und schnurrte: „Also das mit dem sesshaft werden muss ich mir wohl nochmal überlegen.“
Für diesen Satz erntete er prompt einen Stups in die Rippen, bevor ihn Lilly aus der Küche schob.

*** *** ***

Ratlos stand Jim im Motelzimmer. Er beobachtete die Zeiger der Wanduhr. Sie kündigten unaufhaltsam das Ende seines Aufenthaltes in dieser Stadt an. Seufzend glitt sein Blick über die gerichteten Betten. Auf Einem stand seine Reisetasche - bereits gepackt. Jim hätte nie geglaubt, dass die gemeinsame Jagd so abrupt enden würde. Obwohl er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als ein normales Leben zu führen, überkam ihn nun Trauer. Die vielen Gefahren, denen er und Ron in den letzten Jahren auf der Suche nach ihrem Vater ausgesetzt waren, hatten sie eng zusammengeschweißt - und auf einmal war sich Jim nicht mehr sicher, ob seine Entscheidung richtig war. Jim wusste nur eins - nach dem überraschenden Tod ihres Vaters verband sie etwas Tiefes, dass er nicht wieder aufgeben wollte. Natürlich wünschte er Ron nichts mehr, als ein glückliches und normales Leben – fernab von diesem ganzen übernatürlichen Mist, der jeden Tag aufs Neue ihre Existenz bedrohte. Lilly schien genau die Richtige für Ron zu sein. Wieder glitt ein Lächeln über Jims Lippen. Noch nie hatte er seinen Bruder so glücklich erlebt, wie in den vergangen drei Wochen.
Seufzend zog sich Jim das Shirt über den Kopf und warf es auf das Bett, in dem sein Bruder geschlafen hatte, bevor er in das sonnengelbe Haus unter den alten Linden gezogen war. Jim hatte ihn zwingen müssen, zu gehen. Er konnte das Gespräch im Auto nicht vergessen. Ron hatte dieselben einfachen Träume und Wünsche wie er. Sie waren doch aus dem gleichen Holz geschnitzt. Einen tiefen Seufzer ausstoßend, entledigte sich Jim dem Rest seiner Kleidung und verschwand im Bad.

Die ungewohnte Situation im vereinsamten Motelzimmer verunsicherte ihn. Er brauchte einfach einen klaren Kopf. Die Unterarme an die altmodischen Fliesen gelehnt, presste Jim seine Stirn gegen die Wand und genoss das warme Wasser, das sanft über seinen Rücken perlte. Im kärglich eingerichteten Bad war es kühl, da immer das Fenster gekippt war, um den muffigen Gestank in Grenzen zu halten. Hinter dem Duschvorhang kondensierte Nebel zu Tropfen. Monotones Rauschen und die sanfte Massage auf seiner Haut entspannten Jim. Er hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig und tief.
Die Spuren dieser Jagd waren dem jungen Jäger kaum noch anzusehen. Lediglich drei winzige Punkte auf seiner Schulter und eine Narbe auf dem rechten Brustmuskel ließen erahnen, wie knapp er diesmal dem Tod entgangen war. Aber genauso wie die Spuren des Kampfes auf seinem durchtrainierten Körper verblassten, schien auch die Erinnerung daran selbst zu verschwinden. Jim drehte sich und zog den Kopf in den Nacken. Wasser perlte durch seine langen Haare. Es bahnte sich einen Weg über sein Gesicht und über seinen Körper um irgendwann zwischen den Füßen als Rinnsal im Abfluss zu verschwinden. Beherzt griff er nach dem Duschgel auf einer, mit Saugnäpfen an der Wand befestigten Plastikhalterung.
Der plötzliche Schmerz in seinem Kopf, verursacht durch einen lauten Pfeifton, entriss ihm einen gequälten Schrei. Das Duschgel fiel aus seinen Fingern und landete kreiselnd im Duschbecken. Jim geriet ins Taumeln, als seine Füße auf dem nassen Untergrund ausglitten. Haltsuchend griff er in den Vorhang. Unter seinem Gewicht rissen die Metallösen aus dem Gewebe. Er stürzte ins Bad. Benebelt vom Aufprall lag Jim, halb im Vorhang eingehüllt, den er mitgerissen hatte, auf den kalten Fliesen. Seine Hände hatte er auf die Ohren gepresst, um das marternde Geräusch fern zu halten. Als er die Augen öffnete, färbte sich das Bad rot. Wieder hörte er entsetzliche Schreie, wurde geblendet durch bunte Lichter, hörte eigenartige Musik und sah einen Mann hinter einer Wand aus langsam zu Boden sinkenden Blütenblättern.
Leise wimmernd rollte sich Jim auf die Seite. Er biss die Zähne zusammen und warf sich auf den Rücken. Der Duschvorhang verhedderte sich zwischen seinen Beinen.
Jim sah ein leuchtendes Wesen. Sie hatten ihm den Rücken zugewandt und stand vor einem alten Brunnen. Obwohl er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, brannte ihr Anblick in seinen Augen. Sie sprach zu ihm, aber ihre Stimme war schrill wie der Schrei eines Falken, hoch über den Wolken. Nur langsam verwandelte sich der nervenzerreißende Ton in Wortfetzen. Aber Jim konnte nicht folgen. Zusammenhanglose Worte überschwemmten seinen Verstand: „Sie dürfen nicht aussteigen“, erklang es zwischen all diesem schrillen Gesang. „Darum muss dies heute verhindert werden!“
Eine unheimliche Vorahnung ließ sein Herz rasen. Keuchend rang Jim nach Sauerstoff. Er zitterte wie Espenlaub, als er das Krachen von schwerem Eisen hörte, bevor ein schwarzer Schatten durch die Luft sauste. Fassungslos erkannte er die tränenüberströmten Augen seines Bruders und wurde bewusstlos.

*

Ruckartig öffnete Jim den Mund. Seine Lunge füllte sich mit Luft, die fast greifbar im Zimmer stand. Er versuchte, seine Lider zu heben. Als sich der blutrote Schleier vor seinen Augen verzog, sah er den blanken Steinboden. Langsam schälte sich eine Erinnerung aus der pochenden Leere hinter seinen Schläfen. Er griff nach dem Waschbecken über sich und hoffte, dass die Verankerung seinem Gewicht standhalten konnte. Mühsam zog er sich daran hoch. Übelkeit überkam ihn. Gequältes Husten und Würgen erfüllte den Raum. Irgendwann wischte Jim den Dunst vom Spiegel und sah in sein Gesicht. Angetrocknetes Blut klebte an seinem Hals. Noch in seiner Bewegung griff Jim das Handtuch und verließ das Bad. Er musste Ron finden – und er wusste, wo er ihn zu suchen hatte. Der Leierkasten in seiner Vision hatte es ihm verraten.

*

Mit gewaltigen Schritten hetzte Jim durch die belebten Straßen. Staubige Stadtluft kratzte in seinem Hals, sein Herz hämmerte rastlos um seine Muskeln mit Sauerstoff zu versorgen. Langsam mischte sich der süße Duft von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln unter die sommerliche Hitze. Murmeln und Lachen war zu hören. Irgendwo in der Nähe dudelte der Leierkasten.
Als Jim auf den Festplatz einbog, knirschte Kies unter seinen Schuhen. Menschen wichen ihm erschrocken aus. Jims Blicke irrten durch schmale Gassen zwischen Spielzeugständen und Losbuden. Das fröhliche Lachen unter dem Riesenrad verwandelte sich plötzlich in panische Schreie als Jim im gleichen Augenblick ein lautes Knirschen vernahm. Angsterfüllt preschte er um ein großes Zelt, aus dem der Geruch von schalem Bier und gebratenen Hackfleisch wehte.
Seine Augen öffneten sich in grenzenloser Angst beim Anblick der sich bildenden Menschentraube. Rücksichtslos schob sich Jim durch die Masse. Er drängte zahllose, vor purem Entsetzen erstarrte Körper zur Seite, bis er die Mitte erreicht hatte. - Aber er wagte es nicht hinzusehen. Die Gewissheit, dass er zu spät gekommen war, lähmte ihn. Vor seinen Augen verwandelte sich die Welt in einen Sturm aus farbigen Lichtern.
Ron kniete am Boden, mit versteinertem Gesicht hielt er Lilly in seinen Armen. Die winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase schimmerten leicht in der Sonne. Ihre Augen waren weit aufgerissen und in ihnen starren Pupillen spiegelte sich der azurblaue Himmel. Eine nicht besetzte Gondel hatte sich vom Riesenrad gelöst und war in eine Schießbude gerast. Die Wucht des Aufpralls riss die Verankerungen aus dem Boden und ein einziger, verirrter Bodennagel hatte sich in Lillys Herz gebohrt.
Eisige Kälte ging von Ron aus als Jim neben ihm auf den Kies sank. Außerstande, Worte zu finden, legte Jim die Hand auf die Schulter seines Bruders. ER

wusste, dass es nichts gab, was diesen Verlust lindern konnte und so verharrte er still an Rons Seite, damit seine stummen Schreie nicht ungehört verhallten.
Langsam taumelten durch den Einschlag aufgewirbelte Kunstblumen zu Boden. Sie bedeckten die Schultern der Brüder wie ein sanfter Regen.

*** *** ***

Flammen brannten in seinen Augen.

„Es werden sechsunddreißig Brüder reisen, und zwei von ihnen werden Fremde sein.“



Die schmerzhaften Visionen verfolgten Jim bis in seine Träume. Ruckartig schoss er in die Höhe und suchte nach Ron. Ungezählte Meilen trennten die Jäger mittlerweile von dem Ort, der ihnen so viel Leid beschert hatte.
Sofort nach Lillys Beisetzung hatte es Ron auf den Highway gezogen. Aber vor Erinnerungen konnte auch er nicht fliehen – egal, wie schnell er den schwarzen Wagen über den heißen Asphalt jagte. Irgendwann hatte er den Ford Mustang auf einen verborgenen Seitenweg gesteuert und gestoppt.
Erleichtert sah Jim seinen Bruder auf der Motorhaube des Autos sitzen. Ron hatte eine Flasche Wasser in der Hand und sah in den dichten Wald. Die Nacht legte sich bereits als Morgentau auf tiefgrüne Blätter und kündigte den nahenden Herbst an. Ron hatte seit zwei Tagen weder etwas gegessen, noch ein Wort gesprochen. Er zuckte zusammen, als die Beifahrertür zuschlug und das Laub unter Jims Füßen raschelte.
Jim setzte sich zu ihm auf die Motorhaube und seufzte. Er musste das Schweigen brechen – er musste mit Ron über seine Vision reden. Denn er wusste, dass Lillys Tod kein Unfall gewesen war. In seiner Vision hatte er die Präsenz eines mächtigen Wesens gespürt. Dieses Wesen war mit nichts zu vergleichen, was sie bisher gejagt hatten. Ihr Anblick ließ die Augen derer, die sie sahen, erblinden und selbst die Dämonen der Hölle schienen sie zu fürchten. Jim wusste nicht, mit wem oder was sie es zu tun hatten, erkannte aber, dass es mit Lillys Tod bereits in Rons und auch sein Leben eingegriffen hatte.
Und – es war erst der Anfang, denn ihre Schicksale schienen auf geheimnisvolle Weise miteinander verwoben zu sein. Unsicher streifen seine Blicke den Bruder. „Ron, geht es dir gut?“ Jim schluckte … seine Worte waren nichts als blanker Hohn.
Der ältere Barker schnaufte. Sein emotionsloser Blick verlor sich in Hecken, die den Pfad überwucherten.
Jim nagte an seiner Lippe. „Ein Herz, geteilt in Gut und Böse wird die Welt in Finsternis stoßen“, hörte er immer. Er hatte Angst, denn er spürte einen Sturm aufziehen und wusste, dass ihnen beiden ein Krieg bevorstand, in dem sich die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischten. Jim ahnte langsam etwas von einem unausweichlichen Kampf, den das Schicksal für sie bereithielt. Seine Brust zog sich zusammen. Sie beide mussten stärker werden, um ihre Bestimmung zu erfüllen - denn dieser Krieg würde ihnen sonst das Wichtigste nehmen, das sie besaßen: Ihr ungebrochenes Vertrauen zueinander – der Antrieb für Liebe, Verständnis und Aufopferung. „Bist du okay, Ron“, hauchte der Jüngste noch einmal, als sich seine Hand auf Rons Schulter legte.

„Jim!“, entwich es dem Älteren gequält, „hör auf, mich ständig zu fragen ob ich okay bin! ... Ich bin okay!“ Schnaufend riss er seinen Kopf in den Nacken. „Wirklich - es geht mir gut.“ Aber eine zerbrechliche Stimme und der leere Blick enttarnten seine Worte als Lüge. „Jim – es ist alles in Ordnung!“

Der Jüngere nickte und seine feuchten Augen folgten dem Blick des Bruders. Jim hatte wirklich Angst. - Nichts war in Ordnung – und doch war alles so, wie es sein sollte …


Rau Nächte




*** Prolog ***



» Es werden der brüder sechs und dreißig darvon und werden zwen frembde auch mit inen raisen. Wiewol nun dem guten man nit gehewer bei der sach und im nichts guts vor war, auch bedauchte, es gieng nit recht zue « *



* Originaltextauszug: „Zimmerische Chronik“, geschrieben 1540/1558 bis 1566


Frei Übersetzt:
» Es werden 36 Brüder reisen. Unter ihnen werden auch zwei Fremde sein. Dem guten Mann wird dieses Ereignis unheimlich erscheinen, denn es bedeutet nichts Gutes und geht nicht mit rechten Dingen zu «



*** *** ***


Sie kamen...

Niemand hatte sie aufgehalten. Niemand hatte die Zeichen erkannt, geschweige denn geglaubt, dass sie je real sein könnten. Sie waren nur eine Legende - über 1000 Jahre alt - vergessen und beschmunzelt. Reduziert auf ein paar lächerliche Bräuche weniger Menschen, die den Sinn dieser mystischen Rituale aus grauer Vorzeit über die Jahrhunderte vergessen hatten – oder gezwungen wurden, sie zu vergessen.
Im Grunde genommen waren sie nicht gefährlich – aber wer sie verspottete oder provozierte, würde unweigerlich sterben.
Ihr Atem war so eisig und ihre Seelen so finster wie die vergangenen Nächte. Die Nächte, die ihnen gehörten. Nächte in denen ihnen in längst vergangenen Tagen Respekt gezollt wurde, weil sie gefürchtet waren.
Ihre Anführer, mächtige und stolze Krieger, hatten verschiedene Namen und vor ihnen neigten selbst Könige, Fürsten und Schamanen das Haupt, wenn der Himmel ihre Ankunft signalisierte.
Sie hatten sich immer an die Regeln gehalten und die Warnungen ihrer Botschafter waren jedem dieser Ereignisse vorausgeeilt. Aber nun wurden die Zeichen ignoriert, weil niemand sie mehr deuten konnte. Niemand erinnerte sich und war in der Lage, sie zu besänftigen.
Die Menschen hatten die Regeln gebrochen und sie mit ihrem einfältigen und egoistischen Handeln verspottet und provoziert.

Nun waren sie zornig. Jetzt öffneten sich die Schleusen und der Himmel spie sie auf die Erde. Es sollten die normalen Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt werden und die üblichen Grenzen zu anderen Welten fallen.

*** *** ***

Klirrender Frost hatte sich in den letzten Nächten tief in den Boden gefressen. Es war zu viel kalt, als dass es noch schneien könnte. Der Hauch der Natur erfror und rieselte als silberner Staub zu Boden. Erstarrt standen die Bäume und trotzten dem schneidenden Wind, der an ihren brüchigen, mit Kristallen überzogenen Zweigen zerrte. Durch ihre kahlen Kronen konnte man den sternenklaren Himmel sehen. Der Mond hatte bereits seine volle Größe erreicht.

Fröstelnd rieb sich Jim die Hände. Die eisige Luft stach, als würde sie aus unzähligen Glassplittern bestehen. Jeder Atemzug, den Jim in die kalte Nacht stieß, verwandelte sich eine weiße Wolke, die knisternd zu Boden sank. Aufmerksam beobachtete er die Umgebung und lauschte in den Wald. Ab und zu verriet lautes Krachen, gefolgt vom Knirschen spröden Holzes, dass irgendwo ein Ast der Kälte zum Opfer gefallen war.
Ron lehnte an der Fahrertür des Ford Mustang. Der winzige Rastplatz, auf dem sich die Jäger befanden und der sich an einer Seite zu einer Lichtung ausdehnte, bot nicht viel Schutz vor dem pfeifenden Wind. In der Ferne war dumpfer Lärm zu hören. Er erinnerte an eine Hetzjagd. Wobei zuckende Lichter immer wieder den blassen Schein des Mondes überlagerten.

Unwillig schlug Ron den Kragen seiner Jacke hoch, um zu verhindern, dass der eisige Atem der Nacht noch tiefer unter seine Kleidung glitt. Seine Füße trippelten auf dem steinharten Erdreich. Schon jetzt hatte er das Gefühl, ihm seien die Zehen erfroren. „Jim, ich kann nicht glauben, dir hierher gefolgt zu sein“, flüsterte er. „Bei allem Respekt zu deiner Fähigkeit, die seltsamsten Ereignisse zu einem logischen Ergebnis zu kombinieren.“ Er schüttelte zweifelnd den Kopf, als seine Blicke über den Himmel streiften. „Aber das hier! – Jim! Das kann nicht sein.“

„Ich wünschte, du hast Recht“, seufzte Jim. Raureif umhüllte jede seiner langen Haarsträhnen. Schimmernd vibrierten sie auf seiner Stirn. „Aber der Tote im Brunnen, die erblindeten Zeugen, die schrecklichen Unfälle – Ron…“, hauchte er. Seine dunklen Brauen hoben sich. „Diese …“, hilflos holte Jim Luft, seine Stimme drohte zu ersticken, „… Stimmen, die du gehört hast!“ Jim wollte diese Wunde nicht wieder aufreißen, wusste er doch, dass Ron an jenem grausamen Ereignis fast zerbrochen war und die Erinnerung daran ihn immer noch bis in seine Träume verfolgte. Jim kannte den lähmenden Schmerz, den dieser Verlust auslöste. Und doch vermochte er nicht, das wahre Ausmaß des Leids zu erfassen, denn Ron hatte an jenem Sommertag viel mehr verloren. Was Jim bis vor einigen Tagen nicht einmal geahnt hatte: Sein Bruder verlor auf diesem Rummelplatz einen Teil seiner Selbst.

Mit blaugrauen Augen beobachte er Ron. Seine Tränen über das verlorene Leben schienen zu erfrieren. „Das sind alles Zeichen … es sind Omen. Alles deutet darauf hin dass SIE es gewesen ist. Ron - Du weißt, wer IHR folgen wird.“

Ron hatte seinen Kopf geneigt und nickte stumm. Seine Kiefer zuckten. Es schien, als würde ein winziger Eiskristall in seinem Augenwinkel aufblitzen. Er legte seine Hände auf das Wagendach und stöhnte. „Jimmy – Mann, heute ist Silvester. Wir sollten im Warmen sitzen. Oder von mir aus auch in einer Bar. Ich könnte wirklich einen Drink vertragen.“

Jim nickte mit einem bitteren Lächeln und hob die Schultern. „Ron! Es ist die einzige Nacht des Jahres in der es geschieht. Wir müssen das überprüfen“.

„Du glaubst diesen Scheiß doch nicht wirklich?“ fragte der Ältere skeptisch.

Jim schüttelte den Kopf, seine Brust bebte und Angst schnürte ihm die Kehle zu. Was Ron nicht wusste, Jim war sich sicher. Er konnte sie bereits spüren und hörte, wie sie mit einem fürchterlichen Gerassel durch die Lüfte stießen. Und – sie würden ihn in die Ewigkeit mitreißen, denn er war einer von ihnen. Es lag in seinem Blut … Sie kamen …


*** Kälte ***



Grafton
21.12. 2009; 21:45 Uhr

Die kalte Luft legte sich wie glitzernde Seide über die Ziegeldächer der wenigen Gebäude der Bradshaw - Farm und ließ die Sterne am wolkenfreien Nachthimmel unnatürlich hell und riesig erstrahlen.

Eine leicht gekrümmte Gestalt schob sich aus der schweren Haustür des Wohnhauses und verharrte einen Moment bewegungslos. Hellgraue, müde Augen blickten aus einem faltigen Gesicht. Wenn es Cole nicht besser gewusst hätte, müsste er annehmen, dass der Himmel im Begriff war, auf die Erde zu stürzen. Fröstelnd schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und zog die Mütze tiefer in die Stirn. Es war totenstill an diesem Abend. Der überraschende Kälteeinbruch hatte nahezu alles zum Erstarren gebracht. Selbst der Wind schien erfroren und ließ den Rauch ungehindert als schmale Säule aus dem Schornstein des Haupthauses entweichen, bis er hoch über den einsamen Gebäuden verschwand. Leise schloss Bradshaw die Haustür und stapfte über das knirschende Erdreich des Hofes zu seinen Stallungen.

„Das darf doch nicht wahr sein!“ Verwirrt klopfte Cole mit dem Fingerknöchel gegen das Blech. Er hielt sein Ohr an den rostigen Wasserspeicher. „Der kann doch nicht schon wieder leer sein“, knurrte er mürrisch und zog den Kopf, überrascht von der Kälte, die das Eisen ausstrahlte, zurück. Jedenfalls hallte ihm kein Echo entgegen, was seine Vermutung bestätigte.

Cole legte die kleine Taschenlampe auf den Boden und betrachtete ungläubig den Wasserhahn. Er war bis zum Anschlag aufgedreht aber nicht ein einziger Tropfen verließ die Öffnung. Sollte das Wasser in dieser kurzen Zeit wirklich eingefroren sein?

Fröstelnd zog der Siebzigjährige seinen Kopf tiefer in den Kragen der abgewetzten Wattejacke, bückte sich und tastete mit seinen schwieligen Fingern nach der Taschenlampe. Schließlich gelang es ihm, die widerspenstige Lampe zu erfassen und der alte Mann folgte ihrem Schein über den dunklen Hof.
Der Boden unter seinen Stiefeln war steinhart. Ruckartig blieb Cole Bradshaw stehen und blies seinen Atem in die Luft. Weiße, wild wuchernde Augenbrauen schoben sich auf seiner Stirn zusammen, während seine Hand über die Bartstoppeln auf seinem Kinn fuhr. Beängstigt beobachtete er, wie sich knisternder Nebel bildete, der schwer zu Boden sank. Der Alte schüttelte seufzend den Kopf und eilte zum Lagerhaus.

Cole`s Augen folgten dem schmalen Licht der Lampe und fixierten das Thermometer am Eingang des Lagerhauses. Ihm fiel die Kinnlade herunter. Von solchen Wetterumstürzen hatte sein Großvater immer erzählt – er selber hatte sie nie erlebt. Seit letzter Nacht war die Temperatur stündlich um ein Grad gefallen und stand bei fast minus 30 Grad. Dieser freie Fall hatte sich in den letzten Stunden sogar noch beschleunigt. Wenn das so weiter ginge, würde das Vieh erfrieren.
Besorgt schwenkte Bradshaw die Lampe in Richtung Stall. Angesichts der Temperaturen dachte er an Notschlachtungen. Die Tage seiner Puten waren ohnehin gezählt, aber viele seiner Kunden bevorzugten lebende Tiere.
Knarrend öffnete sich die Tür zum Lagerhaus unter seinem Gewicht das er dagegen stemmte. Der Lichtkegel seiner Lampe irrte über Werkzeuge und Regale, die vollgestopft waren mit Erinnerungen. Nach wenigen Schritten hatte Cole den gleichmäßig tuckernden Stromgenerator erreicht und überprüfte sorgfältig, ob genügend Benzin für die Heizstrahler im Tank war. Zufrieden nickend machte er kehrt und schlurfte an einem alten Pickup vorbei, der, mit einer Plane abgedeckt, zwischen rostenden Landmaschinen stand. Wieder an der Tür angelangt, knipste er die Lampe aus und schob sich zurück in die eisige Nacht.

Grübelnd stand Cole vor der Tür und überlegte, ob er noch auf einen Drink in Tiffany`s Bar einkehren sollte.
Seit seine Frau Ella vor 8 Monaten gestorben war, fühlte er sich auf dem Hof einsam. Seine Ehe war kinderlos geblieben und die Stille, die mit dem Tod seiner Frau eingezogen war, quälte ihn jeden Tag aufs Neue. Er seufzte, als sich sein Blick auf das Küchenfenster heftete. Wie sehr wünschte er sich jetzt ein Licht hinter der vereisten Scheibe. Schmerzlich vermisste er das vertraute Klappern von Töpfen und Schüsseln, wenn Ella jeweils die Mahlzeiten zubereitet hatte.

Eine Träne blitzte verhalten in seinem Auge, als er zum Dach des Wohnhauses sah. Der weiße Rauch, der sich leicht aus dem Schornstein kräuselte, verriet, dass der Ofen geheizt und die Stube gemütlich warm war. Aber ihm schien es, als ob mit Ella auch die Wärme von diesem Hof gegangen sei.
Cole hatte sich entschieden und verließ schnaufend die Farm, um sich auf den halbstündigen Weg ins Dorf zu machen. Schon bald wurde sein wippender Schatten durch die Silhouetten riesiger Ahornbäume verwischt. Wie stumme Wächter säumten sie beidseitig die unbefestigte Allee nach Grafton. Zerbrechende Zweige unter Cole`s Stiefeln waren die einzigen Geräusche, als die Gestalt des alten Farmers allmählich mit der Dunkelheit verschmolz.

*** *** ***

Als sich Bradshaw dem kleinen Gasthof am Rande des Ortes näherte, drang einladendes Murmeln an seine Ohren. Warmes Licht fiel durch einige Sprossenfenster auf einen mit Feldkieseln schlampig gepflasterten Platz, in dessen Mitte sich ein historischer Zugbrunnen befand. Nachdem Bradshaw die Tür zum Gastraum öffnete, schlug ihm warme, nach Zigarettenqualm und Bier riechende Luft entgegen. Die krächzende Musik aus einer alten Jukebox vermischte sich mit unverständlichem Stimmengewirr.

Ein Lächeln huschte über Coles Gesicht. Wenigstens war er hier nicht allein. Seine Blicke streiften suchend über gebeugte Silhouetten an den Tischen und blieben auf der zierlichen Frau haften, die hinter den Dunstschwaden über der Theke kaum zu erkennen war. Entschlossen bewegte er sich auf die 20-jährige zu und wurde freundlich begrüßt. „Hallo Cole, hast du dich tatsächlich bei dieser Hundskälte noch einmal aus dem Haus getraut“, fragte sie und stellte ein Glas beiseite. Ihre blauen Augen blitzten unter hellblonden Fransen, die vereinzelt ihre Stirn bedeckten.

„Hallo Tina!“ Der Alte nickte freundlich. „Naja, ein bisschen Bewegung tut mir gut und die Temperaturen können ja nicht ewig fallen“, antworte er und musterte die junge Frau mit der frechen Frisur. Als er so jung war, trugen die Mädchen immer lange geflochtene Zöpfe. Aber Cole musste zugeben, dass diese kurzen Fransen der Kleinen ausgesprochen gut standen und ihr temperamentvolles Wesen unterstrichen. „Wo ist deine Mom?“, fragte er und sah sich suchend um.

Tina lächelte. „Sie räumt gerade den Spüler ein.“ Schmunzelnd fügte sie hinzu: „Mom meint, ich zerbreche dabei zu viel Geschirr“. Als sich Tina wieder umdrehte, schnippten ihre Augenbrauen nach oben. Schnell fragte sie ihren Gast, der es sich mittlerweile auf einem Barocker bequem gemacht hatte: „Wie immer?“ Sie griff ohne eine Antwort abzuwarten nach einem Whiskyglas. Cole nickte, während seine Augen noch einmal über die nebelverhangenen Tische streiften und er von einigen Gästen begrüßt wurde. Dann nahm er das Glas, welches Tina ihm zuschob und ließ es langsam zwischen seinen Fingern kreisen.

Unaufhaltsam glitt das Pendel einer Wanduhr hinter der Theke hin und her und zählte die letzten Minuten des Tages. Das beruhigende, gleichmäßige Ticken zog den alten Farmer in seinen Bann und ließ ihn die Welt ringsherum vergessen.

*** *** ***

23:50 Uhr

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Der laute Knall als das schwere Holz gegen die Wand krachte, ließ bemalte Steintöpfe in einem Regal neben dem Eingang klirren. Schlagartig verstummte das Gemurmel und ungehaltene Blicke suchten nach dem Störenfried.

„Ooops – sorry“, entfloh es dem jungen Mann. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die er dank seines showreifen Auftrittes erzielt hatte, genoss er sichtlich. Grinsend trat er in die Gaststube. Als Tina ihn erkannte, verengten sich ihre Augen im Zorn. „Ronny, du weißt genau, dass du hier Hausverbot hast!“, zischte sie. Unbeeindruckt schritt Ronny auf die Theke zu. Tina verschränkte die Arme vor ihrer Brust und funkelte ihn aufgebracht an. Sie nagte an ihrer Lippe und überlegte, ihn zu ohrfeigen.

Ronny musterte Tina. „Ach, komm schon“, raunte er und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die hölzerne Theke, „Draußen ist es wie in der Arktis“. Mit diesen Worten zog er seine schwarze Bomberjacke aus, um sie über die Lehne des Barhockers zu werfen. Demonstrativ rieb er sich die Hände. Sean und Grace waren ihm gefolgt und hatten es sich ebenfalls auf den Hockern bequem gemacht.

Grace fixierte den alten Farmer, der gedankenversunken neben ihm saß. „He Cole – ist deinen Puten schon der Arsch eingefroren“, krächzte er glucksend und erntete schallenden Beifall seiner Kumpel.

Der Alte sah schweigend in das Whiskyglas, welches langsam zwischen seinen Fingern rotierte. Er wollte sowieso gerade gehen und hatte keine Lust auf irgendwelche Diskussionen.

Die Küchentür wurde aufgerissen und Tiffany trat mit energischen Schritten in die Gaststube. Sie rieb sich die Hände am Vorbinder trocken und musterte die drei Halbstarken. Ihre dominante Ausstrahlung ließ deren Gesichter einfrieren. Tiffany stemmte ihre Fäuste gegen die Hüften und holte tief Luft: „Ronny – du nimmst jetzt deine beiden Schoßhündchen und verlässt meine Bar, sonst rufe ich die Polizei!“ Falten kräuselten sich hinter einigen rotblonden Haarsträhnen, die ihrer hochgesteckten Frisur im Laufe des Abends entwischt waren.

„Wir wollen nur ein Bier und uns ein bisschen aufwärmen“, maulte Ronny und setzte ein reumütiges Grinsen auf, während er seinen Kopf neigte und Tina aus den Augenwinkeln anblitzte. Diese drehte sich daraufhin hilfesuchend um.

Tiffany bemerkte den Blick. Sie trat an den Tresen und musterte den jungen Mann, der irritiert seinen Oberkörper zurückzog.

Tina hatte inzwischen zum Telefon gegriffen und tippte eine Nummer in die Tastatur.

„Ich meine es ernst, Ronny“, raunzte Tiffany. Ihre langen rotlackierten Fingernägel trommelten auf die Arbeitsplatte, „Bei eurem letzten Aufenthalt habt ihr meinen Laden halb zertrümmert und die Zeche geprellt.“ Ihre Augen funkelten. Mittlerweile waren auch einige der Gäste aufgestanden und kreisten die kleine Gruppe ein. Ronny spürte die feindseligen Blicke in seinem Rücken. Schnaufend riss er seinen Kopf in den Nacken und zerrte seine Jacke vom Hocker. „Kommt Jungs – wir gehen“, fauchte er und warf Tina einen bedrohlichen Blick zu.

Auf dem Weg zum Ausgang, rempelte er einen der Männer an und ignorierte sein Fluchen. Ermutigt durch Ronny`s imposantes Auftreten pöbelten Sean und Grace lautstark herum, als die drei den Pub verließen.
Nachdem die Tür krachend ins Schloss gefallen war, atmete Tiffany erleichtert durch. Kritisch sah sie ihre Tochter an. Tina erwiderte den Blick, hob die Schultern und legte das Telefon wieder weg.

Schließlich wandte sich Tiffany an Cole, der ebenfalls im Begriff war, aufzustehen. „Cole, du solltest einfach noch einige Minuten warten, bevor du gehst“, flüsterte sie. Sie nickte ihrer Tochter zu. Tina ergriff die Whiskyflasche und füllte das Glas nochmals nach. „Der geht aufs Haus.“


0:00 Uhr

Durchdringende Schreie rissen Cole aus seinen Gedanken. Entsetzt folgte er den Blicken der anderen Gäste und sah für den Bruchteil einer Sekunde weiße Funken vor den Fenstern aufblitzen. Es hatte den Anschein, als würde jemand Feuersteine gegeneinander schlagen. Ein metallisch rasselndes Geräusch war zuhören. Kurz darauf wurde es still.

Beherzt sprangen einige Männer auf und stürmten nach draußen. Nur wenige Minuten später erschienen zwei von ihnen wieder. In ihren Armen hing Ronny, total entkräftet. Die Männer hatten ihn unweit des Brunnens aufgefunden. Ronnys Beine sackten kraftlos unter seinem Körper zusammen. Seine Schultern bebten, keuchend rang er nach Luft, wimmernde Laute entwichen seinen Lippen.

„Wo sind die anderen“, fragte Tiffany. Die Helfer schüttelten ihre Köpfe. Vorsichtig wurde Ronny hereingeschleppt und auf einen Stuhl gesetzt. Er faselte wirres Zeug. Tiffany trat heran und redete behutsam auf den Braunhaarigen ein. Ronny zitterte vor Angst und krächzte. „Es hat sie geholt … ich habe es gesehen!“

Ratlos sah Tiffany auf Cole, der sich ebenfalls genähert hatte. Er schluckte und trat ans Fenster. Rasch verwischte er die Eisblumen auf der Scheibe, um das Thermometer ablesen zu können. Es stand bei minus 36 Grad. Cole schnaufte leise – seine zittrigen Hände ballten sich kurz zur Faust.

„Ronny! Wo sind deine Freunde?“, fragte Tiffany. Langsam wurde es ihr unheimlich. Energisch schüttelte sie den Braunhaarigen.

„Ich habe sie gesehen“, stotterte Ronny wieder und wieder. Tränen quetschen sich durch seine Finger, die er krampfhaft vor sein Gesicht hielt. „Sie sind tot …“, schluchzte er unter den fassungslosen Blicken der Gäste verzweifelt. „Sie sind alle tot …!“

Tina wählte den Notruf. Mit zitternden Knien beobachtete sie Ronny. Vor Angst war er kaum in der Lage, sich auf dem Stuhl zu halten. Tina konnte sich nicht vorstellen, was ihn so erschüttert hatte.

Langsam beugte sich Cole zu Ronny herunter. Cole`s Glieder schmerzten bei jeder Bewegung und entlockten ihm ein leises Seufzen. Er legte eine Hand auf Ronny`s Schulter und fragte. „Junge! - Wen hast du gesehen?“

„Mein Gott!“, schrie Ronny gequält, als er seinen Kopf verzweifelt nach oben riss. „Sie hat ihn einfach in den Brunnen gestoßen.“

Tiffany war ebenfalls in die Hocke gegangen.

„Ich habe sie gesehen“ wimmerte der junge Mann und riss plötzlich seine Augen weit auf.

Entsetzt wich Tiffany zurück und ein spitzer Schrei entfloh ihrer Kehle. Die Iriden des jungen Mannes waren glasig-weiß. Sie glitzerten wie ein zugefrorener See. --- Ronny war blind …


*** Flüstern ***



Pittsfield, Illinois,
22.12.2009 morgens

„Einen Kaffee Latte, schön heiß - und sieh mal Jimmy, Eierkuchen mit Ahornsirup. Dein Lieblingsfrühstück“, raunte Ron mit einem breiten Lächeln.

„Mhhhh …“, antwortete Jim, ohne das Gesicht zu heben. Seine Augen folgten den flinken Fingern, die auf die Tastatur des Laptops einhämmerten. Mit einem schwungvollen Satz war der Ältere um den Tisch herum geschnellt und schob die Kunstblumendekoration zur Seite. Dann stellte er das Tablett vorsichtig ab, um sich schließlich seinem Bruder gegenüber auf die dunkelrote, mit Kunstleder bespannte Bank zu setzten. Ungeduldig beobachtete er Jim.

„Sag mal, Ron – seit wann bringst du denn das Frühstück an den Tisch?“, nuschelte Jim geistesabwesend.

Ron schnaufte und riss seinen Kopf in den Nacken. „Weil du dich mit einer so finsteren Miene hinter deinem Laptop verschanzt, dass jede Bedienung in diesem Laden Angst bekommt und unseren Tisch meidet.“ Antworte er und sah sich um. Etwas irritiert hob sich der Kopf des Jüngeren und unter seinen braunen Fransen inspizierten blaugraue Augen den Gastraum. Ron hatte sich gegen die Lehne der Bank gedrückt und die Arme ausgebreitet. Er grinste unverschämt.

„Ron …!“, flötete Jim, als er seinen Bruder vorwurfsvoll musterte, „Einer muss sich ja um einen neuen Job kümmern.“ Jim richtete sich auf und griff nach dem Pappbecher.

Ron hob die Schultern. „Und … Sherlock – bist du fündig geworden“, fragte er. Dann griff er nach seinem Burger.

„Ich bin mir nicht sicher“, murmelte Jim. Nachdem er einen Schluck Kaffee genommen hatte, wandte er sich wieder dem Laptop zu. Seine Augen fixierten den flimmernden Bildschirm. „In Grafton wurde ein Toter aus einem Brunnen geborgen“, berichtete er und sah sich vorsichtig um.

„Uh … ein Toter im Brunnen – wie gruselig!“ Ron sah Jim mit zusammen geschobenen Brauen an. „Ist das alles?“ Unbeeindruckt biss er in den Burger.

Jim presste seinen Rücken presste sich gegen die Lehne. „Nicht ganz“, raunte er und schielte auf seinen allmählich erkaltenden Eierkuchen. „Es gibt einen Zeugen, der behauptet, eine leuchtende weibliche Gestalt hätte ihn in den Brunnen gestoßen.“ Jim beobachte fasziniert, wie sich Ron, genüsslich knurrend, seinem fettreichen Frühstück hingab.

„Hat man ihn auch gefragt, was er geraucht hat?“, nuschelte der Ältere mit vollem Mund, „Vielleicht sieht er ja nach einer durchschlafenen Nacht wieder etwas klarere Bilder“, fügte er hinzu und nahm einen kräftigen Schluck schwarzen Kaffee, um dem zu groß geratenen Bissen den Abgang in den Magen zu erleichtern.

Jim räusperte sich. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Das glaube ich nicht, Ron – denn der Zeuge ist nach diesem Ereignis erblindet“, flötete er.

Erstaunt erhob Ron das Gesicht und kratzte sich am Hinterkopf.

„Da ist noch was“, fuhr Jim fort. Seine Augen weiteten sich bedeutungsvoll. „Die regionalen Wetterstationen melden in der Umgebung von Grafton einen extremen Temperatursturz innerhalb der letzten 24 Stunden.“ Jim schlug das Cover seines Laptops zu und schob den Rechner zur Seite. „Die Temperaturen sind um fast 45 Grad auf minus 36 Grad gefallen.“ Er griff nach dem Besteck und begann, seinen Eierkuchen zu zerteilen. „Übrigens“, noch einmal sah er seinen Bruder, der ihm mittlerweile aufmerksam zuhörte, an. „Ein zweiter angeblicher Zeuge wird immer noch vermisst.“

„Okay, okay“, räumte Ron ein. Er hob beschwörend seine Hände. „Das sind in der Tat etwas zu viele Zufälle.“

Jim nickte bestätigend.

„Wo liegt Grafton?“, wollte Ron wissen.

Jim schluckte den Bissen hinunter. Dann legte er das Besteck weg. Er strich sich über die Oberschenkel: „In Ohio. Wenn wir ordentlich Gas geben, könnten wir heute Abend dort sein.“
Ron dachte eine Sekunde nach und nickte. „Dann beeil dich mal, Jimmy!“ Seine Augen musterten den Eierkuchen. „Es ist mir ein Rätsel, wie man solange an einem Eierkuchen essen kann“, brachte er grübelnd hervor und erntete von Jim einen empörten Blick.

Nach einer Sekunde sah Jim seinen Bruder in die Augen. Er musste ihn einfach darauf ansprechen. „Vielleicht sollte ich heute fahren“, sagte er unsicher.

Ron`s Brauen hoben sich erstaunt. „Warum?“

„Ron“, seufzte Jim. Er richtete sich auf – sein Brustkorb weitete sich unter dem gewaltigen Luftvolumen, welches er gerade eingeatmet hatte. „Du hast diese Nacht wieder kein Auge zugemacht.“

Ron´s Kiefer zuckten. „Woher willst du das wissen?“, fragte er rau.

Jim sah Ron in die Augen. Dunkle Ränder hatten sich unter ihnen gebildet. Betrübt neigte er den Kopf und flüsterte: „Der Fernseher lief wieder einmal die ganze Nacht.“

„Na und – ich kann eben besser schlafen wenn die Flimmerkiste läuft“, versuchte sich Ron zu rechtfertigen.

Jim biss sich auf die Lippe. „Und du schläfst neuerdings im Fernsehsessel?“ Geräuschlos schluckte er. „Ron – es ist schlimmer geworden!“ Kummerfalten bewegten sich auf Jim`s Stirn. „Alter, ich bin dein Bruder …! Ich merke doch, das es dir nicht …“ ----

„Jim!“ fiel ihm Ron ins Wort!“ Seine Augen funkelten zornig. „Hör auf damit! Es geht mir gut!“ Schnaubend hatte er sich erhoben und griff nach seiner Lederjacke. „Ich fahre – Basta!“, beendete der Ältere die Diskussion. Mit ironischer Stimme fügte er hinzu: „Und vergiss nicht die Ohrenwärmer einzupacken!“

Verständnislos schüttelte Jim den Kopf. Er verstaute seinen Laptop in der Umhängetasche, bevor er sie über seine Schulter warf. Mit riesigen Schritten folgte er seinem Bruder zur Tür.

*** *** ***

Grafton,
22.12.2009, später Nachmittag

Peggy und Logan Young genossen die klare Luft. Obwohl es bitterkalt war, schlenderten sie, wie jeden Nachmittag, gut in dicke Daunenmäntel gepackt, durch das Wiesland um Grafton. Ihnen voraus eilte Floyd, freudig mit dem Schwanz wedelnd. Dem großen Hund schien die Kälte nicht das Geringste auszumachen. Im Gegenteil – ausgelassen tobte er über die weiß schimmernden Weideflächen, die an den mit kahlen Ahornbäumen gesäumten Wanderweg grenzten.

Die Youngs waren immer wieder erstaunt, wie ihr riesiger Hund es so schnell schaffte, eine Lücke im Weidegatter zu finden um zu entwischen. Von seinen Streifzügen kehrte er gern mit einer vermeintlichen Beute zurück und erwarte eine Belohnung oder er forderte seine zweibeinigen Begleiter auf, ein Stöckchen zu werfen, das er dann todesmutig überwältigen durfte.

Das Paar befand bereits auf dem Heimweg. Im Abendrot der untergehenden Sonne erstrahlte die alte, aus grobem Kalkstein gemauerte Bogenbrücke vor ihnen in rostigen Farben.
Mit der sicheren Gewissheit auf einen gut gefüllten Futternapf stürmte der Labrador voraus. Offenbar hatte er plötzlich eine Witterung aufgenommen, denn er verließ den Wanderweg, walzte sich durch hohes, mit Eiskristallen überzogenes Gras den Abhang hinunter und verschwand unter der Brücke. Vergeblich versuchte Logan, den Hund zurück zu rufen.

Da der Hund nicht hörte entschied sich Logan, der Sache auf den Grund zu gehen. Er zwinkerte seiner Frau zu. „Ich werde mal nachsehen, was unser Teufel da wieder ausgegraben hat“, lachte er und bewegte sich auf unsicheren Beinen durch das rutschige Gras hinunter in den Graben.

„Na mein Alter, was regt dich denn hier so auf“, flüsterte Logan. Ganz in der Nähe hörte er seinen Hund scharren und aufgeregt hecheln, bis es plötzlich totenstill wurde. „Floyd?“

Plötzlich schoss aus der Dunkelheit ein Schatten hervor, prallte heftig gegen Logans Körper. Der Stoß riss den Mann um. Rücklings landete er auf seinem Rücken, ein riesiges Tier stemmte sich auf seine Brust. Gleichzeitig funkelten ihn zwei honigbraune Augen funkelten an. Nur eine Sekunde später spürte Logan die feuchtwarme Zunge des Labradors über sein Gesicht schlabbern.

„Heilige …“, entfuhr es ihm. Erschrocken richtete sich Logan auf, rang nach Atem und kraulte den freudig piepsenden Hund. „Du kannst mich doch nicht so erschrecken, Floyd!“ Unbeeindruckt hopste der Vierbeiner vor seinem Herrchen herum und sah schließlich knurrend zur Wand. „Ist ja gut, Dicker. Zeig mal, was du gefunden hast.“ Logan klopfte sich gefrorene Erdkrümel von seinen Kleidern und stolperte seinem Hund nach. Schnell hatten sich seine Augen an das dämmerige Licht gewöhnt. Er schob garstiges Gestrüpp zur Seite. Was Logan in der nächsten Sekunde zu sehen bekam, legte sich kälter auf seine Haut, als der schneidende Wind über den gefrorenen Weiden.
Logan entwich ein Schrei. Er riss Floyd zurück und stolperte panisch unter der alten Brücke hervor. Mit kreidebleichem Gesicht kämpfte sich Logan, seinen Hund am Halsband haltend, den Abhang hinauf. „Peggy, bitte ruf sofort die Polizei an“, presste er mühevoll hervor. Dann starrte er auf den dunklen Bogen unter der Brücke.

*** *** ***

Dieses Schweigen konnte wirklich verdammt verstörend sein, stellte Sam fest, als seine Blicke durch die Fahrgastzelle des Ford Mustang wanderten.
Ron hatte das Radio lauter gestellt und konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Zerfetzte Schwaden waberten über den Asphalt und ließen die Straße teilweise in einem milchigen Nichts untergehen. Auch in der mittlerweile zwei Stunden zurückliegenden Pause, die sie eingeschoben hatten, war es Jim nicht gelungen das Schweigen seines Bruders zu brechen. Im Gegenteil: je mehr er sich um ein Gespräch bemühte, umso mehr verschloss sich Ron. Jims Blicke streiften besorgt über sein Gesicht, auf dessen Stirn sich tiefe Gräben abzeichneten.

Ron hatte die Blicke bemerkt. „Ist es noch weit?“, fragte er leise.

Jim, der sich seit Stunden an eine zerschlissene Landkarte klammerte, schreckte auf. Sein Blick schweifte auf die Scheiben des Ford Mustang, an deren Rändern sich Eiskristalle bildeten. „Nein“, antwortete er und wies seinen Bruder mit einem Nicken in Richtung Fenster darauf hin, dass die Temperatur gerade im Begriff war, in den Keller zu stürzen. „Die Vorfälle ereigneten sich vor einem Gasthaus am Rande des Ortes“, schnaubte Jim. „Wir sollten zuerst dorthin fahren“, schlug er vor. „Möglicherweise bekommen wir dort sogar ein Zimmer.“

Ron nickte zustimmend und fragte: „Was wissen wir über Grafton?“

Jim verstaute die Landkarte im Handschuhfach. Er drehte sich zur Rückbank und griff nach seinem Laptop. Als der Computer hochgefahren war, tippte er einige Suchbegriffe ein und berichtete: „Über Grafton gibt es nicht viel zu erzählen. Etwa 2300 Einwohner, ländliche Gegend, vereinzelte Farmen.“ Seine Blicke eilten über den Monitor. „Oh - na ja – vielleicht doch etwas“, schmunzelte Jim. „Grafton ist Sitz des Staatsgefängnisses Lobrain Correctional Institution, sowie einiger anderer Gefängnisse.“ Überrascht sah er Ron an und zog seine Mundwinkel nach unten.

„Mh … wie einladend“, erwiderte der Ältere. Belustigt hob er seine Brauen, „da sind wir ja in bester Gesellschaft, Jimmy.“

Die letzten Meilen erwiesen sich als Herausforderung. Plötzliche Minusgrade ließen den Nebel zu Blitzeis gefrieren. Ron erkannte das tückische Glitzern und konnte gerade noch rechtzeitig reagieren und den Fuß vom Gas nehmen, bevor sie im Graben landeten. Langsam zeichneten sich in der Ferne vereinzelte Lichter ab. Fast weiß strahlte der zunehmende Mond. Die gefrorene Landschaft wirkte geheimnisvoll, düster und vollends ihrer Lebenskraft beraubt.

*** *** ***

Grafton
22.12.2009, 23:45 Uhr

Der Ford Mustang polterte über die buckligen Pflastersteine des Parkplatzes. Nur fahles Licht hinter kleinen Fenstern signalisierte, dass der Pub noch geöffnet hatte. Nachdem die Jäger ausgestiegen waren, sahen sie sich um. Fröstelnd schlug Ron den Kragen seiner Lederjacke hoch. Jim hatte seine Hände in den Jackentaschen vergraben und ging voraus. Er riskierte einen flüchtigen Blick durch ein Fenster. Verschwommene Gestalten hockten an kleinen Tischen, steckten ihre Köpfe zusammen und nebelten sich mit blauen Wölkchen ein. Es schien fast, als planten sie eine Verschwörung.

Ihr weniges Gepäck über die Schultern gehängt, schritten Jim und Ron zum Eingang. In der Hoffnung, die Reise für heute beendet zu haben und endlich ein Bett zu bekommen, traten sie ein. Neugierige Gesichter wandten sich den Neulingen zu und musterten sie unverhohlen. Hierher verirrten sich selten Fremde. Die Jäger spürten sofort ein gewisses Misstrauen, das ihnen entgegengebracht wurde. Es war so typisch für abgelegene Orte wie Grafton, wo der Landarzt abends mit dem örtlichen Tankwart bei einem kühlen Bier pokerte.

Eine warme, verrauchte Luft schlug den Brüdern entgegen. Das zuvor schlagartig verstummte Stimmengewirr setzte zögerlich wieder ein. Hinter der eichenen Theke lächelte ihnen ein blasses Gesicht entgegen, auf dessen Stirn sich rotblonde Haarsträhnen kräuselten.

„Guten Abend – so spät noch unterwegs?“ Tiffany musterte interessiert zwei jungen Männer, die soeben die Gaststube betreten hatten und aussahen als hätten sie dringend eine Mütze Schlaf nötig.

Ächzend ließ Ron seine Tasche zu Boden fallen und begegnete den freundlichen Augen der Frau mit einem Lächeln. „Hätten sie noch ein Zimmer für uns?“, fragte er.

Tiffany hob ihre linke Augenbraue in die Höhe. Doch bevor sie ihre Frage stellen konnte, antwortete Ron: „Zwei Einzelbetten – wir sind Brüder.“ Er räusperte sich in die Faust.

Jim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Kopfschüttelnd blickte er zu Boden. Die Wirtin nickte belustigt und griff in den Schlüsselkasten. Es schien hier nur wenige Zimmer zu geben. Sie waren wohl alle noch frei.

Erfreut ließ Ron den schmiedeeisernen Schlüssel in seiner Jackentasche verschwinden, während Tiffany ihren Kopf kurz in die Küche schob und einen Namen rief. Wenige Sekunden später erschien Tina und zwinkerte den Jägern zu. „Dann darf ich Sie bitten, mir zu folgen“, sagte sie. Sie eilte an Jim vorbei in Richtung Ausgang. „Die Zimmer befinden sich nebenan.“

Als Tina die Tür öffnete, stürmte eine eisige Bö in die Gaststube. Ungebremst schlug die kalte Luft gegen Tinas leichtes Shirt und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Ich kann mich nicht erinnern, dass es bei uns jemals so eisig war“, versuchte sie, ihre schweigenden Begleiter aufzumuntern. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Mit gesenkten Köpfen eilten die drei zum Nebengebäude. Tina öffnete die Tür. Nachdem sie das Licht eingeschaltet hatte, musterten die Jäger den Raum. In einem kleinen Flur standen einige alte Kiefermöbel. Eine schmale Holztreppe führte nach oben.

„Die Zimmer sind oben“, erklärte Tina und zupfte sich eine blonde Strähne zurecht.

„Prima“ hauchte Ron.

Tina versuchte, an Jim vorbei zu kommen. Der Jüngere bemerkte, dass er den Weg versperrte und wich aus. Im selben Augenblick hatte Tina den gleichen Gedanken, so dass sich beide wieder gegenüberstanden. Tina lächelte verlegen, als sie erneut einen Schritt zur Seite trat. Allerdings erfolglos, denn Jim wich in die gleiche Richtung aus.
Ron beobachtete grinsend den ungewollten Zweikampf zwischen Tina und Jim.

Schließlich riss Jim schnaufend beide Arme in die Höhe. „Tschuldigung“, murmelte er mit errötendem Gesicht, bevor er einen gewaltigen Schritt zur Seite trat und sich mit dem Rücken gegen die Wand presste.
Tina quetschte sich grinsend an dem Riesen vorbei. „Na, wer sagt es denn“, hauchte sie und zwinkerte Jim zu.

Knarrend beschwerten sich die alten Stufen unter dem Gewicht der Brüder. Endlich vor einer schmalen Tür angelangt, trafen Tinas Blicke auf Ron, der in Gedanken versunken seine Aufmerksamkeit ihrer schmale Kehrseite gewidmet hatte. Er fühlte sich regelrecht ertappt, als sie sich umdrehte und fragte: „Den Schlüssel haben Sie?“

„Oh – ja natürlich“, schnell griff Ron in die Tasche seiner Lederjacke und reichte ihr den Schlüssel. Von Jim belächelt räusperte er sich verlegen. Tina schloss die Tür auf, knipste das Licht an und gab den Weg in ein kleines, gemütliches Zimmer frei. „Wenn Sie noch etwas benötigen, melden sie sich einfach“, hauchte sie Jim entgegen. Er war seinem Bruder noch nicht in das Zimmer gefolgt. „Vielleicht wollen Sie ja noch etwas essen oder trinken?“ Tinas Stimme war zum Flüstern geworden. Fasziniert sah sie in Jims blaugraue Augen, die ihr hinter braunen Fransen warm entgegen blinzelten.

„Danke … aber ich denke heute Abend benötigen wir nichts mehr“, hauchte Jim, senkte den Blick und schob sich rasch an ihr vorbei.

*** *** ***

23.12. 2009, 0:15 Uhr

Als Jim aus dem Bad kam, irrten seine Augen prüfend durch den Raum. Ihre Reisetaschen standen auf einem hellen Holztisch an den zwei Stühle geschoben waren. Die Betten waren alt – sahen aber sehr bequem und vor allem sauber aus. Irgendwie machte das Zimmer einen sehr ländlichen Eindruck. Kleine handgemalte Ölbilder verzierten die weißen Wände. Vor den Sprossenfenstern hingen Rüschengardinen und der massive Kleiderschrank war mit Blumenmotiven bemalt. In einer rustikalen Kochnische befand sich alles, was man für ein schnelles Frühstück benötigte, einschließlich einer kleinen Obstschale mit frischen Äpfeln und Nüssen. Abgesehen vom leisen Murmeln aus dem Fernseher, unterbrach das Ticken einer Pendeluhr die Stille im Zimmer.

„Mhhhhh“, murmelte Jim, während er in einer der Taschen nach einem frischen Shirt suchte: „Urlaub auf dem Bauernhof.“ Jims Blick traf auf Ron, der bewegungslos vor dem Fenster stand. Ihn schien irgendetwas auf dem Hof sehr zu interessieren. „Ron?“ Jims Brauen schoben sich zusammen: „Alles klar, Alter?“

Erschrocken zuckte der Ältere zusammen und drehte sich um. Er schnaubte. „Ich dachte ich hätte etwas gehört.“

Neugierig trat Jim näher. „Was meinst du?“ fragte er. Seine Blicke wanderten über den gepflasterten Hof.

Ron seufzte: „Ich dachte ich hätte Stimmen gehört.“ Er sah auf den alten Brunnen. „Da draußen...“

*** *** ***

23.12.2009, 3:15 Uhr

Ein leiser Schrei riss Jim aus dem Schlaf. Auf dem Fernseher rauschten grauschwarze Punkte. Schlagartig spannten sich seine Muskeln an und katapultierten seinen Körper in die Höhe. Er bemerkte, dass Rons Bett unberührt war.
Mit wenigen Schritten war Jim am Fenster. Seine Blicke eilten über den Hof, von wo aus der Schrei gekommen war.
Ihm stockte der Atem. Wie im Flug zog er seine Jeans an und streifte sich die Jacke über. Dann eilte er aus dem Zimmer. Seine Schritte polterten schwer und schnell über die knarrenden Stufen. Eisige Luft stieß ihm in die Lunge, nachdem er die Tür aufgerissen hatte und über das vereiste Kopfsteinpflaster rannte.

„Mann, Alter, was ist denn passiert?“ Vom Schreck überwältigt beugte sich Jim über seinen Bruder.


*** Kontakt ***



Ron schien unverletzt. Bitterer Frost verwandelte seinen Atem in glitzernde Eiskristalle. Er zitterte am ganzen Körper. Überrascht von der seltsamen Situation, in der er sich befand, hämmerte sein Herz unter seiner Brust.

Behutsam ergriff Jim seine Schulter. Ein Seufzen stieß über seine Lippen, nachdem er Ron auf die Beine gezerrt hatte. Dieser konnte Jims fragenden Blicken nur ausweichen. Er hatte keine Erinnerung wie er an den Brunnen gelangt war. Müde senkte Ron den Blick – wohl wissend, dass er schon lange nicht mehr die Kraft besaß, seine Trauer zu verbergen.
Zarte Stimmchen, die er gerade gehört hatte, rissen Narben in seinem Herz auf, die nicht verheilen wollten. Ron schnaufte leise. Es war ihm noch nie gelungen, seine Gefühle vor Jim zu verbergen. Warum sollte es gerade jetzt – wo jede Faser seines Körpers aufschrie, anders sein? Er selbst hatte immer wieder verlangt, dass Jim mit ihm redete, wenn Schicksalsschläge ihr Leben heimsuchten. Was hielt ihn also davon ab, einmal im Leben seinen Stolz bei Seite zu schieben und Jims Hilfe anzunehmen? Wer auf dieser einsamen Welt sollte sonst dazu in der Lage sein? Zögernd hob Ron das Gesicht und sah seinem Bruder in die Augen.

„Ron – rede endlich mit mir“, flüsterte Jim betrübt.

Rons Augen waren glanzlos von heimlich geweinten Tränen. Alles ihn ihm schrie und doch vermochte er es nicht, diesen Schmerz in Worte zu fassen.

*** *** ***

Widerstandslos hatte sich Ron ins Zimmer führen lassen. Zusammengesunken hockte er nun auf dem Bett und war nicht mehr als ein Schatten seiner Selbst.

Jim ging wortlos zum Kleiderschrank, um in seiner Reisetasche nach dem Sanitätskästchen zu suchen. Mit einem Tablettenröhrchen in der Hand, kehrte er zurück und flüsterte: „Ron, manchmal müssen wir unsere Träume aussperren. Es ist so schon kaum zu ertragen, ich weiß das, wie kein anderer.“ Mit zitternder Stimme sprach er weiter: „Glaub mir – irgendwann verschwinden die schrecklichen Bilder von ihrem Tod und zurück bleiben nur die schönen Erinnerungen an Sie!“

Erstaunt hoben sich Rons Brauen. Seinem kleinen Bruder war es längst gelungen hinter sein Gesicht zu sehen. Die erbaute Fassade aus Ironie, Sarkasmus und Coolness konnte jeden täuschen – aber vor Jim zerbröselte sie zu Staub. Sein kleiner Bruder wusste längst, dass sich die Bilder von Lillys Tod unbarmherzig in seine Träume drängten und jede seiner Nächte zu einem Höllenritt machten.

Ein Seufzen stieß aus Jims Mund: „Die werden dir helfen!“ Er reichte Ron die Tabletten und ein Glas Wasser, „Denn das muss aufhören Alter … sonst bringt es dich um.“

Ron war, als hörte er sich selber reden. Seufzend schluckte er zwei Tabletten. Wenn er schon stürzen musste, dann wenigstens in einen traumlosen Schlaf. Jims Gesicht verriet, dass er nicht vorhatte, ihn weiterhin mit Fragen zu quälen. Nur wenige Minuten später war Ron aus blanker Erschöpfung eingeschlafen.

*

Regungslos stand Jim am Fenster und lauschte den Atemgeräuschen seines Bruders. Wie ein riesiger Schatten wirkte die Silhouette des jungen Jägers im Licht der Sterne. Er atmete mit einem Seufzer ein und hauchte gegen die Fensterscheibe. Behutsam wischte er die Eisblumen weg.

Sollte er es wagen?

Seit sie in Grafton angekommen waren, hatte ihn ein ungutes Gefühl beschlichen. Jim spürte Unheil, das sich langsam wie ein schwarzes Tuch über diesen abgeschiedenen Ort auszubreiten schien. Seine Ausläufer hatte er schon vor Tagen gespürt, was ihn letztendlich auf Grafton aufmerksam machte. Jim konnte den Verdacht nicht abschütteln, dass diese Ereignisse mit Rons Träumen in Verbindung standen, dem es immer noch gelang, ein winziges Detail vor ihm zu verbergen. Noch konnte Jim nicht erkennen, was sich da an die Oberfläche wühlte. Aber er spürte, dass es zornig war und sein stetig anwachsender Hass unzählige Menschen in den Tod reißen würde. Hier waren sie im Zentrum des Bösen angelangt.

Jim wagte es!

Er schloss die Augen und konzentrierte sich mit all seinen Sinnen auf den Brunnen, bis er sein eisiges Wasser auf der Haut spürte. Noch nie hatte er versucht, bewusst eine Vision herbei zu führen. Die Angst davor ließ ihn erzittern, aber um vieles Mächtiger war seine Sorge um Ron. Sie war der Motor, der ihn in Bewegung hielt und der Auslöser für manch selbstmörderische Entscheidung.

Jims Gedanken bewegten sich wie im Flug durch wabernde Nebelschwaden über den Hof auf den alten Brunnen zu. Wie neugierige Finger glitten sie über sein verwittertes Gemäuer, bis sie den oberen Rand erreichten. Es folgte ein kurzes Zögern. Doch schließlich wagte Jim den Sprung in den gähnenden Schlund, der sich vor ihm auftat und spürte im nächsten Moment einen eisigen Hauch über seinen Körper streifen. Zähe Nässe umhüllte ihn. Hinter seinen Schläfen stellte sich ein Pochen ein.

Er hatte den ersten Schritt gewagt und SIE spürte sofort seine mentalen Fähigkeiten, die schlummernde dunkle Seite seiner Seele, die der ihren so ähnlich war.

Jims Gedanken taumelten. Es gab kein Zurück mehr, denn auch er hörte sie nun rufen. Das leise Pochen hinter seinen Schläfen wurde schmerzhaft und ein Geräusch blubbernder Wasserblasen verwandelte sich in tosendes Rauschen hinabstürzender Wasserfälle.

Jim unterdrückte ein Stöhnen. Seine Finger krallten sich in die Fensterbank, als er seine Stirn gegen das Glas presste. Atem entwich in kleinen Tröpfchen seinen Lippen und gefror auf den Scheiben. Seine Muskeln zuckten. Langsam entzog dieser Versuch seinem Körper alle Kraft und Jim sank ächzend in die Knie.
Blitze zuckten auf. Bilder wirbelten durcheinander. Er erblickte die Oberfläche von kristallklarem Wasser, auf der sich kleine Wellen kräuselten. Langsam stiegen vom Grund rote Wolken empor und vermischten sich mit dem funkelnden Nass, bis es so dickflüssig wurde, wie der Inhalt einer Opferschale, in der sich alles Blut eines Lammes sammelte. Rot verfärbte sich auch der Himmel. - Und dann konnte Jim Ihre eisige Hand über seinem Herzen spüren.
Keuchend riss er seinen Kopf in den Nacken und Finsternis umhüllte ihn, als er ohnmächtig zur Seite kippte.

*** *** ***

23.12.2009, 10:30 UhrTiffanys Bar

Aus einem alten Radio hinter dem Tresen erklangen Weihnachtslieder. Unter das Zischen siedenden Bratfettes in einer Pfanne mischte sich Klingeln und Klappern von Geschirr. Tiffany breitete das Frühstück für ihre einzigen Gäste an diesem Morgen vor. Die Barker`s hatten es sich an einem Tisch gemütlich gemacht und genossen den unwiderstehlichen Duft von frisch gebrühtem Kaffee der ihnen aus großen Porzellanpötten.

Tiffany Triplet war zwar erstaunt gewesen, als die jungen Männer darum baten, noch einige Nächte bleiben zu dürfen, hatte ihren Wunsch aber nicht abgelehnt. Was hätte sie auch tun sollen? Sie konnte doch die Brüder am Vorweihnachtsabend nicht wie räudige Hunde auf die Straße setzen!
Tiffany seufzte. Die Vorstellung, dass es Menschen gab die Weihnachten in irgendeinem fremden Zimmer verbringen mussten, empfand sie als schrecklich. Darum hatte sie sich entschlossen, Jim und Ron zum Weihnachtsessen einzuladen. Coles Pute war ohnehin zu viel für sie und Tina.

Tiffany konnte sich nicht mehr daran erinnern wann sie einmal Gäste hatte. Eigentlich waren sie und ihre Tochter immer allein gewesen. Tina hatte ihren Vater nie kennengelernt. Er war kurz vor ihrer Geburt tödlich verunglückt.
Die Witwe hatte nie ein Wort über den Unfall verloren und meisterte seit dieser Zeit das Leben in Grafton allein. Natürlich wäre sie nach Dylan`s Tod lieber weggezogen, um als junge Frau, zusammen mit ihrer kleinen Tochter ein neues Leben in einer großen, lebendigen Stadt zu beginnen. Aber ihr verstorbener Mann liebte diesen Pub. Er war der Meinung, dass jeder Mensch in seinem Leben eine Aufgabe habe und dass es einen Platz gäbe, wo er hingehört. Dylan beschwor, dass dieser Ort für ihn bestimmt sei. Aus diesem Grund saß Tiffany nun seit über zwanzig Jahren am Rande von Grafton fest und führte die Gaststätte mit einigen wenigen, häufig wechselnden Angestellten.

Tina hatte früh gelernt selbständig zu sein und hatte von Kindesbeinen an mitgeholfen, die kleine Wirtschaft zu erhalten. Es war für die alleinstehende Mutter nicht immer einfach, denn das Temperament ihrer heranwachsenden Tochter wurde schon mal zum Streitpunkt. Wirklich böse konnte ihr die Mittvierzigerin allerdings nie sein. Das Mädchen hatte dieses Temperament schließlich von ihr geerbt und das erwies sich im Umgang mit den zwar gutherzigen, aber oft auch kantigen Einwohnern von Grafton des öfteren als Vorteil.

Tiffany strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, bevor sie schmunzelnd über ihre tollkühne Entscheidung, zwei Fremde zum Essen einzuladen, mehrere Eier in eine eiserne Pfanne zu duftendem Schinkenspeck schlug.

Tina schien auch freudig überrascht, als sie von der spontanen Entscheidung ihrer Mutter erfuhr. Was Tiffany, angesichts des Alters ihrer sympathischen Gäste dann doch etwas Kopfzerbrechen bereitete. Ihr war völlig entgangen, wie die Jahre ins Land gezogen und ihr kleines Mädchen erwachsen geworden war. Kritsch warf sie einen Blick in den Gastraum und beobachtet Tina, die von den Barkers unbeachtet, die Bar mit weihnachtlichem Kitsch dekorierte. Allerdings entgingen ihren skeptischen, von mütterlichem Instinkt geschärften Sinnen nicht die heimlichen Blicke, die Tina dem Größeren zuwarf.

„Ron?“, frage Jim leise.

„Jim … bitte“, fiel ihm Ron ins Wort. Doch dann hielt er inne und kratzte sich am Hinterkopf: „Es geht mir …“, er räusperte sich, „schon besser!“

Jim nickte erleichtert und nahm einen Schluck Milchkaffee. Als er die Tasse abstellte, durchfuhr ein Stich seine Brust. Bei jedem weiteren Atemzug schmerzten seine Rippen. Jim streckte den Rücken durch und japste wie ein Fisch im Trockenen.

„Hast du dich erkältet?“ fragte Ron besorgt.

Der Jüngere schüttelte den Kopf, nachdem der Schmerz so schnell verschwand wie er gekommen war. Überrascht hustete er einige Male und rieb sich das kribbelnde Brustbein.

„Frühstück nach Art des Hauses.“ Tiffanys glockenhelle Stimme riss die Jäger aus ihren Gedanken und ein Tablett mit dem üppigsten Frühstück, das Ron jemals gesehen hatte, ließ seine Augen vor Verzückung erstrahlen.

Heimlich verfolgte Tina das Geschehen von der Bar aus. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

„Danke Tiffany“, Ron`s Stimme glich einem Jubeln. Beinahe hätte er in die Hände geklatscht, bevor er sich über das Essen hermachte. Jim hielt sich schmunzelnd zurück, um abzuwarten, was sein Bruder ihm von der überquellenden Vielfalt zu überlassen beabsichtigte. Stattdessen nickte er Tiffany freundlich zu und sprach sie an: „Ich habe gelesen, dass man im Brunnen vor dem Haus einen Toten gefunden hat?“ Jims Stimme war sehr verhalten – wusste er doch nicht, wie die Frau auf seine Frage reagieren würde.

Bestürzt hielt Tiffany inne. „Ja“, seufzte sie und strich einige Falten aus der Schürze, „ein schrecklicher Unfall. Der arme Junge.“ Über ihr Gesicht legte sich ein Schatten, als sie weitersprach. „Man hat ihn gestern früh endlich bergen können.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Betroffen sah Jim ihr nach.

Tina hatte das kurze Gespräch mitbekommen und kam zum Tisch. Ihre Augen glitten heimlich zur Pendeltür, hinter der ihre Mutter verschwunden war. Ungeniert nahm sie sich einen Stuhl und setzte sich zu den verblüfften Jägern. „Das war echt unheimlich“, flüsterte sie und versuchte, in Jims Augen zu blicken. Diese schienen sich hinter Haarfransen zu verstecken.

„Niemand kann sich erklären, wie das passieren konnte. Ich habe alle drei gekannt.“ Tina rümpfte die Nase: „Naja- flüchtig“, räumte sie ein. „Ronny und seine Kumpel waren …“, Tina suchte nach Worten. Ihre Augen irrten für eine Sekunde über die mit dunklem Holz vertäfelte Zimmerdecke.
„Sie waren ein bisschen rebellisch“, versuchte sie schließlich die Beschreibung der drei Unglücklichen zu relativieren.

Jim nickte. „Verstehe!“ Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.

„Es geschah alles so schnell. Niemand hat gesehen, wer Sean in den Brunnen gestoßen hat.“ Tina zog die Augenbrauen zusammen. „Die Polizei dachte zuerst, sie hätten sich gestritten und Ronny hätte seinen Freund selbst in den Brunnen geworfen!“ Tina schüttelte den Kopf.

„Und du glaubst der Polizei nicht“, wollte Jim wissen. Er musterte das Mädchen skeptisch.

Tina ergriff plötzlich Jims Hand und beugte sich weit in die Richtung eines verblüfft dreinschauenden Barker. „Jim – wie soll das gehen?“ Hauchte sie mit weitgeöffneten Augen und ließ seine Hand wieder los, als sie bemerkte dass der Braunhaarige nervös wurde.

Genüsslich kauend verfolgte Ron das Gespräch. Dass Tina mehr mit seinem Bruder sprach, störte ihn nicht. Jim war ohnehin der Redseligere von ihnen.

„Der arme Ronny“, fuhr Tina fort. „Zugegeben, er war ein Arsch – aber das hat er auch nicht verdient.“ Tina lehnte sich nach hinten. „Außerdem ist er da draußen erblindet.“ Ihre Augen streiften durch die Gaststube. „Seine Pupillen waren schneeweiß – sie sahen aus wie Eis!“ Ihre Stimme wurde so leise, dass sie im Weihnachtsgedudel kaum zu verstehen war. „Den anderen hat man gestern Abend gefunden. Er lag tot unter einer Kalksteinbrücke – etwa 6 Kilometer vom Ort entfernt.“

Tinas Augen formten sich zu Schlitzen. Einige hellblonde Fransen auf ihrer Stirn vibrierten. „Ich habe gehört, dass seine Augen auch schneeweiß gewesen sein sollen. Aber darüber, wie er gestorben ist, schweigt sich die Polizei aus.“ Besorgt stieß sie einen kurzen Seufzer über den Tisch. „Ich glaube nicht, dass es Ronny gewesen ist.“ Sie wandte sich wieder an Jim der ihr aufmerksam zugehört hatte und flüsterte augenzwinkernd. „Es sei denn – er ist ein Voodoo-Priester oder so…“

„Wo sind die Toten jetzt“, wollte Jim wissen.

Tina zog erstaunt ihren Kopf zurück und funkelte den jungen Jäger mit ihren blauen Augen an. „Na, wo schon! In der Leichenhalle.“ Schließlich stand sie auf. „Wie auch immer. Das alles ist echt gruselig.“ Mit diesen Worten machte sie kehrt und tänzelte zur Theke zurück.

„Knackige Jeans!“ Polterte es provozierend über Rons Lippen und riss den Blick des Jüngeren von der reizvollen Ansicht. Errötend musterte Jim seinen Bruder, der den Körper gegen die Stuhllehne gedrückt hatte und breit grinste. „Nun, Jim – da wissen wir ja schon etwas mehr.“ Ron griff nach dem Kaffeepott und beobachtete Jim.

Dieser hatte einen Eierkuchen vor Ron´s Heißhunger retten können und schob ihn kurzerhand auf einen Teller mit Resten von Rührei und Speck.

„Wir werden wohl den so plötzlich Verblichenen einen Besuch abstatten müssen. Denn nach einem gewöhnlichen Mord sieht das nicht aus.“ Murmelte Ron und nahm ein übrig gebliebenes Würstchen ins Visier.

Jim lächelte. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er glauben sein Bruder müsste tatsächlich überlegen, ob er es noch verspeisen wollte.

Mit vollen Backen nuschelte Ron weiter. „Und wir wissen noch etwas, Jimmy!“ Geheimnisvoll beugte er sich über den Tisch. Seine Augenbraunen schoben sich in die Höhe.

Erstaunt hob Jim das Gesicht. „Was“, wollte er wissen.

Ron räusperte sich in die Faust, nachdem er den Bissen runter geschluckt hatte: „Du hast eine neue Verehrerin … Kleiner“, raunte er grinsend.

„Ron!“, knurrte der Jüngere verlegen. Wieder schimmerten seine Wangen rot.


*** Eisen ***



23.12.2009, 14:00 Uhr
Grafton, Leichenschauhaus

„Das nenne ich aber eine Premiere!“ Albert Robbins Stimme hallte durch den sterilen Raum, als er aufmerksam die Ausweise seiner Gäste studierte und die Anzugträger anschließend durch seine Nickelbrille fixierte. „So lange ich hier arbeite, hatte ich noch nie Besuch vom FBI.“ Kleine Fältchen kräuselten sich auf seiner Stirn, als er einräumte: „Natürlich hatte ich auch noch nie so eigenartige Todesfälle auf dem Tisch.“ Für eine Sekunde stand der kleine Mann im Kittel, scheinbar vor sich hin sinnierend, den Jägern wortlos gegenüber, bevor er sich abrupt umdrehte. Die Jäger folgten ihm zu den wenigen Kühlfächern.

Robbins griff nach der ersten Stahlklinke und zog die Luke auf. Geräuschlos fuhr eine Liege in den Raum.

„Es hat ziemlich lange gedauert, bis es der Polizei und der Feuerwehr gelang, Sean aus dem Brunnenschacht zu bergen. Selbst wenn er noch gelebt hätte – nach dieser Zeit wäre er mit Sicherheit erfroren oder ertrunken“, sprach der 60-jährige und schlug das Tuch zurück. „Soll das heißen, Sie sind sich über die Todesursache noch nicht sicher“, fragte Jim. Er musterte den Pathologen skeptisch, um anschließend seine Aufmerksamkeit dem Toten zu widmen.

Seans Haut hatte sich bereits bläulich verfärbt. Der riesige Y-Schnitt auf seiner Brust war nach der Obduktion mit groben Stichen wieder zugenäht worden. Verschiedene Blessuren bedeckten seinen Körper. Im Bereich der Verletzungen löste sich die Haut durch den Verfall bereits ab. Sie wirkte wie eingerissenes Pergamentpapier. Weiße Lippen verrieten, dass er längere Zeit im Wasser gelegen hatte.

Der Mediziner bemerkte den erstaunten Geschichtsausdruck des Jüngeren, als dieser die unzähligen Verletzungen betrachtete. „Die sind alle post mortem“, sagte Robbins rau. „Wie erwähnt – es war ziemlich schwierig, den Toten zu bergen.“ Er räusperte sich.

„Was haben sie denn für eine Theorie, wie er starb“, wollte Ron wissen. Er stand neben seinem Bruder und beäugte die Leiche.

Albert Robbins holte tief Luft. „Also ertrunken ist er nicht. Es befand sich kein Wasser in seiner Lunge. Ich vermute, er war schon tot, als er in den Brunnen gestoßen wurde. Es gibt keinerlei Abwehrverletzungen, die auf einen Kampf schließen lassen.“ Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt: „Ehrlich gesagt – ich weiß es nicht“, räumte er ein und bewegte sich auf einen der vielen Plastikbehälter im Raum zu. Schließlich kam er mit einem eingewickelten Objekt zurück. „Das hier halte ich allerdings für sehr ungesund.“ Mit wenigen Handgriffen hatte Robbins den Gegenstand ausgepackt und streckte den Jägern eine schwarze Halbkugel entgegen, deren Oberfläche wie eine Mondlandschaft aussah.

Erstaunt betrachtete Ron das Gebilde. Es wies mit einem Durchmessen von etwa 25cm eine stattliche Größe auf.

„Das haben wir im Magen des Toten gefunden“, berichtete Robbins.

Jim legte seine Stirn in Falten und murmelte: „Das hat man ihm in den Körper gelegt?“ Vorsichtig glitt sein Zeigefinger über die zerklüftete Oberfläche.

Der Mediziner legte die schwere Halbkugel neben die Leiche auf den Tisch. Er lugte über den Rand seiner Nickelbrille. „Nicht ganz, meine Herren.“ Er räusperte sich. „Es gab keine Spuren von äußerer Gewalt. Ich kann mir nicht erklären, wie dieses Objekt in den Körper des Toten gelangt sein könnte. Es ist praktisch unmöglich, dass ein derart riesiger Gegenstand auf …“, Robbins Augen irrten ratlos über die weißen Wände, „… normalem Weg in seinen Magen geraten konnte.“

Ron zog seinen Kopf nach hinten und schnaufte. „Also eins ist ja wohl klar – mit so einem Steinklumpen im Magen kann man nicht sehr alt werden, egal, wie er dort hingelangt ist.“

„Wie schwer ist der?“, wollte Jim wissen.

„Exakt 3,6 Kilo“, antworte Robbins und fügte hinzu, „Außerdem ist das kein Stein.“ Er winkte die Jäger zu sich heran. „Sehen Sie das?“ Robbins zeigte auf einige Krater, welche in großer Zahl die Oberfläche des Klumpens zerrissen. „Das sind Einschlüsse gewesen“, erklärte er.

Jim sah den Mediziner zweifelnd an.

„Ja, sehen Sie nur“, ermutigte ihn Robbins und reichte ihm eine Lupe, um das Objekt genauer begutachten zu können.

„Ist das Metall?“, fragte Jim und erntete einen wohlwollenden Blick.

„Ganz richtig. Das ist verhüttetes Eisen. So etwas finden Sie heute kaum noch. Diese Löcher entstanden durch das Entweichen von Gas oder Schwefel. Das passiert, wenn man Eisenerz das erste Mal erhitzt. Man nennt das auch Eisenschwamm. Beim ersten eisenzeitlichen Verhüttungsschritt entstand solcher Eisenschwamm. Durch den Gebrauch von Holzkohle bei der Weiterverarbeitung wurde dem Eisen Kohlenstoff zugeführt - mit dem Endresultat eines – na sagen wir mal, primitiven Stahls.“

Die Augen des Mediziners blitzten vor Begeisterung. „Eisen ist der Hauptbestandteil von Stahl. Stähle sind Legierungen des Eisens, die beim Vermischen mit anderen Metallen und auch Nichtmetallen, insbesondere Kohlenstoff, entstehen. Eisen ist mit 95 Prozent Gewichtsanteil an genutzten Metallen das weltweit meistverwendete.“ Er tippte bedeutungsvoll auf die Halbkugel. Ehrfürchtig hoben sich seine Brauen. „Das hier ist reines Eisen! Wissen Sie – wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass diese Kugel aus dem Schmelztiegel einer historischen Eisengießerei stammt. Diese Form der Metallveredlung ist uralt. Zwischen 1600 und 1200 v. Chr. wurde Eisen verstärkt genutzt. Die Hethiter kannten wohl eine Methode zur wirtschaftlichen Herstellung von Eisen. Ab 1200 v. Chr. fand mit dem Untergang des Hethitischen Reiches und der Verbreitung des entsprechenden Wissens im Nahen Osten der Übergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit statt. Aber heute findet man im Handel kaum noch reines Eisen.“ Mit diesen Worten wickelte er den Klumpen, als sei er ein wertvoller Schatz, wieder in das Tuch und brachte ihn zurück zu den Beweismaterialien.

Ron kratzte sich am Hinterkopf. Mit einem Schulterzucken sah er auf seinen Bruders: „Toll – jetzt können wir Eisen herstellen – aber was Sean getötet hat, wissen wir immer noch nicht.“

Jim zog seine Mundwinkel nach unten. „Was ist mit dem anderen Toten“, wollte er wissen.

Robbins flüsterte: „Jetzt wird es wirklich unheimlich.“ Er wandte sich kopfschüttelnd der Kühlanlage zu, um die nächste Klappe zu öffnen. „Man hat Grace tot unter einer Brücke gefunden“, berichtete er. „Es gab keine Hinweise darauf, wie er dorthin gelangt sein könnte.“ Mit einem heftigen Ruck riss der Alte das Tuch zur Seite und entblößte die zweite Leiche.

Entsetzt wichen Jim und Ron zurück. „Himmel – was ist denn das?“, presste Ron hinter vorgehaltener Hand hervor. Dann sah er zu Jim, der sich auf die Lippe biss.

„Wenigstens erkennen wir hier eindeutig die Todesursache“, brummte Jim und musterte den Toten. In seinem Brustbein steckte der geschliffene Keil einer Doppelaxt.

„Sehen Sie“, unschlüssig begann Albert zu reden, „Ich bin mir da nicht so sicher.“

Jim war hellhörig geworden. Er beugte sich über das Opfer und betrachtete die Verletzung genauer. Seine Augenbrauen schoben sich in die Höhe. „Das gibt es doch nicht“, hauchte er.

Robbins nickte bestätigend: „Sie sehen richtig, junger Mann!“

Jim strich vorsichtig am Rand der Axtschneide entlang. „Ron, siehst du das?“

Ron`s Augen verengten sich. „Was?“

„Es gibt keine Verletzungen im Gewebe. Kein Blut, keine Fleischwunden – nicht einmal Narben!“ Schnaufend erhob sich Jim. „Es sieht aus, als wäre die Waffe direkt aus seinem Körper herausgewachsen.“

Ron schüttelte ungläubig den Kopf. „Willst du damit sagen …?“

„Ganz richtig“, fiel Robbins den Jägern ins Wort. Er hatte ein Röntgenbild aus der Tasche gezogen und hielt es gegen das Fenster. „Selbst wenn der junge Mann noch gelebt hätte, wir hätten ihm nicht helfen können.“

Jim nahm dem Alten das Foto aus der Hand. Seine Augen wurden immer größer, als er die Aufnahme studierte. Entsetzt sah er auf Robbins, der seine Hände vor der Brust verschränkt hatte.

„Was ist denn, Jim - Na, sag schon“, drängte Ron.

Jim holte Luft. „Diese Axt ist mit seinem Brustbein verwachsen. Aber das ist noch nicht alles.“ Verwirrt strich er sich einige Haarfransen aus der Stirn. „Es sieht so, aus als ob …“, Jim unterbrach seine Ausführungen. Seine Worte richteten sich fragend an Robbins: „Ich nehme an, es handelt sich auch hier um reines Eisen?“ Er interpretierte Robbins Nicken als „Ja“, bevor er weitersprach, „…sich das Eisen langsam von seinem Brustbein auf die Rippen ausgebreitet hat. Man kann nicht sagen, wo der Knochen aufhört und das Eisen beginnt.“ Fassungslos ließ Jim die unheimliche Aufnahme in seiner Hand nach unten sinken.

Robbins fing an zu grinsen, als er noch eine Kleinigkeit zufügte: „Im Übrigen ist das hier keine gewöhnliche Axt.“

„Ja ja, wir wissen es – sie ist aus reinem Eisen und damit sehr selten“, warf Ron ein – sein kurzer Blick streifte Jim.

„Das ist korrekt“, bestätigte der Alte. „Aber hierbei handelt es sich auch nicht um eine gewöhnliche Axt, sondern um eine, wenn auch recht einfache, aber dennoch sehr wirkungsvolle Hellebarde oder auch Helmbarte genannt.“ Über die erstaunten Blicke, die ihn trafen, lachte er: „Das ist eine Hieb- und Stoßwaffe, die zu den Stangenwaffen des Fußvolks gezählt wird. Sie wurde vorwiegend im 14. bis 16. Jahrhundert verwendet.“

Überfordert blies Jim die Luft aus seiner Lunge, während er sich erneut an Robbins wandte. „Was ist mit den Augen der Beiden.“

Robbins drehte sich zum Toten herum und schob die Lider zurück. Seufzend sah er die Jäger an. „Das ist der nächste Punkt. Sehen Sie, die Augen der Opfer sind erfroren. Ich meine damit nicht eine gewöhnliche Erfrierung, sondern eine punktgenaue Kälteverbrennung. So etwas entsteht, wenn der Körper in plötzlichen, kurzen Kontakt mit extrem kalten Substanzen wie Trockeneis, flüssigem Propan, flüssigem Stickstoff oder sehr stark gekühlten Gegenständen in Berührung kommt. Die daraus resultierenden Schäden am Gewebe entsprechen in etwa den Folgen einer schweren Verbrennung. Bereits nach wenigen Sekunden zeigen sich scharf abgegrenzte, blasse und trockene Areale mit Blasenbildung auf der Haut; exakt dort, wo es zum Kontakt mit der schädigenden Substanz kam. Im Unterschied zu einer Verbrennung durch Hitzeeinwirkung entsteht dabei keine Übergangszone mit minderschwer geschädigtem Gewebe, welches sich wieder erholen könnte. Eine klassische Erfrierung wiederum unterscheidet sich von einer Kälteverbrennung unter anderem durch einen sehr viel langsameren, phasenweisen Verlauf der Abkühlung.“

Robbins ließ die Hände in den Taschen seines Kittels verschwinden. „So meine Herren – und jetzt erklären Sie mir doch bitte, wie das alles zusammenpasst!“ Die Brauen in die Höhe gezogen, beäugte er Jim und Ron.

Jim hob die Schultern und sah auf seinen Bruder, als er murmelte. „Leider tappen wir genauso im Dunkeln.“

„Aber wenn wir etwas erfahren, sagen wir es ihnen“, fiel ihm Ron ins Wort und drängte zum Aufbruch.

Jim lächelte Robbins freundlich zu. „Vielen Dank für ihre Hilfe.“ Er schüttelte dem Mediziner hastig die Hand und begleitete Ron zur Tür.

*** *** ***

23.12.2009; 16:30 Uhr
Auf dem Highway

Rötliches Licht fiel durch die Frontscheibe des Ford Mustang und zeichnete, gefiltert durch das Geäst der Bäume, dunkle Streifen auf die Gesichter der Jäger.

„Also mal ehrlich! So was Verrücktes habe ich noch nie erlebt“, unterbrach Ron die Recherche seines Bruders. Jim hob seinen Kopf und sah aus dem Fenster. Langsam bewegte sich der schwarze Wagen über glitzernden Asphalt in Richtung Bradschaw - Farm.

„Eisen? Echt?“ Ron`s Worte prallten gegen die Windschutzscheibe.

Jim`s Finger ruhten auf der Tastatur die er, pausenlos malträtierte, seit sie in den Wagen gestiegen waren. Er seufzte und betrachtete die schimmernden Wiesen - angestrengt nach einer plausiblen Erklärung suchend. „Du hast Recht, Ron“, antwortete er schließlich. „Ich verstehe es auch nicht.“ Verwundert bemerkte Jim, wie sich zarte Eisblumen an den Rändern des Fensterglases bildeten. Irgendwie hatte er das Gefühl, es sei wärmer geworden in der letzten Stunde. „Diese ganze Eisengeschichte will mir einfach nicht in den Kopf“, fuhr er fort und warf einen kurzen Blick auf Ron.

Der Ältere schob die Brauen zusammen, so dass sich eine tiefe Falte auf seiner Stirn bildete: „Mal ganz abgesehen von dem nicht unter Eisenmangel leidenden Opfern! Was soll das werden, Jimmy? Jagen wir jetzt den Terminator?“

Jim drosselte die Wagenheizung. Eine unangenehme Hitze kroch in ihm hoch. Leise sprach er weiter: „Ich meine, dieser Fall, Ron - Eisen passt einfach nicht zum Bösen. Eisen wehrt das Übernatürliche ab! Schon im Mittelalter galten Gegenstände aus Eisen oder Stahl als magische Abwehrmittel gegen Dämonen und Schadenzauber. Erst recht, wenn sie scharf geschliffen oder spitz waren, wie zum Beispiel Messer, Scheren, Nägel, oder eben eine Axt!“ Jim starrte kopfschüttelnd auf seinen Laptop und las: „So legte man zum Beispiel Wöchnerinnen oder Neugeborenen einen eisernen oder stählernen Gegenstand ins Bett, um sie gegen Hexenkunst immun zu machen.“ Jim kniff seine Augen zusammen. Es wurde ihm zu anstrengend, im Zwielicht der untergehenden Sonne den Texten zu folgen. Schnaufend schlug er das Cover zu. „Umgekehrt durften Eisen und Stahl bei zauberischen Handlungen nicht verwendet werden.“ Jim verfrachtete den Computer auf dem Rücksitz und fragte nach einer kurzen Pause. „Und du glaubst, dieser Cole kann uns weiter helfen?“

Ron hob die Schultern. „Er ist ein Zeuge. Vielleicht hat er etwas gesehen, bevor …“, bedrückt schluckte er, „… Sean in diesen Brunnen geworfen wurde.“

„Ron“, hauchte Jim. „Was ist gestern am Brunnen geschehen. Was verschweigst du mir?“

„Jim“, polterte der Ältere los. Seine Augen funkelten zornig. Doch dann schien er zu überlegen. „Ich dachte, ich hätte Stimmen gehört“, murmelte er.

„Was für Stimmen?“

„Einfach nur Stimmen!“, antwortete Ron und sah auf die Straße.

Jim nickte und betrachtete ebenfalls die Fahrbahn. Sie glitzerte in rostigen Farben vor einer Sonne, die am Horizont schon den Boden berührte. Kahle Bäume warfen gespenstische Schatten und die Silhouetten ihrer dürren Zweige schienen wie Finger nach dem vorbei gleitenden Wagen zu greifen.

„Es sind noch 10 Minuten bis zur Bradshaw – Farm“, flüsterte Jim, als ihm unerwartet ein reißender Schmerz das Wort abschnitt. Er presste sich gegen die Rückenlehne seines Sitzes und keuchte auf. Wie Zähne nagte etwas über seine Rippen. Das harte Knacken in seiner Brust hörte nur er.

Ron hatte augenblicklich den Wagen angehalten. Er musterte Jim, der plötzlich kreidebleich nach Luft schnappte. Vorsichtig strich Ron einige Fransen aus seiner Stirn. Winzige Schweißperlen hatten sich an Jim`s Schläfen gebildet und seine Lippen schimmerten blau.

„Sag mal, hast du Fieber“, murmelte Ron. Prüfend legte er den Handrücken auf Jim`s Wange.

Jim schüttelte den Kopf. Mit glasigen Augen blinzelte er Ron an. „Ist okay, es ist schon vorbei.“ Ein leises Stöhnen entfloh ungewollt seinen Lippen. „Ich glaube, ich habe mir gestern Nacht etwas Zug geholt“, versuchte er, sich zu rechtfertigen.

Ungläubig schoben sich Ron`s Augenbrauen zusammen. „Du machst mir doch hier nichts vor?“

Jim hob seine Hände. „Es ist nichts“, presste er hervor. Aber sein verkrampftes Gesicht verriet, dass dieses NICHTS ziemlich schmerzhaft war.

Ron räusperte sich: „Wir sollten besser umkehren, Jimmy! Ich glaube, du gehörst ins Bett!“ Jim`s Verhalten gefiel ihm nicht. Irgendetwas hatte ihn heimgesucht und kalten Schweiß auf seiner Haut zurück gelassen. „Dieser Cole kann warten, Jimmy – nicht, dass du mir noch eine Lungenzündung bekommst.“

„Ron! Ich bin in Ordnung“, entgegnete Jim und musterte seinen Bruder. Ron schien ausgeglichen und er spielte seine Rolle wirklich gut. Aber Jim erkannte hinter seiner Mauer aus Unbekümmertheit die Lüge. Jim sah tiefe Falten auf seiner Stirn. Er bemerkte die zitternden Hände, wenn Ron nach dem Lenkrad griff. Dem Jüngsten entgingen nicht die geröteten Augen, wenn Ron abends aus dem Bad kam. Jim wusste genau, wie sehr Ron seit dem Sommertag auf dem Rummel litt. Er schnaufte besorgt. Auf keinen Fall wollte er, dass Ron sich auch noch seinetwegen sorgen musste. Außerdem war es sicherer, wenn sie zusammenblieben.

„Es sind noch ein paar Minuten bis zur Farm, Alter“, flötete Jim so entspannt wie möglich. „Wir ziehen das jetzt durch!“

Ron nickte unsicher und startete den Wagen. Jim drehte die Wagenheizung höher.
Gedankenversunken ließ er seine Blicke über die erstarrten Bäume gleiten. Er hatte sich geirrt. Es war nicht wärmer geworden - im Gegenteil, es wurde immer eisiger. Langsam spürte Jim, wie ihm das Atmen wieder leichter fiel und sein rasendes Herz den richtigen Rhythmus fand. Er atmete tief ein – es würde schon irgendwie gehen.


*** Milch***



23.12.2009; 17:00 Uhr
Bradshaw Farm

Wie eine Wand sank gefrorener Dunst auf die Straße und hüllte den Ford Mustang ein. Nur am Horizont schälten sich allmählich die Umrisse einiger Gebäude aus der unwirklichen Landschaft heraus.

Aus einem der Fenster des Haupthauses fiel Licht auf den Hof und verriet, dass die geisterhaft erscheinenden Gebäude bewohnt waren.

Der Wagen blieb direkt vor dem Eingang des Haupthauses stehen. Nachdem seine Scheinwerfer erloschen, wurde es still. Wie Schemen huschten die Jäger durch den Nebel.

Schon nach wenigen Schritten warf Ron seinem Bruder einen warnenden Blick zu. Geruch von Blut klebte in der Luft. Angespannt griff dieser nach der 45ziger unter seiner Jacke und klopfte an eine verglaste Tür. Seine Augen streiften Ron, als sie schwere Schritte im Inneren des Hauses vernahmen. Eine Glühlampe flackerte auf. Ihr Licht gewährte einen schemenhaften Einblick auf den Flur des Hauses, durch den sich langsam eine gebeugte Gestalt näherte. Wenig später knackte das Schloss und die Tür öffnete sich.

Seine hellen Augen blinzelten, während sich der alte Mann unter den entsetzten Blicken der Jäger seine blutbesudelte Lederschürze abband und zu Boden gleiten ließ. Er lachte über die bestürzten Gesichter und brummte: „Keine Panik. Es wurde niemand abgeschlachtet.“ Die klirrende Kälte ließ seinen Atem gefrieren. „Wissen Sie, morgen ist Heiligabend und da sind meine Weihnachtsbraten sehr gefragt.“ Immer noch belustigt, aber erstaunt über die gefasst wirkenden jungen Männer, die nun in ihren Taschen nach einem Ausweis suchten, räusperte sich Cole. Seine wachen Augen bewegten sich flink unter weißen Brauen. Zunächst inspizierte er die ID-Kärtchen vor seiner Nase und schließlich die Männer selbst. „Sie sind wegen der Morde in Tiffanys Bar zu mir gekommen – Nicht wahr?“

Jim nickte. Er hatte sich schon in das Innere des Hauses gedrängt, um der klirrenden Kälte zu entfliehen.

„Guten Abend, Mister Bradshaw“, begrüßte Ron den Alten und kam ohne Umschweife auf den Punkt. „Wir hoffen, dass Sie uns in dem Fall weiter helfen können.“ Unauffällig taxierte er den Alten.

Cole schnaufte. „Leider habe ich nicht gesehen, was geschah. Ich war nur dabei, als man Ronny in die Gaststube gebracht hat. Was mit den beiden Anderen passiert ist, weiß wohl niemand so genau“, antwortete Cole und zeigte in Richtung Wohnzimmertür. Er forderte die Jäger auf, ihm zu folgen. Angesichts der klirrenden Kälte hatte Cole nicht den Wunsch, dieses Gespräch zwischen Tür und Angel fortzuführen und verschloss rasch die Haustür.


Jim hüstelte angeekelt. Der widerliche Geruch von kaltem Fleisch krempelte ihm den Magen um. Erstaunt über Jims Empfindlichkeiten, hob Ron die Schultern.

Cole hatte das Unwohlsein des Jüngsten ebenfalls bemerkt. „Ich habe Sie heute Abend nicht mehr erwartet“, entschuldigte er sich leise und fügte hinzu: „Leider wachsen Puten nicht im Kühlregal des Supermarktes. Einer muss die Aufgabe übernehmen, die Tiere zu schlachten. In Grafton ist das mein Job – schätze ich.“ Etwas verlegen begleitete er seine Gäste ins Wohnzimmer und schaltete das Licht an.

Der warme Schein einer kupfernen Deckenlampe flutete einen gemütlich eingerichteten Raum. Unzählige Fotos schmückten die Wände. Hinter getöntem Glas knisterte in einem eisernen Kaminofen ein Feuer.

Cole bot den Jägern einen Platz an und öffnete die Bar im Stubenschrank. Mit wenigen Schritten war er zurück am Tisch. Er stellte drei Gläser und eine angebrochene Flasche ab. „Einen kleinen Whisky gegen die Kälte?“, fragte er augenzwinkernd.

Jim und Ron hatten es sich auf dem alten Sofa bequem gemacht. Ron nickte begeistert. Seine Blicke streiften durch die Stube. „Ich liebe Katzen“, polterte er spontan in die angewärmte Luft und erntete von Jim einen verwirrten Blick.

Ron wies auf ein kleines, mit Milch gefülltes Schälchen. Es stand neben dem Kaminbesteck. Allerdings suchte er vergebens nach dem dazugehörigen Stubentiger.

Der Alte räusperte sich. „Ich habe keine Katze.“ Er sah ebenfalls auf das Milchschälchen. „Das ist für unerwartete Gäste“, hauchte er.

Ron hob erstaunt die Brauen. Unsicher lächelte er Jim an, der nun ebenfalls verblüfft das Porzellanschälchen in Augenschein nahm. Offensichtlich legte Cole Wert darauf, dass die Milch darin immer frisch war. Es war randvoll gefüllt, sorgfältig poliert und kein Krümelchen Schmutz oder Staub befand sich auf dem weißen, gestärkten Platzdeckchen, auf dem es stand.

Jim hob beide Hände, als er den Whisky ablehnte, den ihm Cole entgegen schob.

„Er trinkt nie was im Dienst“, erklärte Ron rasch und griff beherzt nach dem Wärme versprechenden Getränk.

„Darf ich ihnen einen Tee anbieten?“, fragte Cole, musterte Jim und stellte besorgt fest, „Sie sehen aus, als würden Sie etwas ausbrüten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf, um eine Teekanne von der Warmhalteplatte des Ofens zu holen.

Dankbar nahm Jim das Angebot an und schmiegte seine kalten Finger um das heiße Porzellan.

„Was wollen Sie denn nun genau von mir erfahren“, wollte Cole wissen. Er hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und beobachtete die Männer. Irgendetwas sagte ihm, dass sie nicht vom FBI waren. Er war sich nicht sicher, ob das ein Grund zur Besorgnis war. Nach einem kurzen Seufzen senkte er die Stimme und beugte sich über den Tisch. Seine Augen formten sich zu Schlitzen, als er zu reden begann. „Das war alles recht merkwürdig.“ Cole schien nach Worten zu suchen. Seine Finger hatten das Whiskyglas umfasst. Leicht zitterte es in seinen Händen. „Es sind so viele Merkwürdigkeiten eingetreten in den letzten Tagen.“

„Was meinen Sie damit“, wollte Jim wissen. Er verschränkte seine Hände auf dem Schoß.
„Nun“, begann Cole, „Diese extreme Kälte seit drei Tagen. Die Temperatur hat sich auf exakt minus 36 Grad eingepegelt. Das ist sehr ungewöhnlich!“ Schnaubend lehnte sich der Alte zurück in den Sessel. Sein Blick wanderte durch das Fenster auf den Hof. Dichter Nebel machte es unmöglich, draußen etwas zu erkennen. „Haben Sie schon einmal erlebt, dass sich bei solchen Temperaturen Nebel bildet? Das ist wettertechnisch unmöglich“, erklärte Cole. Er holte tief Luft. „Und … diese Unfälle“, flüsterte er.

„Was haben Sie darüber gehört“, fragte Ron.

„Nur das, was die Polizei berichtet hat“, entgegnete Cole. Seine buschigen Augenbrauen hoben sich. „Aber ich habe Ronny gesehen.“ Bestürzung ließ seine Lippen beben. „Was ihm und seinen Freunden zugestoßen ist, war nicht normal.“ Abrupt klappte Cole den Mund zu und wartete.

Jim beugte sich leicht nach vorn. „Was glauben Sie denn, was geschehen ist?“ Seine Stimme war gesenkt.

„Es ist nur eine Legende, ein Ammenmärchen“, flüsterte Cole. „Mein Urgroßvater hat es mir erzählt. Auch er kennt es nur vom Hörensagen.“

„Erzählen Sie es uns!“, forderte Jim den Farmer auf und drückte sich ächzend gegen die Rücklehne des Sofas. Seine Rippen brannten wie Feuer.

Cole nahm einen Schluck Whisky. „Haben Sie schon einmal etwas über Raunächte gehört?“, fragte er und beobachtete die Jäger eine weitere Sekunde lang. Er war sich jetzt sicher, dass diese Männer nicht vom FBI waren. Möglicherweise waren sie der Schlüssel zur Rettung. Er musste es einfach riskieren. Nie hatte er mit jemanden darüber gesprochen, um nicht für verrückt erklärt zu werden. Aber eins wusste Cole. Die Menschen in diesem Ort brauchten Hilfe - und er wurde das Gefühl nicht los, das diese Hilfe gerade an seine Tür geklopft hatte. „Die Raunächte, auch Zwölfte, oder Glöckelnächte genannt, sind einige Nächte, um den Jahreswechsel, denen besondere Bedeutung zugemessen wird. Meist handelt es sich um die zwölf Nächte, zwischen dem Heiligen Abend und dem Fest der Erscheinung des Herrn am 6. Januar, aber auch andere Zeiträume, beispielsweise zwischen dem Thomastag und Neujahr, kommen dabei in Frage. Leider ist man sich in dieser Frage nicht wirklich schlüssig. Aber in einer Sache sind sich alle einig. Von diesen Tagen wird in Mythologien weltweit verbreitet angenommen, dass die normalen Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt sind. In vielen Kulturen sind in dieser Zeitspanne mythische und magische Rituale üblich, basierend auf germanischen oder auch vorgermanische Wurzeln.“

Schlagartig stieß Ron einen heftigen Atemzug in den Raum. Seine Augen verfinsterten sich, als sie auf Jim trafen. „Germanisch! – Bitte nicht schon wieder“, stöhnte er.

Verunsichert traf ihn Coles Blick.

Jim nagte an seiner Lippe. Es schien, als würden sie verfolgt, von den Erinnerungen, an diese eine Jagd, die ihnen kein triumphierendes Gefühl des Sieges bescherte, sondern nur tiefe Narben auf ihren Herzen zurückgelassen hatte.

„Wissen Sie!“ flüsterte Cole. „Mein Urgroßvater sagte, dass SIE in diesen Tagen auf der Erde wandelt, um die Bösen zu bestrafen und die Guten zu belohnen.“ Sein Blick glitt auf das Milchschälchen. „Das ist für SIE.“

Verdutzt sahen die Jäger den Alten an, als er leise weiter sprach: „SIE ist nicht wirklich böse. In den Raunächten steigt sie aus einem Brunnen, den sie seit Urzeiten behaust, um mit ihrer Schar Kinder nachts durch die Straßen zu ziehen. Wenn sie ein Haus betritt und ein Schälchen Milch vorfindet, ist sie besänftigt, weil sie auf diese Weise die Kinder versorgen kann. Sie fügt dem Spender keinen Schaden zu.“ Coles Brauen hoben sich. „Sie müssen wissen, die Perchta** ist die Beschützerin der ungeborenen Kinderseelen!“

Ron erhob sich abrupt. Sein Gesicht war bleich.

Verwirrt sahen sich Jim und Cole an. Mit einem Handzeichen gab Jim dem Farmer zu verstehen, sich zurück zu halten, während er langsam zu seinem Bruder ging. Ron hatte ihm den Rücken zugewandt.

„Ich muss noch mal nach meinen Puten sehen“, murmelte Cole betroffen und verließ die Stube.

Behutsam legte Jim seine Hand auf Rons Schulter, der unter dieser Berührung gänzlich die Kontrolle verlor und seine Stirn gegen die Blumentapete presste. Er zitterte am ganzen Leib.

Jim atmete leise aus. „Ron“, flüsterte er, „was ist an diesem Brunnen geschehen? Was verschweigst du mir?“

Schlagartig riss sich Ron von der Wand los. Seine tränennassen Augen suchten verzweifelt ein Ziel, bevor es wie ein Stoß aus ihm heraus brach. „Ich habe sie gehört, Jim! Verdammt - ich habe sie gehört“, schluchzte er und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Seine Knie wurden weich. Langsam rutschte er an der Wand entlang zu Boden.

Jim und ging vor ihm in die Hocke. Er beobachtete Ron, der sich nun endgültig in Tränen auflöste.

Jimmy …!“ Seine Stimme bebte. „Ich habe diese Kinderstimmen gehört.“ Dünn und zerbrechlich mischten sich seine Worte unter das Knistern des Feuers.

„Kinderstimmen?“ fragte Jim unsicher nach. Er verstand nicht.

Plötzlich packte Ron seine Schulter. Er sah Jim an, öffnete den Mund, rang nach Luft und kämpfte sichtbar um Worte, die seine zitternden Lippen einfach nicht verlassen wollten. „Jimmy - Sie war schwanger!“, stieß er mit einem einzigen, verzweifelten Schrei heraus. „Lilly und ich, wir haben ein Baby erwartet!“

Jims Gedanken erstarrten. Er hörte Rons Worte, aber sein Verstand wehrte sich gegen ihre Bedeutung. Nur langsam begriff er, welchen Verlust sein Bruder wirklich erdulden musste. Ein nicht bekanntes Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht lähmte Jim und er hätte seine Seele gegeben, um ihm nur einen winzigen Teil dieses Schmerzes zu nehmen. Schwer wie Blei legte sich Rons Kopf auf seine Schulter und Jim hatte das Gefühl zu zerreißen.

Brutalität bahnte sich die Erinnerung an Lillys Tod nach außen, endlich aus dem dunklen Verlies in Rons Herzen befreit. „Jimmy … Ich habe sie gehört … Die Stimmen ungeborener Kinder im Brunnen …“, schluchzte Ron, als sich seine gequälten Blicke auf das kleine Porzellanschälchen neben dem Kaminbesteck richteten - gefüllt mit Milch.

23.12.2009; 22:15 Uhr, Grafton, örtliche Notfallklinik
„Das darf doch nicht wahr sein“, völlig aufgelöst blickte Albert Robbins auf das leere Bett. Er strich sich durchs Haar. Alle Fenster waren von innen verschlossen und die Kleidung seines Patienten lag unberührt im Spind. Kopfschüttelnd wandte er sich an Schwester Annegret.
„Ich kann mir das auch nicht erklären, Doktor. Niemand hat ihn gehen sehen“, flüsterte sie und sah zu Boden.
Robbins lugte skeptisch über den Rand seiner Nickelbrille. „Der Junge war blind! Wie um Himmelswillen kann denn ein blinder Junge mitten in der Nacht einfach so verschwinden?“ Schnaufend sah er auf die flimmernde Neonröhre an der Zimmerdecke. „Was geht hier eigentlich vor sich“, murmelte er. „Dieser Ort scheint sich in ein Tollhaus zu verwandeln.“ Robbins sah in Annegrets traurige Augen: „Ist schon gut, Anne. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Informieren Sie bitte den Sicherheitsdienst. Irgendwo muss dieser Rene ja stecken. Er kann schließlich nicht durch Wände gehen.“ Kummerfalten schoben sich auf seine Stirn. „Ich mache mir wirklich Sorgen um den jungen Mann. Wir wissen immer noch nicht, was da draußen geschehen ist. Was er gesehen hat.“
Der Doktor machte eine kurze Gedankenpause. Er hatte wieder die beiden Freunde des Jungens vor Augen. Sie waren nicht sehr beliebt gewesen. Aber so schrecklich zugerichtet auf seinem Obduktionstisch zu landen, hatten sie nicht verdient. Die Polizei hatte Robbins gebeten, über die Todesursachen zu schweigen. Selbst das FBI schien sich für den Fall zu interessieren. Und die Tatsache, dass Grafton der Sitz mehrerer Gefängnisse war, machte die Sache nicht einfacher. Obwohl ihm versichert wurde, dass es keinen Ausbruch aus der Haftanstalt gegeben hatte, würden Informationen über derart schaurige Morde doch für Unruhe sorgen. Ihm war natürlich klar, dass in einem so winzigen Ort wie Grafton Geheimnisse nie lange geheim blieben.
Ratlos glitten seine Hände in die Taschen des Kittels, als er weitersprach. „In den letzten Stunden hat sich Renes Zustand extrem verschlechtert. Seine Wahnvorstellungen lassen ihn immer aggressiver werden. Wir müssen den Jungen unbedingt finden, bevor er sich selbst oder jemand anderem etwas antut“, beschwor er und verließ das Zimmer. „Ich werde die Polizei verständigen. Zwei gewaltsame Todesfälle sind mir für eine Woche genug“, entschied Robbins, als er durch den menschenleeren Korridor in sein Büro ging.
„Doktor Robbins!“, Annes mahnende Stimme veranlasste ihn, sich noch einmal umzudrehen. Die Nachtschwester stand mittlerweile am Bett des vermissten Patienten und hatte das Kopfkissen angehoben. Gleich bunten Smarties verteilten Pillen auf dem Laken. „Er hat seine Antidepressiva nicht genommen.“


23.12.2009; eine viertel Stunde zuvor, Bradshaw – Farm
Noch immer versuchte das Feuer die erdrückende Kälte zu bezwingen. Nur das leise Ticken einer Standuhr war neben dem Knistern im Wohnzimmer zu hören.
Jedoch waren nun alle Worte gesprochen. Ron hatte alle verleugneten Tränen geweint und irgendwann hatte er sich aus der Umarmung seines Bruders befreit. Die Barker hatten die Wohnzimmertür geöffnet und Cole signalisiert, dass, was immer sie zu ordnen hatten – geordnet war.
Nun saßen drei Männer schweigend am Tisch und stellten fest, dass ihre Vergangenheit sie eingeholt hatte. Aber niemand wollte über eine Legende philosophieren, die Vergangenheit und Zukunft verschmolz. -Zumindest nicht an diesem Abend.
Jim erkannte, dass Cole mehr wusste, als er zugab. Er wagte es aber nicht, Fragen zu stellen, aus Angst, die Antworten würden seine Vermutungen bestätigen. Das untrügliche Gefühl, vor einer Katastrophe zu stehen, brannte seit Stunden in seinen Rippen. Auch Jim hatte an jenem Abend Stimmen gehört. Es waren unzählige Stimmen gewesen, jedoch nicht von Kindern.
„Ich glaube, wir sollten jetzt gehen“, brach Ron das Schweigen. Er griff nach seiner Jacke über der Sofalehne. Cole nickte und ging voraus. Noch immer fühlte sich der alte Mann unsicher. Er wusste nicht, ob er die ganze Wahrheit preisgeben sollte.
Fauchend wurde der Atem der Nacht ins Innere des Hauses gesogen, als Cole die Tür öffnete. Jim trat als erster ins Freie. Sofort zog er den Kopf in den Kragen. Die Hände verbarg er in den Taschen seiner Jeans.
Ron drehte sich noch einmal um: „Danke für Ihre Hilfe … und den Whisky …“, kam es unter einem gequälten Lächeln über seine Lippen.
Cole nickte und Ron folgte Jim mit gesenktem Kopf durch die zähen Nebelschwaden zum Wagen. Der alte Farmer stand in der Tür und seufzte … vielleicht hatte er sich doch geirrt?
Kein Luftzug bewegte sich, kein Geräusch ließ Leben in der scheinbar aus Glassplittern zu bestehenden Nacht vermuten. Einzig gefrorenes Erdreich knirschte unter den Füßen der Männer, als sie über den Hof schlurften.
Dann ein verräterisches Klicken! Ein ohrenbetäubender Knall folgte und für eine Sekunde tauchte im Mündungsfeuer eine nackte Gestalt auf. Sie verschwand, als sich der beißende Rauch verzogen hatte. Nur das Echo der Explosion hallte zwischen den Gebäuden wider, begleitet vom Krächzen einiger aufgeschreckter Saatkrähen, die irgendwo in den Bäumen geschlafen hatten.
Mit Wucht traf der Schmerz Jims Schulter, bohrte sich in sein Fleisch und riss ihm um. Rückwärts taumelte er in die ausgebreiteten Arme seines Bruders. Ein Stöhnen entwich seinen Lippen, als er seine Hand auf die schmerzende Stelle presste. Sofort breitete sich klebrige Wärme unter seinem Hemd aus. Doch schon nach wenigen Sekunden hatte sich der junge Jäger gefasst und forderte Ron mit schmerzverzerrtem Gesicht auf, nach dem Heckenschützen zu suchen.
Cole eilte, die Taschenlampe in seiner Hand, zu Hilfe.
Jims Beine begannen zu zittern. „Alter – sei bloß vorsichtig“, presste er hervor, als Ron ihn sachte auf den Boden sinken ließ. Eine Windböe verwirbelte die Schmauchreste und ließ sie wie Geister über den Hof kreiseln.
Nach einem besorgten Blick auf Jim, der zustimmend nickte, eilten Cole und Ron zum Wagen. Dahinter entdeckten sie einen Mann. Der Wind trug ihnen sein Schluchzen entgegen. Er hatte den abgesägten Lauf einer Schrotflinte gegen seine Brust gerichtet und wimmerte ununterbrochen: „SIE hat es befohlen!“
Cole war erschüttert, als Rene mit tränenüberströmten Augen keuchte: „SIE will das Opfer!“
Der Alte versuchte, den Jungen zu beruhigen. Eiskristalle schimmerten nicht nur in Renes Augen, sondern auch auf seiner Haut. Sein zitternder Körper verriet, dass er längst außer Stande war, noch einmal zu schießen. Die Waffe rutschte ihm aus den Händen. „Sie werden mich holen!“, schrie er verzweifelt, als das Heulen des Windes stärker wurde. Eiskristalle schnitten in seine Haut. Kleine Tornados vereinigten sich über ihm zu einem Trichter aus Splittern, Erdklümpchen und abgerissenen Zweigen. Noch bevor Cole und Ron Rene erreichen konnten, wurde er fortgerissen …

Wenige Sekunden später waren Ron und Cole zu Jim zurückgekehrt. Ron ging vor ihm in die Hocke. „Jimmy? – Bist du okay“, fragte er ängstlich. Ein verräterischer Pulvergeruch ging von Jims Jacke aus.
Jim nickte. „Es ist nur Schrot“, presste er hervor.
Cole riss vor Schreck die Augen auf: „Ich rufe die Polizei und den Notdienst“, warf er den Brüdern entgegen und
wollte ins Haus eilen.
„Cole!“, Rons Stimme wurde energisch, „Keine Polizei!“ Er senkte den Kopf. „Bitte - Wir können das so regeln“, murmelte er.
Abrupt blieb der Farmer stehen. Seine Augen verengten sich. Dann schluckte er und nickte. „Okay, Junge – bring ihn rein.“

Der junge Jäger saß auf einem der Sessel. Seine Hand drückte noch immer fest gegen die blutende Stelle an seiner Schulter. Haarfransen vibrierten auf seiner Stirn, als er Rons Blick auswich.
Dieser kniete vor Jim. Nachdem er ihm vorsichtig die Jacke über die Schultern geschoben hatte, warf er Cole einen kurzen Blick zu. Der Alte war kreidebleich.
„Lass sehen, Jimmy …“, flüsterte Ron. Seine Finger glitten behutsam über die Knopfleiste, um das Hemd zu öffnen.
Jim zog den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Cole reichte Ron ein Handtuch – und erstarrte im gleichen Moment. Seine Augen klebten förmlich auf der entblößten Brust des Jüngsten, ein tiefer Atemzug stieß aus seinem Mund.
Ron hatte die heftige Reaktion der alten Farmers bemerkt und drehte sich zu ihm um. „Es ist okay – Cole“, flüsterte er, „wir kriegen das wieder hin.“ Er begutachtete die Wunde. Aus mehreren winzigen Löchern sickerte Blut. „Der Kleine ist zäh – er wird das packen.“
Coles Brust hob und senkte sich vor Aufregung: „Ich habe es gewusst“, brachte er hervor, „ihr … seid … Jäger!“ Cole konnte den Blick nicht von einem Tattoo lösen, welches auf Jims Brust prangte. Es stellte ein flammenbewaffnetes Pentagramm dar und diente nur einem Zweck: Diesen jungen Mann vor Besessenheit im Kampf gegen Dämonen zu schützen. Cole hatte eine solche Tätowierung schon einmal gesehen.
Erstaunen breitete sich in Rons Gesicht aus, als er nach dem Handtuch griff. Schließlich holte er tief Luft: „In unserem Wagen ist ein Sanitätskasten.“
Ron brauchte den Satz nicht beenden, denn Cole nickte: „Ich hole ihn! Bleib bei Jim!“

23.12.2009; 23:15 Uhr
Keuchend stieß Jims Atem in die Luft, als die Splitterzange aus dem Einschuss glitt. Seine verkrampften Finger lösten sich von der Lehne des Sessels und er riss den Kopf zur Seite, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Ron eine der Bleikugeln in ein Schnapsglas gleiten ließ.
Cole hatte eine Tischlampe geholt. Er positionierte sie so, dass ihr Schein das notwendige Licht für die Prozedur spendete. Auf dem Tisch lag ausgebreitet, neben einer Flasche Whisky, der Inhalt des Sanitätskastens. Cole erschauerte beim Anblick der diversen Scheren, Pinzetten, Fasszangen, Klemmen, Nähnadeln und weiteren chirurgischen Instrumenten. Diese Gegenstände passten auf keinen Fall zu einem der üblichen Notfallkästen, die man in jedem Haushalt finden konnte. Cole schnaufte leise, denn er wollte sich beim Anblick der Narben auf Jims Körper nicht vorstellen, wie oft er so etwas schon durchmachen musste. Dann beobachtete er erschüttert den älteren Barker. Ron schien routiniert und gefasst, aber der Schweiß auf seiner Stirn, seine zerbissenen Lippen und das leise Stöhnen das ihm immer wieder entwich, verriet, wie sehr er mit seinem Partner litt. Immer wieder suchte er den Blickkontakt zu Jim. Und immer öfter wich dieser seinen Augen aus.
„Jimmy …!“ flüsterte Ron. Erschöpft war sein Bruder in sich zusammengesunken. „Jim – komm schon, bleib bei mir!“
Mühsam hob Jim seinen Kopf. Aus trüben Pupillen blinzelte er gegen das Licht der Tischlampe. Kalter Schweiß verklebte die Haare auf seiner Stirn.
„Jimmy …“, stammelte der Ältere. Seine Augen hefteten sich auf den Whisky. „Vielleicht solltest du …doch. Es macht … es … wirklich leichter für dich!“ Gequält sah er Jim an und strich ihm über die Wange. Jim schüttelte den Kopf: „Nei ..n …Ron!“
Ron seufzte und griff erneut nach der Zange. Seine andere Hand hatte sich auf Jims schmale Finger gelegt. Er bemerkte, wie sein kleiner Bruder den Atem anhielt. Immer mehr Schweißperlen bildeten sich an seinen Schläfen. Unzählige Bleistückchen im Glas verrieten, wie lange Jim standgehalten hatte. Aber langsam verließ ihn die Kraft. „Verdammt - Wie viele sind es noch?“, presste er hervor.
Der Ältere flüsterte: „Vier, Jimmy … ich glaube … es … sind … noch vier!“
Über Jims Wange rollte eine Träne. Er nickte und sah weg.
Rons Stimme zitterte. „Es ist okay … Jimmy – es ist … okay … du musst nicht …!“ Die Worte erstickten in seinem Hals. Verzweifelt riss er den Kopf in den Nacken und rang nach Luft, bevor er weiter sprach: „Schrei, wenn es hilft – schlag mich! … Aber bitte, bitte, Jimmy … halte … noch einmal … still!“
Es kostete unendlich viel Überwindung, den chirurgischen Stahl in Jims Fleisch zu zwingen. Jeder ergebnislose Biss der Zange quälte Jims überreizte Nervenenden. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Ron das winzige Stück Blei zu fassen bekam.
Stöhnend sackte Jim zusammen. Die Luft, die er hastig einsog, war stickig und heiß. Punkte tanzten vor seinen Augen, ihm wurde speiübel. Es war genug, er wollte nicht mehr stark sein. Er hatte keine Kraft mehr, sich gegen den Schmerz zu stemmen. Er wollte, dass es endlich aufhörte. Als die Zange erneut in seinen Körper eindrang, explodierte ein Schrei in seiner Kehle. Rebellierend bäumte sich Jim auf.
„Jimmy“, dunkel vernahm er Rons Stimme. Sie schien meilenweit entfernt. „Jim – ich … hab es … gleich!“
Ron hatte das Werkzeug hastig beiseitegelegt und tätschelte Jims Wange. „Jimmy?“
„Ein … e … Pause …. bit .. te …. Pau … se“, röchelte Jim, als sein Körper entkräftet vom Sessel zu gleiten drohte.
Cole war entsetzt aufgesprungen, hatte sich zur Wand gedreht. Heftig kämpfte er gegen seine Übelkeit an. Er war an Blut gewöhnt, aber seine vage Ahnung, die immer mehr zur Gewissheit wurde, ließ ihn erzittern.
Ron hielt Jim fest in seinen Armen und ließ ihn verschnaufen. Er hätte ihm alle Zeit der Welt gegeben – aber Blei war giftig und das Zeug musste raus aus. Schließlich drückte er Jim zurück in den Sessel.
„Ei..n Seku de --- bit … bit … te“, keuchte Jim.
„Okay – Jimmy. Eine Pause“, flüsterte Ron, als er behutsam einige Strähnen aus seiner Stirn strich.


24.12.2009; 2:45 Uhr
„Wird es gehen?“ Coles Augen trafen besorgt auf Jim. Während er eine Hand gegen den Verband presste, ruhte sein anderer Arm auf Rons Schulter. Das Atmen fiel ihm schwer und bei jedem seiner unsicheren Schritte verzog sich sein Gesicht vor Schmerz. Er fand Halt an Rons Seite, als sie gemeinsam durch den Flur zur Tür wankten.
Cole folgte ihnen. Er konnte Renes Worte nicht vergessen.
Als sich Rons Hand auf die Türklinke legte, packte ihn der Farmer an der Schulter. „Ron!“, flüsterte er und sah in seine müden Augen. Sein Blick streifte auch Jim, der den Blick zu Boden neigte. „Pass auf Jim auf!“
Überrascht hoben sich Rons Augenbrauen: „Das Schlimmste ist überstanden“, versuchte er, den Alten zu beruhigen: „Das war Schrot. Diese kleinen Verletzungen werden in zwei Tagen kaum noch zu sehen sein.“
Cole schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht“, er schluckte: „Bitte, Ron!“ Ein Seufzer stieß aus seinem Mund, als er auf eine schwere Standuhr sah, deren Zifferblatt man durch die geöffnete Stubentür gut erkennen konnte. „In weniger als 20 Stunden fängt die zweite Nacht an.“ Seine hellen Augen richteten sich furchtsam auf das erstaunte Gesicht des Älteren: „Ron - Bitte pass auf deinen …“, noch einmal holte Cole tief Luft: „… B R U D E R … auf!“
Perplex hob Jim den Kopf. „Woher weißt du, dass wir … Brüder sind?“
„Ich wusste es nicht“, gestand Cole. „Bis ich erkannte, dass ihr Jäger seid. Ich weiß wie stark das Band ist, das euch verbindet, denn ich habe gesehen wie bedingungslos ihr bereit seid, euch füreinander zu opfern … Ihr müsst Brüder sein!“ Coles Augen füllten sich mit Tränen, als er Ron leise ins Ohr flüsterte: „Es werden 36 Brüder reisen. Unter ihnen werden auch zwei Fremde sein!“ Mit diesen Worten ließ er den Älteren los und sah mitfühlend auf Jim: „SIE hat dich berührt, Junge - nicht wahr?“
Jim nagte an seiner Lippe, suchte nach einer Antwort. Aber Cole ersparte ihm das Geständnis. „Es tut mir so leid, Jim…es tut mir so leid …“, flüsterte er mit zitternder Stimme. Cole Bradshaw wusste, dass das Schlimmste noch nicht überstanden war. Das Schlimmste hatte noch nicht einmal begonnen …


*** Geständnisse ***



24. 12. 2009; 12:30, Tiffanys Bar
Sonnenstrahlen durchbrachen die Rüschengardinen. Unvermögend, die Luft zu erwärmen, überfluteten sie das kleine Gästezimmer. Die vergangene Nacht hatte Jim Kraft gekostet und sein Körper erzwang sich durch einen tiefen Schlaf die nötige Zeit, um zu heilen. Am Morgen hatte er zwar wahrgenommen, dass Ron das Zimmer verließ, vermochte aber nicht aufzustehen und zog sich brummend die Decke über den Kopf. Wohlige Wärme umhüllte ihn wie ein schutzgebender Kokon. Schon wenige Minuten später war er wieder eingenickt.
Das Klicken der Tür riss ihn endgültig aus dem Schlaf. Sekunden später realisierte Jim, dass diese Schritte nicht die seines Bruders waren. Er wartete reglos ab. Nur seine Hand glitt langsam unter das Kopfkissen, um nach seiner Taurus zu greifen, die ihm den Schlaf sichern sollte. Er spürte, wie explodierendes Adrenalin seinen Puls beschleunigte, als die Waffe richtig in seiner Hand lag. Seine Muskeln spannten sich und katapultierten ihn in die Höhe.
„Wer sind Sie?“, entfuhr es ihm rau. Die Waffe entsichert, konzentrierte sich Jim auf den Eindringling. Ein kurzer hoher Schrei schwappte gegen das Fenster.
„Mein Gott, Jim!“, platzte es aus Tina heraus, nachdem sie sich umgedreht hatte und den Jäger mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Im Bruchteil einer Sekunde ließ Jim seine Waffe unter der Bettdecke verschwinden.
„Ich … ich dachte, ihr seid abgereist“, flüsterte sie verlegen.
„Tina …“, entfuhr es Jim heiser, „Was zum Teufel!“
„Zimmerservice …“, rief Tina und sah verlegen auf den Wäschekorb am Boden. Er war ihr vor Schreck aus den Fingern geglitten. „Ich wollte die Betten frisch beziehen.“
Jim stöhnte leise und schüttelte den Kopf. Ein Lächeln zuckte um seine Lippen.
„Du bist aber ein Langschläfer.“ Mit erhobenen Brauen musterte Tina ihn. Seine Haut schimmerte feucht vom Schlaf, adrenalinüberflutete Venen peitschten seine Muskeln auf. Deutlich zeichnete sich unter dem Shirt ein flacher Bauch ab. Jims breite Schultern und zerzauste Haare, die seinen Nacken umspielten, zwangen Tinas Gedanken in überraschende Bahnen. Sie spürte, wie ihre Wangen erröteten und zupfte sich verlegen einige Strähnen zurecht.
„Ich hatte eine beschissene Nacht“, murmelte Jim. Er lächelte auf eine Art und Weise, die vermuten ließ, dass er ihre Gedanken erriet und zog sich die Bettdecke bis zum Kinn.
„Ich …. schaue … dann später noch einmal … rein“, flüsterte Tina. Sie beugte sich nach dem Korb.
„Okay“, Jim nickte und streckte seinen Hals, um noch einen Blick auf sie zu erhaschen. Wieder zuckte ein Lächeln um seine Mundwinkel. Doch dann verdunkelten sich seine Augen. Der Gedanke daran, welches Leben ihm aufgezwungen war, vertrieb jeden Hoffnungsschimmer. Schnaufend schloss Jim die Augen. Sie war wirklich süß – aber seine Gegenwart brachte sie nur in Gefahr.
„Ich bin gleich weg“, hauchte Tina. Mittlerweile war sie zwischen die Betten getreten und griff nach einem Handtuch auf dem Boden. Als sie sich wieder aufrichtete heftete sich ihr Blick auf Jims Gesicht. Er hatte sich über den Bettrand gebeugt. In seinen sanften Augen flimmerte plötzlich etwas Wildes, Unberechenbares. Dieser Anblick verschlug ihr die Sprache und sie malte sich aus, was passieren könnte, wenn sie noch länger in seiner Gegenwart bliebe. Jedes Mal, wenn Tina einatmete, strömte pure Aufregung in ihren Körper. „Es tut mir wirklich leid“, flüsterte sie.
Fast konnte Jim ihre Lippen schmecken – so nah war sie ihm plötzlich. Der verlockende Duft ihrer Haut brachte seinen Herzschlag zum Taumeln. „Geh!“, hauchte er und zog seinen Kopf zurück, wich ihren Blicken aus.
Tina schluckte. „Bis später.“
„Ja - bis später“, flüsterte Jim. Er wagte es nicht, Tina nachzusehen, als sie das Zimmer verließ.


24.12.2009; 17:30 Uhr
„Oh … du bist schon wach?“ Der Ältere war zurück und musterte Jim, der mitten im Raum an einem kleinen Tisch Platz genommen hatte. Vor ihm summte der Laptop und flackernde Bilder spiegelten sich in seinen Augen. Ohne den Kopf zu heben, nickte er.
„Was macht deine Verletzung?“
„Es geht schon viel besser“, antwortete Jim und räusperte sich. „Hast du was herausgefunden?“ Er beobachtete Ron, der zur Küchenzeile ging. Ein Funkeln blitzte in seinen Augen, als er über seine Schulter zurückblickte: „Was denkst du, Jimmy! Ich bin ein Profi“, erwiderte er und stellte unter Jims erstaunten Augen eine braune Papiertüte auf die Arbeitsplatte.
Stirnrunzelnd musterte Jim das Papier. „Du weißt schon, dass wir heute Abend zum Essen eingeladen sind, Ron?“, bemerkte er, wohlwissend, dass es sich beim Inhalt dieser Verpackung nur um Fastfood handeln konnte.
„Ja, Bruderherz … ich weiß“, schnaufte Ron und überlegte, „Das ist nur zur Sicherheit.“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.
Jim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: „Klar … es ist ja auch unwahrscheinlich, dass du von einer 4 Kilo-Pute satt wirst.“ Rons vorwurfsvoller Blick schoss wie ein Pfeil durch das Zimmer und ließ Jim augenblicklich verstummen. Rasch wechselte er das Thema. „Na, erzähl schon, Alter.“
„Ich war heute in der örtlichen Notfallklinik und habe noch einmal mit unserem geschichtsbegeisterten Pathologen gesprochen“, polterte Ron erfreut in den Raum. „Du musst wissen, Albert Robbins ist nicht nur der örtliche Pathologe, sondern auch Chefarzt der hiesigen Notfallklinik.“ Er zwinkerte: „Eigentlich ist das ganz praktisch! Damit kann er sich bei den hier Verstorbenen lästiges Nachfragen ersparen. Schließlich weiß er als Hausarzt, woran sie gestorben sind.“
Jims genervter Blick ließ Ron wieder zum Wesentlichen zurückkommen: „Also, dieser Rene ist gestern ca. 22:15 Uhr spurlos und auf geheimnisvolle Weise aus dem Krankenhaus verschwunden. Keiner hat ihn gesehen oder eine Ahnung, wo er sein könnte. Er wird immer noch vermisst!“ Auf der Stirn des Älteren bildete sich eine steile Falte. „Leider befürchte ich, dass man ihn auch nicht schnell genug finden wird, um ihn vor dem Erfrieren zu retten, nachdem was wir gestern gesehen haben!“ Grübelnd fügte er hinzu. „Was mich allerdings mehr beunruhigt ist die Tatsache, dass er blind ist. Wie hat er überhaupt entkommen- und uns finden können? Woher hatte er die Waffe und wie zum Geier konnte er dich überhaupt treffen?“
Jim biss sich auf die Lippe und sah kurz zu Boden. Ron hatte ihm gegenüber am Tisch Platz genommen und versuchte, über den Rand des Monitors zu spähen: „Im hiesigen Archiv konnte ich dann noch herausfinden, dass dieser Brunnen uralt ist.“ Seine Augen verdunkelten sich, als er weiter sprach: „Wie es aussieht, gab es den schon, vor der ersten Siedlung. Es gibt keinerlei Hinweise auf seine Erbauer.“ Angespannt drückte sich Ron gegen die Stuhllehne, fixierte Jim und raunte: „Und, Kleiner, hast du auch etwas zur Lösung unseres Jobs beizusteuern – oder hast du den ganzen Tag verpennt?“
Jim verschränkte die Hände über seinem Kopf. Kurz, aber heftig zuckte er zusammen und biss sich auf die Lippe.
„Tut es noch weh?“ Ron musterte Jim besorgt.
„Nein – die Verletzung ist es nicht.“ Jim hatte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Laptop gerichtet. „Meine Rippen tun immer noch weh“, nuschelte er. „Also“, begann er zu reden. „Ich habe heute Nachmittag aufgrund der Informationen des alten Cole mal recherchiert.“ Jims Finger huschten über die Tastatur. „Die Legende um diese Perchta ist ziemlich vielschichtig und geht auf Ursprünge, die kaum noch nachvollziehbar sind, zurück“, stellte er fest. „Frau Perchta ist eine Sagengestalt, die sich in verschiedener Weise in der kontinentalgermanischen und slawischen Mythologie findet. Sie ist vermutlich aus der germanischen Göttin Frigg hervorgegangen. Ihr entspricht übrigens in Mitteldeutschland auch die Sagengestalt der Frau Holle.“ Jims Augen streiften den Älteren, der sich zurückgelehnt hatte und aufmerksam zuhörte.
„Der Name ist wahrscheinlich vom Begriff peraht – das bedeutet, hell oder glänzend, abgeleitet. Andere Vermutungen gehen dahin, dass der Name Percht keltischen Ursprungs ist“, fuhr er fort.
Ron schnaufte: „Glänzend … das deckt sich mit den Aussagen von Rene. Er berichtete doch von einer leuchtenden Gestalt.“
Jim nickte und las weiter. „Perchta bestraft Faulheit und Verstöße gegen die Regeln. Die Bestrafung kann von einfachen Albträumen bis hin zum Aufschlitzen des Bauches reichen. Der Bauch wird dann gerne noch mit Steinen gefüllt, um das Opfer in einem Brunnen zu versenken. Zudem kann Perchtas Atem töten oder blenden.“
„Was kann denn so schlimm gewesen sein, dass sie den armen Kerl in den Brunnen gestoßen hat?“, wollte Ron wissen und erntete ein Schulterzucken von Jim, bevor er weiter berichtete: „Umgekehrt belohnt sie Fleiß und Hilfsbereitschaft. Neben vollen Spulen, goldenen Fäden und Flachsknoten für Spinnerinnen verschenkt sie auch Münzen, die Mägde in ihren Eimern finden. Sie soll auch für das Wachstum des Getreides zuständig sein. Brunnen oder Teiche sind die Orte, an dem Perchta die noch nicht geborenen Seelen hütet. In diesem Sinne gilt sie auch als Führerin der Schar der ungeborenen Kinder.“ Erschrocken hielt Jim inne. Sein Blick traf auf seinen Bruder, dessen Augen sich sofort verdunkelt hatten. Ron stand auf, ging zum Fenster und starrte auf den Brunnen.
„Ron …“, stammelte Jim. Er nagte an seiner Lippe. Es war ihm im Eifer des Gefechts einfach so rausgerutscht. „Es … tut … mir …so …!“
„Ist okay, Jimmy“, unterbrach ihn Ron leise, ohne dabei den Blick vom Fenster zu wenden, „Erzähl weiter!“
Jim richtete seine Augen erneut auf den Monitor und las vor: „Bei Beschreibungen der Perchta werden die Attribute Eisen und Nase stark betont. Sie führt ihre Bestrafung mit eisernen Geräten aus. Auch das Beil ist aus Eisen, mit dem sie in den Körper ihrer Opfer hackt. Sie rasselt in vielen Erzählungen zudem mit einer eisernen Kette. Diese auffällige Betonung des Eisens kann auf einen vorgermanischen Hintergrund hinweisen. Das Motiv Nase kann als Vogelschnabel gedeutet werden und könnte daher ebenso auf eine alte Vogelgöttin hinweisen.“ Jim richtete seinen Blick wieder auf Rons Rücken und schwieg.
Der Ältere stand noch immer reglos am Fenster: „Das mit dem Eisen passt auch, Jimmy“, flüsterte er mit bebender Stimme gegen das Glas. Ruckartig drehte er sich um. In seinen Augen glänzten Tränen. „Jimmy“, seine Brust hob und senkte sich, als er kaum hörbar flüsterte, „vielleicht sollten wir sie einfach in Frieden lassen. Vielleicht ist Perchta nicht wirklich böse!“
Jim schwieg, als Ron weiter sprach: „Ich meine – wenn wir sie jagen“, verzweifelt fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht, „Jim! Was wird dann wohl aus den Kinderseelen, die sie beschützt? Sind die dann nicht verloren?“ Bei diesen Worten wurde Rons Stimme so zerbrechlich, wie hauchdünnes Eis.
Gequält neigte Jim seinen Kopf, ohne eine Antwort darauf zu wissen. Rons Frage war berechtigt. Sollten sie wirklich dieses Wesen jagen? Das Atmen fiel dem Jüngsten über diese Erkenntnis schwer. Perchta war der letzte Trost, den Ron noch hatte. Die Legende war ein vager Hinweis, dass sein Baby, das er nie im Arm halten durfte, irgendwo ein Zuhause gefunden haben könnte und nicht für immer verloren war. Es war der einzige Strohhalm, an dem Ron sich in seiner Trauer klammern konnte. Eine winzige Hoffnung, dass jemand diese zarte, ungeborene Seele anstatt seiner liebevoll in den Arm nehmen und sie beschützen würde.
Schnaufend stand Jim auf und ging auf seinen Bruder zu. „Ron, wir wissen es doch noch gar nicht“, versuchte er Trost zu spenden. „Ich habe das Gefühl, dass da noch mehr dahinter steckt.“ Mitfühlend legte er seine Hand auf Rons Schulter.
Nach einer Sekunde löste sich Ron aus der Berührung des Jüngeren und riss den Kopf in den Nacken. „Nun Jim, was hast du noch herausgefunden?“ Schnaubend schritt er an Jim vorbei und setzte sich wieder auf den Stuhl.
Jim folgte ihm. „Diese Raunächte – Ron! Sie sind mir unheimlich“, flüsterte er und betrachtete Rons Gesicht. Noch immer war dem Älteren der innere Kampf anzusehen.
„Warum?“, fragte Ron kühl.
Jim seufzte: „Es gibt in dieser Legende zwar Unterschiede über die Anzahl der Raunächte, je nach Region. Aber offensichtlich gibt es vier absolut bedeutende Raunächte.“ Seine Augen erfassten erneut Ron der ihm wieder aufmerksam zuhörte. „Also“, fuhr er fort: „Es handelt sich um die Nächte vom 21. zum 22. Dezember.“ Jims Augen hoben sich bedeutungsvoll: „Das ist die längste Nacht des Jahres!“
Ron nickte: „Und die Nacht, in der die Morde geschahen“, stellte er fest.
Jim sah wieder auf den Text. „Die zweite Raunacht beginnt exakt 0:00 Uhr vom 24. zum 25. Dezember.“
„Die Christnacht – also heute Nacht“, bestätigte ihm der Ältere und zog die Stirn in Falten.
„Eine weitere beginnt 0:00 Uhr vom 31. Dezember zum 1. Januar! Also der Jahreswechsel. Und die letzte Raunacht ist schließlich die Nacht vom 5. zum 6. Januar. Das ist die Epiphaniasnacht *.“ Jim beendete seine Ausführungen und sah erwartungsvoll auf Ron.
Der Ältere zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Ja und, Jimmy …“, fragend musterte er den Fransenkopf.
„Die vier genannten Raunächte galten mancherorts als derart gefährlich, dass sie mit Fasten und Beten begangen wurden. Von diesen Tagen wird in Mythologien weltweit angenommen, dass die üblichen Grenzen zu anderen Welten fallen. In vielen Kulturen sind in dieser Zeitspanne mythische und magische Rituale üblich. Welcher der Bräuche wie alt ist, lässt sich im Nachhinein nicht mehr genau feststellen“, berichtete Jim und richtete sich auf. Er sah an die Zimmerdecke und seufzte. „Ich habe das Gefühl, dass sich hier etwas Furchtbares zusammenbraut. Ich glaube die vergangen Ereignisse waren nur der Anfang. Irgendetwas Unheilvolles versucht hier die Grenzen zu durchbrechen.“
Ron hatte sich erhoben und schritt im Zimmer auf und ab. „Jim, diese Raunächte gibt es schon immer. Warum sollte es in diesem Jahr anders sein? Was macht dich da so sicher?“, wollte er wissen.
Bedrückt hatte Jim seinen Kopf gesenkt. „Ich habe so ein Gefühl“, murmelte er.
„Was für ein Gefühl?“
Jim fing an zu stottern: „Na ja, ich hatte diese … Vision!“ Abrupt klappte er den Mund zu und sah Ron hilflos an.
„Du hattest … eine … Vision?“, schnaufte Ron entsetzt, „Wann?“
„In der Nacht, als wir hier ankamen. In der Nacht, als du am Brunnen diese Stimmen…!“ Betroffen verkniff sich Jim den Rest des Satzes und spielte nervös mit den Fingern. „Ron“, entfloh es ihm leise. Er war auf dem Stuhl in sich zusammen gesunken: „Ich glaube … ich habe sie selbst herbeigeführt, als du geschlafen hast“, beichtete er schließlich und wagte es nicht mehr, seinen Bruder anzusehen.
„Du hast was?“ Rons Gesicht erstarrte zu Stein. „Jim! Wann gedachtest du denn, mit mir darüber zu reden“, spie er ihn an. „Wenn dir so etwas Merkwürdiges passiert, wüsste ich das gern als dein Bruder!“ Er hatte sich wieder auf den Stuhl gesetzt und erwartete mit trommelnden Fingern eine Antwort.
„Ich wollte es dir ja sagen“, versuchte sich Jim zu rechtfertigen, „Aber …!“
„Nichts aber“, fauchte Ron. „Wie kannst du nur so leichtsinnig sein, Jimmy!“ Erzürnt riss er den Kopf in den Nacken.
„Ron!“ Jim hatte aufgerichtet. „Mann – Alter! Dir ging es sauschlecht. Du hast tagelang nicht geschlafen und nicht mit mir gesprochen.“ Rat suchend sah Jim an die Decke: „Als ich dich am Brunnen fand, hatte ich wahnsinnige Angst, dir könnte was Schlimmes zustoßen! Was hätte ich denn tun sollen? Ich wollte einfach wissen, was mit dir los ist!“
„Ist gut, Jimmy“, schnaufte der Ältere, sich der eigenen Schuld bewusst. „Was hast du denn gesehen?“
Jim atmete durch und begann zu reden: “Wasser, das sich mit Blut vermischte. Ein Opferlamm auf einem Altar aus Stein.“ Furchtsam sah er in Rons Augen und flüsterte. „Ich habe auch Stimmen gehört!“
„Kinderstimmen?“, wollte Ron wissen.
Jim schüttelte heftig den Kopf: „Nein – ganz bestimmt nicht.“ Wieder sah er an die Decke. „Dann habe ich SIE gesehen! Sie leuchtete und plötzlich“, er schluckte, „ist sie in mich gefahren!“
„Sie … ist … in … dich … gefahren? So wie ein Dämon?“ Rons Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Nein“, erwiderte Jim und tippte gegen das Tattoo auf seiner Brust: „Du weißt, dass so etwas nicht möglich ist. Ich glaube auch, sie wollte nichts Böses.“
Verdutzt zog Ron seinen Kopf zurück. „Jimmy?“ Seine Augen funkelten. „Bist du dir sicher, dass du nicht geträumt hast?“ Ein breites Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. „He – Kleiner, vielleicht solltest du einfach mal wieder …!“ Ron räusperte sich.
Wie vom Blitz getroffen sprang Jim auf. „Ron! Diese Art von Traum war das nicht!“ Aufgebracht schlug er den Laptop zu und fixierte Ron mit rot glühenden Wangen.
Dieser sah schnell auf die Uhr. „Mann, es ist schon spät. Wir sollten uns langsam fertig machen, sonst kommen wir noch unpünktlich zur einzigen Einladung für ein Weihnachtsessen, die wir je hatten.“ Wieder huschte ein Grinsen über Rons Gesicht. „Raunacht hin oder her! Was soll schon passieren – es ist Weihnachten! Wir sollten auch mal Spaß haben. Außerdem bekomme ich langsam richtig Hunger!“ Seine Augenbrauen schnippten in die Höhe, als er Jim ansah: „Tina wird bestimmt schon ungeduldig warten!“
„Ron …“, flötete Jim.
„Was“, konterte der Ältere, „meinst du ich bin blind? Ich sehe doch, dass ihr euch mögt!“
„Ja – aber“, Jims Stimme klang traurig, als er zu Boden sah, „Ich … ich kann nicht!“ Er schluckte bitter.
„Wieso?“, erwiderte der Ältere verständnislos.
„Ron … unser Leben“, ein Seufzen stieß über Jims Lippen, „Wir bringen jeden Menschen, der uns nahe steht, in Gefahr.“
„Ich weiß, Jimmy!“ Schnell ging Ron zum Bad. „Wir bringen den Tod“, entfuhr es ihm rau, als er nach der Klinke griff. Kurz hielt er inne und drehte sich noch einmal um. „Jimmy?“, flüsterte er, „wir dürfen die Hoffnung einfach nicht aufgeben! Vielleicht ist dies alles eines Tages Vergangenheit.“ Dann kratzte er sich am Hinterkopf. „Apropos Hoffnung. Hast du schon was gegessen“, fragte er und lugte auf die Fastfoodtüte, bevor er im Bad verschwand.
„Idiot“, murmelte Jim kopfschüttelnd und lächelte bitter, als er das Rauschen der Dusche vernahm.
Schnaufend atmete er ein. Er hatte keinen Appetit und ihm war kalt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht strich sich Jim vorsichtig über seine Rippen, als könnte er das stündlich schlimmer werdende Brennen einfach wegwischen.

Schnaufend wischte Ron über den beschlagenen Spiegel. Ein bleiches Antlitz schaute auf ihn zurück. Ratlosigkeit, Angst und Wut verknoteten seine Eingeweide zu einem widerlichen Klumpen, den er am liebsten aus seinem Körper gewürgt hätte – zusammen mit dieser unerträglichen Trauer, die ihm schwer wie Blei auf dem Herzen lag. Der ältere Barker stöhnte leise. Er konnte dieses Wesen nicht jagen. Niemals würde er ein Geschöpf töten, das die Hände schützend über sein eigenes Fleisch und Blut hielt. Ratlos verrieb er mit der Hand letzte Wasserperlen, die zwischen seinen Bartstoppeln hängen geblieben waren.
Auf was hatten sie sich da nur eingelassen? Es war alles so widersprüchlich. Ron wollte nicht glauben, dass Perchta Kinderseelen beschützte und gleichzeitig nach seinem Bruder griff. Angst kroch in ihm hoch. Was war, wenn er sich entscheiden müsste? Wessen Seele sollte er retten? Die seines Bruders – oder die seines Kindes?
Halt suchend griff er nach dem Waschbeckenrand. Was hatte der alte Cole nur gemeint? “Pass auf Jim auf! Pass auf deinen Bruder auf!“ Es war sein Job, auf seinen Bruder aufzupassen. Seinen kleinen Bruder – JIM … dieser unglaubliche Starrkopf.
„Dieses verdammte Blut“, fluchte er. Nicht, dass Jim unvorsichtig wäre. Nein! Ron lächelte bitter sein Ebenbild an. Unvorsichtigkeit war eher eine seiner Eigenschaften. Trotzdem, es sah aus, als ob Jim das Böse magisch anzog. So wie das kühle Licht einer Insektenlampe Motten in der Nacht, schien Jim völlig ahnungslos umherirrende Seelen einzufangen - wie andere Menschen Schnupfenviren, wenn sie spazieren gingen. Sein kleiner Bruder war ein gigantischer paranormaler Magnet und die Mächte der Finsternis stritten sich förmlich um ihn.
Rons Finger schmiegten sich fester um den Rand des Waschbeckens. Er lauschte ins Zimmer nebenan. Es war es still. Längst hatte Ron bemerkt, dass Jim, seit sie in Grafton waren, nicht mehr er selbst war. Es war nicht die Schusswunde in seiner Schulter – es war auch keine Erkältung, wie dieser immer wieder beschwor.
Ron wusste es besser: Das Böse an diesem Ort witterte Jims dunkle Seite, wie ein Rudel hungriger Wölfe ein schutzloses Lamm. Jim war blass und wenn er sich unbeobachtet fühlte, kniff er schmerzverzerrt die Augen zu. Ron hatte beobachtet, wie er heimlich mit den Händen über seine schmerzenden Rippen strich, um dann ertappt in der Bewegung zu verharren. Die plötzlichen Fieberattacken schien Jim unter Kontrolle zu bringen, aber vor Ron verbergen konnte er sie nicht. Ron wusste es: Jims Blut brodelte.
„Du verdammter Idiot“, murmelte Ron gegen den Spiegel. „Hättest du nur den Mund aufgemacht. Du weißt doch genau, dass Jimmy keine Ruhe gibt!“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. Die Hartnäckigkeit, mit der Jim nach Antworten bohrte, konnte schon wehtun. Schnaufend stieß er seinen Atem in das Waschbecken. Ein Barker zu sein war wirklich nicht einfach. Für Beide nicht.
Beherzt griff er nach dem Rasierzeug: „Jimmy, Jimmy, Jimmy was hast du da nur wieder an die Oberfläche gewühlt“, murmelte er, als seine rechte Hand den Rasierpinsel ans Kinn führte. Sein Blick streifte die Uhr am Handgelenk …
Noch 6 Stunden bis Mitternacht …
Was war dran an dieser Raunachtlegende und was wusste Jim wirklich?
Langsam kreiselten die weichen Borsten des Rasierpinsels auf Rons Haut und begruben widerspenstige Bartstoppeln unter einer angenehm duftenden Schaumdecke. Vielleicht sollten sie Tiffanys Einladung absagen und sich vorbereiten – auf was auch immer!
Kurz schloss Ron die Augen und seufzte. Aber Jimmy war auf dem besten Weg, sich zu verlieben. Ein Lächeln zuckte über sein Gesicht. Nein – sie würden gehen! Er hatte die Begierde in Jims Augen erkannt. Endlich begann ein warmes Gefühl den Hass aus Jims Gedanken zu vertreiben. Viel zu lange hatten Rache- und Schuldgefühle ihm den Schlaf geraubt und seine Sinne betäubt. Tina schien die Magie zu besitzen, Jims Herz zu heilen.
Langsam öffnete Ron wieder die Augen. Sein kleiner Bruder sollte diesen Funken Glück spüren dürfen. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Müde Augen fixierten sein Spiegelbild. Ron wusste, was Jim mit Jessika verloren hatte. Jetzt kannte auch er diesen Schmerz.

24.12.2009; 22:00 Uhr, Tiffanys Bar, Wohnzimmer
Melodien bekannter Weihnachtslieder erfüllten säuselnd den Raum. Aber der helle Klang der Glocken bereitete Jim Qualen. Verbissen stemmte er sich gegen die hohen Töne. Sie stachen in seinen Ohren und hinderten ihn daran, den Worten der Anderen zu folgen. Fröhliche Stimmen verwandelten sich in Jims Kopf zu dumpfen Lauten. Ein duftender Braten, der ein glückliches Strahlen auf Rons Gesicht zauberte, bereitete Jim nur Übelkeit. Beim Anblick des Fleisches auf seinem Teller wollte sich sein Magen umkrempeln. Halt suchend klammerte er sich an das Besteck und stocherte im Essen herum. Warmes Licht eines Weihnachtsbaumes durchflutete das Wohnzimmer. Polierte Gläser und Bestecke auf dem Tisch, sowie die glitzernde Weihnachtsdekoration überall an den Wänden, reflektierten diesen Schein in den Pupillen der Anwesenden. Aber Jim wurde nur geblendet. Am liebsten hätte er seinen pochenden Schädel mit den Händen abgestützt. Ein Feuer im Kaminofen sollte Wärme und Geborgenheit spenden. Aber seine Hitze staute sich in Jims Lunge und brachte sein Blut zum Sieden. Unzählige Hufe schienen auf seinen Rippen herum zu trampeln. Nur mit Mühe hielt er sich auf dem Stuhl, der ihm vorkam wie ein buckelndes Pferd. Sein Gesicht zuckte hoch, als Tiffany ihn ansprach. Schwerfällig folgte Jim ihrer Stimme durch ein Bollwerk aus Schmerz und Nebel. Sie lächelte ihn an und lehnte sich entspannt zurück. Jim wollte zurücklächeln. Sein Gesicht verzog sich lediglich zu einer Grimasse.
Die Frau hatte ein Glas Rotwein in der Hand. Ihre Augen blitzen erheitert, als Rons Ausführungen zur recht blutigen Begegnung mit Cole Bradshaw ihr einen herzhaften Lacher entlockten. Natürlich hatte der Ältere den Grund des Besuches und auch Jims Verwundung durch Rene verschwiegen.
„Cole als Killer …?“ Tiffany wandte sich schmunzelnd an Tina. Die junge Frau hob eine Augenbraue, bevor ihr Blick auf Jim traf, der ihr gegenübersaß. Unsicherheit stieg in ihr auf. Hatte sie ihn womöglich verärgert? Er war so still.
„Nein, ganz sicher nicht“, säuselte Tiffany über den Tisch. „Ich glaube, ich kenne den Alten schon ein halbes Leben lang.“ Versonnen begann sie zu plaudern. „Mein verstorbener Mann Dylan war eng mit Cole befreundet.“ Tiffany nippte an ihrem Glas. Ein Schatten verdunkelte kurz ihr Gesicht, bevor eine schöne Erinnerung ihn hinwegfegte und sie seufzte. „Wissen Sie“, wandte sie sich an Ron, der entspannt seinen Rücken an die Lehne des Stuhles gedrückt hatte, „Dylan angelte für sein Leben gern“, sie zwinkerte, „aber dummerweise waren wir beide nicht in der Lage, ein Tier zu töten. Nicht einmal einen Fisch.“ Tiffany stellte das Glas auf den Tisch. „Darum traf sich Dylan nach einer erfolgreichen Angeltour immer mit Cole, der ihm die Fische schlachten musste.“
Ron grinste bei dieser Vorstellung. Er griff nach einem Bier und beobachtete Jim. Er konnte dem Ganzen offensichtlich nichts Lustiges abgewinnen. Jims blasses Gesicht machte Ron Angst. „He Jimmy, alles in Ordnung“, fragte er.
Jim erwiderte den prüfenden Blick des Älteren lächelnd: „Es ist okay. Ich habe mich nur etwas erkältet.“
Tina hob erneut eine Braue. Jim hatte nicht einen Bissen angerührt. Auch ihren Zweifel versuchte Jim mit einem Lächeln zu zerstreuen. Er richtete sich auf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen: „Es geht mir gut – Ehrlich!“
Das war ein Fehler! Reißende Schmerzen trieben den Schweiß aus seinen Poren. Seine Atmung blockierte, während er unter dem Krachen seiner Rippen zusammenfuhr.
Ron runzelte die Stirn: „Jim? Sollen wir gehen?“
Ein bedrücktes Schweigen hatte sich in das Zimmer gelegt. Jim spürte fragende Blicke auf seinem Körper. Er schnaufte kurz und lächelte wieder. „Ist okay Ron – ich … ich habe nur ein wenig Kopfweh. Das ist alles!“ Sein Blick wich den skeptischen Augen aus und glitt nach unten. Reiß dich zusammen, Jim, beschwor er sich. Seine Hände, mittlerweile den neugierigen Blicken entzogen, verkrampften sich auf seinem Schoß. Auf keinen Fall wollte er Ron den Spaß verderben. Sein Bruder war heute Abend so ausgelassen, wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Endlich strahlten seine Augen wieder und diese wenigen Stunden Familiengefühl verdrängten seine schmerzhafte Erinnerung an Lilly. Vorsichtig atmete Jim aus. Er musste nur noch ein bisschen durchhalten.
Räuspernd sah Tiffany Ron an, zog die linke Braue hoch und erzählte weiter: „Cole und Dylan waren oft zusammen in den Wäldern, um zu jagen oder zu fischen. Aber meistens reichte ihre Kunst gerade mal für einen Strauß frischer Waldblumen“. Versonnen betrachtete sie ein großes Bild an der Wand, das sie lachend an der Seite eines dunkelblonden Mannes zeigte.
Ron folgte ihrem Blick. „Warum sind Sie hier geblieben“, fragte er leise. Er hatte bereits vom tragischen Unfalltod ihres Mannes erfahren.
Tiffany beugte den Oberkörper über den Tisch. „Dylan hat diesen Ort und diese Bar geliebt“, hauchte sie. „Es klingt vielleicht sentimental – aber er behauptete, dieser Ort sei für ihn bestimmt!“ Seufzend sank Tiffany zurück gegen die Stuhllehne. „Ja“, entfuhr es ihr, als sie Tina augenzwinkernd ansah, „also blieben wir hier!“
Tina räusperte sich: „Na, ich hatte wohl keine Wahl“, grummelte sie amüsiert.
Ron senkte nickend den Kopf. Er lächelte.
„Und du, Jim?“ Tina hatte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jüngsten gerichtet. „Was ist deine Bestimmung?“ , wollte sie wissen.
--- „JIM?“
Jim starrte gebannt auf die weiße Tischdecke, die in der flimmernden Luft vor seinen Augen wie Plastik zerschmolz. So sehr er sich auch bemühte, es war ihm nicht mehr möglich, der Unterhaltung zu folgen. Tiefes Brummen erfüllte seinen Kopf. Seine Finger verkrampften sich im Stoff der Jeans über seinen Oberschenkeln. Das Wohnzimmer schien sich zu vergrößern, während sich die Anwesenden immer weiter entfernten. Vor den aufblähenden Sinneseindrücken fliehend, konzentrierte sich Jim auf sein Innerstes und versuchte die Schmerzen weg zu atmen. Aber sein Körper verweigerte ihm auch das. Seine Rippen stemmten sich gegen seine Lunge, die verzweifelt um Sauerstoff kämpfte – aber nur einen Bruchteil dessen bekam, was sie benötigte. Rostiger Geschmack legte sich auf seine Zunge. Langsam verflüssigten sich die Ränder seines Sichtfeldes und die klebrige Tischdecke kam rasend schnell näher …
„Woah woah woah … JIM!!!“ Ron war aufgesprungen. Blitzartig griff er nach seinem Bruder, bevor dieser ohnmächtig auf den Tisch schlug. Die Härte, mit der Jim zurückgerissen wurde, ließ ihn keuchend gegen die Rücklehne sinken. Seine Augen irrten benommen über die Zimmerdecke.
Ron wurde kreidebleich. Selbst durch das Hemd konnte er die glühende Haut seines Bruders fühlen. Beängstigt sah er in Jims Gesicht. „Gott, – warum hast du denn nichts …!“ Er strich ihm über die Stirn.
Jim stemmte sich mühsam in die Höhe. „Ich … ich wollte doch nicht, dass du …“, brummte er.
„Du bist…ein …!“ Fassungslos schüttelte Ron den Kopf und wandte sich an Tiffany: „Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“
Entsetzte Blicke trafen ihn. Die Frauen waren von ihren Stühlen aufgesprungen. „Können wir irgendwie helfen“, fragte Tiffany.
„Ich glaube, Jim hat sich etwas zu viel zugemutet. Er macht schon seit Tagen mit dieser verdammten Erkältung rum“, erklärte Ron. „Er braucht nur etwas Ruhe.“ Behutsam schulterte er ihn und ging zur Tür.
Jim sah auf den Boden. Der Teppich unter ihm wurde zu zähem Morast, in dem er knöcheltief versank. Als er wie ein verschrecktes Reh zusammenzuckte, entwich ein leises Stöhnen seiner Kehle. Aber es war nicht dieses Stöhnen, das Ron erstarren ließ. Es war ein fürchterliches Geräusch aus Jims Brust. „Ich bring dich ins Zimmer“, flüsterte er und griff hastig nach der Türklinke.

24.12.2009; 23:30 Uhr, Bradshaw-Farm
Cole saß in seinem Lieblingssessel. Gedankenversunken beobachtete er die knisternden Flammen im Kamin. Zwischen seinen Fingern rotierte langsam ein Whiskyglas, dessen Inhalt bereits die Wärme seiner Hände angenommen hatte.
Unberührt stellte Cole es auf den Teewagen. Er schnaufte. Es gab sie also noch: Ritter gegen Dämonen – Jäger, die sich gegen die Geschöpfe der Dunkelheit stellten. Einsam und heimatlos riskierten sie, selbst gejagt von Polizei und FBI, täglich ihr Leben um das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse zu erhalten.
Betrübt glitt sein Blick auf die Standuhr. Ihr schweres Pendel schien von Sekunde zu Sekunde lauter zu schlagen. Noch dreißig Minuten bis Mitternacht.
Cole dachte an die Brüder. Sie waren noch so jung und doch lag in ihren Augen schon so viel Schmerz. Der Alte zog seinen Kopf in den Nacken. Wie sehr hatte er sich gewünscht, dass dieser Kelch an ihm vorüber gehen würde. Ein Seufzer stieß aus seinem Mund, als er sich erhob und auf das Stubenbuffet zuging. Langsam schob er einige Bücher zur Seite und holte eine hölzerne Kiste hervor, die dort seit Jahrzehnten vor neugierigen Blicken versteckt lag. Als er den Schlüssel drehte, sprang der Deckel auf, als hätte er nur auf diesen einen Moment gewartet. Zum Vorschein kam ein kleines, in Leder gebundenes Tagebuch. Coles Augen flogen über die eng beschriebenen Seiten. Es waren Beobachtungen, Recherchen und Berichte über das Grauen. Immer wieder tauchte zwischen den kurzen Texten und Skizzen der Name Grafton auf, untermauert mit Fotografien eines alten Brunnens und Zeichnungen eines Amulettes, das drei sich in den Schwanz beißende Hunde, die einen Kreis bildeten, darstellte. Coles Augen füllten sich mit Tränen, als er die letzte beschriebene Seite erreicht hatte. Dieser Bericht über die Jagd nach einem Aswang* wurde nie beendet. Der Jäger, dem dieses Tagebuch gehörte, hatte eine Sekunde Unachtsamkeit mit seinem Leben bezahlt.
Noch einmal griff Cole in die Schatulle. Zwischen seinen steifen Fingern hielt er einen Gegenstand, eingewickelt in einen Fetzen Stoff. Langsam schlug er das dunkle Material zur Seite. Im flackernden Licht der Flammen blitzte das silberne Amulett der keltischen Hunde auf.
Cole schloss die Augen. Er durfte diese Jäger – diese Brüder nicht in ihr Verderben rennen lassen. Sein Blick glitt auf die Uhr: 23:40 Uhr! Tief holte der Alte Luft, als er das Amulett in seiner Hosentasche verschwinden ließ und entschlossen aus der Stube schritt. Im Flur ergriff er seine Jacke und den Zündschlüssel des Pickup.
Eisige Kälte schlug ihm an der Haustür entgegen. Cole folgte dem schmalen Licht der Taschenlampe zum Lagerhaus. Über seiner Schulter hing die zerschlissene Ledertasche seines Freundes, bestückt mit dem Tagebuch und den wenigen Utensilien, die er für diesen Kampf benötigte. Er zog die Plane vom Pickup und überprüfte Gegenstände, die seit Jahren sorgfältig zusammengestellt, nur für eine einzige Nacht auf der Ladefläche bereitlagen.
Kreischend protestierte der Motor des alten Gefährtes gegen die bitterkalte Luft. Scheinwerfer flackerten auf, als sich der Pickup behäbig durch das schmale Tor des Lagerraumes zwängte und langsam über den Hof rollte.


25.12.2009; 0:05 Uhr, Tiffanys Bar
Verzweifelt trommelten Rons Fäuste gegen das schwere Holz. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis sich endlich die Haustür öffnete. Durch einen Schleier aus Tränen erkannte er Tiffanys verschlafenes Gesicht und griff nach ihrem Oberarm. Seine Finger bohrten sich in den weichen Stoff ihres Bademantels, als er sie aus der Tür zerrte.
Die Wirtin konnte sich gegen Rons unbarmherzigen Griff nicht wehren und sah ihn ängstlich an.
„Ich brauche Hilfe – Bitte!“, keuchte Ron, wandte sich abrupt um und hetzte wie vom Teufel gejagt, Tiffany hinter sich her zerrend, in Richtung Gästezimmer.
Als sie über die Pflastersteine eilten, wurden sie von einem gleißenden Licht erfasst. Bedrohliches Fauchen und Rattern wühlte sich durch den Nebel und eine mächtige Silhouette verfinsterte mit ihrem Schatten den Hof. Gelähmt starrten die Beiden in das blendende Licht, bis es erlosch. Es folgte der dumpfe Schlag einer Tür. Wenige Sekunden später eilte Cole den Beiden entgegen.
Sein Herz verkrampfte sich, als er Ron erkannte: „Es hat begonnen – Nicht wahr“, stieß er monoton hervor.

Weiterführende Erklärungen: * Aswang:
ein Guhl, ein leichenfressendes Wesen aus der philippinischen Mythologie. In anderen Gebieten ist der Aswang eine vampirähnliche Kreatur, die mit ihrer langen, dünnen und hohlen Zunge das Baby im Mutterleib einer schlafenden Schwangeren aussaugt.




*** Magie ***



Fahles Licht fiel auf Jims verschwitzte Haut. Pfeifende Geräusche in seinen Ohren unterbrachen die Stille ... bis sie ihn erneut heimsuchten. Die Wucht ihres Angriffes riss ihn aus dem Dämmerzustand. Sofort wölbten sich seine Rippen und sein Herz begann erneut zu flimmern. Es hämmerte lauter unter seiner Brust als der Klang beschlagener Hufe, die irgendwo ungebremst über Kopfsteinpflaster donnerten.
Gequält stemmte sich Jim gegen seine Fesseln. Er zog den Kopf in den Nacken, seine Muskulatur zitterte. Doch sein Schrei blieb stumm. Er wurde durch Leder blockiert, welches sich zwischen seine Lippen schnitt und verhindern sollte, dass ihm die eigenen Zähne die Zunge zermalmten.
Als sie endlich von ihm ließen, blieb nur Taubheit zurück. Absolute Finsternis umgab ihn. Blind, verlassen und verwirrt lauschte er und fragte sich, was das für ein pfeifendes Geräusch in seinen Ohren war.
Keuchend sank er zurück, warf den Kopf zur Seite und wandte sich einem fahlen Licht zu, welches durch die Fenster hereinsickerte. Grenzenlose Angst fraß ihn auf. Wieder zerrte er an den Stricken und Tränen glänzten in seinen Augenwinkeln, als sein Hilferuf, vom Leder zwischen seinen Zähnen zurückgehalten, in eigenem Speichel erstickte.
Jim war ihnen ausgeliefert. Er konnte nur warten und diesem hetzenden Geräusch in seinen Ohren zuhören - bis es schließlich verstummte: Es war sein Atem.

Schwere Schritte polterten über die alten Stufen der Holztreppe. Mit einem gewaltigen Stoß trat Ron die Tür auf und seine Finger tasteten über die Wand, suchten den Schalter. Im aufglimmenden Licht offenbarte sich ein Chaos. Alle Bilder waren von den Wänden gerissen. Zerbrochen in tausend Scherben lagen sie am Boden. Die Gardinen hingen in Fetzen. Möbel waren umgestoßen und der Inhalt der kleinen Küchenzeile hatte sich im gesamten Zimmer verteilt. Selbst in den Wänden zeigten sich tiefe Einschläge und Kratzer, aus denen immer noch der Putz rieselte.
„Was ist hier passiert?“, flüsterte Tiffany. Sie warf einen ängstlichen Blick über Coles Schulter, der in der Tür stehen geblieben war und ihr den Weg versperrte. Ihre Augen irrten fassungslos durch den Raum, um sich schließlich auf den Älteren der Barker zu heften. Aber Ron hatte keine Zeit für Tiffanys Fragen. Mit wenigen Sätzen war er am Bett und entfernte den Knebel zwischen Jims Zähnen. Sekunden später klatschte das zerbissene Leder auf den Boden. Ron sank auf die Knie und flüsterte: „Jim, Jimmy … ich bin hier“, er schluckte, „Ich … ich habe Hilfe … geholt. Jimmy hörst du? … Jim?“
Seine Stimme vibrierte. Als Jim nicht antwortete suchte er hastig nach der Halsschlagader. „Nein … nein … nein!“
Cole war mittlerweile auch am Bett angelangt und musterte den jungen Jäger. Ein schmales Rinnsal Blut, beginnend in seinen Mundwinkeln, trocknete bereits. Jims Lider flimmerten, schweißnasse Haare klebten auf seiner Stirn. Sein Hemd war zerrissen und der dürftige Verband über der Schusswunde blutdurchtränkt. Tiefdunkle Streifen lagen über seinen Rippen. Sie schienen die Konturen des Brustkorbes nachzuzeichnen. Unzählige Hämatome auf seinem Oberkörper offenbarten, dass er brutal zusammengetreten worden sein musste.
Aber Ron ignorierte die schweren Verletzungen. Seine Augen trafen auf den alten Farmer. „Kein Herzschlag“, presste er hervor und riss im gleichen Augenblick seine Faust nach oben. Pfeifend sauste sie durch die Luft und schlug hart auf das Brustbein des Jüngeren. „Jim!“, entfuhr es ihm, „du … wirst … hier … bleiben!“
Ein spitzer Schrei stieß in den Raum. Tina, vom nächtlichen Tumult wach geworden, war nun ebenfalls an der Tür angelangt. Augenblicklich wollte sie sich an ihrer Mutter vorbeidrängen. Doch Tiffany hielt sie zurück. Mit entsetztem Gesicht sahen Mutter und Tochter auf Jim, dessen Körper durch Rons Schläge immer wieder in die Höhe katapultiert wurde.
Tina begann sich energisch gegen den Griff ihrer Mutter zu wehren: „Er bringt ihn ja um“, schrie sie völlig außer sich. Hasserfüllt beobachtete sie wie Ron ungehemmt mit der Faust auf seinen Bruder einschlug. Nachdem Tina endlich begriff, was sich tatsächlich abspielte, sank sie zitternd in Tiffanys Arme.
Tiffanys Lippen pressten sich aufeinander. Als Jims nackter Oberkörper erneut nach oben schoss, wurde ihr schwindlig. Alles um sie herum schien zu verblassen und für einen Moment hatte sie den Eindruck, der junge Mann würde ihr in Zeitlupe entgegen fliegen. Wie gelähmt starrte sie auf sein Tattoo. Schließlich sah sie mit geröteten Augen fragend auf Cole, der ihrem Blick sofort auswich.
„Verdammt! Jim … komm schon“, keuchte Ron als seine Faust erneut niedersauste.
Mit einem tiefen Stöhnen riss Jim die Augen auf. Er schien allen Sauerstoff, der sich im Raum befand auf einmal einzusaugen. Sein Brustkorb weitete sich bis zum Zerbersten. Dann sank er keuchend in Rons Arm.
„So ist gut … atme Jim … A T M E!!!“ Ron war erleichtert. „Jimmy … komm …schon … ATME …“, murmelte er und spannte seinen Arm, hob Jim ein wenig an: „So ist´s gut! Atmen!“
Ron ließ ihm Zeit. „Jim! Sieh … mich an“, flüsterte er und tätschelte mit der freien Hand seine Wangen: „JIMMY … komm schon! Sieh mich an!“ Seine Stimme wurde fordernder.
Haltlos taumelte Jims Kopf von einer Seite zur anderen.
„Jimmy … Bitte! Sieh mich an …!“
Jim stöhnte. Er stemmte sich gegen die Fesseln. Aber auf Rons Stimme reagierte er nicht. Sein Körper funktionierte wieder – doch sein Bewusstsein schmolz unter sengendem Fieber.
„Jim …“, stieß Ron hervor. Seine Blicke wanderten hilflos über Cole`s Gesicht zu den Frauen. Tiffany und Tina hatten noch nicht verarbeitet, was sie gerade mit ansehen mussten. Kreidebleich standen sie da und rührten sich nicht.
„Er ist angegriffen worden“, entwich es Ron rau, „Sie haben ihn quer durch das Zimmer geschleudert. Ich ... ich … hatte keine Wahl! Ich musste ihn fesseln – ich konnte ihn einfach nicht halten!“
Cole seufzte als er seine Hand auf Rons Schulter legte. Mitfühlende, helle Augen musterten ihn. „Dein Bruder ist stark“, flüsterte der Alte und beugte sich über Jim, „Möglicherweise überlebt er diese Nacht.“ Er schnaufte entschlossen: „Aber zuerst muss das Fieber runter!“
Cole sah Tiffany an: „Wir brauchen eine Badewanne!“ Noch immer klebten Tiffanys Augen gebannt auf dem Tattoo. „TIFFANY!!!“ Coles energische Stimme riss sie aus ihrer Lethargie. Sie starrte ihn an, bewegte ihre Lippen. Aber die brennende Frage erstickte in ihrer Kehle.
Der Alte sprach ruhig weiter: „Gibt es hier eine Badewanne?“
„In der unteren Etage ist ein Zimmer mit Badewanne“, flüsterte Tiffany und verknotete ihr offenes Haar im Nacken zu einem Zopf. Sie atmete durch.
„Gut“, hauchte Cole, „wir brauchen Wolldecken, Laken und Salz!“
„Ich hole es!“ Tinas Stimme zitterte immer noch als sie dem Alten ins Wort fiel.
Der Farmer nickte. „Füllt die Wanne mit kaltem Wasser“, wandte er sich an Tina, „…legt die Decken auf den Boden.“
Tinas Blick fiel auf Jim. Er zuckte nervös, deutlich traten die Adern unter seiner Haut hervor, als er den Kopf zähneknirschend in den Nacken zog. Wie ein Heer aus winzigen Tropfen stieß Atem über seine Lippen.
Sofort drückte Ron seinen Bruder gegen das Bett. „Es fängt wieder an“, keuchte er und richtete sich auf, um der enormen Kraft die Jim aufbaute entgegenzuwirken.
Tina schlug die Hände vor ihr Gesicht. Hastig streifte Coles Blick das Mädchen: „Geht jetzt. Bereitet alles vor. Wir bringen ihn nach unten.“ Verzweifelt schüttelte Tina den Kopf. „GEHT“, fauchte der Alte. Seine buschigen Augenbrauen schoben sich zusammen.
Tiffany zerrte ihre Tochter wortlos in den Flur und schlug die Tür zu.
Eine unerklärliche Vibration hatte Jims Körper erfasst. Heftig wurde Ron beim Versuch Jim zu halten durchgeschüttelt und er war froh darüber, die Fesseln noch nicht gelöst zu haben.
Jims Atem erreichte eine lebensbedrohliche Frequenz und vermischte sich mit schaumigem Speichel. Ein leises Knirschen drang in die Ohren der Männer, die nun gemeinsam versuchten, den krampfenden Barker zu halten.
Wie eine Negativ-Fotografie zeichneten sich seine Rippen unter der bleichen Haut ab als Jims Brustkorb sich nicht mehr bewegte. Er stürzte wie ein Stein auf das Bett zurück. Abgehackte, fiepende Geräusche, die beim Versuch zu atmen aus seinem Mund drangen und von aufgerissenen Augen begleitet wurden, rissen Ron fast die Beine unter dem Körper weg. Jims Nerven ließen seinen leblosen Körper nur noch unregelmäßig zucken – wie bei einem sterbenden Tier.
„WAS IN GOTTES NAMEN IST DAS?“, spie Ron dem Alten ins Gesicht. Seine Stimme überschlug sich. Doch bevor der Farmer antworten konnte, wurde Jim erneut heimgesucht. Es war kein fieberndes Zittern, wie noch vor einer Sekunde. Es knackte auch nicht in seiner Brust. Stattdessen schien jemand voller Zorn auf ihn einzuprügeln und unsichtbare Hiebe rissen Jim gegen seine Fesselung. Nach jedem Schlag blieb für wenige Augenblicke der Abdruck eines Hufes zurück.
Ron warf sich schützend auf Jims Oberkörper. Vergebens – er wurde weggeschleudert, stürzte zu Boden und sprang wieder auf die Beine. Eine Kraft hielt ihn jedoch zurück und zwang ihn, zusehen zu müssen, wie sein kleiner Bruder fast zu Tode geprügelt wurde. Übermannt von Entsetzen wich Ron zurück. Jeder Schlag, der Jim erschütterte, traf in sein Herz. Jeder Schrei, der Jim entwich, explodierte in seinem Gehirn. An jedem keuchenden Atemzug, den Jim in die Luft stieß, drohte Ron zu ersticken. Und jedes knirschende Geräusch, das Jims Körper beim Versuch, den Fesseln zu trotzen, von sich gab, schien Ron die Knochen zu brechen. Blanke Verzweiflung ballte sich in seinem Magen zusammen. Als Ron schließlich den Kopf in den Nacken riss, um zu schreien, begann die Welt zu taumeln. Er bemerkte noch, dass es still um Jim wurde, bevor er ohnmächtig zu Boden sank.
Cole begann hektisch in seiner Hosentasche zu wühlen.

Die Erinnerung an die letzten Minuten katapultierte Ron rasch wieder in die Realität zurück. Er öffnete die Augen, zwang sich auf die Beine und taumelte zum Bett. Vor seinen Augen wirbelten Bilder durcheinander. Wie durch Nebelschleier erkannte er Cole, der sich über Jim gebeugt hatte.
„Was ist passiert?“, fragte Ron. Sein Blick eilte über Jim. Er war immer noch nicht bei Bewusstsein. Seine Lippen bebten und keuchend wand sich sein Körper im Fieber. Aber er atmete, denn seine Lunge durfte sich wieder ausdehnen. Die Rippen gaben ihr gehorsam nach.
„Sie sind weg“, antwortete Cole und strich Jim eine Strähne von der Stirn. Dann hob er den Kopf. Seine hellen Augen wirkten eisig. „Wir müssen das Fieber bekämpfen, Ron – es wird ihn sonst umbringen!“
Rons Kiefer zuckten. „Was ist das?“, entwich es ihm rau, als sein Finger auf das Amulett der keltischen Hunde zeigte. Es lag nun auf Jims Brust.
„Es wird sie für eine Weile abhalten – sie irritieren“, erklärte der Alte, „lass uns Jim nach unten bringen. Es wird eine lange Nacht!“
Zorn loderte in Rons Augen, als seine Hand auch schon über das Bett hinweg nach dem Farmer griff. „Was geht hier vor?“, schrie er und zerrte heftig am Kragen des Alten, „Cole! … Was weißt du?“
„Mein Gott!“, flüsterte Cole atemlos, nachdem ihn Ron erzürnt zurückgestoßen hatte. Er schloss für einen Moment die Augen, als könnte er den geschundenen Körper vor sich nicht mehr ansehen. „Sie hätten ihn längst zu Tode getrampelt, wenn …“, betroffen und zugleich erstaunt murmelte er weiter: „Wenn … wenn seine Rippen nicht…-“
Ron sah ihn entsetzt an. Mit rauer Stimme fiel er dem Alten schließlich ins Wort: „… aus Eisen wären!“

Diese Nacht war eine ihrer Nächte…
Seit ewigen Zeiten irrten sie verflucht, wegen ihrer grausamen Taten durch die Sphären. Angetrieben von Hass, Neid und der Suche nach Erlösung stießen sie ihren gewaltigen Rössern die Sporen in die Flanken und hetzten sie durch die Jahrhunderte. Wer sich ihnen in den Weg stellte, wurde von schweren Hufen zermalmt oder von einem grausamen Rudel wilder Hunde, die dem seelenlosen Heer voraus eilten, zerfleischt.
Immer wieder hatten sie versucht, nach einem Herzen zu greifen - in der Hoffnung, ihr Herz zu bekommen: Ein reines Herz, dass ihnen Erlösung versprach. Aber das Gesetz hatte es ihnen verboten. Nur dem Blut, das dem ihren glich – nur der Schuld, die der ihren glich, durften sie sich bemächtigen. Seit diesen Tagen füllten sich ihre Reihen mit Mördern und Schlächtern, in deren Brust schwarze Herzen schlugen.
Endlich – hatten sie ihr Lamm gefunden. Endlich durften sie hoffen und endlich war dieses zweigeteilte Herz, das sie sich ersehnten, zum Greifen nah. Ein braves Herz, am Leben erhalten von bösem Blut. Ihn durften sie holen, sein Blut war so unheilvoll wie das ihre. Voller Verlangen hatten sie versucht, ihn auf ihre Seite zu zerren um SEIN Herz zu bekommen.
Vergeblich! Denn SIE hatte es auch gespürt und ihn berührt. SIE vermochte nicht, ihren Zorn zu besänftigen- und so hatte SIE das Einzige getan, was in ihrer Macht stand: Perchta hatte ihrem Krieger ein Schutzschild geschenkt. Eine eiserne Rüstung, die den Griff der Bestien - ihre Tritte und Hiebe abwehrte – die einem ganzen Heer verfluchter Seelen standhielt.
Verborgen unter seinem Fleisch legten sich stählerne Rippen schützend um sein Herz und die weiße Magie des reinen Eisens verhinderte, dass sie Jim in ihre Welt reißen konnten.




25.12.2009; 0:45 Uhr, Grafton, Tiffany`s Bar
Es war so unerträglich heiß. Gleich unzähligen Nadeln stach die Luft in seiner Lunge und verdampfte zischend, als sie über seine schmalen Lippen entfloh. Jim wagte es nicht, seine Augen zu öffnen. Er wurde von grenzenloser Angst beherrscht, wieder in eine dieser abscheulichen Fratzen blicken zu müssen, die ihn geschlagen und getreten hatten, wie einen räudigen Hund.
Woher kam nur dieser unbändige Zorn? Jim stöhnte leise.
„Jim“, flüsterte Ron.
Zuckend wandte sich Jims Kopf der Stimme zu.
„Jimmy!“ Ron hatte sich hinab gebeugt. Zaghaft, als hätte er Angst, seine Berührung würde dem Bruder weitere Qualen zufügen, legte sich seine Hand auf die glühende Stirn.
Jim bemerkte, wie sich die Fesseln an seinen Gelenken lösten. Durch eine Wand aus Hitze und Schmerz, spürte er hektische Aktivität um sich herum. NEIN - Er war nicht mehr allein. Wahrscheinlich wollten sie ihn endgültig verschleppen, nur um ihn wieder zu quälen.
Vorsichtig löste Ron die Seile. Unter der Gewalt, mit der Jim gegen die Stricke gerissen wurde, hatten sie sich zusammengezogen und schnitten tief in seine Haut. Rote Rinnsale versickerten im Gewebe des Lakens.
Gefasst auf einen weiteren Angriff, konzentrierte sich Ron auf jede Regung, die er in Jims Gesicht wahrnahm - oder wahrzunehmen glaubte. Er hoffte so sehr, Jim würde ihm einen Blick zuwerfen, der verriet, dass sein Bewusstsein wieder die Oberhand gewann. Seine Augen ruhten schließlich auf dem Amulett, das bei jedem Atemzug aufblitze – immer dann, wenn sich der Schein der Lampe im polierten Silber spiegelte. Wenigstens schien dieses Amulett – welche Kraft es auch immer nutzte - zu wirken. Jims Peiniger kamen nicht zurück.
Cole half Ron, den Jüngeren aufzurichten. Schwer und widerspenstig, taumelten fiebernde 1,96 Meter Jäger in ihren Händen. Es schien, als sträube sich Jims Körper gegen jede Veränderung. Seine Lider flatterten unruhig, die Lippen zitterten und seine feuchte Haut ließ die helfenden Hände immer wieder abrutschen.
Ron ächzte: „Das wird schwer werden.“ Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und setzte sich.
Der Faustschlag traf ihn völlig unterwartet. Noch ehe Ron begriff, legten sich Jims Finger fest um seinen Hals und drückten mit der Entschlossenheit purer Verzweiflung zu. Die geweiteten Pupillen in Jims Augen verrieten einen Fiebertraum, weit abseits seines Bewusstseins.
„Jim … ich bin’s“, knarrend quälte sich Rons Stimme durch die zugeschnürte Kehle. „Ji… m – du erwürgst mich!“ Der Blutstau ließ die Adern hinter Rons Schläfen pulsieren. Töne wurden zu Farben und Farben zu Tönen. Ihm tanzten Sterne vor Augen.
Nur mit Coles Hilfe gelang es Ron, sich vom Würgegriff seines Bruders zu lösen. Hustend beobachtete er Jim. Dieser schlug wild um sich, warf seinen Kopf von einer Seite auf die andere.
„Jim … verdammt“, keuchte Ron und packte blitzschnell zu. Blut tropfte aus seiner Nase. Es regnete ins Laken, als er Jim auf das Bett presste. Seine Gegenwehr ließ allmählich nach – oder sein Wille zu Überleben verebbte einfach nur. Wie einen Ertrinkenden rissen weitere Fieberschübe Jim immer tiefer in den nächsten Alptraum.

Wie sie es schließlich geschafft hatten, Jim die schmale Treppe nach unten zu bringen, entzog sich ihrer Erkenntnis. Viel zu schmal, zu steil und zu alt waren die 22 Holzstufen, die in die untere Etage führten. Ein endlos lang erscheinender Weg.
Ron und Cole hatten Jim gezerrt, geschoben und gedrückt. Sie hatten um jeden Meter gekämpft. Außer Atem standen sie nun im Bad und sahen auf eine altmodische Badewanne, halb gefüllt mit kaltem Wasser.
Jim wankte, der Welt komplett entrückt, auf einem Holzstuhl. Ron hatte ihm die Kleidung ausgezogen. Lediglich eine Shorts klammerte sich noch um seine Hüften.
Fassungslos verfolgten Tiffany und Tina, die Ereignisse. Sie hatten sich an die geflieste Wand zurückgezogen, um nicht im Weg zu stehen. Beim Anblick der vielen Verletzungen sammelten sich erneut Tränen in ihre Augen.
„Das war doch kein Anfall, oder so was?“ Tiffanys kühle Frage war mehr nach einer Feststellung und verlangte keine Antwort.
Behutsam strich Ron die braunen Strähnen aus Jims Stirn. „Vielen Dank“, flüsterte er aus tiefstem Herzen den Frauen zu, „aber ihr solltet jetzt besser gehen. Ich kümmere mich um ihn.“
Cole nickte den Frauen zu. Doch als er in Tiffanys Gesicht sah, zog sich sein Herz zusammen. In ihren Augen brannte eine weitere Frage. Es war die Frage vor der er sich zwanzig Jahre lang gefürchtet hatte.
Tiffany konnte einfach nicht mehr wegsehen, nicht mehr ignorieren, was sich ihr unumstößlich aufdrängte. Sie fixierte das flammenbewaffnete Pentagramm, das ihr mit jedem Atemzug des jungen Jägers spottend entgegensprang.
„Cole“, hauchte sie. „Warum … warum …“, verzweifelt biss sie sich auf die Unterlippe, „warum … hat dieser Mann die gleiche Tätowierung, wie … Dylan?“ Ihre Worte waren so zerbrechlich, wie die Eiskristalle an den Fenstern und doch hallten sie im Zimmer wider – lauter als ein Schrei.
Tinas Blick flog ungläubig auf das Gesicht ihrer Mutter und Cole stieß geräuschvoll Luft aus seiner Nase.
Ron erstarrte in seiner Bewegung. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. In Zeitlupe schossen ihm Tiffanys Worte durch den Kopf: „Dylan behauptete immer, dieser Ort sei seine Bestimmung … gemeinsame Jagd in den Wäldern … er starb bei einem Jagdunfall …!“ Seine Stimme war nicht wirklich überrascht, als er antwortete: „Weil Dylan ein Jäger war – wie mein Bruder … und ich.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er Tiffany in die Augen sah. „Dylan wusste, dass sich hier ein Portal öffnen würde und blieb, um die Katastrophe zu verhindern“, schlussfolgerte er.
Cole nickte stumm und begann fieberhaft in seiner Umhängetasche zu suchen. Schließlich reichte er Tiffany ein altes, in Leder gebundenes Tagebuch und einen versiegelten Brief. Das Papier war spröde, vergilbt und zerknittert.
„Leider konnte Dylan seine Bestimmung nie erfüllen“, berichtete der Alte. „Als er in meinen Armen starb, musste ich ihm versprechen, sein Geheimnis niemals Preis zu geben.“ Zitternd schoben seine Hände das Vermächtnis des Jägers seiner rechtmäßigen Besitzerin zu. „Nur … wenn die Prophezeiung eintreffen würde – wenn die Brüder auftauchen und die Grenzen sich auflösen würden – dann solltest du es erfahren, Tiffany.“
Die Wirtin schüttelte ungläubig den Kopf. Das wollte sie nicht hören. Das konnte sie einfach nicht fassen. Ihre Erinnerungen an ein ganzes Leben stürzten in sich zusammen, wie ein Kartenhaus.
Betrübt senkte Cole den Blick. „Es tut mir so leid, Tiffany – Dylan war nicht der, für den du ihn gehalten hast. Aber er wollte dich nie in Gefahr bringen. Er wollte dich nie belügen … er hat dich geliebt.“ Plötzlich schnaufte er, als wollte er sich selbst Mut machen: „Bitte geht jetzt! Wir müssen einen Jäger retten.“ Für einen Augenblick wurde seine Stimme wieder zerbrechlich: „Ein halbes Leben ist es her – da habe ich einen Jäger verloren. Das passiert mir kein zweites Mal!“
Sehnsüchtig und voller Schmerz streiften Tinas Augen noch einmal über Jim. Sie wusste nicht, was der alte Cole mit JÄGER meinte und diese Prophezeiungen waren ihr egal. Tina hatte nur einen Wunsch: Sie wollte Jim in ihre Arme schließen – ihm seinen Schmerz nehmen und ihm beistehen. Sie kannte ihn erst seit drei Tagen, aber noch nie in ihrem Leben war sie von einem Mann so berauscht gewesen. Nie zuvor hatte sie in solche unergründlich tiefen Augen gesehen. Und bei Gott – noch nie im Leben hatte sie einen so makellosen Körper erblickt. Selbst all die Prellungen und Narben vermochten es nicht, seine geheimnisumwitterte Schönheit zu verderben. Tina senkte die Augen und folgte widerstandslos ihrer Mutter aus dem Zimmer. Eins war ihr in den letzten Stunden klar geworden: Sie liebte diesen großen Unbekannten von dem sie nichts weiter wusste, außer seinem Namen. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ihr war auch klar geworden, dass er wieder gehen würde.

„Ron! … Das Salz“, fordernd sah Cole auf den kleinen Stapel Streusalz-Tüten, der neben der Tür lag.
„Okay“, antwortete Ron und wollte augenblicklich die Fenster und Türen damit versiegeln.
„Nicht vor die Tür“, raunte Cole kopfschüttelnd: „Ins Wasser!“
Verwirrt griff Ron nach der ersten Tüte, um ihren Inhalt in die Badewanne rieseln zu lassen.
„Du hast Recht mit deiner Vermutung, Ron“, murmelte der Alte. „Hier öffnet sich ein Portal.“ Er schnaufte: „Der Brunnen ist das Tor und das Wasser aus ihm der Pfad. Wir wollen den Reitern bei der Suche nach Jim nicht auch noch Brotkrumen auf den Weg streuen. Das Salz im Wasser wird sie fern halten, wie jedes dämonische Wesen.“
Ron nickte. Das war einleuchtend.
Noch einmal stand ihnen ein kräftezehrender Akt bevor. Mit angespannten Gesichtern und zusammengebissenen Zähnen hievten Ron und Cole Jim in die Wanne. Ron hatte seine Arme unter Jims Achselhöhlen geschoben, während sich Cole mit den langen Beinen des Jägers abmühte.
Schließlich glitt Jim in das kühlende Wasser. Sanfte Wellen umspülten seine fiebrige Haut. Sie wuschen Schweiß und Blut ab, wie eine unerwünschte Erinnerung. Langsam stiegen vom Körper des Jägers blutrote Wolken hinauf und vermischten sich mit dem funkelnden Nass.
Ron sank erschöpft neben der Badewanne zu Boden. Seine Augen glitten fragend zu Cole, der auf dem freigewordenen Stuhl Platz genommen hatte.
„Wenn es doch vorbei ist“, schnaufte Ron. Seine Worte waren mehr eine Bitte, als eine Feststellung. „Warum hat Jim dann so heftiges Fieber? Das ist doch nicht normal.“ Erneut betrachtete er seinen Bruder und murmelte: „Was quält dich so, Jimmy?“
„Dein Bruder ist anders als du … nicht wahr?“ Coles Stimme riss Ron aus seinen Gedanken. Er zuckte zusammen und seine Augen trafen ängstlich auf den Alten, der mehr zu wissen schien, als es ihm lieb war.
„Natürlich ist Jim anders als ich. Wir sind Brüder, aber keine Zwillinge“, antwortete er schnell und neigte den Kopf. Cole hörte dem Älteren aufmerksam zu, als dieser weiter leise sprach: „Jim ist wohl besonnener als ich. Allerdings ist er auch ziemlich dickköpfig.“
Cole lächelte sanft, bevor sich ein dunkler Schatten auf sein Gesicht legte: „Aber das meinte ich nicht, Ron“, flüsterte er und sah den Jäger fordernd an: „Jim ist anders als … ALLE Menschen!“ Seine buschigen Brauen schoben sich zusammen.
Coles letzte Worte rammten sich wie der Stachel einer Hornisse in Rons Herz.
„Jim hat eine …“, betroffen schluckte der Alte, „… eine dunkle, nichtmenschliche Seite. Nicht wahr?“
Rons Lippen begannen zu beben. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als der dem Blick des alten Farmers nicht mehr ausweichen konnte. „Jim ist der menschlichste Mensch, den ich kenne“, stieß er verzweifelt hervor.
Cole nickte, neigte seinen Kopf und widersprach: „Und doch ist er anders!“
Ron schnappte gequält nach Luft. „Es ist nicht seine Schuld.“ Sein Kopf zog sich kurz in den Nacken. „Er war noch ein Baby - Cole!“ Verzweifelt sah Ron in helle Augen die sich mitfühlend auf ihn richteten. „Dieser verdammte Dämon“, fluchte er, „hat sein Blut vergiftet.“ Wütend schlug Ron mit seinen Händen auf den kalten Fliesenboden. „Verdammt! Jimmy war 6 Monate alt.“ Schnaufend atmete er aus, „SECHS MONATE ALT … hörst du Cole!“ Ron neigte den Kopf, seine Stimme wurde leiser. Schluchzend vergrub er das Gesicht in seinen Händen. „Dieses verdammte Blut! Es ist wie ein Fluch“, flüsterte er. „Jim ist stark! Er kann es unterdrücken – es kontrollieren. Jimmy ist nicht gefährlich!“
„Ron! Ich glaube dir.“ Cole legte seine Hand auf Rons Schulter. „Aber es ist diese dunkle Seite in Jim, die sich jetzt gegen seine Rippen wehrt und das Fieber verursacht. Es ist Jims Blut, das die dämonischen Reiter magisch anzieht!“
„Ich weiß“, entgegnete der Ältere. „Jeder verdammte Höllenhund, jede verdammte Bestie, die irgendwo im Dunkeln lauert, streckt ihre verfluchten Griffel nach meinem Bruder aus!“ Voller Zorn ballten sich Rons Hände zu Fäusten, als er weiter sprach: „Aber egal, was sie versuchen – ich werde es verhindern. Ich werde Jim beschützen.“
Cole nickte weise: „Ich weiß, Ron! Genau aus diesem Grund seid ihr beide hier.“
Der alte Farmer setzte sich wieder auf den Stuhl. Er betrachtete Jim. Es sah aus, als würde der junge Jäger zwischen zwei Welten schweben. Sein Kopf war zur Seite gefallen und das leichte Zittern seines Körpers übertrug sich auf das Wasser. Sanft kräuselten sich kleine Wellen auf der Oberfläche und reflektierten im Rhythmus seines Atems das Licht.
Leise begann der Farmer Cole Bradshaw zu erzählen:

„Wenn die Hallen der verlorenen Seelen überquellen … wenn die Klagen der Opfer ungehört in ihren finsteren Gewölben verstummen, dann werden sie sich gegen ihre Peiniger erheben und es wird ein Krieg ausbrechen, der Welten verschlingt! Nur eine Seele, in dessen Brust zwei Herzen schlagen – eine Seele, die Opfer und Peiniger zugleich ist, vermag es, diesen Krieg zu verhindern.
Geschützt vor den Schlächtern, durch die Magie des Eisens und gemieden von den Opfern, wegen seines unheilvollen Blutes, wird er sich zwischen die Fronten stellen und ihre Klagen, geschrieben in Blut, lesen.
Erst wenn die letzte Geschichte erzählt, das letzte Wort erhört und der letzte Buchstabe gezeichnet ist, werden sie besänftigt sein und in Frieden ziehen. Aber der Krieger wird besudelt sein mit Blut. Beraubt seiner Seele, beladen mit Leid wird ihm die Rückkehr ins Licht aus eigener Kraft nicht mehr gelingen. Nur jener, welcher sein Geheimnis kennt und bereit ist, dem Tod zu trotzen, wird seine Hand ergreifen können, um ihn dem Schoß ewiger Verdammnis zu entreißen.“


*** Rekruten ***



25.12.2009; 03:30 Uhr, Grafton, Tiffanys Bar
Es war still geworden im kleinen Ort Grafton. Nebel knisterte wie Papier, als er sich immer weiter zu einer undurchdringlichen Wand verdichtete. Das Licht, welches aus den kleinen Fenstern des Pubs nach außen fiel, versickerte wie Wasser in einem Schwamm.
Nur eine Person saß einsam an einem der Tische. Tiffany hatte sich gedankenversunken über das Whiskyglas in ihren Händen gebeugt. Vor ihr lag ein zerknittertes Stück Papier und ein altes Tagebuch.
Nachdem Tina in ihr Zimmer geeilt war, um Tränen in ihr Kopfkissen zu vergießen, war die Wirtin in die Gaststube gegangen. Wahrscheinlich aus Gewohnheit oder aus der Hoffnung heraus, ein Stimmengewirr von Gästen würde heute die erdrückende Stille brechen. Aber es war niemand da. Diese Nacht war so still wie ein Grab. Tiffany stellte seufzend das Glas zur Seite und griff wieder nach dem Brief, um die Worte noch einmal zu lesen. Sie wollte einfach nicht glauben, was dort geschrieben stand. Immer wieder flog ihr Blick über das alte Papier zwischen ihren Fingern.

Meine geliebte Tiffany,
… ich weiß nicht, wie viele Jahre inzwischen vergangen sind. Ich weiß auch nicht, wie alt unsere Tochter jetzt ist und ob ihr beide überhaupt noch in Grafton lebt, oder längst irgendwo ein neues Leben begonnen habt. Ihr hättet es verdient und ich wünsche euch nichts aufrichtiger.
Aber wenn du diese Zeilen liest, ist wohl eingetroffen, wovor ich mich ein Leben lang gefürchtet habe. Nicht nur, dass ich nicht mehr bei meiner geliebten Familie sein darf, sondern nun auch noch von euch verlangen muss, zu Ende zu bringen, was mir nicht mehr möglich ist.
Mein Gott – ich hätte alles gegeben, um mein Töchterchen einmal im Arm halten zu dürfen, sie aufwachsen zu sehen und jetzt bei euch zu sein, um euch zu beschützen.
Aber ich weiß auch, dass mein alter Freund Cole die ganzen Jahre lang über euch gewacht hat, damit euch nichts geschieht. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Bitte denke nicht schlecht über Cole. Er musste mir versprechen, über mein wahres Leben und die Umstände meines Todes zu schweigen.
Ich hatte immer die Hoffnung, dass dieses Ereignis an dir vorbei geht und ich dir die grausige Wahrheit ersparen könnte. Das war einfältig und wie sich nun herausstellt, ein unerfüllbarer Wunsch.
Verzeih mir bitte!
Ich weiß - du hast dich immer gefragt, warum mir dieser Ort so wichtig war.
Meine Liebste, du musst mir glauben: Es gibt Straßen auf denen Seelen wandern. Ich weiß nicht, woher diese Straßen kommen oder wohin sie führen. Aber ich weiß, dass dieser Ort eine Kreuzung solcher Straßen ist. Eine Kreuzung für Straßen, die überquellen, weil sie zu schmal geworden sind für den unendlichen Strom aus Leid und Schmerz.
Meine liebste Tiffany, alles was Cole dir erzählen wird, ist wahr.
Es gibt die dunkle Seite und, ja – ich war ein Jäger und habe versucht, wie viele andere, mit denen ich dieses Schicksal teile, das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse zu erhalten. Ich habe verloren. Ich musste gehen und das wichtigste in meinem Leben zurück lassen: Euch!
Jäger - zwei von ihnen wirst du kennenlernen. Ihr Erscheinen kann Segen oder Verdammnis sein. Ich weiß nur: Wenn die Temperaturen stürzen, tauchen zwei Brüder auf - Jäger wie ich, deren Schicksal es ist, diesen Strom aus Hass und Wut abzuwenden. Wenn es also so weit kommt, das zwei sterbliche Seelen aus gleichem Fleisch und Blut durch die Dimensionen reisen, wird Cole das keltische Kreuz aufstellen – ein Artefakt, das ein Tor öffnet, um ihnen den Weg zurück zu ermöglichen und gleichzeitig verhindert, dass eine Welt in die andere stürzt.
Aus dem Schoß der Erde müssen die Brüder diesen Tunnel gemeinsam passieren. Aber das werden sie nur mit deiner und Coles Hilfe schaffen. Cole hat alles für diese Nacht auf seinem Pickup – das weiß ich, denn wir haben es vor Ewigkeiten so beschlossen.
Aber den Text für das Ritual, das den Spalt öffnet, hast du, meine Geliebte. Er ist versteckt hinter unserem Foto – deinem Lieblingsfoto – weiß du noch? Von unserem einzigen gemeinsamen Urlaub … wir waren damals so glücklich!
Selbst wenn es dir nach diesen Zeilen nicht mehr möglich ist, dies für mich zu tun. Glaub mir, ich würde es verstehen, denn ich weiß – diese Lüge, mit der du all die Jahre gelebt hast und die ich dir antat, ist unverzeihlich - so tu es dennoch für unsere Tochter.
Verhindere, dass die Welt im Blut ertrinkt.
Auch wenn das, was ihr sehen werdet, eure Vorstellungen sprengt, auch wenn ihr glauben werdet, es gibt niemals ein Zurück … verharrt und empfangt die Brüder, wenn sie zurückkehren. Sie werden verletzt und hilflos sein. Sie werden ohne eure Hilfe an ihrem Leid erfrieren – und das haben sie nicht verdient.
Meine geliebte Tiffany, mir war immer bewusst, dass ein Leben als Jäger kurz und gefährlich ist. Zu kurz, um eine Familie gründen zu dürfen und zu gefährlich, es zu riskieren, geliebte Menschen mit in diesen Strudel zu reißen.
Aber ich habe es trotzdem gewagt und geschwiegen – weil ich dich liebe. Ich schwieg, weil ich euch nicht in Gefahr bringen wollte.
Und doch stelle ich euch nun vor den Abgrund. Es tut mir so leid.
Mein Engel, ich habe keine Sekunde an deiner Seite bereut – auch wenn ich dafür in die Hölle gehe. Das musst du mir glauben.
In Liebe Dylan

Mit einem Schluck lehrte Tiffany ihr Glas und schüttelte sich. Eigentlich trank sie nie Whisky. Aber trotzdem schenkte sie noch einmal nach. Vielleicht waren die Tränen in ihren Augen das Resultat des brennenden Alkohols.
Seufzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Was sollte sie nur tun? Begannen alle Menschen in ihrer Umgebung plötzlich durchzudrehen? Ein Leben lang stand sie mit beiden Beinen fest auf dem Erdboden und nun sollte sie an Geister glauben? War Dylan verrückt gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte?
Was war mit Cole? Warum wusste er so viel? Warum wusste er, wie Jim zu helfen war?
JIM! Was war nur mit ihm passiert? Wer hatte dem Jungen solche Verletzungen zugefügt und die Einrichtung dermaßen zertrümmert? Tiffany hatte schon epileptische Anfälle miterlebt, bei denen die Unglücklichen durch Muskelkontraktionen mitunter heftig ins Zucken gerieten und sich durchaus selbst verletzten konnten. Aber das? Das war eindeutig ein Angriff. Ein unsichtbarer Angriff!
Sie schüttelte den Kopf: jetzt sah sie wirklich schon Gespenster!
Tiffany schloss die Augen … aber dieses Tattoo! Warum hatte Dylan auch so eine Tätowierung gehabt? Dieser ganze Irrsinn hatte mit den Morden vor einigen Tagen begonnen. Ein Portal? Straßen voller Seelen, die sich kreuzen? Dunkle Mächte, die in ihre Welt drängten und Männer, die gegen Dämonen kämpften? Ein unheimliches Ritual? Ihr Blick fiel auf das Tagebuch, dessen Inhalt schrecklicher war, als sie es sich je hätte vorstellen können. Tiffany seufzte leise. Das war alles schlimmer, als eine dieser kranken Geschichten von Stephen King. Leise stöhnend drücke Tiffany ihren Rücken gegen die Lehne des Stuhles, als sie hilfesuchend nach oben sah. Dabei hatte alles so wunderbar angefangen. Sie mochte diese Brüder.
Plötzlich sackte ihr Körper zusammen und schlug ohnmächtig auf den Tisch. Das Glas hatte sie dabei zur Seite gestoßen. Es glitt über die polierte Oberfläche, stürzte zu Boden und zerbrach. Eiswürfel kreiselten in einer braunen Pfütze, die sich auf den Holzdielen ausbreitete.

25.12.2009; 5:30 Uhr, Tiffanys Bar
Als die Kälte der Steinfliesen seinen Körper erzittern ließ, wachte Ron auf. Langsam öffnete er die Augen und versuchte sich aufzurichten, sein Körper war steif und ungelenkig. Seine Gedanken, immer noch wie in Watte versunken, wirbelten durcheinander. Wasserpfützen funkelten ihm entgegen. Rons Stirn kräuselte sich, während er mit einer Hand seinen schmerzenden Rücken massierte.
Warum war er so plötzlich eingeschlafen? Diese Pfützen erinnerten ihn an Fußspuren.
Wie ein Blitz kam die Erinnerung zurück: JIM! Hastig drehte er seinen Kopf zur Wanne. Sie war leer! Seine Blicke irrten durch den Raum und erfassten Cole. Der Farmer war auf seinem Stuhl zusammengesunken. „Cole“, flüsterte Ron, „He Cole, wach auf!“ Trotz aller Bemühungen rührte sich der Alte nicht.
Ron wurde lauter. Er versuchte aufzustehen, um Cole wachzurütteln. Ächzend presste er seine Handflächen gegen das kalte Nass am Boden und versuchte sich in die Höhe zu stemmen. Warum war sein Körper taub?
„Hey Cole – verdammt, wach auf! Hier stimmt was nicht“, krächzte Ron. Selbst seine Stimme schien sich ihm zu verweigern.
Der alte Farmer gab keinen Mucks von sich. Langsam wurde es Ron unheimlich. War Cole vielleicht ohnmächtig – oder tot?
„Ron … “, drang es lang gezogen, aber vertraut an seine Ohren: „Er schläft! Du wirst ihn nicht wecken können!“
Erschrocken fuhr Ron herum und suchte nach Jim. Dieser stand im Halbdunkeln am Fenster und sah hinaus. Er zitterte leicht.
„Jim?“ Ron war erschöpft zu Boden gesunken und lehnte an der Wanne. Sein Körper war schwer wie Blei. Die Augen zu Schlitzen verengt, versuchte er, Jim in der Dunkelheit zu fixieren. Schwach zeichnete sich sein hochgewachsener Körper gegen das Fenster ab. Wassertropfen perlten ihm aus dem Haar und glitten über seinen Rücken.
„Mein Gott, Jimmy! Geht es dir gut“, flüsterte Ron und versuchte erneut, sich zu erheben. Warum war er nur so kraftlos?
„Ich denke schon“, antwortete Jim leise. Unbeirrt starrte er in den Nebel über dem Parkplatz.
„Was ist passiert“, wollte Ron wissen. Es war ihm gelungen, endlich auf die Beine zu kommen. Taumelnd wie ein Betrunkener, näherte er sich seinem Bruder.
„Nichts ist passiert – noch nichts“, antwortete Jim, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Ron war an ihn herangetreten. Er spürte die Kälte, die Jims Körper abstrahlte. Sein Bruder musste die Wanne kurz zuvor verlassen haben. Ron versuchte, einen Blick über Jims Schulter zu werfen, um zu sehen, was er da draußen beobachtete.
„Was ist mit Cole“, fragte Ron leise.
„Er schläft. Sie schlafen alle“, hauchte Jim gegen die vereiste Scheibe. „Der ganze verdammte Ort ist im Schlaf erstarrt.“
Rons Brauen schoben sich grübelnd zusammen. „Was geht hier vor?“ Jim schien nach irgendetwas Ausschau zu halten. „Warum kann ich Cole nicht wecken?“
„Weil sie es nicht wollen“, seufzte Jim. „Eigentlich solltest du auch schlafen“, bemerkte er erstaunt und sah abrupt in Rons Gesicht. „Kannst du sie auch hören?“, fragte er und neigte seinen Kopf. Rons vor Schreck geweitete Augen ließen Jim unberührt: „Ich kann sie hören. Sie kommen“, flüsterte er weiter.
Ron wich zurück. „Jimmy was ist mit deinen …?“
Auf der Stirn des Jüngeren bildeten sich Kummerfältchen, als er erklärte: „Sie werden sie alle holen.“ Wieder neigte er den Kopf. „Niemand wird es verhindern, weil alle schlafen!“ Nach dieser Feststellung schluckte er trocken.
Kalte Schauer liefen über Rons Rücken. Sanft wie immer begegnete ihm Jims Blick – aus einem menschlichen blaugrauen und aus einem dämonischen gelben Auge.
Ron versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Sagte man nicht, die Augen seien der Spiegel der Seele? Sein Herz pochte. „Wen werden sie holen, Jimmy“, fragte er und bemerkte, wie eine Träne aus Jims menschlichem Auge floss.
„Die dunklen Herzen – um ihre Reihen zu füllen“, antwortete Jim leise. Seine Augenbrauen schoben sich zusammen, als er Ron fragte: „Warum haben sie mich nicht geholt? Warum haben sie von mir abgelassen?“ Seine Stimme vibrierte: „Ich habe das dunkelste Herz von Allen!“
Plötzlich ertönte ein lautes, aufdringliches Kreischen im Nebel. Der schrille auf und abschwellende Warnton hallte in den menschenleeren Gassen von Grafton wider. Doch niemand nahm Notiz davon. Aufgeschreckt durch den Lärm riss Jim den Kopf hoch. Kurz streiften seine Augen den Bruder, bevor sie sich wieder auf den gepflasterten Hof richteten. „Hörst du sie Ron? Sie rekrutieren alle“, murmelte er.
Ron stellte sich neben Jim und folgte seinen Blicken. „Was ist das für ein Geräusch, Jimmy?“ Seine Stimme zitterte. Er ahnte es. Immer mehr dieser kreischenden Töne mischten sich zu einem fordernden Gesang. Manche ganz nah und andere weit entfernt. Es hörte sich an wie das Geheul eines versprengten Wolfrudels, welches nun dem Alphatier, das zur Jagd aufrief, antwortete.
„Es sind Alarmanlagen“, erklärte Jim. Dann wandte er sich vom Fenster ab und sah in Rons Augen. „Hast du es denn vergessen, Ron? Grafton ist Sitz des Staatsgefängnisses Lobrain Correctional Institution und einiger anderer Gefängnisse.“ Jim atmete ein. Seine Brust bebte und Tränen liefen über seine Wangen, als er mit rauer Stimme weiter sprach: „Steinerne Gebäude voller Mörder, Vergewaltiger und Schwerverbrecher. Ungezählte dunkle Herzen voller Hass und zu allem bereit.“ Er stöhnte auf und geriet ins Wanken.
Ron hörte, wie Jims Zähne aufeinander rieben. „Jimmy? Geht es dir gut“, fragte er und versuchte ihn an der Schulter zu halten.
Was für eine Frage! Jim war geprügelt worden. Hämatome färbten seine Haut grün und blau. Fesseln hatten tiefe Spuren an seinen Handgelenken hinterlassen. Er litt unter Fieberschüben und seine Rippen waren aus Eisen! Wie sollte es ihm gut gehen?
Jim schüttelte seinen Kopf. „Ich bin müde“, brachte er mühsam hervor und sank in Rons Arme. Der Ältere konnte den schweren Körper nicht halten und ließ ihn langsam zu Boden gleiten. Vorsichtig lehnte er Jim gegen die Wand. Mit einer Hand versuchte er zu verhindern, dass er wegkippte, während er mit dem anderen, lang ausgestrecktem Arm nach den Wolldecken am Boden tastete. Behutsam wickelte er Jim schließlich in den wärmenden Stoff.
„Jimmy, es wird bald hell“, flüsterte Ron. „Vielleicht ist es vorbei, wenn die Sonne aufgeht! Bitte halte durch!“ Ron sah aus dem kleinen Fenster über sich in den Nachthimmel, während Jims Kopf auf seiner Schulter ruhte.


25.12.2009, 07:11:31 Uhr, Tiffanys Bar
Fest entschlossen, seinen Bruder gegen die unsichtbaren Angreifer zu verteidigen, umschloss ihn Ron mit seinen Armen und es schien, als würde Jims Fieberglut ihn vor dem Erfrieren retten. Mit geschlossenen Augen ließ der ältere Barker die Stunden an sich vorbei gleiten, wie einen trägen Strom, dessen ruhige Bewegungen darüber hinwegtäuschten, mit welcher Kraft er jedes Leben in den Tod reißen konnte. Unfähig, Vorherbestimmtes zu verhindern – machtlos dem Willen des Schicksals ausgeliefert und ausgestattet mit dem furchtbaren Wissen, Bestandteil einer Prophezeiung zu sein, von der er nicht die geringste Ahnung hatte, klammerte sich Ron an das einzige, was ihm geblieben war.
Nachdem die Sirenen verstummt waren, hörte Ron Reiter. Schwere Hufe donnerten durch Graftons Straßen. Heißer Atem aus aufgeblähten Nüstern verdichtete den Nebel. Schreie voller Hass, Wut, aber auch voller Qualen wurden durch die Gassen getragen.
Aber kein Laut verließ Rons Lippen. Bewegungs- und geräuschlos wie eine Marionette, dessen Spielfäden in fremden Händen lagen, wartete er, bis die galoppierende Horde in der Morgendämmerung verschwand. Irgendwann rief er leise nach Cole. Aber Jim hatte Recht gehabt. Niemand in dieser ganzen Stadt war bei Bewusstsein – niemand würde helfen.
Das heisere Krächzen einer Krähe irgendwo da draußen beschleunigte Rons Herzschlag. Es war ein Zeichen von Leben – wenn auch ein düsteres! Kurz darauf hörte er Cole stöhnen. Mühselig schüttelte der Alte die Taubheit seines todesähnlichen Schlafes ab. Der Farmer hob seinen Kopf und warme Augen sahen Ron zuversichtlich an, denn endlich war hinter der zugefrorenen Fensterscheibe die Sonne aufgegangen.

25.12.2009; 15:30 Uhr, Tiffanys Bar
Das Leben kehrte in die Häuser von Grafton zurück und die Bewohner gingen wie immer ihren Tätigkeiten nach. Niemand sprach über die Ereignisse, als wäre sie ein persönlicher Alptraum, dessen Existenz verschwand, wenn man ihn einfach nur verschwieg.
Die Tür öffnete sich und Tina trat ein. „Geht es ihm besser“, fragte sie mit zitternder Stimme. Cole und Ron hatten Jim in das Gästezimmer gebracht, zu welchem das Bad gehörte.
„Das Fieber ist nicht mehr so hoch“, antwortete Ron und musterte Jim besorgt, „aber er kommt einfach nicht zu sich.“
Tina stellte ein Tablett auf den Tisch. „Ich … ich hab etwas zu Essen gemacht“, flüsterte sie.
„Danke – das ist nett … aber ich habe keinen Hunger“, seufzte Ron, ohne den Blick von Jim zu wenden.
Tina atmete entschlossen ein und kam näher: „Ich möchte helfen!“
Ron lächelte. „Ich glaube dir“, raunte er, „aber ich weiß nicht wie! Ich weiß selbst nicht, was ich tun kann – außer zu warten.“ Er betrachtete Jim. Sein Atem war viel zu schnell. Immer wieder knirschte er mit den Zähnen oder wühlte sich wie eine Schlange unter der Decke hervor. Auf seinem Brustbein hatte sich unterhalb des Amulettes ein Negativabdruck der Hunde gebildet – als würde sich das Pentakel** allmählich in seine Haut brennen. Aber Ron wagte nicht, es abzunehmen.
„Was geht hier nur vor sich?“, nach einer Antwort suchend sah Tina in Rons Gesicht, „Ron! Was ist nur mit Jim los?“
„Ich weiß es nicht, Tina“, antwortete Ron. „Es sieht so aus, als wäre er in einer seiner Visionen gefangen!“ Er schluckte. Tina biss sich auf die Lippen. Vor wenigen Stunden hätte sie Ron nach so einer Antwort für verrückt erklärt. Aber sie wusste, was sie gesehen hatte und sie war froh, dass es jetzt nicht schlimmer war.
„Ist…“, Tinas Stimme vibrierte, „… haben sie ihn wieder verletzt?“
„Nein – und sie werden es auch nicht mehr wagen!“ Erstaunt drehten sich ihre Köpfe zur Tür. Cole war eingetreten und warf seine Wattejacke auf eine kleine Kommode neben dem Eingang.
„Cole!“ Erleichterung war in Rons Stimme zu hören, „Hast du was herausgefunden?“
Der Alte setzte sich schnaufend. „Na ja, so wie es aussieht, haben die meisten Einwohner den Dornröschenschlaf gut überstanden.“ Er atmete einmal durch. „Ein älteres Ehepaar starb an einer Rauchvergiftung, weil vermutlich eine Krähe in den Schornstein stürzte.“
Erstaunt sah Ron den Alten an: „Eine Krähe?“
Cole neigte den Kopf. „Wie es scheint, sind nicht nur die Menschen gestern Nacht außer Gefecht gesetzt worden.“ Er rieb sich die Stirn, als er weiter sprach: „Eine Frau brach sich das Genick, weil sie ohnmächtig aus der Dusche stürzte. Aber die meisten Anwohner lagen glücklicherweise bereits in ihren Betten und hatten einfach nur einen besonders tiefen Schlaf.“
Grübelnd hob der alte Farmer die Schultern. „Da ist noch was“, hauchte er, „in den Todeszellen der hiesigen Gefängnisse warteten insgesamt 34 Häftlinge auf die Vollstreckung ihrer … Strafe.“ Seine weißen Brauen zogen sich zusammen.
„Und?“
„Das hat sich wohl erübrigt, denn sie sind alle tot!“
„Was ist passiert“, wollte Ron wissen.
„Ihre Brustkörbe waren aufgerissen – regelrecht zerfetzt. Jedem einzelnen fehlte das Herz“, flüsterte Cole.
„Verdammt“, fluchte Ron, „die dunklen Herzen! Darum haben alle geschlafen. Niemand sollte sie schreien hören!“
„Was für Herzen“, wollte Cole wissen.
„Schon gut, Cole! Irgendetwas sagt mir, dass wir es hier nicht mit einem Rudel von Werwölfen zu tun haben – obwohl mir das ehrlich gesagt, lieber wäre“, erwiderte Ron.
„Werwölfe? Es gibt Werwölfe?“, entfuhr es Tina entsetzt.
Ron sah sie mit sanften Augen an. „Ja – Jim und ich haben schon einige zur Strecke gebracht! Diese Mistkerle lieben es nämlich, ihren Opfern das Herz heraus zu reißen.“
Das war zu viel. „Ihr seid verrückt … alle hier sind verrückt geworden“, stieß Tina unter Tränen hervor. „Es gibt solche Dinge nicht!“ Sie drehte sich abrupt und verschwand, das Gesicht in ihren Händen vergraben, aus dem Zimmer.
Der Farmer sah Ron an. „Du solltest nicht so hart sein, Junge. Gestern war die Welt für die Beiden noch in Ordnung. Kein Mensch kann das in so kurzer Zeit verarbeiten.“
Stöhnend zog Ron den Kopf in den Nacken. „Du hast Recht, Cole! Aber verzeih mir bitte! Auch meine Nerven sind zurzeit etwas überstrapaziert“, murmelte er.
Cole stand auf. Sorgenfalten schnitten tiefe Furchen in seine Stirn. „Wie geht es Jim“, fragte er.
„Unverändert“, Ron zog die Bettdecke etwas höher. „Was tust du mir da an, Jimmy? Was tust du dir da an?“, flüsterte er.
Cole beugte sich über Jim. Er schob seine Lider etwas nach oben und musterte die unterschiedlich gefärbten Augen. „Er muss sich entscheiden“, seufzte er.

Jims Körper war in Aufruhr.
Er schrie bei jeder Bewegung, aber kein Laut kam über seine Lippen, kein Muskel bewegte sich und kein Atemzug entwich seiner Lunge. Dunkelheit umgab ihn, wie ein abschirmendes Leichentuch.
Er war sich nicht einmal sicher, noch einen Körper zu besitzen. Verängstigt und verwirrt fühlte er sich in einer Welt verloren, die nicht seine war. Jim befand sich an einem Ort und doch nicht. Er schien mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Zeit zu stoßen – rotierend und gleichzeitig still stehend. Ihm wurde übel von diesem Zustand für den sein Körper nicht geschaffen war. Aber alles Würgen war umsonst. Da war nichts, was aus ihm hätte herausbrechen können. In dieser Welt existierte er nicht!
Schreie hallten seiner dahintreibenden Seele entgegen. Ein Windhauch streifte über seinen nicht vorhandenen Körper und hinterließ ein Gefühl auf seiner Haut, mit dem er nicht umgehen konnte. War das Trommeln unter seiner Brust sein Herz? Oder war es nur die Erinnerung daran! Waren die Tränen auf seinen Wangen echt? Der Schmerz, der sie auslöste, fühlte sich echt an.
„Öffne die Augen, Jim!“
Diese Stimme! Emotionslos drängte sie alles Geschrei zur Seite und flüsterte in seinem Gehirn. Jim schüttelte den Kopf. Er wollte nicht sehen, wer diesen Lärm verursachte. Er wollte nicht an sich herabsehen – aus Angst nichts zu sehen!
„Barker! Sieh hin!“, forderte die Stimme.
Brennen in den Augen. Roter Nebel. Verwesungsgestank. Ein Gewölbe aus alten, handgeschlagenen Steinen schien auf ihn einzustürzen und sich doch gleichzeitig immer weiter zu entfernen. Jim konnte Sterne sehen. Blass leuchteten sie an einem purpurnen Firmament, das unter einem steinernen Gewölbe allmählich dahinglitt. Sein Blick folgte dem Geschrei, das ihm warmer Wind entgegentrug und er erkannte eine graue Wand. Schwanken und Taumeln erfüllte den Horizont, soweit er blicken konnte. Es war eine Wand aus Leibern. Jim sah unzählige Körper - kleine und große, bis sie in der Ferne mit dem Himmel verschmolzen. Es war eine riesige Menge – Schulter an Schulter, vereint in rastloser Bewegung einen unbekannten Weg gehend. Dicht gedrängt wogten sie ihm entgegen - unaufhaltsam einem geheimnisvollen Ruf folgend. Es wurden immer mehr – Abertausende … ein unaufhaltsamer Strom aus grauen Leibern ergoss sich in die Gewölbe. Der Stoff ihrer zerschlissenen Kutten raschelte. Ihr Atem erfüllte seufzend die Luft und ihre Klagen wurden immer lauter. Mit nackten Füßen traten sie in knisternde Asche, die sich wie Wüstenstaub zwischen kantige Felsen gelegt hatte. Ihre Gliedmaßen rieben sich blutig im gegenseitigen Gedränge.
„Sieh mich an, Jim“, befahl die Stimme, endlich hob Jim den Blick.
Ein wunderschönes Gesicht sah auf ihn herab. Ihre makellose Haut schimmerte metallisch. Ihre katzenartigen Augen waren kühl. Mit schmalen Fingern hielt sie eine Spindel fest und ein Gewand aus Falkenfedern bedeckte ihren Körper.
Jim wollte die Lippen öffnen – doch bevor er seine Frage formulieren konnte, antworte sie ihm. „Ich habe viele Namen - Jäger. Die meisten wurden vergessen oder vom Christentum verdrängt. Ich bin Schutzherrin der Ehe und Mutterschaft, Himmelskönigin und Hochgöttin der Asen*. Zu mir kommen die Toten, die vorzeitig und unschuldig aus dem Leben gerissen wurden und deren Peiniger. Ich bin die Hüterin der ungeborenen Seelen. Mein wahrer Name ist Frigg*** - und ich kenne deine Zukunft, Jim Barker!“
„Was mache ich hier?“ Jim hörte seine eigene Stimme wie ein Echo, das der Wind durch die Gewölbe trieb. Die Augen der Leuchtenden streiften über das Meer aus grauen Leibern. „Du bist ein Teil von ihnen. Du bist ein Opfer wie sie.“ Eisiger Atem streifte Jims Gesicht, als sie den Kopf wandte und auf die verlorenen Seelen blickte. Dann wanderte Friggs Blick weiter zum anderen Ende des Gewölbes. Auf 34 schweren Pferden saßen Krieger in geschmiedeten Rüstungen. Zwischen den mächtigen, fellbehangen Hufen ihrer Rösser suchten streunende Hunde nach Blut. „Aber du bist auch ein Teil von ihnen …“, sprach Frigg und sah auf das wütende Heer****. Sie hatten sich gegenüber der Opferseelen positioniert. Hinter den 34 Generälen stand eine Armee aus zerfallenden Körpern mit aufgerissenen Brustkörben. Es waren die Peiniger, die nun ihren Opfern Auge in Auge gegenüber standen.
„Sie sind alle zornig. Sie wurden verspottet und ignoriert. Ein Teil von ihnen sucht Vergebung – der andere Teil Erlösung“, erklärte die Leuchtende. „Wenn ihre Geschichten in der dritten Raunacht kein Gehör finden, wenn ihnen ihre Schuld nicht vergeben wird, wächst ihr Hass ins Unermessliche. Sie werden sich verbünden und vom Himmel stoßen, um die Menschheit zu begraben.“
Fragend sah Jim Frigg an. Ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie weiter sprach: „Nur du kannst sie besänftigen, denn du bist beides, Jim Barker. Du bist Opfer und Schlächter zugleich. Dein Herz ist menschlich, aber dein Blut ist das eines Dämons.“
„Ich habe nichts verbrochen“, widersprach Jim. „Ich habe nie einen Menschen getötet! Ich gehöre nicht zu denen!“ Sein Blick flog verächtlich über die Reiter.
„Du wirst der größte Schlächter in ihren Reihen werden!“ Mit diesen Worten musterte Frigg den jungen Jäger. „Du wirst töten – Jim Barker! Du wirst unzählige Herzen verschlingen!“ Laut dröhnten ihre Worte in seinen Gedanken. „Du wirst die Menschheit in die Finsternis stoßen!“ Ein Anschein von Mitleid huschte über ihr makelloses Gesicht, sie neigte den Kopf und flüsterte: „Ich weiß, es ist nicht deine Schuld – es ist einfach nur dein Schicksal, Jim.“ Mit einem Lächeln verrieb sie die Tränen auf seinen Wangen. Dann breitete sie ihre Arme aus und rief: „Sie können dich nicht gewaltsam entführen – dafür habe ich gesorgt! Dein Opfer muss freiwillig sein und nur wenn du beiden Seiten zuhörst, können alle in Frieden ziehen!“ Frigg legte ihre Handfläche auf Jims Brust und lächelte, denn sie fühlte sein Herz im Schutz der eisernen Rippen, die sie ihm gegeben hatte.
Auch Jim spürte nun ihr Herz und sah die Wahrheit: Frigg kannte weder Glück noch Leid, weder Schuld noch Reue. Sie war nicht in der Lage, zu vergeben, denn ihr fehlte die Menschlichkeit.
„Jim bedenke - die Taten einzelner Menschen können diese Welt retten oder für immer in die Verdammnis stoßen, denn sie fallen schwerer ins Gewicht, als die Entscheidung eines Gottes. Sieh dir diese Seelen genau an und entscheide, ob du sie dem Höllenfeuer überlassen willst oder ihnen vergeben wirst. Es ist deine Entscheidung, Jim!“ Mit diesen Worten ließ ihn Frigg zurück.
Jim verstand nicht. Warum sollte er Mördern vergeben? Sie hatten ewige Verdammnis verdient! Und wenn er wirklich zu ihnen gehörte und diese Welt in das Verderben stürzen sollte – würde ihn dies retten? Würde man ihm dann auch vergeben? Jim schnaufte. Er wollte Gerechtigkeit! Wenn er das Ende der Welt bedeutete, dann verdiente er es, auf ewig zu brennen, zusammen mit dieser Höllenbrut, die sich mit einem Rudel räudiger Hunde umgab.
Seine Augen glitten mitfühlend über die verhüllten Leiber, die sich auf der anderen Seite versammelt hatten. Es war nicht seine Schuld, dass ihr Schicksal niemanden interessierte und die Umstände ihres Todes niemals gelüftet wurden. Jim schloss die Augen. Wer war er schon, dass er diese Seelen retten könnte?
Doch als Jim den flehenden Blick spürte, hob er den Kopf. Sie war aus der grauen Masse hervorgetreten. Blaugraue Augen sahen ihn aus einem blassen Gesicht an. In ihren Armen hielt sie ein Baby – eine winzige, ungeborene Seele, für die es keinen Platz mehr in Friggs überquellenden Hallen gab. Sie durften nicht in Frieden ziehen, weil niemand ihre wahre Geschichte je gehört hatte. Jims Augen füllten sich mit Tränen, denn er kannte ihr Schicksal und würde niemals zulassen, dass sie und das ungeborene Kind auf ewig verloren waren. Ihm blieb keine Wahl … „Ich werde es tun!“, schrie Jim in das Gewölbe! „Ich werde ihre Geschichten lesen – geschrieben in Blut!“ Entschlossen donnerte die Stimme des Jägers durch Raum und Zeit und ließ beide Fronten erstarren.
„So sei es, Krieger! Ich werde meine Reiter zu dir schicken, Jim Barker! In der dritten Raunacht wirst du aus freien Stücken mit ihnen reisen. Du wirst dieses Leiden beenden und meine Hallen leeren – nur deine Seele wird zurück bleiben“, antwortete Frigg.

„Ich werde es tun!“ Jims kehliger Schrei riss Ron vom Stuhl. Erschrocken fuhr der Ältere herum an. Trotz Tränen im Gesicht lächelte Jim, als er die Augen öffnete.
„Jim?“ Ron war überglücklich.
„Ron!“
„Du hast es geschafft Kleiner“, raunte Ron. „Du wirst sehen Jimmy – nun wird alles gut.“
„Ich weiß“, hauchte Jim mit zerbrechlicher Stimme.


Hinweise des Autors:

* Die Asen sind Angehörige der größeren Götterfamilie der altnordischen/urgermanischen Mythologie, während die Wanen die andere Göttersippe bilden. Die Asen sind vorwiegend Götter des Krieges und der Herrschaft. Die Götter werden auch allgemein als Asen bezeichnet.

** Ein von einem Kreis umschlossenes Pentagramm wird Pentakel genannt. Im Volksglauben gilt es als Bannzeichen gegen das Böse.

*** Perchta ist eine Sagengestalt, vermutlich unter Assimilation keltischen Substrats aus der germanischen Göttin Frigg hervorgegangen. (siehe auch Kapitel „Geständnisse“)

**** Wütendes Heer: Im deutschen Volksglauben nannte man „Wuotanes her“ ein Geisterheer, das während der Raunächte nachts durch die Luft braust.




*** Abgründe ***


Es ist oft, das was wir nicht sehen, oder wissen, was uns ruhig schlafen lässt



Langsam sank Jims Kopf zurück auf das Kissen. Nach Stunden begann sein Herz endlich in einem normalen Rhythmus zu schlagen und er war froh, es noch zu spüren. Er atmete Luft, die nicht vom Geruch nach Verwesung geschwängert war. Obwohl er sich ausgebrannt fühlte, war er doch erleichtert, denn seine Schmerzen verrieten ihm, dass er noch lebte.
Seine Gedanken kreisten um ein Versprechen, das er Frigg gegeben hatte. Er wusste, dass dieses Erlebnis real gewesen war und keine Möglichkeit bestand die bevorstehenden Ereignisse abzuwenden, auch wenn sie noch im Nebel der Unkenntnis lagen.
Er hatte sein Wort gegeben. Vor wenigen Tagen hatte er durch eine Pforte geschaut, ohne über sein Handeln nachzudenken. Es war nun die letzte Konsequenz, diese Pforte zu durchschreiten, um in eine Welt zu gelangen, die jenseits aller Vorstellungen von Hoffnungslosigkeit lag. Schreckliche Bilder kehrten zurück. Hallen voller vergessener Seelen, die sich nach Erlösung verzehrten. Noch immer hallten die Stimmen jener in seinem Kopf, die diesen unseligen Ort nicht verlassen konnten.
Jim seufzte. Er konnte Ron nicht erzählen, was er gesehen und gehört hatte. Er brachte es nicht fertig, ihm die Wahrheit über Perchta oder Frigg, wie sie sich selbst nannte, zu berichten. Das entsetzliche Wissen, dass Lilly und ihr Baby in den Gemäuern von Anderswelt* gefangen waren, würde seinem Bruder das Herz zerreißen.
Wie sollte Ron jemals zwischen ihm oder seinem eigenen Kind entscheiden, ohne dabei wahnsinnig zu werden? Es war unmöglich ihn in einen solchen Konflikt zu stürzen.
„Jimmy? Geht es dir gut?“ Rons Stimme riss Jims aus seinen Gedanken. Er versuchte zu lächeln. „Es geht so!“ Müde sah er den Älteren an.
„Jimmy du warst stundenlang völlig weggetreten. Kannst du dich an etwas erinnern?“ Ron hatte sich gesetzt. Aufmerksam beobachte er Jim und hoffte inbrünstig, dass er sich nicht an die brutalen Übergriffe erinnern konnte - dass die grausamen Details der vergangen Stunden an seinem Verstand vorbei gerauscht waren. Sicher war es unmöglich, alles zu verleugnen, denn Jims Körper sprach Bände. Aber Ron hielt an seiner Hoffnung fest.
„Ich weiß nicht“, stöhnte Jim leise. „Nicht viel. Jemand hat auf mich eingetreten.“ Seine Stirn zog sich in Falten. „Meine Rippen taten weh und ich hatte Alpträume“, flüsterte er.
Ron nickte. „Ist gut, Jimmy. Ruh dich aus!“ Sanft strich er eine braune Strähne aus seinem Gesicht.
„Wie spät ist es“, fragte Jim und sah aus dem Fenster. Wieder breitete sich Dunkelheit in den Straßen von Grafton aus. Hinter den vereisten Scheiben zeichneten sich nur noch undeutlich die Konturen der Gebäude am Rande der Stadt ab. Die Straßen waren wie leergefegt. Raureif glitzerte im schwachen Licht einiger Laternen auf dem Asphalt. In der Luft tanzten Eiskristalle. Es war wohl die stillste und kälteste Weihnachtszeit, die jemals über die Ortschaft hereingebrochen war.
„Kurz vor 5“, antwortete Ron, stand auf und ging zur Küchenzeile. Noch einmal streifte sein Blick den Bruder. Jim war blass, seine schmalen Lippen spröde und seine Stimme klang rau. „Ich hole dir erst mal etwas zu trinken. Du siehst aus als wärst du durch die Rub al-Chali** gewandert“, murmelte er in der Hoffnung, Jim zum Lachen zu bewegen.
Jim lächelte … und unterdrückte seine Tränen.
Schnaufend kam Ron mit einem Glas Wasser zurück. Er setzte sich zu seinem Bruder auf den Bettrand.
Jims Brust bebte: „Ron!“ Sein Gesicht verzog sich beim Versuch, sich aufzurichten. „Ich brauche meinen Laptop“, murmelte er keuchend, „wir müssen unbedingt mehr über diese Gestalten erfahren.“ Jim wankte, er konnte kaum sitzen. Sein Schädel brummte und ihm war übel. Sofort legte Ron seinen Arm in Jims Rücken und knurrte: „Jetzt schalt mal einen Gang zurück, Tiger!“ Er reichte ihm das Glas.
„Ron, bitte!“ Jims sah in Rons Augen, die ihn still anflehten, endlich Ruhe zu geben. „Diese letzte Raunacht war erst der Anfang. Sie werden wieder kommen!“
Der Ältere bemerkte wie Panik, Jims Stimme vibrierten ließ. Auch seine Stimme zitterte bei der Vorstellung, noch eine solche Nacht erleben zu müssen. „Was hast du wirklich gesehen, Jimmy?“, fragte er leise.
Jim schwieg und riskierte einen Blick an seinem Körper hinunter. Sein Anblick bestätigte die dumpfen Schmerzen. Schnaufend stieß er Luft durch die Nase und schloss die Augen. „Gott, Ron, ich sehe wirklich scheiße aus!“
„Du lebst! Nur das zählt, Jim“, erwiderte der Ältere und schluckte. „Sie haben dich angegriffen Jimmy – ich konnte nichts tun.“ Hilflos sah er aus dem Fenster. „Du solltest dich etwas ausruhen – ein paar Stunden schlafen. Dann werden wir weiter sehen.“ Rons Brauen zogen sich zusammen und formten eine steile Kummerfalte auf seiner Stirn, als er Jim erneut ansah.
„Ich kann nicht schlafen, Ron. Ich … ich muss …“, gequält sah Jim auf seinem Laptop auf dem Tisch. Das Wasserglas zitterte in seiner Hand.
Ron nickte: „Später Jim! Du bist angeschlagen.“ Er schnaufte: „Ich sage ja nicht, dass du eine Woche Urlaub machen sollst. Gönn dir einfach noch ein paar Stunden Ruhe!“
Jim schüttete hastig das Wasser hinunter. „Wo ist Cole“, wollte er wissen.
„Der ist kurz nach Hause gefahren, um nach seinen Puten zu sehen. Er wird wieder kommen“, antwortete Ron. Jim schloss die Augen für einen Moment. Er fühlte sich hundeelend und müde.
„Jimmy, du bist in den letzten Stunden fast im Fieber gestorben“, murmelte Ron weiter. „Wenn Cole nicht gewesen wäre …“, er biss sich auf die Unterlippe, „du musst etwas schlafen. Bitte!“
Jims Lider flimmerten. Sein Körper schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden. Gegen diese unerklärliche Müdigkeit konnte er sich nicht mehr wehren. Ächzend lehnte er sich gegen Rons Arm, der ihn zurück ins Kissen sinken ließ. „Ich will nicht schlafen“, flüsterte Jim.
„Jimmy! Manchmal müssen wir unsere Träume aussperren“, hauchte Ron sanft. „Schlaf!“ Jim lauschte seinen Worten, die beruhigend auf ihn einplätscherten: „Du hast mich ausgetrickst, Alter“, flüsterte er. „Du hast mir was ins Wasser getan.“ Unaufhaltsam versickerten seine Gedanken im Nichts.
„Es ist okay, Jimmy“, antwortete Ron aus weiter Ferne. „Ich bin hier. Ich passe auf dich auf!“
Ron streckte sich auf seinem Stuhl und grübelte. Was hatte Cole mit der Aussage, Jim müsse sich entscheiden, gemeint? Welche Rolle spielte sein kleiner Bruder in dieser makabren Prophezeiung und was verschwieg er ihm? In Gedanken versunken dämmerte Ron an der Seite seines kleinen Bruders der Nacht entgegen. „Morgen werden wir über alles reden, Jimmy“, murmelte er, als sich seine Augen schlossen.

Leise heulte der Wind in den starren Baumwipfeln, als sich der Pickup des alten Bradshaw schwerfällig über den gefrorenen Weg kämpfte. Schneidende Kälte ließ im Fahrtwind die Frontscheibe zufrieren. Die Wärme des Motors konnte nichts ausrichten, unaufhaltsam wuchsen Eisblumen in bizarren Mustern vom Rand der Scheibe aus in die Mitte. Fahles Licht brach sich in ihrem Facettenreichtum und verzerrte die Umgebung. An den kahlen Stämmen der riesigen Ahornbäume hatte sich im Laufe der letzten Tage immer mehr Raureif gebildet. Es hatte den Anschein, als bewege sich das alte Gefährt durch einen gläsernen Wald im schwachen Schein des zunehmenden Mondes.
Nachdem der Pickup auf dem Hof zum Stillstand gekommen war, stieg der alte Farmer aus der Kabine und schlug den Kragen seiner Wattejacke hoch. Sein Blick glitt prüfend über das Gelände. Mit eiligen Schritten näherte er sich dem Haupthaus. Eisige Kälte schlug ihm auch im Flur entgegen. Das Feuer im Ofen war erloschen und der Winter begann, Grad um Grad das Innere des Wohnhauses zu erobern. Mit wenigen Handgriffen hatte der Alte neues Feuer im Kamin entzündet. Er war sich sicher, in dieser Nacht keine Angriffe fürchten zu müssen. Leise schnaufte Cole, als sein Blick über das Milchschälchen glitt. Für einige Stunden wollte er auf seiner Farm bleiben, um die Tiere zu versorgen, den Kamin zu heizen und ein wenig zu schlafen. Vor allem aber wollte er Kraft für das Ritual sammeln, das die Schleusen öffnen sollte. Seit er vor einigen Stunden in Jims Augen gesehen hatte, war ihm klar, dass die Entscheidung gefallen war.
Nachdem die Flammen im Ofen an Kraft gewonnen hatten, verließ Cole das Haus. Sein Weg führte ihn direkt zum Lagerhaus, um den Stromgenerator zu betanken. Quietschend öffnete sich die Holztür unter dem Druck seines Körpers. In der Luft lag der Geruch von alten Maschinen, Staub und Rost. Dem schmalen Schein der Taschenlampe folgend ging der Farmer zum Generator, der wie immer lautstark ratterte. Während er die wenigen Meter zurücklegte, wanderte sein Blick über die Regale und die Wände des Raumes, an denen seit Jahren veralte landwirtschaftliche Werkzeuge hingen.
Für einen Augenblick sah er im Lichtkegel einen leblosen Körper aus der Dunkelheit auftauchen und genau so plötzlich wieder verschwinden. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Waren seine Nerven bereits so angegriffen, dass er Halluzinationen hatte? Cole presste die Lippen aufeinander und bewegte die Taschenlampe zurück. Alte Ackerwalzen und Eggen hatten an dieser Stelle ihren Platz gefunden. Sie warfen seltsame Schatten auf die Holzdielen des Lagerhauses.
Sein Atem stockte.
Auf einer seiner Eggen, deren stählerne Zinken 45 cm tief in den Raum ragten, hing ein Toter. Sein nackter Körper war bereits gefroren und eine Schicht aus Raureif hatte seine Haut bedeckt. Wie Porzellan glitzerte sie im Lichtschein. Aufgerissene Augen, gezeichnet durch maßloses Entsetzen starrten auf Cole herab. Der aufgerissene Mund der Leiche wirkte überdimensional, war schmerzverzerrt. Reste von Erbrochenem und Blut hafteten an seinen Mundwinkeln.
Rene musste schon vor Stunden mit ausgestreckten Armen aufgespießt worden sein. Sein Blut war über das Metall der Egge geflossen und hatte sich mit Rost zu einer schwarzroten Masse vermischt, die nun das Licht reflektierte. Eiserne Spitzen waren durch seinen Rücken in den Körper eingedrungen. An einigen Stellen ragten ihre blutverkrusteten Enden wie Nägel aus den Armen und Beinen wieder heraus. Dunkelrote Rinnsale zeichneten sich bizarr unter der durchsichtigen Eisschicht ab. Renes Brustkorb war aufgerissen. Fleisch und Organe im Inneren des Torsos waren vereist, teilweise quollen die Eingeweide heraus. Die scharfkantigen Bruchstellen seiner Rippen ragten wie Stoßzähne in den Raum. Sein Herz fehlte.
Keuchend taumelte Cole rückwärts. Die Art, wie der Junge aufgespießt worden war, erinnerte an die Kreuzigung Jesu. Der Ärmste hatte Unmenschliches erleiden müssen.


Anmerkungen des Autors

* Der Begriff Anderswelt ("Autre Monde", "Otherworld") ist eine Übersetzung des lateinischen "Orbis Alia". Er wird zumeist als Überbegriff für mythische Jenseitswelten oder verschiedene Jenseitsvorstellungen der Kelten gebraucht.
Der Begriff "Andere Welt" = „Anderswelt“ wird mitunter auch bei Trance-Reisen von Schamanen auf die "Welt der Geister" angewendet, weswegen manche moderne Autoren die keltischen Sagen von Helden, die Orte der anderen Welt betraten (wie in den Immrama oder bei Oisìn und Pwyll), als sagenhaft verklärte Erinnerungen an schamanistische Trancereisen sehen.
(Quelle Wikipedia)

** Rub al-Chali ist die größte Sandwüste der Erde. Die fast menschenleere Wüste bedeckt das südliche Drittel der arabischen Halbinsel.


Grafton (drei Tage später …) Tiffanys Bar, 28.12.2009; 10:30 Uhr
„Nun Jimmy, was hast du herausgefunden“, angespannt versuchte Ron, einen Blick in das Gesicht seines Bruder zu werfen.
Jim hatte sich hinter seinem Laptop verbarrikadiert und suchte im Internet nach jedem Anhaltspunkt, den er finden konnte. In den letzten drei Tagen hatte er nichts anderes getan. Seine Suche glich fast einer Besessenheit. Langsam hob er den Kopf und lugte über den Rand des aufgeklappten Monitors. Auf seiner Stirn kräuselten sich Falten. „Ich denke, wir haben es hier mit der wilden Jagd* zu tun“, flüsterte Jim, damit anwesende Frühstücksgäste ihr Gespräch nicht mithörten. „Es handelt sich um eine weitere Erscheinung während der sogenannten Raunächte.“ Weil der Ältere schwieg, las Jim einfach weiter. „Bei der Wilden Jagd, oder dem Wütenden Heer** handelt es sich um eine Geistererscheinung am Nachthimmel, die als Jagdgesellschaft übernatürlicher Wesen interpretiert wird, und die vor allem während der zwölf Weihnachtstage oder der Raunächte beobachtet wurde.“ Schließlich beugte sich Jim über den Tisch, um nach seinem Porzellanpott zu greifen. Er nahm einen Schluck Milchkaffee.
Ron nickte und stocherte mit seiner Gabel im Rührei. „Und?“
„Alter …“, flötete Jim. „Ein bisschen mehr Enthusiasmus hätte ich schon von dir erwartet.“
Müde wanderten Rons Blicke über Jims Gesicht. Dieser räusperte sich und berichtete weiter: „Am Zug nehmen Männer, Frauen und Kinder teil, meist solche, die vorzeitig einen gewaltsamen oder unglücklichen Tod gefunden haben. Der Zug besteht aus den Seelen der Menschen, die vor ihrer Zeit gestorben sind, also durch Umstände verursacht, die vor dem natürlichen Tod im Alter eintraten. Es ist überliefert, dass alle Menschen, die den Zug betrachten, mitgezogen werden und dann jahrelang mitziehen müssen, bis sie befreit werden. Auch Tiere, vornehmlich Pferde und Hunde, ziehen mit.“ Jim zog einen Teller mit Eierkuchen zu sich herüber. „Was mich beunruhigt, Ron, ist die Tatsache, dass die Übergriffe in diesem Jahr so brutal waren.“
„Diese Mistkerle haben dich fast getötet“, stieß Ron bitter hervor.
Jims ignorierte den Einwurf: „Allgemein ist die Wilde Jagd dem Menschen nicht feindlich gesinnt, doch ist es ratsam, sich niederzuwerfen oder sich im Hause einzuschließen und zu beten. Wer das Heer provoziert oder ihm spottet, wird unweigerlich Schaden davontragen,- und wer absichtlich aus dem Fenster sieht, um das Heer zu betrachten, dem schwillt der Kopf an, so dass er ihn nicht mehr zurückziehen kann.“ Jim klappte den Mund zu, als wollte er sich die Zunge abbeißen, beobachtete für eine Sekunde Ron und schlussfolgerte: „Es muss also etwas passiert sein, das sie erzürnt hat.“
Rons Kiefer zuckten. Er starrte auf die Tischplatte und knurrte: „Du meinst diese Prophezeiung.“
„Auf die ich nicht einen einzigen Hinweis finden kann“, antwortete Jim kopfschüttelnd. „Fast alles Wissen über die keltische Kultur wurde durch die Kirche ausgerottet. Man kann weder Hinweise auf ein derartiges Ereignis, noch Strategien zu dessen Verhinderung finden“, murmelte er.
„Welches Ereignis meinst du“, fuhr ihn Ron unerwartet an.
Jim zuckte zusammen. „Ron“, hauchte er über den Tisch. Sein Blick glitt vorsichtig durch die Gaststube. Ein vielschichtiges Murmeln erfüllte die Luft. An den Tischen saßen einige Gäste, teils in ihre Gedanken, teils in gegenseitige Gespräche vertieft. Hinter der Bar war Tiffany mit dem Einsortieren von Gläsern beschäftigt. Besorgt traf ihr Blick auf die Jäger. Sie hatte schon den ganzen Morgen die Anspannung zwischen ihnen bemerkt. Die herannahende nächste Raunacht legte sich über ihre Gedanken wie ein schwarzes Tuch. Niemand konnte die vergangenen Geschehnisse vergessen und es schien, als versuche jeder, diese Tatsache tot zu schweigen. Rotblonde Locken tanzten auf Tiffanys Stirn, als sie die linke Braue in die Höhe zog, um Jims hilflosen Blick zu erwidern.
„Was weißt du, Jim?“ Wut und Angst verzerrten Rons Stimme.
Ruckartig wandte sich Jim wieder an seinen Bruder. „Alter – ich weiß auch nicht mehr als du. Ich weiß, was Cole berichtet hat“, schnaufend holte er Luft, „und was Tiffany über Dylans Brief erzählte.“ Seine Stimme wurde leiser, als er den Kopf senkte. Er nagte an seiner Unterlippe, denn er spürte, dass Ron etwas von seiner Trancereise ahnte.
Die Augen des Älteren verfinsterten sich. „Was hast du gesehen, Jim? Was hast du in deinen Fieberträumen erlebt? Sag es mir!“, donnerte er über den Tisch.
„Nichts Ron … ich habe nichts gesehen. Es waren nur Alpträume.“
„Erzähl das jemand anderem, Jim! Ich glaube dir kein Wort“, zischte Ron. Sein Gesicht vergrub er in den Händen.
„Ron!“ Jim versuchte so ruhig wie möglich zu reden, obwohl sein Herz wild pochte. „Wir müssen uns vorbereiten. Wir müssen herausfinden wie wir das alles aufhalten können!“
Zornig schlug Ron auf die Tischplatte. Seine Geduld war überfordert. „Du weißt es doch, Jim!“, schrie er, „also sag es mir!“
Schlagartig herrschte Stille im Gastraum, die Jäger wurden angestarrt. Tiffany war ein Glas aus der Hand gerutscht und kreiselte im Spülbecken. Tina, die gerade einige Gäste bedient hatte, eilte zur Theke. Ihr Gesicht war blass, als sie das quiekende Radio lauter stellte.
Ja, sie ahnten es alle – und wagten nicht, es auszusprechen.
Tina und Tiffany waren tiefer in die Sache hineingezogen worden, als es die Barker wollten. Offensichtlich hatten sie sich jedoch damit abgefunden und versuchten, sich irgendwie auf Ereignisse vorzubereiten, von denen sie keine Ahnung hatten. Die seltsamen Andeutungen in dieser Prophezeiung waren kaum zu verstehen, dafür aber umso beängstigender. Zumal ihre Vorboten auf so erschreckende Weise eingetroffen waren. Den wahren Sinn dieser alten Worte – ihre Bedeutung - hatten sie nicht entschlüsseln können.
Auch Cole konnte nicht weiter helfen. Möglicherweise wollte er auch nicht darüber reden. Hin und wieder kam er vorbei, um nach dem Rechten zu sehen oder um Gesellschaft zu suchen. Auf seinem Pickup lagen zwei mächtige, mit Symbolen verzierte Eichenstämme, ein Ring aus Holz von einem Meter Durchmesser, ebenfalls kunstvoll verziert, mit einer Vorrichtung für einen Flaschenzug der sich auch auf der Ladefläche befand, mehrere Seile und Lederriemen, sowie Wolldecken und Eisenwerkzeuge.
Über den metallisch klingenden Inhalt seiner braunen Umhängetasche, die er keine Sekunde aus den Augen ließ, schwieg er.
Aber das Bedrückendste waren die verbitterten Gesichter der Gäste. Die abergläubischen Einwohner von Grafton gaben den Brüdern die Schuld an den Ereignissen. Bezichtigende Blicke streiften über die Barkers und Tiffany registrierte mit wachsender Sorge eine sich bedrohlich zuspitzende Feindschaft.
Endlich - nach lähmenden Sekunden, in denen Ron und Jim misstrauisch gemustert wurden, erfüllte ein Murmeln erneut den Gastraum. Einer nach dem Anderen widmete sich wieder seinem Frühstück zu. Die Gespräche wurden allerdings noch leiser, die Gesten heimlicher und ihre Köpfe rückten enger über den Tischen zusammen. Kalte Ablehnung breitete sich wie Gift nicht nur im Gastraum, sondern im gesamten Ort aus.
Ron hatte sich wieder etwas beruhigt und atmete kräftig durch. Er strafte die bohrenden Blicke der Gäste mit einem kalten Grinsen. Dann lehnte er sich gegen die Rücklehne. „Jim!“ Ron versuchte erneut, seine wiederum aufsteigende Wut in Schach zu halten. Seine Stimme war rau und vibrierte leise. „Was immer diese Perchta von dir will - du wirst nicht allein gehen. Blut hin oder her – wir sind Brüder und wir regeln das gemeinsam. Ist das klar, Jim?“ Er sah den Jüngeren an und seine Körpersprache duldete keinen Widerspruch.
Jim wich ihm schweigend aus.
Ron beugte sich über den Tisch und flüsterte: „Überhaupt – was geht uns dieser verdammte Krieg in einer anderen Dimension an? Haben wir hier nicht genug Probleme?“
„Ron …“, versuchte Jim seinen Bruder zu beschwichtigen.
„Nein, nein, nein, Jimmy!“ Der Ältere ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen. Sein Blick glitt verächtlich über die Tische. „Ich meine, wir sollten hier verschwinden. Lass uns ein paar Monster jagen!“ Er schielte auf die Gäste: „Sieh sie dir an, Jim! DIE machen uns doch sowieso für den ganzen Mist hier verantwortlich. Warum sollen wir uns für DIE den Arsch aufreißen!“
„Ron - das ist doch nicht dein Ernst!“ Entsetzt richtete sich Jim auf.
„Und ob es das ist“, fauchte Ron. Er riss sich vom Stuhl. Klappernd kippte dieser durch das Gewicht der Lederjacke nach hinten und schaukelte auf dem Boden.
„Wo willst du hin?“, fragte Jim kleinlaut.
„Raus“, zischte Ron. Er drehte sich um, hob den Stuhl hoch und ergriff seine Lederjacke. „Ich brauche frische Luft.“ Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, herrschte eisiges Schweigen in der Gaststube.

Das durfte doch alles nicht wahr sein. Ron hatte das Gefühl, komplett die Kontrolle zu verlieren. Mit ausladenden Schritten bewegte er sich über den glitzernden Asphalt auf den Ford Mustang zu. Am Wagen angekommen blieb er stehen und wühlte in seiner Jackentasche nach dem Wagenschlüssel. Als er gebannt auf den blinkenden Gegenstand in seiner Hand starrte, schüttelte er den Kopf und ließ ihn zurück in die Tasche gleiten. Eigentlich wusste Ron gar nicht wo er hin wollte. Er wusste einfach nichts mehr und kam sich so hilflos vor! „Verdammt“, fluchend trat er gegen den rechten Vorderreifen. Dann schlugen seine Hände mehrfach auf das Dach des schwarzen Wagens ein, bevor Ron die Stirn gegen das mit Raureif überzogene Auto presste.
Er hatte Angst. Er hatte wahnsinnige Angst. Ron erkannte die Fronten nicht mehr und irgendetwas verriet ihm, dass es besser war, zu verschwinden. Tief in seinem Herzen spürte er, dass Jim etwas verschwieg. Am liebsten würde er ihn dafür verprügeln. Die letzten Tage hatte er nichts anderes versucht, als diesem Dickkopf das Geheimnis zu entlocken. Aber Jim schwieg wie ein Grab – nein schlimmer! Er stritt alles ab und machte ihn damit nur noch wütender. Ron ahnte Böses. Dieser verdammte Mistkerl plante eine gewaltige Dummheit! Irgendetwas hatte Jim zutiefst erschüttert und fraß ihn innerlich auf.
Ron stieß seinen Atem in die Luft. Niemals würde er Jim gehen lassen. Er wusste nicht, was sein Bruder erlebt hatte – aber die Angst in seinen Augen war allgegenwärtig. Seit Tagen hockte Jim am Laptop, machte sich Notizen, wälzte Bücher, benahm sich wie ein Workaholic. Was um Gottes Willen war in dieser Raunacht mit ihm geschehen? Jim hatte sich trotz der wenigen Stunden Schlaf schnell erholt. Sein Körper beseitigte die Wunden mit einer Geschwindigkeit, dass es dem Älteren unheimlich wurde. Das war nicht normal! Auch das Fieber war nicht mehr zurückgekommen. Offensichtlich hatte Jims Blut mit seinen Eisenrippen Frieden geschlossen. Ron war sich nicht einmal sicher, ob Jim das mit den Rippen überhaupt wusste. Er hatte es ihm nicht gesagt. Und wenn er es doch wusste? Gott - der Gedanke war noch beängstigender. Der Kerl hatte Eisenrippen und nahm es einfach so hin! Ron schüttelte den Kopf. Er brauchte klare Gedanken – einen verdammten Plan. Sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, war keine Lösung. Was war plötzlich mit ihnen beiden los? Sie verschlossen sich voreinander und hüllten sich in Schweigen. Das hatten sie doch nie getan!
Stöhnend zog Ron seinen Kopf in den Nacken und starrte in den klaren Himmel. Die Sonne stand nur knapp über dem Horizont und ihr Licht stürzte in einem flachen Winkel zu Boden. Leider besaß es nicht genügend Kraft, die Erde zu erwärmen und Rons Lederjacke war spürbar ungeeignet, die beißende Kälte abzuhalten. Fröstelnd stand er vor seinem Wagen und rieb sich die Hände. Sein Herz flimmerte vor Angst. Sollte er Jim verlieren, wüsste er nicht, was er tun würde. Dieser hoch gewachsene Dickkopf war alles was er hatte. Jim war seine Familie.
Nachdem die Kälte auch in die letzten Fasern seines Körpers vorgedrungen war, entschloss sich Ron, zurück zu gehen. Er würde es noch einmal versuchen. Jim hatte verdammt viel durchgemacht. Vielleicht benötigte er einfach mehr Zeit.
Langsam schlenderte Ron, den Kopf in den Kragen gezogen, die Hände in seinen Taschen vergraben, über den Parkplatz zum Pub. Schon als er sich durch die Tür ins Innere schob, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass ihr Tisch leer war. Sein Blick glitt fragend auf Tiffany. Mit einem Nicken deutete sie ihm an, dass der Jüngere ins Zimmer gegangen war.
Ron eilte über den Hof und verschwand im Nebengebäude. Als er die Zimmertür öffnen wollte, hörte er leise Stimmen. Jim schien sich mit jemand zu unterhalten. Misstrauisch verharrte Ron und lauschte. Nach wenigen Sekunden glitt ein Grinsen über sein Gesicht. Er erkannte Tinas Stimme. Die Kleine war wirklich scharf auf Jim. Sie war ihm doch tatsächlich ins Zimmer gefolgt.
Rons Blick fiel auf Cole, der gerade im Begriff war, den Korridor zu betreten. „He Ron“, begrüßte ihn der Alte freundlich und bewegte sich auf ihn zu.
„He, Cole“, antwortete Ron sofort und eilte dem Farmer entgegen. „Sag mal, mein Alter“, sprach er lächelnd und legte einen Arm auf seine Schulter. Dann wandte er sich der Ausgangstür zu. „Ich habe mich noch gar nicht bei dir für deine Hilfe bedankt“, raunte Ron und schob den verdutzten Alten über den Flur. „Wir sollten mal ein Bier zusammen trinken. Meinst du nicht auch?“
„Aber …“, verwirrt sah Cole ihn an. „Ich wollte Jim gerade fragen, ob er bei seinen Recherchen was Neues herausgefunden hat.“
Ron seufzte. „Nein, leider noch nicht.“ Dann sah er kurz über seine Schulter zurück und flüsterte: „Ich glaube, er recherchiert noch. Wir sollten ihn also nicht stören.“ Freundlich aber bestimmend, drängte Ron den alten Mann ins Freie und verschloss die Tür hinter sich.

Jim stand mitten im Zimmer. Sein Brustkorb weitete sich enorm, als er seufzend auf den Laptop blickte. Was sollte er nur tun? Er konnte Ron doch nicht sagen, was er gesehen und versprochen hatte. Die Wahrheit würde ihn zerreißen. Ron würde ihn mit Sicherheit nicht gehen lassen und dann an seiner eigenen Entscheidung zerbrechen. Pfeifend stieß Jim seinen Atem in den Raum.
Als sich die Tür hinter ihm öffnete, drehte er sich um: „Ron - es ist nicht so wie du denkst“, begann er zu stottern. „Ich kann nicht…!“ Jim verstummte. „Tina?“, entfloh es ihm heiser. „Sag mal, schleichst du dich immer so herein?“, flüsterte er mit erhobenen Augenbrauen.
Tina hatte sich eine so schöne Rede ausgedacht. Aber als Jim sich ihr zuwandte, waren alle Worte verschwunden. Ihre Augen klebten gebannt auf dem Riesen in verwaschener Jeans. Ein verboten enges Shirt umspannte seine Brust. Unter dem Stoff zeichnete sich sein durchtrainierter Oberkörper ab. Himmel, dachte Tina, … für den Typen braucht man ja einen Waffenschein.
Lächelnd neigte Jim den Kopf, als würde er ihre Gedanken erraten.
Tina räusperte sich. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihn ununterbrochen anstarrte. Mit errötendem Gesicht flüsterte sie: „Ist alles in Ordnung mit euch? Ich … ich habe euren Streit mitbekommen.“ Verlegen suchte sie nach Worten. Was war denn nur los mit ihr? „Geht es dir gut“, hauchte sie schließlich und versuchte ihren Augen ein anderes Ziel zu bieten, was schier unmöglich war.
Jim seufzte: „Es ist wegen des Falles“, kurz hielt er inne und sah an die Zimmerdecke. Dann trafen seine Augen erneut auf Tina. „Ich komme einfach nicht weiter“, stieß er wütend in den Raum. Jim ergriff die Lehne des Stuhles, zog ihn unter dem Tisch hervor und setzte sich. Er starrte auf den Monitor. „Weißt du …“, ruckartig drehte er sich wieder in Tinas Richtung. „Einen Werwolf zum Teufel zu jagen oder einen Geist ins Jenseits zu befördern ist …!“ Jim verstummte abrupt und sah in Tinas Gesicht. Ihre schmalen Brauen schoben sich in die Höhe, als sie bitter lächelte.
Schnaubend atmete Jim aus. „Sorry“, flüsterte er und schloss die Augen. „Ich sollte dich nicht damit belasten.“ Als er hörte wie Tina näher kam, beschleunigte sich sein Puls. Jim konnte die Wärme ihres Körpers spüren. Sie stand ganz dicht hinter ihm. Die Erinnerung an ihre erste Begegnung - allein im Zimmer - ließ einen hauchdünnen Schweißfilm auf seiner Haut entstehen. Er spürte Tinas Atem in seinem Nacken. Ihre Finger fanden seinen Halsansatz und massierten ihn. „He, du bist ganz schön verspannt“, sagte sie lachend.
Jim unterdrückte ein Brummen. Er war gefangen zwischen dem Entzücken, ihre Hand auf sich zu spüren und der Gewissheit, dass er gerade mit dem Feuer spielte.
Sanft glitten ihre Finger über seine Rückenmuskulatur. Sein Körper war so warm und er roch wunderbar. Tina seufzte leise.
Als wäre Jim gebissen worden, schoss er plötzlich in die Höhe, drehte sich um und … sah in ihr Gesicht. Sie stand so dicht vor ihm. Er bräuchte nur die Hände auszustrecken, um sie zu berühren. Mit jedem Atemzug roch er sie. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Schnaubend suchte er ein Ziel an der Zimmerdecke und zuckte zusammen, als er ihre Handflächen auf seiner Brust spürte.
„Jim …“, hauchte Tina. Sie presste ihren Körper gegen seinen.
Zögernd griff Jim nach ihren Handgelenken und löste den Griff. Er neigte den Kopf und betrachtete sie. Ein dunkler Schatten legte sich auf sein Gesicht. „Tina – bitte … nicht!“ Jims Worte waren sanft und so traurig, dass sie beinahe zerbrachen. „Es … - ich … kann – es ist zu gefährlich“, stotterte er.
Tina schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was ihr tut“, flüsterte sie. „Es macht mir keine Angst, Jim!“
Schwermütig ließ Jim seinen Kopf sinken. „Aber mir“, flüsterte er und schluckte. Seine schmalen Brauen schoben sich zusammen, als er Tina in die Augen sah und flüsterte. „Du solltest jetzt gehen.“
Ungläubig blickte Tina in Jims Augen, die Eis zum Schmelzen bringen konnten und sie trotzdem abwiesen. Sie drehte sich zur Tür, um kopfschüttelnd das Zimmer zu verlassen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und ihr Herz tobte zwischen Liebe und Hass. Als sich ihre Hand auf die Klinke legte, hielt sie inne und atmete tief ein: „Nein!“
Sie würde jetzt nicht gehen. Abrupt drehte sie sich um und betrachtete Jim. Sein gesamter Körper strafte seine Worte Lügen.
Tinas Herz taumelte betäubt in ihrer Brust. Reglos stand er vor ihr und verkörperte die vollkommene Schönheit eines gefallenen Engels. Tina beobachte das Licht- und Schattenspiel in seinem braunen Haar. Ihr Blick fiel auf seine bebenden Lippen. Sie bemerkte das erregte Heben und Senken seiner Brust - das nervöse Spiel seiner Muskeln. Tief verborgen in seinen Augen flammte unzähmbare Leidenschaft.
Sie wollte ihn – sie wollte seine Begierde und seine Kraft spüren. Ihr Blick ließ ihn nicht mehr los. Langsam – aber unbeirrbar bewegte sich Tina auf Jim zu. Dieser Mann war ein einziges, geschmeidig pochendes Versprechen.
Jim empfand es plötzlich sehr heiß in diesem Raum. Mit jedem Schritt, mit dem sich Tina ihm näherte, beschleunigte sich sein Herzschlag. Er konnte sich ihrer Gegenwart nicht mehr entziehen. Die fließenden Bewegungen ihres Körpers und ihr Duft, der sie umgab, versetzten seine Hormone in Aufruhr.
Sein Körper strahlte eine unglaubliche Wärme aus und Tina wollte diese Hitze spüren. Ganz dicht trat sie an Jim heran, rieb ihren Körper an seinem. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, damit sie ihn küssen konnte. Langsam glitten ihre Finger über seinen Nacken und streichelten seinen Rücken.
Jim genoss das warme Prickeln ihres Kusses. Sie war ihm so nah, dass er ihren Atem auf seinem Gesicht spürte. Seine Blicke streiften ihre Augen und wanderten über ihren Körper. Unter ihrem engen Shirt zeichneten sich ihre Brüste ab. Begierig drängte sie sich an ihn. Alles, was Jim sah und fühlte war so wunderschön, so erregend und verführerisch. Unter einem berauschenden Schwall von Verlangen verpuffte seine Selbstbeherrschung, so dass er kein Wort hervorbrachte. Stumm umfing er Tinas Taille, um sie zum Bett zu tragen. Sie fiel auf ein Durcheinander von Decken und Kissen und Jim lag auf ihr, bevor ihm überhaupt bewusst geworden war, dass er sich bewegt hatte. Mit fahrigen, von Lust getriebenen Bewegungen zerrte er ihr Shirt nach oben. Raschelnd verteilten sich auch ihre anderen Kleidungsstücke auf dem Boden. Fordernd schob er seinen Oberschenkel zwischen ihre Beine und drückte ihre Arme gegen die Matratze.
Tina ließ Jim nicht nur gewähren - sie forderte ihn – verlangte nach ihm. Erregt flüsterte sie seinen Namen und ihre Stimme verwandelte sich in seinem Körper zu purer Elektrizität. Jim stützte seine Hände auf die Matratze und hob seinen Oberkörper an. Tina war so winzig unter ihm. Die angespannten Muskeln seiner Arme ließen sie noch zarter, noch zerbrechlicher erscheinen. Fast hatte er Angst, sie zu zerreißen.
Ganz langsam bewegte er seine Hüften auf und ab – glitt aus ihr raus und wieder hinein – immer ein wenig tiefer. Er ließ sie alles spüren, was sein Körper zu bieten hatte und Tina schmolz förmlich um ihn herum. Ihre Oberschenkel spannten sich, während sich ihr Körper seinem anpasste. Sie bebte in seinem Rhythmus, zog den Kopf in den Nacken, ihre Finger krallten sich in die Laken und ihre Pupillen flackerten auf. Abwesend und berauscht bog sie ihren Rücken durch. Eine Welle überrollte ihre Körper und beide schrien auf.
Tina sah in Jims Gesicht. Sein Blick, die Hitze seines Körpers, diese unglaubliche Energie und das Lächeln auf seinen Lippen verrieten, dass es nie genug sein würde. Sie setzte sich wortlos auf ihn und stützte ihre Hände auf seine Schultern. Langsam glitt sie an seiner Erektion herab. Ihr erregter Körper machte es leichter, ihn ganz in sich aufzunehmen. Die Reibung war elektrisierend und eine neue Welle von Lust entlockte ihr einen Schrei. Mit wachsender Leidenschaft ritt sie Jim und er presste seine Finger fest in ihre Oberschenkel. Seine Haut schimmerte. Braunes Haar klebte auf seiner Stirn. Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb, das Licht spiegelte sich in winzigen Seen zwischen seinen Muskeln. Tiefes Brummen entwich seiner Kehle, als seine Hände nach oben wanderten und fieberhaft ihre Taille umschlossen. Er gab sich ganz ihrem Rhythmus hin, zog den Kopf in den Nacken und erschauerte. Das Einzige, was er wahrnahm, waren Tinas Bewegungen. Sein Atem hetzte der Erlösung entgegen. Als er sich unter ihr aufbäumte und gefangen in ihr mit einem kehligen Schrei kam, flimmerte Hitze über seiner Haut. Tina atmete sie ein und genoss diesen wunderbaren Duft: Dunkel, erotisch und üppig.

Tiffany`s Bar, (zwei Tage später) 30.12.2009; 09:00 Uhr
„Und? Gibt es was Neues?“ Rons Frage erschien beiläufig und war der Versuch das erdrückende Schweigen zu brechen. Er saß auf dem Bett und polierte die Beretta. Vor seinen Füßen lag ausgebreitet der Inhalt seiner Waffentasche. Mit wachsender Unruhe überprüfte der Ältere zum wiederholten Mal die Funktionstüchtigkeit der Schusswaffen und den Inhalt der Tasche. Schließlich richtete er sich auf und musterte Jim, der einen der umfangreichen Texte studierte, den seine Stichwortsuche aus dem Internet gefiltert hatte. Er schien um Jahre gealtert zu sein. Unter seinen Augen zeigten sich Schatten. Ungewissheit und Angst zogen tiefe Furchen über seine Stirn.
Mit Mühe erduldete Ron Jims Schweigen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Beretta, die zwischen seinen nervösen Finger rotierte. „Ich habe keinen blassen Schimmer, was wir hier eigentlich machen und was wir für diesen Job benötigen“, murmelte er.
Jim atmete ein. Seinen Bruder so in sich zurückgezogen zu sehen, tat mit jeder verstreichenden Stunde mehr weh. „Ron!“, raunte er zwischen den alten Büchern hindurch, die sich auf dem Tisch turmhoch stapelten. „Ich habe nichts über diese Prophezeiung gefunden.“ Jim schluckte und flüsterte. „Aber ich weiß, dass Cole Recht hat, denn ich war dort.“
Schlagartig erhob Ron den Kopf. Er legte die Waffe aus der Hand und eilte zum Tisch, setzte sich seinem Bruder gegenüber.
Jim sah gequält an die Zimmerdecke. Unvermittelt begann er zu berichten. „Ich habe sie gesehen – diese Hallen!“ Seine Stimme war leise, aber die Worte sprudelten aus ihm heraus und befreiten ihn von der erdrückenden Last. Er berichtete von der Hoffnungslosigkeit und der Wut, die er in dieser Welt gesehen hatte und von seinem Gespräch mit Frigg. „Sie sagte, ich könne alles beenden, weil ich Teil beider Seiten bin und sie sagte, dass die Entscheidungen einzelner Menschen schwerer wiegen als die Entscheidung eines Gottes.“
Ron hatte still zugehört. Jims Beobachtungen glichen Coles Worten in beängstigender Weise.
Grübelnd kratzte er sich am Kopf und zuckte zusammen, als durch die vereisten Scheiben ein lautes Hämmern zu hören war. Kurz sah er über seine Schulter zum Fenster. „Aber Frigg hat Unrecht, Jim“, widersprach Ron. „Du bist kein Mörder. Wie kann sie das nur behaupten!“
„Weil sie es weiß“, flüsterte Jim. Er seufzte, als er auf den Monitor sah und zu lesen begann. „Frigg, oder auch Perchta genannt ist eine uralte keltische Gottheit. Laut Legende kennt sie das Schicksal aller Wesen. Sie besitzt ihr Wissen um das Schicksal seit jeher und muss es sich nicht erst erwerben, wie andere Götter. Daher ist sie ihnen überlegen. Aufhalten kann sie das Schicksal aber nicht. Das Paradoxe jedoch ist, dass sie selbst jedes einzelne Schicksal unwissend erschafft. Friggs magischer Gegenstand ist die Spindel. Sie spinnt die Fäden des Schicksals.“
Jims Augen verdunkelten sich. „Ron“, hauchte er, „Frigg sagte, ich werde der größte Schlächter werden. Sie sagte, ich werde unzählige Menschen töten und die Welt in Finsternis stoßen. Das ist mein Schicksal!“
„So ein Quatsch!“ Ron war aufgesprungen. Aufgebracht irrten seine Blicke über die Zimmerdecke. Dann ging er zum Fenster und sah auf den Hof. Er beobachte einen Moment lang Cole, der sich schon den ganzen Morgen am Brunnen zu schaffen machte. Sein Pickup parkte dort und der Alte hatte die Eichenstämme abgeladen. Er schien sie zu einem merkwürdigen Konstrukt zusammen zu setzen.
Abrupt drehte sich Ron wieder um und sah auf Jim. „Du bist nicht wie sie“, stieß er hervor.
Jim sah an sich herunter. Braune Fransen verdeckten sein Gesicht. „Aber was bin ich, Ron?“ Langsam hob er den Kopf und betrachtete den Älteren fragend. „Sieh mich doch an!“ Seine Worte ließen Ron erschauern.
Als Jim das Zittern seines Bruders bemerkte, sprang er auf und breitete die Arme aus. Sein Brustkorb hob und senkte sich erregt. „Meinetwegen starben Mom und Jessica im Feuer!“ Er schluckte. Augen voller Schmerz hefteten sich auf den Älteren und sein Gesicht wurde bleich. „Wegen mir wartet auf dich die Hölle, Ron!“ Verzweifelt biss sich Jim auf die Unterlippe, seine Blicke wanderten hilfesuchend durch den Raum. „… und ich kann es nicht verhindern“, flüsterte er mit erstickender Stimme. Eine Träne blitzte im Licht der Morgensonne, auf seiner Wange. „Ich bin nicht einmal ein Mensch“, murmelte Jim und ließ den Kopf sinken.
Die letzten Worte schlugen wie Peitschenhiebe auf Rons Herz ein. Er öffnete den Mund, aber Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Seine Hand suchte fieberhaft Halt an der Fensterbank in seinem Rücken. Ron hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wie sehr Jim mit seinem Schicksal haderte. Wie sehr er sich selbst verachtete und sich die Schuld an ihrem rastlosen Leben und dem Tod so vieler geliebter Menschen gab. Gequält schloss er die Augen. „Jim!“ Es tat ihm leid und er fühlte sich miserabel. Wie hatte er nur so skrupellos sein können? „Nicht was wir sind, sondern was wir tun ist es, das uns menschlich macht!“
„Vielleicht ist das meine Strafe Ron! Vielleicht ist es die Buße für mein dämonisches Blut und den Fluch, den ich damit über meine Familie gebracht habe“, entgegnete Jim.
Ron war ganz dicht an Jim heran getreten. Mit beiden Händen umfasste er seine Oberarme. „Jim, hör mir zu! Du bist nicht wie die Schlächter …. Du wirst nie einer von ihnen sein! Frigg muss sich irren!“
„Und wenn nicht?“ konterte Jim. „Vielleicht kann ich es auf diese Weise wieder gut machen.“
„Was Jim! Was willst du wieder gut machen“, schrie Ron und schüttelte Jim, als wollte er ihn zur Vernunft bringen. „Du hast nichts Böses getan.“ Er ließ Jim los und trat einen Schritt zurück. „Glaubst du dein …“, gequält suchte Ron nach Worten. „…Blut ist finsterer als das dieser Schlächter? Glaubst du deine Schuld ist größer als ihre und aus diesem Grund musst du ihnen vergeben?“ Rons Augenbrauen schoben sich in die Höhe, als er Jim ansah: „Glaub mir, sie haben im Gegensatz zu dir die Hölle verdient!“
Jims Hände ballten sich zu Fäusten, als er leise weiter sprach „Aber was ist mit den Seelen ihrer Opfer - Ron? Sie sind gebunden an ihre Mörder. Wir können sie doch nicht der Ewigkeit überlassen. Sie haben keine Schuld auf sich geladen und müssen trotzdem leiden.“
Rons Augen öffneten sich weit. Ungläubig sah er Jim ins Gesicht: „Willst du an ihre Stelle treten? Ist es das, Jim? Glaubst du, ihr Leid zu übernehmen wird dein Blut rein waschen?“
Jim hob schnaubend seine Arme: „Sie sind verzweifelt und morgen Nacht wird ihre Verzweiflung in Hass umschlagen. Einer muss ihnen zuhören!“
Ratlos riss Ron den Kopf in den Nacken. „Hör MIR zu, Jimmy! Wir jagen Geister, Monster und Dämonen, aber wir sind nicht Gott! Es ist nicht unsere Aufgabe allen zu vergeben!“ Sein Zeigefinger tippte hart gegen Jims Brustbein: „Frigg sagt, es ist deine Entscheidung und Entscheidungen eines Menschen wiegen schwerer. Oder?“
Jim nickte wortlos.
Ron wandte sich abrupt um und ging wieder auf das Fenster zu. Grübelnd kratzte er sich am Hinterkopf, als er nach draußen sah. „Was macht Cole nur da draußen am Brunnen?“, murmelte er, bevor seine aufbrausenden Gedanken erneut Jim galten. „Wenn ich das richtig verstanden habe, kann dich Frigg nicht zwingen, oder?“, schnaufend atmete Ron gegen das frostige Glas. „Du kannst dein Schicksal selber bestimmen. Wir müssen nicht Bestandteil dieser verdammten Prophezeiung sein, wenn wir uns nicht dazu machen lassen. Lehne ab Jim!“
Beschwörend sah er den Jüngeren an. „Wenn du nicht freiwillig zustimmst, dann kann sie nichts…“ - Entsetzt hielt Ron inne. Er spürte, wie eine aufsteigende Ahnung zur Gewissheit wurde. Schlagartig war ihm speiübel. „Du hast eingewilligt …“, entfuhr es ihm heiser, „du verdammter Mistkerl hast in dieses Spiel eingewilligt!“ Rons Atem entwich seiner Lunge stoßweise und der Gedanke an Friggs brutale Reiter riss ihm die Farbe aus dem Gesicht. Kaum noch der Stimme mächtig sah er auf Jim, der seinem Blick schweigend auswich.
„Warum hast du das nur getan, Jimmy?“
Jim hatte nichts von Lilly erzählt, um Ron nicht noch mehr zu quälen. Er hatte nicht erwähnt, wie viele unschuldige Seelen sich in Friggs Hallen drängten. Er wusste, es ging nicht nur um diese Seelen, sondern auch um die Lebenden. Sollte er sein Wort brechen, würde die Wilde Jagd in der nächsten Raunacht vom Himmel stoßen und diesen Ort ausradieren – und wer weiß, wie viele weitere.
Jim dachte an Ron und die Einwohner von Grafton. Er dachte an Tina. Immer, wenn er einatmete, hatte er das Gefühl, sie zu riechen – so als würde sie neben ihm stehen. Er spürte immer noch ihre Finger auf seiner Haut, hörte ihr Flüstern und schmeckte ihren leidenschaftlichen Kuss. Diese Menschen waren es wert, seine dämonische Seele zu opfern.
Ron konnte es nicht fassen. Das hatte Cole also gemeint mit: Die Entscheidung sei gefallen.
Der Farmer wurde ihm langsam unheimlich. Wo nahm er nur all dieses Wissen her? Kopfschüttelnd sah Ron auf Jim, immer noch unfähig, sein Entsetzen in Worte zu fassen. Unter bebenden Haarfransen fixierten ihn blaugraue Augen, in deren Glanz sich Angst und Entschlossenheit gleichermaßen zeigten. Schuldbewusst suchten Jims Hände den Weg in die Taschen seiner Jeans. „Es tut mir leid – Ron!“, flüsterte er mit zerbrechender Stimme. „Ich hatte keine Wahl. Ich konnte doch nicht zulassen, dass …“
„Ist schon gut, Jimmy!“, schnaufend fiel ihm Ron ins Wort, „ich weiß, dass du keine Wahl hattest. So bist du eben und du wirst dich nie ändern.“ Mit einigen Schritten ging er auf Jim zu, blieb aber auf halben Weg stehen. „Was machen wir jetzt nur, Jimmy?“
Jim hob die Schultern, zog seinen Kopf in den Nacken und seufzte: „Warten, Ron. Wir können nur warten bis sie kommen.“
Rons Atem explodierte in seiner Kehle. „Du verlangst also von mir, tatenlos zu warten, bis dich diese …“, er unterdrückte seinen aufkommenden Groll, „… Reiter verschleppen?“ Beschwörend hob Ron die Hände: „Jim - hast du gesehen, was die mit ihren Opfern anstellen?“
Langsam neigte Jim den Kopf und sah seinem Bruder in die Augen: „Ron – sie werden mich nicht töten! Das können sie nicht.“
Der Ältere schnaufte laut. Seine Augen funkelten: „Ach ja – ich vergaß! Du bist ja jetzt … Wolverine!“, zischte er.
„Ron …!“, flötete Jim. Sein Oberkörper wich nach hinten aus, seine Blicke mieden Ron. Stattdessen irrten sie ziellos durch das Zimmer.
Kurz atmete Ron ein – er schien zu überlegen. Schließlich fragte er mit zitternder Stimme: „Du hast es also mitbekommen, Jim?“
Die Stirn des Jüngeren kräuselte sich fragend: „Was?“
Ron sah gequält in Jims Gesicht: „Du warst bei Bewusstsein in dieser Raunacht und hast das mit den Rippen mitbekommen?“
Als Jim wortlos nickte, atmete Ron tief ein. Grauenhafte Bilder kehrten zurück. Jims Schmerzensschreie drängten sich in seine Erinnerung. „Was hast du noch mitbekommen, Jimmy?“, fragte er leise.
„Alles“, antworte Jim.
„Alles!“, wiederholte Ron stöhnend. Seine Augen schlossen sich, als er den Kloß in seinem Hals hinunter schluckte.
Jims Seufzer unterbrach ihr bedrückendes Schweigen: „Ich muss ihnen nur zuhören, Ron. Sie werden mich nicht töten!“ Mit ruhiger Stimme versuchte er, seinen Bruder zu besänftigen. Doch Ron verzog sein Gesicht zu einer Maske. „Nein Jimmy, sie werden dich nicht töten!“ Er atmete heftig und die Kraft, die er benötigte, um seine brodelnde Wut unter Kontrolle zu halten, stieg ins Unermessliche. „Sie werden deine Seele in Stücke reißen - Jim!“, schrie er ihm mitten ins Gesicht.
Der tuckernde Motor des Pickups, der das endlose Hämmern im Hof ablöste, schob Rons Sorge um seinen Bruder etwas in den Hintergrund. Ron ging zum Fenster. Seine Finger ergriffen den Rüschenrand der Gardine und schoben sie etwas zur Seite. Neugierig streiften seine Augen zum Brunnen. „Was zum …!“, er schnaufte überrascht, „Jim … sieh dir das mal an!“ Nickend forderte er Jim auf, ihm zu folgen. Mit riesigen Schritten war der Jüngere ebenfalls am Fenster angelangt: „Du meine Güte!“ Jims Brauen schoben sich in die Höhe.
„Was zum Henker ist das?“, flüsterte Ron.
Cole hatte aus den Eichenstämmen auf seinem Pickup ein gewaltiges Kreuz mit verlängerten Stützbalken aufgebaut. Mit Hilfe von Stahlseilen, die er mit eisernen Karabinerhaken in die Ösen an den Querschenkeln eingehängt hatte, hievte er das gewaltige Relikt in die Höhe. Leise tuckerte der Motor des Pickups und trieb eine schwere Seilwinde, die auf der Ladefläche montiert war. Der Fuß des Kreuzes befand sich in einer Art eisernem Sockel, der offensichtlich schon vor langer Zeit in das Mauerwerk des Brunnens eingelassen worden war. Langsam richtete sich das Objekt auf und verdunkelte mit seinem Schatten den gesamten Hof. Laut knackend fixierten schließlich stählerne Bolzen das Kreuz in aufrechter Position. Die über die Jahrhunderte nachgedunkelte Eiche war fast schwarz. Seltsame Symbole waren in kunstvoller Weise ins Holz gemeißelt. Um den Schnittpunkt der Balken lag ein verzierter Ring. Mit einer Gesamthöhe von etwa vier Metern thronte das Kreuz bedrohlich über dem alten Brunnen.
„Wow …!“, stieß Jim ehrfurchtsvoll in den Raum. Sogleich zogen sich seine Brauen zusammen. „Das habe ich doch schon mal gesehen“, entwich es ihm rau, als er auch schon auf dem Weg zurück zum Tisch war, um fieberhaft in einem der Bücher zu suchen.
Ron verfolgte interessiert die Aktivität des Bruders vom Fenster aus. „Das sieht mir irgendwie nicht christlich aus“, stellte er fest, während er zu Jim ging, dessen Finger hektisch die Seiten eines Buches umschlugen.
„Ist es auch nicht, Ron“, antworte Jim heiser. „Es ist keltisch. Sieh hier!“ Sein Zeigefinger tippte auf eine Fotografie.
Ron kratzte sich am Hinterkopf. „Nun - was wissen wir darüber, Jimmy?“ Etwas verlegen lugte er über Jims Schulter.
Ein Lächeln umspielte Jims Lippen, als er zu lesen begann: „Ein Keltenkreuz ist ein Element der frühmittelalterlichen und mittelalterlichen sakralen Kunst im keltischen Kulturraum. Es ist ein Balkenkreuz, meist in Stein gehauen. Diese Form wird auch als Radkreuz bezeichnet. Besonders die frühirischen Kreuze des 7.und 8. Jahrhundert sind mit Darstellungen in mannigfaltigen Variationen verziert.“
Auf Rons Stirn zeigte sich eine tiefe Furche. „Aber dieses Kreuz ist aus Holz“, stellte er fest und sah fragend in Jims Gesicht. „Ja – das ist ungewöhnlich“, bestätigte Jim und schien kurz in Gedanken zu versinken. „Diese seltsamen Führungs-Ösen und Halterungen an den Querbalken entsprechen auch nicht der Norm.“
„Ich glaube, es ist an der Zeit, sich mal mit Cole darüber zu unterhalten. Meinst du nicht auch, Jim?“ Nickend stimmte Jim zu.

Gemächlich, aber voller Erwartung schlenderten die Barkerbrüder über den Hof zum Brunnen. Schon nach wenigen Metern drang der Frost durch ihre Jacken. Die Temperatur hatte sich nicht verändert. Langsam aber unaufhaltsam erstarrte Grafton zu Eis.
Wie durch einen Schleier beobachteten sie neugierig Coles emsiges Treiben, denn ihr eigener gefrierender Atem behinderte ihre Sicht. Der alte Farmer räumte Werkzeuge auf die Ladefläche seines Pickups.
Als er in seinem Rücken Schritte hörte, verharrte er bewegungslos.
Auch Jim und Ron blieben stehen. Staunend folgten ihre Blicke dem Stützbalken des keltischen Kreuzes nach oben. Es schien, als wäre dieses wie eine alte gotische Kirche so konstruiert, dass es die Blicke der Betrachter unweigerlich in den Himmel zog. An seinem Fuße stehend wirkte selbst Jim wie ein Zwerg. Die Morgensonne stand direkt hinter dem Schnittpunkt der Balken und ihr Licht stieß in hellen Strahlen an den äußeren Kanten des Ringes vorbei – als wäre die Mitte dieses Kreuzes die Sonne selbst.
„Ich habe mir gedacht, dass ihr mit mir reden wollt“, sprach Cole mit ruhiger Stimme und drehte sich langsam um. Raureif hatte sich an seinen Haaren und Brauen festgesetzt. Sein faltiges Gesicht war unnatürlich blass.
„Heilige …“, entfuhr es Ron erschrocken. Adrenalin überflutete seinen Körper. In der nächsten Sekunde richteten sich zwei Pistolen auf die Stirn des alten Farmers. Die Jäger waren zurückgewichen und hatten im gleichen Atemzug ihre Waffen gezogen. Mit leicht gespreizten Beinen standen sie Cole gegenüber, bereit den Abzug zu drücken: Cole hatte schon immer extrem helle Augen gehabt, aber jetzt waren sie weiß und glitzerten wie Eis.
„Was ist mit deinen Augen, Cole?“, fragte Ron. „Hast du SIE etwa auch gesehen?“ Mit nervös zuckenden Mundwinkeln sprach er weiter: „Wenn ja – dann müssten wir dich nämlich erschießen“, drohte Ron in einem Ton, der keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen ließ. Jim trippelte mit den Füßen, um seinen Stand zu fixieren und schluckte unentschlossen.
Auf Coles Gesicht legte sich ein warmes aber furchtloses Lächeln, als er seinen Kopf neigte. Er klappte den Kragen seiner grauen Wattejacke nach oben und raunte: „Es ist nicht so, wie du denkst, Ron.“
„So? Was denke ich denn, Cole?“, erwiderte Ron. Sein Zeigefinger zuckte am Abzug der Beretta.
„Ich bin nicht der Feind“, Cole versuchte mit erhoben Händen, die Brüder zu besänftigen.
Langsam entspannten sich Rons Gesichtszüge: „Naja – wir wissen, dass kein Mensch Friggs Blick standhält …“, er räusperte sich, bevor er weiter sprach „…ohne zumindest zu erblinden!“ Kurz schnellten seine Brauen nach oben, als er zynisch hinzufügte: „Einzige Ausnahme – unser Wunderknabe hier!“ Rons Blick streifte Jim, der diese Bemerkung mit einem Seufzer kommentierte.
Ron schlussfolgerte: „Was mich zu der Erkenntnis bringt, dass du kein Mensch sein kannst - Cole!“ Er wandte sich an Jim: „Sollten wir ihn jetzt nicht erschießen, Jimmy?“
Der Jüngere senkte langsam seine Hand mit der Pistole und rollte genervt die Augen.
„Du hast Recht, Jim“, schnaufte Ron. „Vielleicht ist Steinsalz besser – oder vielleicht eine Silberkugel direkt ins Herz – oder Weihwasser? Was meinst du - Jimmy?“
„Ron…bitte – hör auf!“, flötete Jim und sah kopfschüttelnd in den Himmel. Ron richtete nun seinerseits die Waffe gegen den Boden.
Langsam hob Cole den Kopf. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen und im Kontrast zu seinen merkwürdigen Augen bekam sein Gesicht etwas Geisterhaftes. „Ja – ich kenne Frigg“, sagte er.
„Ron“, flüsterte Jim. Er gab seinem Bruder einen Seitenhieb: „Du hast Recht. Kein Mensch könnte Frigg ansehen, ohne Schaden zu nehmen. Es sei denn …!“ Jims Augenbrauen schoben sich in die Höhe. Er sah den alten Mann an und neigte den Kopf.
„Was?“, Ron trippelte ungeduldig mit den Füßen.
Jim schnaufte, als er seinen Blick kurz abwandte und das Kreuz betrachtete. „Keltisch“, murmelte er. Dann nahm er Cole erneut ins Visier. „Du bist ein Druide!“
Ron riss die Augen auf. „Ein…Was?“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Sag mal, Jimmy, hast du wieder Fieber? Das wird ja immer verrückter!“ Skeptisch starrte er auf Jim. „Ich denke, Druiden sind Legende!“
Der Alte hob belustigt den Kopf.
„Na ja“, schnaufte Jim, als sich ein schmales Grinsen auf seine Lippen legte. „Ron, sag mir welches der Wesen, die wir jemals gejagt haben, keine Legende war?“
Ron gab sich geschlagen. Er beugte sich zu Boden und stieß widerwillig einige Atemzüge in die Luft. „Sind Druiden nicht Zauberer“, fragte er.
Cole lachte laut los. Als ihn der zornige Blick der Jäger traf, schwieg er.
Jim kratzte sich am Hinterkopf. „Die Druiden waren eine Art kultische und geistige Elite in der keltischen Gesellschaft. Leider weiß man nicht wirklich viel über Druiden und die Kirche streitet ihre Existenz permanent ab. Aber soweit aus den Legenden bekannt ist, waren sie neben ihrem religiösen und kultischen Wirken auch politisch tätig und agierten als Ratgeber der Fürsten und als Unterhändler. Es stand ihnen zu, Frieden zu stiften.“ Jim holte schnaufend Luft, als er in den glasklaren, kalten Himmel blickte. „Sie sollen seherische Fähigkeiten haben und ein ungeheures Wissen über Magie besitzen.“ Er sah Ron an: „Im Grunde genommen sind sie so was wie Schamanen!“
Ron hob die Brauen: „Wenn das so ist, soll unser Merlin hier doch gehen und dieses Heer aufhalten!“ Seine Augen trafen auf den Alten, der aufmerksam zugehört hatte. Mitfühlend sprach Cole: „Jäger! Ich verstehe die Angst um deinen Bruder. Aber ich kann seine Aufgabe nicht übernehmen. Ich besitze traditionelles Wissen über die vergessene Kultur meiner Vorfahren und deren Magie. Doch meine Fähigkeiten sind begrenzt.“ Mit weißen Augen sah er auf Jim: „Frigg hat IHN berührt. Seine Magie ist echt. Sie ist aus Fleisch und Blut. Ich aber habe nur das Wissen und die Werkzeuge, um euch zu helfen.“
Jim schnaubte. Das war ganz und gar nicht das, was er hören wollte. Zähneknirschend sah er zu Boden. Er wollte diesen ganzen Hokuspokus nicht. Er wollte keine Macht, kein dämonisches Blut oder besondere Fähigkeiten. Er wollte einfach nur ein normaler Mensch sein.
„Cole! Warum hast du nicht schon vorher was gesagt?“, wollte Ron wissen.
„Ich musste vorsichtig sein. Ich musste sicher gehen, dass die Prophezeiung eintrifft“, gestand der Alte. „Seit Jahrhunderten agieren wir im Verborgenen. Wenn irgendjemand etwas über unsere Existenz mitbekommt, hätte das schreckliche Folgen für uns!“ Seine Augen hefteten sich müde auf Ron. „Wir werden seit tausenden von Jahren verfolgt und verleugnet – bis heute.“
„Gibt es noch mehr von euch?“ Jim hatte sich Cole zugewandt. Seine Brauen schoben sich zweifelnd zusammen, denn er sah, wie einsam der alte Mann war.
Cole wurde still: „Ich weiß es nicht. Ich habe schon über 50 Jahre nichts mehr von meinem Orden gehört.“
Rons Augen glitten skeptisch über das gewaltige Kreuz: „Hältst du das etwa für unauffällig?“ Mit einem bitteren Lächeln musterte er den alten Farmer.
Cole rieb sich seine vor Kälte schmerzenden Hände: „Es ist notwendig Ron – und die Zeit ist gekommen!“ Er schnaubte. „Dieses Kreuz ist der Schlüssel. Es wird das Portal für die Lebenden öffnen und gleichzeitig für die Toten verschließen“, erklärte er und seine Augen folgten dem Muster der Balken. „Es ist für dich die einzige Möglichkeit, deinen Bruder zu retten, denn dieses Relikt lässt nur lebendes Fleisch und Blut den Schoß der Erde passieren.“ Er seufzte: „Du brauchst mich, Ron, denn ich bin der Einzige, der diesen Schlüssel bedienen kann.“
Mit Schrecken im Gesicht starrten die Brüder auf das Kreuz und erkannten: ihr erster Eindruck hatte sie nicht getäuscht. Die Führungs-Ösen am rechten und linken Querbalken hielten nun starke Hanfseile an deren Enden sich Karabinerhaken befanden. Sie wurden im Schnittpunkt des Kreuzes über einen Flaschenzug auf die Rückseite gelenkt um schließlich über eine Führungsschiene auf eine hölzerne Seilwinde am Fuße des Kreuzes aufgerollt zu werden. Diese Seilwinde konnte nur mit einer Handkurbel bedient werden. Der Flaschenzug im Schnittpunkt des Kreuzes, war auf eine eiserne Halterung montiert, und konnte mittels schwerer Scharniere nach vorn geklappt werden. Die extreme Art der Verarbeitung und Befestigung dieser eigenartigen Mechanik ließ darauf schließen, dass sich während der Benutzung enorme Belastungen und Kräfte entwickeln würden. Ron musterte die Hanfseile. Sie baumelten im Wind wie die Stricke eines Galgens. Er wollte gar nicht wissen, was in diese Karabinerhaken eingehängt werden sollte. Seine wachsamen Augen hatten längst die breiten Lederriemen auf der Ladefläche des Pickups ausgemacht. Er ging einen Schritt zurück und überlegte, was diese Apparatur mit einem menschlichen Körper anstellen würde. „Hat man …“, Ron schluckte hart … „dieses Ding schon einmal ausprobiert?“
Cole neigte den Blick und schwieg.
„Cole!“, mischte sich Jim in das Gespräch ein. Er war an den Alten heran getreten. Sein Brustkorb weitete sich in rhythmischen Abständen. In Jims Augen flackerte Angst, als sich seine Finger in der Schulter des Alten vergruben. „Ist es schon einmal gelungen, einen Menschen damit durch die Dimensionen zu ziehen?“ Seine Blicke wanderten mit Entsetzten über das keltische Kreuz, das eine verdammte Maschine war.
Gequält sah Cole die Jäger an. In seinen weißen Augen lag zum ersten Mal Unsicherheit: „Das Ritual wurde lange vor der christlichen Zeitrechnung angewandt“, brachte er über seine Lippen.
Damit gab sich Jim nicht zufrieden: „Und ...?“ Er schüttelte den Alten energisch.
Coles Augen eilten verzweifelt am Kreuz entlang zum Himmel. „Ich weiß es nicht …!“, flüsterte er.


Grafton, 31.12.2009, 22:15 Uhr, Tiffanys Bar
„Seid ihr völlig verrückt geworden?“ Aufgebracht irrten Tinas Blicke über die kleine Runde am Tisch. Sie drückte ihren Rücken gegen die Lehne des Stuhles auf dem sie saß und fixierte Cole, der mit zitternden Fingern ein Whiskyglas festhielt. Auch er wich ihrem drängenden Blick aus. Schlagartig wandte sie sich an Jim: „Sag doch was!“
Jim hatte den Kopf geneigt und schwieg. Seine Finger suchten unter dem Tisch Halt im Stoff seiner Jeans. Ron sah ebenfalls zu Boden und räusperte sich, während er unter zusammengezogenen Brauen Jim heimlich beäugte.
„Mom …!“, stieß Tina in den Raum. Sie wandte sich hilfesuchend an ihre Mutter. Tiffany zuckte zusammen. Vor ihr auf dem Tisch lag Dylan`s Tagebuch und ein vergilbtes Papier. In eng beschrieben Zeilen füllten die Strophen eines keltischen Rituals in alter Schrift das zerknitterte Blatt.
„Es ist ihre Entscheidung“, hauchte die Wirtin und blickte in die sonst menschenleere Gaststube. Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren blieb Tiffany`s Bar in der Silvesternacht geschlossen. Mit zitternden Händen nahm sie das Papier zwischen die Finger, um es Cole zu reichen. „Es war wirklich hinter meinem Lieblingsfoto versteckt“, flüsterte sie, als der Alte das Papier entgegen nahm. Tina beobachtete ihre Mutter. Anschließend sah sie auf die Jäger. Ihre blonden Haarfransen standen in alle Richtungen. „Ihr müsst das nicht tun!“ Mit einer Mischung aus Wut und Angst beobachtete sie Jim. Dabei trommelten ihre Fingernägel auf der polierten Oberfläche des Tisches.
„Tina …“, raunte Jim. Seine Stimme war leise. Langsam hob er den Kopf und sah sie beschwörend an.
Ron war aufgesprungen und eilte zum Fenster. Sein Blick streifte durch die vereiste Scheibe über den schwach beleuchteten Hof. Der Nachthimmel wurde ab und zu durch bunte Lichter erhellt. In diesem Flackern zeichnete sich die riesige Silhouette des Kreuzes bedrohlich ab. Als Ron Jim erneut ansah strich er sich mit der Handfläche über das Gesicht. „Sag mir, Jim, warum sollen wir jetzt plötzlich zu dieser beschissenen Lichtung fahren?“
Jim presste den Rücken gegen die Stuhllehne. Sein Schnaufen überdröhnte das Knarren des kleinen Möbels. „Also - bevor wir hier anfangen, Menschen ans Kreuz zu schlagen, sollte wir das Ganze noch einmal überdenken, Ron!“, erklärte er und legte die Stirn Falten. Seine Finger zerzupften schon die dritte Papierserviette. „Laut Legende stößt die Wilde Jagd in der Silvesternacht vom Himmel.“
„Ja, das wissen wir…“, fiel ihm der Ältere ins Wort.
„Ron …!“, flötete Jim. „Sie wollen mich. Also werden sie zu mir kommen!“
„Dann lass sie doch hierher kommen - Jim“, herrschte ihn Ron an. Daraufhin neigte er den Kopf und murmelte: „Hier sind wir zumindest etwas vorbereitet.“
„Bist du verrückt, Ron?“ Jim schnellte in die Höhe. „Du hast doch gesehen, was sie das letzte Mal angerichtet haben.“ Sein Brustkorb hob und senkte sich erregt. „Wir können doch diesen Ort nicht einer solchen Gefahr aussetzen. Wir haben nicht die geringste Ahnung, was passieren wird.“ Kurz streiften Jims Augen den alten Cole, der schweigend auf das Glas in seinen Händen starrte.
„Vielleicht können wir das Schlimmste verhindern, ohne dabei das Leben so vieler Menschen zu gefährden“, flüsterte Jim und erntete ein verständnisloses Kopfschütteln von seinem Bruder.
„Wie du schon sagtest, Jim – wir haben nicht die geringste Ahnung, was passieren wird … wie zu Hölle willst du das Schlimmste verhindern, wenn du nicht mal weißt, was es ist?“, konterte Ron. Jim presste die Lippen aufeinander.
„Vielleicht hat Jim Recht“, mischte sich Cole in das Gespräch ein, ohne dabei den Kopf zu heben. Erstaunte Gesichter richteten sich auf ihn. „Es ist besser, das Heer nicht nach Grafton zu locken und diese … Maschine - möglicherweise nützt sie uns nichts!“ Kurz schien der Alte zu überlegen. „Sie lässt nur menschliches Fleisch und Blut passieren.“
Misstrauisch heftete sich Rons Blick auf den Alten. Seine Augen formten sich zu Schlitzen, als er an Cole heran trat. „Was soll das heißen!“, fragte er rau.
Cole hob die Schultern. „Ich meine ...“, er schluckte unbeholfen, „Jims Blut …!“ Bedrückt sah er auf Ron und dann auf Tina. „Das Kreuz ist nur für … Menschen konstruiert … und …Jim …!“
„Schluss jetzt!“, unterbrach ihn Ron. Hart schlug seine Hand auf die Tischplatte. Sein Puls beschleunigte sich rasant und er spürte, wie sich sein Gesicht vor Zorn rot färbte.
Cole zuckte zusammen. Er starrte wieder auf sein Glas. „Ich befürchte, es wird Jim ehr zerreißen als retten“, brummte er kaum hörbar.
Tinas Augenbrauen schoben sich in die Höhe. Verwirrt starrte sie auf Ron. „Was ist mit Jims Blut?“ Ihre Stimme vibrierte.
Ron riss seinen Kopf in den Nacken. Er rang stöhnend nach Luft.
„Ron – warum wird diese Maschine Jim töten?“ Tränen füllten ihre Augen, als sie auf den Älteren zuging, um ihn an der Schulter zu ergreifen.
„Diese Maschine hat noch nie jemanden gerettet“, wich Ron ihrer Frage aus. Sein Blick traf wütend auf Cole.
Aber Tina ließ nicht locker. „Was ist mit dir, Jim?“ Bestürzt sah sie Jim an. Sein Blick war auf den Tisch gerichtet. Ron hatte ebenfalls den Kopf gesenkt. Er stierte auf den Boden.
Langsam hob Jim den Kopf. Seine blaugrauen Augen begegneten ihrem Blick und die pure Verzweiflung in ihnen machte ihr Angst.
„Jim – sag mir, warum dich diese Maschine töten kann“, hauchte Tina.
Jim zog den Kopf in den Nacken. Er schnappte nach Luft – es hatte den Anschein, als würde er an den Worten, die auf seiner Zunge lagen, ersticken. Mit beiden Händen fuhr er sich durchs Haar. „Weil ich ein Halbdämon bin“, entfuhr es ihm verbittert. Er ließ die Schultern sinken und keuchte leise: „Ein verdammter Bastard!“ Schwer, als könne er diese Last nicht mehr ertragen, sank Jim auf den Stuhl zurück.
„Jim …!“, raunte Ron betroffen. Hilflos breitete er die Arme aus und sah ihn an.
Tina wurde kreidebleich. Schwankend klammerte sie sich an die Stuhllehne. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf Jim, der nicht mehr in der Lage war, sie anzusehen. Blankes Entsetzten wühlte sich in ihr hoch. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, als sie Hilfe suchend auf den älteren der Brüder blickte. „Das ist nicht wahr“, flüsterte sie und ihre Augen flehten Ron an, zu widersprechen. „Ron - sag dass es nicht wahr ist!“
Tinas Stimme verebbte, als Ron hilflos den Kopf schüttelte.
Ihre letzte Mahlzeit wollte sich aus ihrem Magen drängen. Jims Worte schnitten wie Schwerter durch ihr Herz: Jim war ein Dämon … er war ein … Ding?! Tina hatte das Gefühl, der Boden würde sich unter ihren Füßen auflösen.
Noch einmal streifte ihr Blick den braunhaarigen Jüngeren, der in sich zusammen gesunken auf seinem Stuhl saß und nicht einmal den Versuch unternahm, sich zu verteidigen.
Sie wandte sich geschockt ab und rannte zur Tür.
„Tina…!“, heiser rufend sprang Jim auf. Als sie ihm den Rücken kehrte, streckte er verzweifelt seine Hände nach ihr aus. Es war zu spät. Tränen liefen über seine Wangen und Jim konnte nur machtlos zusehen, wie sie aus der Gaststube verschwand.
Tiffanys Blicke wechselten von ihrer Tochter auf den jungen Jäger. Dann vergrub auch sie ihr Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen.
„War das jetzt wirklich notwendig, Jim?“, blaffte Ron seinen Bruder an.
Jim war in die entgegengesetzte Richtung gegangen und schlug seine Stirn gegen die Wand.
Immer noch bestürzt über Jims Hang zur Selbstzerstörung schüttelte Ron den Kopf und folgte ihm langsam. Jims bebende Schultern verrieten, wie tief der Schmerz saß. Dabei hatte Ron so gehofft, dass Tina sein Herz heilen würde – aber gerade hatte sie es zerschmettert.
Langsam hob Jim sein Gesicht und starrte gegen die Wand. Die Gelenke seiner Finger knackten, als er die Hände zu Fäusten ballte. Er zog die Nase hoch und drehte sich um. Sein Gesicht glänzte nass, als er Ron ansah. „Es ist besser so“, flüsterte er und rieb sich die Tränen aus dem Gesicht. Nachdem Jim auf die Uhr gesehen hatte, sprach er mit monotoner Stimme: „Wir sollten uns auf den Weg machen!“
Cole nickte. „Ich bleibe hier am Kreuz. Laut der Überlieferungen benötigen wir es für die Rückkehr des Kriegers.“
„Deine verdammte Überlieferung ist mir scheißegal“, fauchte Ron den Alten an. „Warum hast du das verteufelte Ding überhaupt aufgebaut, wenn es nicht helfen kann?“ Die Wut in seinem Inneren ließ Ron fast platzen. „Weißt du was? Ich scheiß auf diese Prophezeiung!“ Hastig drehte er sich zu seinen Bruder um: „Morgen früh verschwinden wir hier, Jim.“
„Ron!“ Tiffany war aufgestanden. Mit dem Handrücken strich sie sich einige rote Locken aus der Stirn. „Er will euch doch nur helfen!“ Beschwörend hob sie das Tagebuch vom Tisch. „Es ist nichts Genaues über ein derartiges Ereignis überliefert. Ich habe das ganze Buch studiert. Aber eins wird immer wieder erwähnt. Nur die Brüder, die gemeinsam jagen, können es beenden.“ Mahnend sah sie dem Älteren in die Augen. „Wir müssen also abwarten.“
„Toller Plan!“, knurrte Ron und seine Augen richteten sich vorwurfsvoll auf den alten Farmer: „Ihr Druiden solltet eure Prophezeiungen deutlicher formulieren und eure beschissenen Rituale besser aufschreiben!“ Dann riss er Tiffany das Tagebuch aus der Hand und fuchtelte damit wild im Raum herum, bevor er es achtlos auf den Tisch warf. „Mit diesem Mist kann keiner was anfangen.“ Abrupt wandte er sich an Jim: „Jimmy - lass uns die Welt und deinen Arsch retten gehen. Ich weiß zwar nicht wie - aber wir haben ja einen planlosen Druiden an einem nicht funktionstüchtigen Dimensions-Schlüssel stehen.“ Er warf seine Lederjacke über und schulterte kopfschüttelnd die Waffentasche. Jim folgte ihm wortlos zur Tür. Er wusste, es war gesünder, Ron in diesem Moment nicht zu widersprechen.
„Halt!“, rief Cole. Die Jäger erstarrten in ihrer Bewegung. Erwartungsvoll drehten sie sich um. Mit einigen Schritten eilte der Alte Jim entgegen, blieb dicht vor ihm stehen, schloss die Augen und murmelte irgendetwas Unverständliches. Unerwartet stieß seine Hand in Jims Hemdausschnitt und legte sich auf seine Brust. Ein brennender Schmerz durchfuhr den Jüngsten. Jim keuchte auf und wich zurück. Er spürte wie Cole das Amulett der keltischen Hunde von seinem Hals riss. „Das wirst du nicht mehr brauchen“, raunte der Druide und streckte das Amulett dem Älteren entgegen. „Die Hunde haben nun die Witterung deines Bruders aufgenommen“, erklärte er Ron. „Wenn Jim verschwinden sollte, wirst du ihn mit Hilfe dieses Amulettes wieder finden.“
Stöhnend öffnete Jim sein Hemd und betrachtete die schmerzende Stelle auf seinem Brustbein. Cole hatte ihm das Schmuckstück gegen die Haut gepresst. An dieser Stelle hatte sich der Abdruck der Hunde in sein Fleisch gebrannt. Verblüfft griff Ron nach dem Amulett, musterte den Alten skeptisch und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. „Wenigstens etwas“, murmelte er und öffnete die Tür zum Hof.

Die Luft war frostig. Jeder Atemzug der Jäger verwandelte sich in schneidende Kristalle. Ron riss den Kofferraum auf. Die Haut seiner Finger blieb am eisigen Metall des Ford Mustang kleben. Fluchend zog er die Hand zurück und warf die Waffentasche ins Wageninnere. Der Motor des Wagens tuckerte schon seit einigen Minuten vor sich hin, um den Innenraum zu erwärmen. Mit eingezogenen Köpfen kratzten die Jäger die Scheiben frei.
Seufzend warf Jim einen Blick auf seine Uhr: 23:15 Uhr. Er legte seine Hände auf das Wagendach und nickte Ron zu. Dann öffnete er die Beifahrertür.
„Jim!“ Tinas zarte Stimme schallte über den Hof. Als sich Jim umdrehte, sah er ihren schmalen Körper auf sich zueilen. Eine Sekunde später schlang sie ihre Arme um seinen Hals. Ihr Körper zitterte, als sie zu ihm hinauf sah. „Es ist mir egal, wer oder was du bist“, flüsterte sie. Ihre Finger fuhren durch sein braunes Haar. „Ich liebe dich.“
Jim umfasste ihre Taille und zog sie an seinen Körper. Er sah auf sie hinab und ein weicher Glanz legte sich auf seine Augen.
„Bitte, Jim…“, keuchte Tina in seine Küsse, „komm zurück!“
Rons Gesicht erschien ruckartig auf der anderen Seite des Wagendaches. Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als er den Kopf wieder einzog und sich hinter das Steuer setzte. Die Hände am Lenkrad wartete er geduldig. Er war froh, dass der richtige Mensch kein Monster in Jim sah.

Grafton, 31.12.2009, Fünf Minuten bis Mitternacht
Langsam rollte der Ford Mustang auf dem kleinen Parkplatz an der Waldlichtung aus. „Und du meinst, dieser Ort ist der Richtige, Jimmy?“ Ron sah seinen Bruder skeptisch an.
„Ich denke schon, Ron“, antwortete Jim. Er beobachtete aus dem Wageninneren heraus die Umgebung. „Hier haben wir die Chance, sie rechtzeitig zu bemerken.“ Jim schien erleichtert: „Und hier ist weit und breit kein Mensch, den wir gefährden könnten.“
Ron nickte wortlos. Angespannt umfassten seine Finger das Lenkrad. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, als er angestrengt nach draußen sah. „Du bist unverbesserlich, Jimmy!“ Mit erhobenen Brauen sah er Jim an und brummte: „Was machen wir jetzt?“
„Warten….“, stieß der Jüngere seufzend in die Luft und stieg aus dem Wagen.
Schweigend sahen die Jäger zum Horizont. Durch die kahlen Baumkronen konnten sie den sternenklaren Himmel sehen. Der Mond hatte fast seine volle Größe erreicht und strahlte weiß und kalt. Frostige Luft kroch ihnen unerbittlich unter die Haut und stach bei jedem Atemzug in ihrer Lunge – als würde sie aus unzähligen Glassplittern bestehen. In der Ferne war ein dumpfes Grollen und Knallen zu hören. Es erinnerte an eine Hetzjagd. Wobei zuckende bunte Lichter immer wieder den blassen Schein des Mondes überlagerten und den Himmel in einem unnatürlichen Licht aufblitzen ließen.
„Jim, ich kann nicht glauben, dir hierher gefolgt zu sein“, flüsterte Ron. Seine Handflächen legten sich auf das Wagendach, als er Jim ansah und stöhnte. „Jimmy – Mann! Heute ist Silvester. Wir sollten im Warmen sitzen. Oder von mir aus auch in einer Bar. Ich könnte wirklich einen Drink vertragen.“ Seine Augen musterten den Bruder. Aber Jim konnte hinter Rons kühle Fassade sehen und hörte seinen verzweifelten Schrei.
Er nickte seinem Bruder mit einem bitteren Lächeln zu und hob gleichzeitig seine Schultern. „Ron! Es ist die einzige Nacht des Jahres, in der es geschieht. Wir müssen das überprüfen!“
„Du glaubst diesen Scheiß doch nicht wirklich?“, fragte der Ältere. Grüne Augen musterten den Jüngeren ungläubig.
Jims schmale Brauen hoben sich, als ihn der Blick seines Bruders traf. Dann senkte er den Kopf, seine Brust bebte und die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Was Ron nicht wusste. Jim war sich sicher, denn er konnte sie bereits spüren und hörte, wie sie mit einem fürchterlichen Gerassel unter Schreien, Johlen, Heulen, Jammern, Ächzen und Stöhnen durch die Lüfte stießen. Und – sie würden ihn in die Ewigkeit mitreißen, denn er war einer von ihnen.
Es lag in seinem Blut …

Sie kamen …


*** Entrissen ***



„Ron?“, Jims Stimme vibrierte, „Hörst du das?“ Seine Worte klangen, als würde er in ein Vakuum sprechen.
Der Ältere hob den Kopf und lauschte. Langsam stieß er seinen Atem aus. Plötzlich schien es, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. Selbst die schwebenden Eiskristalle vor den Lippen der Brüder unterbrachen ihren taumelnden Tanz und erstarrten in Bewegungslosigkeit.
Die Atemgeräusche der Jäger versickerten wie Wassertropfen in einem Schwamm. Kein Ton war zu hören. Nicht einmal der Ruf einer einsamen Krähe und kein Knacken in den Baumkronen unterbrach dieses Schweigen. Der schneidende Wind verebbte. Selbst das Echo in den Wäldern hielt den Atem an.
„Es geschieht…“, hauchte Jim. Der junge Jäger spürte, wie sich sein Puls beschleunigte und kalte Schauer über seinen Rücken jagten. Seine Worte erschienen, ihrem Schall beraubt, so unwirklich und trafen Ron kälter, als die schneidende Prise, die ihm soeben noch ins Gesicht schlug. Sein Blick heftete sich auf den Horizont. „Mein Gott - Jimmy!“, flüsterte er, „Sieh dir das an!“
Jim folgte dem Blick seines Bruders. Eine seidig schimmernde Wolke türmte sich am Himmel zu einem finsteren Gebirge auf. Rasch verdeckte sie den Mond, dessen Licht über ihren pulsierenden Rand schien.
Die Wolke dehnte sich aus und wuchs, über den erstarrten Wald hinaus, den Jägern entgegen. Begraben unter ihrem Schatten gab es keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft. Es existierte kein neues Jahr, das hätte begrüßt werden können.
Ron legte beide Hände auf das Wagendach und spürte, wie sich ein Zittern auf ihn übertrug. Leises Knistern erfüllte die Luft. Zuerst waren es nur die schwebenden Eiskristalle, die vibrierten. Dann bebten auch winzige Kieselsteinchen auf dem gefrorenen Erdreich. Raureif, der sich seit Tagen an den Bäumen gesammelt hatte, rieselte zu Boden.
Das Knistern wurde zum Rauschen und entfesselte stürmischen Wind, der am Boden über das abgestorbene Gras fegte. Ohnmächtig beugten sich die vereisten Halme seinem Willen.
Durch einen Schleier aus Kristallen sah Ron zu Jim. Er hatte ihm den Rücken gekehrt und starrte gebannt auf die Lichtung. Sturmböen zerrten an seinen Haaren und blähten seine Jacke auf. Jim hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Um ihn herum erfasste dieser merkwürdige Wind alles, was auf dem Boden lag und riss es in die Luft. In einem wilden Tanz vereinigten sich Eiskristalle mit trockenen Zweigen und Steinchen zu einem fauchenden Trichter, der über der Wiese kreiselte.
Die Jäger hielten sich die Hände vor ihre Gesichter, um zu verhindern, dass Eissplitter ihre Haut zerfetzten oder Sandkörner ihre Lungen verstopften.
Die alten Ahornbäume bogen sich im Sturm. Viele von ihnen verloren den Kampf und brachen. In der Ferne mischte sich ein Schnauben fetzenweise unter den Wind, der den schweren Geruch galoppierender Pferde transportierte.
Ächzend sanken die Jäger in die Knie und versuchten, Schutz vor den entfesselten Elementen zu finden.
Ron begann um den Wagen herum zu kriechen. Er wollte in Jims Nähe sein. Längst jeder visuellen Orientierung beraubt, tasteten sich seine Finger am Ford Mustang entlang. Wie winzige Geschosse trommelten Eis, Steine und dürre Äste auf seine Lederjacke ein, während er sich verbissen gegen den Wind stemmte. Sein Rufen nach Jim verlor sich im tosenden Sturm, der mitten auf der Waldlichtung einen gewaltigen Trichter entstehen ließ.
Jim hatte das Gefühl, sich zu bewegen, obwohl er immer noch am Boden hockte. Verstört presste er seinen Rücken gegen den Ford Mustang. Er hatte den Eindruck, sich über seine Grenzen hinaus auszudehnen – als würde er verschwimmen. Entsetzt schrie Jim auf. Diese unheimliche Empfindung jagte ihm eine Heidenangst ein. Mit aufgerissenen Augen betrachtete er seine Hände und strich sich über seinen Brustkorb. Seine Blicke irrten zum Zentrum des Brausens, von wo aus er ein Rufen vernahm. Hinter der rotierenden Wand aus Eis, Dreck und Holz erkannte Jim im Auge des Wirbelsturmes Friggs Reiter.
Die mächtigen Rösser unter ihnen scharrten mit den Vorderhufen. Lange Mähnen wehten um ihre Hälse. Als sie stiegen, knirschten ihre Zähne auf den Gebissen ihrer Halfter und Geifer tropfte aus ihren Mäulern. Schweiß ließ ihr Fell schaumig glänzen, ihre Flanken waren blutig von den Sporentritten ihrer Reiter.
Schmiedeeiserne Rüstungen verbargen die Narben dieser Krieger aus vergangenen Schlachten. Ihre Gesichter waren gezeichnet und in ihren Augen glühte Hass. Bedrohlich erhoben sie ihre Hellebarden - geschliffene Waffen aus grauer Vorzeit. Die Flaggen ihrer Stämme wehten im Wind.
34 verfluchte Generäle sahen erwartungsvoll auf Jim … und einer von ihnen führte ein unberittenes Ross.
Jim keuchte auf, als seine Rippen krachten. Friggs kalter Griff packe ihn an der Schulter.
Hilfesuchend strecke er seine Hand nach Ron aus, der es endlich geschafft hatte, das Auto zu umrunden.
Für ein Sekunde berührten sich ihre Fingerspitzen…dann riss es den Jüngeren fort.
Jim spürte die geballte Kraft eines mächtigen Pferdes unter seinem Körper. Als sich seine Schenkel gegen den Rumpf pressten, umschlagen seine Arme den Hals des Tieres. Er schloss die Augen, hörte das Donnern schwerer Hufe und verschwand wie der Schall seines Schreies, als der Wind ihn mit sich nahm.
Fauchend schloss sich der Tornado und zog sich zurück in die Wolke. Sie zerplatzte lautlos wie eine Seifenblase.
Der Wind beruhigte sich und trug dem zurückgebliebenen Bruder das Knacken und Knirschen geschundener Bäume entgegen.
„JIM ? …“
…hastig sprang Ron auf. Seine Augen eilten über die Wiese. Mit der rechten Hand fuhr er über sein Gesicht und verrieb Eiskristalle mit Dreck. Sein Herz stolperte, als er in einiger Entfernung am Boden einen Körper ausmachte.
„Jim?“ Ohne zu zögern rannte Ron los. Schon erkannte er aus der Ferne die Jacke seines Bruders. „Gott sei Dank“, entfuhr es ihm auf halben Weg. Mit riesigen Schritten rannte er über die Wiese. Kleine Zweige knackten unter seinen Schuhen, das Erdreich knirschte. Bei jedem seiner tiefen Atemzüge rebellierte seine Lunge gegen die eisige Luft.
Endlich am Ziel trieb ihm grenzenlose Enttäuschung Tränen ins die Augen. Er griff nach der Jacke und erschauerte. Verborgen unter ihr, lagen Jims Sachen. Die Socken steckten noch in den Schuhen. Seine Jeans lag darüber, in ihr seine Boxershorts. Darüber seine anderen Bekleidungstücke. Genau in dem Zwiebellook ineinander verschachtelt, wie sie Jim angezogen hatte.
Etwas seitlich auf dem gefrorenen Boden funkelte seine Armbanduhr.
Verzweifelt sank Ron auf die Knie und wühlte in den Sachen, als hoffe er, seinen Bruder doch noch darunter zu finden.
„JIM…“, schrie er in den Himmel, obwohl er wusste, dass er weit und breit der einzige Mensch war. Seine geschulten Augen suchten nach Hinweisen. Aber da war nichts: Keine Fuß- oder Hufabdrücke, kein niedergetretenes Gras, keine zerbrochen Zweige oder aufgewühltes Erdreich.
Jim war einfach verschwunden – als hätte er nie existiert.
Ungezählte Male rief Ron nach Jim, bis er nur noch krächzen konnte. Dann sank er schluchzend zu Boden und schloss die Augen. Wo immer Jim jetzt auch war. Bei diesen Temperaturen würde er nicht lange überleben. Er musste ihn finden!
Mit hastigen Fingern fischte er in seiner Hosentasche nach dem Amulett und starrte auf das Schmuckstück in seiner Handfläche. Das Mondlicht spiegelte sich darin. Ron wartete auf ein Zeichen. Aber die alte Magie schwieg…
Tränen rannen Ron über das Gesicht, als er schließlich am Wagen stand. Eine Stunde lang war er in Eiseskälte durch den Wald geirrt auf der Suche nach seinem Bruder. Vergebens! In seinen Armen hielt er das, was von Jim übrig geblieben war. Seine Kleidung.

*** *** ***

Tiffanys Bar,
01.01.2010; 02:15 Uhr

Zwei Lichtkegel durchbohrten den Nebel. Begleitet von einem satten Grollen, schlitterte der Ford Mustang mit quietschenden Reifen über den Hof. Einige Male schlenkerte der Wagen, bevor ihn Ron hart herumriss und vor Tiffanys Bar einparkte.
Als er ausstieg, kam ihm Cole bereits entgegen, dicht gefolgt von Tiffany und Tina. Angst flackerte in ihren Augen als sie erkennen mussten, dass nur ein Bruder zurückgekehrt war.
Ron schlug die Wagentür zu, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Auto, zog den Kopf in den Nacken und starrte in die Luft. Dann trafen seine Augen auf Cole. Der war ihm gegenübergetreten. Mitfühlend schoben sich seine weißen Brauen auf der Stirn zusammen. Ihm brauchte Ron keine Erklärungen geben. Cole spürt Rons Zorn. Dieses mächtige Gefühl bewahrte den Älteren vor dem Schmerz über den Verlust.
Zögernd ging Tina auf den Jäger zu. Die Arme um ihren schmalen Körper geschlungen, suchten ihre Füße Halt auf den rutschigen Pflastersteinen. Als sie Ron ansah, bebten ihre Lippen. Sie wagte es nicht, die brennende Frage auszusprechen.
Ron schluckte heftig. Auch seine Stimme zitterte. „Sie kamen so plötzlich. Ich konnte nichts tun. Ich war nicht schnell genug!“ Seine Augen wirkten wie erfroren. „Ich habe alles abgesucht, die ganze verdammte Lichtung und den angrenzenden Wald. Es gibt keine Spur von Jim – keinen einzigen Hinweis!“ Kopfschüttelnd neigte er das Gesicht.
Tina trat einen Schritt auf ihn zu und schloss ihn in die Arme.
Zuerst erschrak Ron, wollte zurück weichen. Doch dann ließ er Tina gewähren. Er wusste, wie groß ihr Kummer war. Ron zog das Mädchen an sich, umschlang sie fester mit seinen Armen. Er legte seine Stirn auf ihre Schulter und schloss die Augen.
Und so hielten sie einander fest, versuchten sich gegenseitig Trost zu spenden. Tinas Wange legte sich auf die Lederjacke des Jägers und ihre Tränen gefroren auf ihrer porigen Oberfläche.
Irgendwann trennten sie sich.
Ron schnaufte, seine Augen trafen zornig auf Cole, der den Kopf zu Boden geneigt hatte. Seine Hände hatte er in den riesigen Taschen seiner Wattejacke vergraben. Der Jäger presste die Lippen aufeinander, kaum noch in der Lage seine Wut zu beherrschen. Fahrig zog er das nutzlose Amulett aus seiner Hosentasche. „Dein Hokuspokus ist wirkungslos!“, stieß er hervor und streckte dem Druiden die Faust entgegen. Zwischen seinen geschlossenen Fingern baumelte das Amulett.
Cole hob langsam den Kopf. Helle Augen versuchten Rons Blicken zu entkommen. Der Alte wusste auch keinen Rat. Die Überlieferungen waren einfach zu lückenhaft und in einer Sprache, die so alt war, dass man sie kaum verstand.
Plötzlich zuckte Ron zusammen. Seine Brauen hoben sich überrascht. Er zog den Arm wieder heran und betrachtete das Amulett. Es vibrierte und das Metall wurde warm, als er die Hand öffnete. Wie die Nadel eines Kompasses drehten sich die ineinander verbissen Hunde innerhalb des Kreises. Sie schwangen nach rechts – dann wieder nach links, als suchten sie nach einem Ziel.
„Cole!“, rief Ron.
Der Alte trat näher. Staunend begegneten sich ihre Augen. Cole war immer wieder verblüfft, auf welch seltsamen Wegen sich diese Prophezeiung Schritt für Schritt erfüllte.
Abseits beobachten Tina und Tiffany das Geschehen und ein Hoffnungsschimmer legte sich auf Tinas Gesicht. Langsam kam sie näher. „Kannst du ihn damit wieder finden - Ron?“, fragte sie und schluckte, „Mit diesem Ding?“
Ron streckte den Arm aus und schwenke ihn bis die Hunde so heftig erzitterten, dass er befürchten musste das Amulett würde ihm aus der Hand springen. „Das will ich doch hoffen!“ Hastig folgte er dem Hinweis und eilte über den Hof, gefolgt von Cole.
Als die Suche abrupt am alten Mauerwerk des Brunnens endete, ließ Ron das Amulett aus seiner Hand gleiten. Über dem Brunnenschacht drehte es sich um die eigene Achse. Sein Metall glühte und wie eine Antwort darauf, stieß Zischen und Fauchen vom Grund an die Oberfläche. Hastig zog Ron das Amulett zurück und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Dann beugte er sich zögernd über den Rand des Gemäuers. Eisige Luft schlug ihm aus dem dunklen Schlot entgegen. Der modrige Windzug, der aus der Tiefe emporstieg, heulte bedrohlich.
Cole reichte dem Jäger seine Taschenlampe. Ihr schmaler Schein irrte an der Innenseite der Mauer entlang in die Tiefe. Die Wände waren überzogen mit abgestorbenen Moos und Algen. Irgendwann verlor sich das schwache Licht im gähnenden Abgrund, ohne dabei auf eine Wasseroberfläche zu treffen.
„Das ist verdammt tief“, murmelte Ron und wandte sich dem alten Farmer zu. Grübelfalten legten sich auf seine Stirn. „Jim sagte doch, die Legende der Frau Holle geht auf die Perchta oder Frigg zurück!“ Er überlegte: „Musste das Mädchen im Märchen nicht in den Brunnen springen, um in Frau Holles Welt zu gelangen?“ Seine Augen suchten in Coles Gesicht nach einer Bestätigung.
Der Alte nickte. Seine Finger glitten über sein stoppeliges Kinn. „Der Brunnen ist das Tor“, murmelte Cole. „Das Wasser ist der Pfad und das Kreuz der Schlüssel.“ Ächzend zog der Druide den Kopf in den Nacken. Jetzt wurde ihm alles klar. Seine Augen trafen auf Ron und dann auf das Kreuz. „Wir benötigen es für eure Rückkehr. Es wird verhindern, dass euch Anderswelt festhalten kann.“
Ron stand am Fuße des mächtigen Kreuzes und sein Blick wanderte hinauf zum Schnittpunkt der Balken. Der Vollmond schickte sein Licht durch den Ring, der einen kreisrunden Schatten exakt über den Brunnenschacht warf. Die Seile mit den Karabinern pendelten im eisigen Dunst, der aus der Tiefe des Brunnens aufstieg und über seinen Rand waberte.
Rons Gesicht wurde leichenblass, als er ausatmete und den Blick von der gewaltigen Silhouette des keltischen Kreuzes riss. Ein cooles Grinsen, das er auf seine Lippen zwingen wollte, gelang ihm nicht.
„Was soll’s…“, schnaufte er. „Cole? Wie funktioniert dieses Ding?“


*** Keine Wahl ***


Nur jener, welcher sein Geheimnis kennt
und bereit ist, dem Tod zu trotzen,
wird seine Hand ergreifen können,
um ihn dem Schoß ewiger
Verdammnis zu entreißen.



Warmer Wind streifte Jims Körper. Nur langsam kämpfte sich sein Bewusstsein zurück an die Oberfläche. Das wilde Rauschen seines Blutes erfüllte ihn mit Angst. Sein Puls pochte hinter der dünnen Haut seiner Schläfen, als er vergeblich versuchte die Augen zu öffnen. Sie weigerten sich, weil Staub seine Wimpern verkrustete.
Jim stöhnte leise. Durch einen zähen Schleier erinnerte er sich an Friggs Griff und an das Schnauben gehetzter Pferde.
Seine Lider flatterten. Schreiend riss er den Kopf in die Höhe. Er fiel jedoch kraftlos zurück auf seine Brust. Mit jedem Atemzug überschwemmte feuchte Luft seine Lunge. Aber sie konnte sein brennendes Verlangen nach Wasser nicht stillen. Sein Körper zitterte, obwohl er gar nicht fror. Eine Armee beißender Ameisen schien von seinen Händen aus über seine Arme zu krabbeln. Längst waren ihm die Gliedmaßen eingeschlafen. Als er seine Finger dehnen wollte, knackten die Gelenke.
Erneut taumelte sein Kopf nach oben. Es tat weh. Jim wollte schreien. Aber die Laute verbrannten in seinem Hals.

*** *** ***

Tiffany eilte über den Hof. „Ron!“ Ihre dünne Stimme erfror in der Eiseskälte. An den roten Locken über ihrer Stirn hatte sich Raureif gebildet, als sie keuchend vor dem Jäger stehen blieb.
Ron zog trotz der Kälte seine Jacke aus und warf sie über die Brunnenmauer. Er legte einen breiten Ledergürtel um seine Taille. Nachdem er die alte Messingschnalle verschlossen hatte, klinkte Cole einen der Karabiner in die Öse an seinem Gürtel ein.
„Ron!“, flehte Tiffany abermals und beobachtete den Jäger, der entschlossen einen der kleineren Lederriemen um sein rechtes Handgelenk legte. Er fluchte. Seine Finger waren steif und ungelenkig. Ständig rutschte ihm das Ende des Riemens wieder aus der Schnalle. „Kannst du mir mal helfen?“, murmelte er.
Fassungslos starrte Tiffany Ron an. „Du bist verrückt“, zischte sie und schüttelte ihren Kopf. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Es muss einen anderen Weg geben.“ Ihr Blick wanderte zum Brunnen. „Das Wasser darin hat wenige Grad über Null. Du wirst innerhalb weniger Minuten sterben!“
Rons Augenbrauen hatten sich zusammen geschoben. Immer noch sah er auf seine nervösen Hände und versuchte, die Lederfessel zu schließen. „Hilfst du mir jetzt oder nicht?“, knurrte er, ohne aufzusehen.
Kopfschüttelnd ergriff Tiffany beide Enden des Lederriemens und schloss ruppig die Schnalle. „Es wird dich umbringen, Ron!“, fauchte sie.
Ron hob den Kopf und sah Tiffany an. In seinem Blick lag zweifelsfrei Angst, aber er griff mit beiden Händen nach ihren Schultern und zwang sie, in seine Augen zu sehen: „Der Gedanke, dass Jim da unten meine Hilfe braucht und ich nicht bei ihm bin – DIESER Gedanke wird mich umbringen! Verstehst du das nicht, Tiffany?“
Ron ließ sie abrupt los und wandte sich an Cole, der nach dem letzten pendelnden Seil am Kreuz griff. „Sag mal Cole – reicht das nicht langsam. Ich komm mir schon vor wie eine Marionette.“
Protestierend hob Ron die rechte Hand mit der Lederfessel, als Cole auch dort einen Karabiner einhakte. Sorgfältig überprüfte der Alte die Führungen der Seile und murmelte: „Ron – es ist nicht besonders schwer, in Friggs Welt überzutreten. Du musst einfach nur …“, schockiert schluckte der Druide und verstummte…
„… Sterben – ich weiß“, antworte Ron rau.
Betroffen starrte Cole zu Boden. Durch die vielen Schrecken in den letzten Tagen war ihm die grausige Bedeutung des Wortes gar nicht mehr bewusst. Seine weißen Augen hefteten sich auf Tiffanys Gesicht. Sie war schlagartig so blass geworden, dass er befürchten musste, sie würde gleich ohnmächtig werden. „Alles okay?“, fragte Cole besorgt.
Tiffany schüttelte heftig ihren Kopf.
„Tiffany – ich brauche dich hier. Also bitte, mach jetzt nicht schlapp“, bat er mit sanfter Stimme und strich über ihre Wange. Schnaufend wandte er sich wieder an Ron. „Die Schwierigkeit besteht darin, euch zurück zu holen“, erklärte Cole und hakte den letzten Karabiner in die Öse der Lederfessel. „Das Hauptseil um deine Taille wird den Kontakt zu dir halten und dafür sorgen, dass du nicht in Friggs Labyrinthen abhanden kommst. Die beiden kleineren Stricke an deinen Händen …“, abrupt hielt Cole inne und packte Ron hart an der Schulter. Er schüttelte ihn bei jedem Wort, das er sprach: „Ron! Egal was passiert – egal was du siehst oder hörst. Du darfst Jims Hand erst ergreifen, wenn das letzte Wort angehört wurde!“ Coles Gesicht verfinsterte sich. „Versprich mir das!“
Ron spürte den festen Griff. „Okay …“, hauchte er und drehte sich zum Brunnen, um über den Rand zu steigen.
„Halt!“, rief der Alte. Er hatte die braune Tasche, die ständig über seiner Schulter hing, geöffnet und wühlte darin. Einen Augenblick später blitzte ein Dolch im Licht des Mondes. Auf Rons fragenden Blick erklärte er: „Wenn du durch die Dimensionen reisen möchtest, muss dein Blut das Portal auch öffnen. Ich brauche es!“ Ohne Vorwarnung ritzte Cole Ron in den Unterarm.
„Autsch … verdammt Cole!“, entfuhr es dem Jäger.
Cole betrachtete zufrieden die blutige Klinge. „Das dürfte reichen, “ murmelte er.
„Moment mal!“ Ron stutzte und rieb sich den blutigen Arm. „Was ist mit Jim? Er muss ebenfalls durch das Portal!“ Fragend sah er auf den Alten. „Brauchen wir nicht auch sein Blut?“
Cole seufzte und kramte erneut in seiner Tasche. Er holte ein gut verschlossenes Einmachglas heraus. In einer leicht roten Flüssigkeit kreiselten kleine Bleistücke auf dem Boden, als er es schüttelte. „Ich habe sein Blut bereits! – Hervorragend konserviert in Alkohol!“
Rons Brauen schoben sich zornig zusammen. „Die Schrotladung!“, zischte er fassungslos und riss seinen Kopf in den Nacken. „Als dieser Rene Jim angeschossen hat und wir ihn bei dir verarzten mussten, hast du…!“ Rons Atem beschleunigte sich: „Das ist doch nicht zu glauben“, knirschte er. „Du hast alles gewusst, du verdammter Mistkerl!“
Schnaufend neigte Cole seinen Blick: „Nichts, was in den Raunächten geschieht, ist ohne Bedeutung – das wusste ich!“
„Ich hoffe, du behältst Recht“, murmelte Ron. Er saß inzwischen wie ein Reiter auf der Mauer und schaute hinab in den Schlot. Eisiger Dunst stieg ihm entgegen. Seine Hände lagen zitternd auf den eisigen Steinen zwischen seinen Schenkeln. Er konnte keine Wasseroberfläche ausmachen. Hinter seinem Rücken hörte er, wie Cole die Seile am Kreuz überprüfte, damit sie sich nicht verheddern konnten. Kurz streifte sein Blick Tiffany. Tränen liefen über ihre Wangen, ihr ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Ron versuchte, sie anzulächeln. Als er bemerkte, dass ihm dies unmöglich war, wich er ihrem Blick aus und sah zu Tina. Sie stand immer noch an der Eingangstür.
„Na dann, Cole!“ Ron atmete tief ein. Seine Stimme geriet ins Stocken, denn sein Hals war rau. „Wir sehen uns …!“ Schließlich sah er auch Tiffany zwinkernd an und flüsterte: „He, Tiffany – Ich verlass mich auf dich!“
Dann riss er sein Bein über die Mauer des Brunnens und sprang.

*** *** ***

Der Wind wurde heftiger und brachte seinen Körper zum Schwanken. Schwerfällig hob Jim die Lider. Er blickte durch einen trüben Schleier nach unten. Schweißtropfen, die über sein Gesicht perlten, stürzten in einen schwarzen Abgrund, vor dem weiße Punkte tanzten. Ihm war speiübel von dem unerträglichen Schaukeln, das seinen Verstand durcheinander wirbelte und an seinen Sehnen zerrte. Sein Magen zog sich zusammen. Durst schnitt sich durch seine Eingeweide. Jim wollte den Kopf anheben, sich umsehen – aber seine Muskeln waren zu müde.
Seine Pupillen verengten sich, um diese weißen Punkte zu fixieren. Allmählich wurden die Punkte deutlicher, schwirrten nicht mehr so herum. Verwirrt blickte Jim auf schwarzen Granit mit weißen Kieselsteineinschlüssen.

Nach endlosen Minuten spannte er die Halsmuskeln an, um mit einem Ruck seinen Kopf hochzureißen. Sein Gesicht verzerrte sich, als er ihm haltlos in den Nacken fiel. Jede Bewegung quälte ihn. Jetzt sah Jim auf seine Arme. Immer noch benommen, betrachtete er rote Rinnsale, seine Blicke folgten den klebrigen Pfaden, die von seinen Armen aus über seine Schultern nach unten flossen. Sein Blut fühlte sich noch warm an, als es von seinen Fußsohlen tropfte.
Hypnotisch zog es seine Aufmerksamkeit in die Höhe. Eisenschellen fesselten seine Handgelenke. Die grobgliedrigen, unendlich langen Ketten an ihnen verschwanden in purpurnem Nebel unter einem Gewölbe, das bestückt war mit fremden Sternen.
Jim schluckte. Seine Finger umklammerten prüfend die Glieder und zogen daran. Sofort begann sein Körper stärker zu schwingen. Es war, als würde er zum Rasseln der Ketten, an denen er verbissen zerrte, tanzen. Jim schrie auf, als seine Schulterblätter unter dieser Belastung krachten.
Unglaublich intensiv spürte er jetzt den Wind auf seiner Haut. Dieser warme Hauch war das Einzige, was ihm keine Schmerzen zufügte. Noch immer taumelte sein Kopf im Nacken.
Ächzend presste Jim die Kiefer zusammen und bewegte die Beine, um dieses magenverdrehende Schaukeln auszubremsen. Es verstärkte das Pochen hinter seinen Augen. Er musste würgen und übergab sich, erstickte fast an aufgeweichten Toaststücken. Mit einem gurgelnden Schrei riss er den Kopf wieder nach vorn. Speichel und Erbrochenes rann ihm über die Lippen.
Hilflos strampelten seine Füße über einem grob gemeißelten Granitblock, ohne ihn berühren zu können. Jim hing viel zu hoch und das endlose Pendeln brachte seinen Körper zum Knirschen. Er war zu schwer, um stundenlang zu hängen. Das eigene Gewicht zog seine Hände immer tiefer in die Eisenschellen. Seine Schulterblätter schmerzten und die Sehnen an seinen Muskeln zerrissen fast.
Jim schloss die Augen. Atem hetzte über seine Lippen.

*** *** ***

Kurz hatte Ron das Surren der Seile gehört, als sie geschmeidig über die Führungsschiene des Flaschenzuges sausten. Der nachfolgende, freie Fall kam ihm ewig vor. Sein Körper geriet ins Taumeln und schlug gegen die Innenseite des Mauerwerks. Die raue Oberfläche zerfetzte ihm das Hemd. Schützend schlang Ron seine Arme um den Kopf.
Wie die Warnung eines fremdartigen Tieres fauchte der Luftsog in seinen Ohren und nur Sekunden später spürte der Jäger einen Widerstand. Es krachte als er die Eisoberfläche durchbrach. Sofort stach das kalte Wasser wie Nadeln in seine Haut und zog seine Sehnen zusammen. Als die dunklen Wellen über seinem Kopf zusammenschlugen, presste Ron die Kiefer zusammen, hielt die Luft an und griff sich an die Schläfen. Sein Schädel schien zu explodieren. Er schloss die Augen und begann, sich im Kampf gegen den Überlebensinstinkt seines Körpers zu winden, während er langsam tiefer sank.
Seine Lunge verlangte immer heftiger nach Sauerstoff. Sein Blut schien zu gefrieren. Schließlich verlor der Wille gegen das Fleisch. Mit einem heftigen Atemzug öffnete Ron den Mund und klirrendkalte Fluten stürzten seinen Hals hinab. Sie ließen die feinen Äderchen in seiner Lunge zerbersten. Mit einem heftigen Hustenanfall wehrte sich Rons Körper gegen die tödliche Flut und ließ nur noch mehr davon hinein.
Blubberndes Wasser verwandelte sich in tosendes Rauschen. Sein bewegungsloser Körper neigte sich nach hinten und gefrierende Sehnen zerrten seine Finger auseinander.
Die Pupillen in Rons grünen Augen waren bereits erstarrt, als sich sein Kopf in den Nacken zog und der Schmerz verblasste. Er sah durch trübes Wasser nach oben. Wellen kräuselten sich zwischen zerbrochenem Eis und ein blasser Vollmond schien vom sternenklaren Himmel durch einen Tunnel, der immer länger wurde, auf ihn herab. Er bewegte sich leicht mit den Wellen.
Als Ron den letzten Schlag seines Herzens spürte, entwichen kleine Luftbläschen seinen bleichen Lippen. Sie vermischten sich mit der blutroten Wolke, die aus seiner Lunge quoll und taumelten an die Oberfläche.
„Es ist wirklich einfach“, dachte Ron und starb.

*** *** ***

Ein harter Ruck riss Jim erneut aus seinem Dämmerzustand. Die Ketten über ihm klirrten laut, als er schlagartig in die Tiefe sauste und diese Bewegung genau so abrupt wieder stoppte. Nachdem die Welle des Stoßes in seinem Körper verklungen war, spürte er den Boden unter sich. Mit trippelnden Füßen öffnete Jim die Augen. Er hing immer noch sehr hoch, aber wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er sein Gewicht abstützten. Geschickt balancierte er seinen Körper aus und schnaufte erleichtert. Endlich hörte das Reißen in seinen Schulterblättern auf.
„Jim?“
Der Jäger zuckte zusammen, als er die vertraute Stimme hörte. Er erinnerte sich an ihren Atem. Jetzt schlug er ihm eisig in den Nacken. Liebevoll säuselte Frigg seinen Namen. Sie stand hinter ihm und ihre Hände strichen sanft über seine Arme. „Bist du bereit, ihre Geschichten zu hören - ihre Worte zu lesen?“, flüsterte sie und stand plötzlich vor ihm.
Jim hob müde den Kopf. Er sah sie an. So sanft wie ihre Worte auch klangen - ihre Augen waren kälter als Eis.
„Es ist an der Zeit, dein Versprechen einzulösen, Krieger!“ Frigg strich ihm eine Strähne aus der Stirn und wich zur Seite, um den Blick in die Hallen freizugeben.
Jim befand sich wirklich zwischen den Fronten. Zu seiner linken Seite standen die Generäle. Hinter ihnen drängte sich ein Heer aus aufgerissenen Körpern ohne Herzen. Ihre blanken Schädel taumelten auf den klappernden Wirbeln ihrer Hälse. Ihre Augen hatten sich tief in dunkle Höhlen zurückgezogen. Einige von ihnen knirschten mit den Kiefern. Ihre lückenhaften Zahnreihen rieben laut aufeinander, als würden sie auf ihren Zungen kauen. Stofffetzen bedeckten bleiche Rippen und Gliedmaßen, an denen Fleischreste baumelten.
Zu seiner rechten Seite standen ihre Opfer. Es war ein wankendes Meer aus Kutten, deren Kapuzen konturenlose Antlitze verbargen. Schulter an Schulter drängten sie sich hinter einer unsichtbaren Linie.
Verständnislos sah Jim auf Frigg. Sie wich seinen fragenden Augen aus und neigte den Kopf. Im Schatten ihrer Kapuze aus Falkenfedern verschwand nun auch ihr Gesicht. Jims Blicke irrten verwirrt von den Fesseln an seinen Armen über seinen nackten Körper nach unten. Doch schon bald zog ein anbrechendes Raunen und Murmeln seine Aufmerksamkeit wieder auf das geteilte Heer. Einige Kuttenträger hatten sich gelöst und bewegten sich zögernd auf ihn zu. Sie schienen über den Boden zu schweben, denn es war kein Knistern unter ihren Füßen zu hören. Der warme Wind verebbte. Er hinterließ stehende Luft, die um vieles heißer war und auf seiner Haut brannte.
Plötzlich verstand Jim Friggs Worte … Sein Atem explodierte mit einem heiseren Schrei: „NEIN!“
Wie vom Wahn getrieben, riss er an den Ketten, spürte nicht mehr, wie seine Haut unter den Eisenschellen aufbrach und sich faltig darüber schob. Hervorquellendes Blut spitzte über den Boden. Seine Knochen knirschten unter der Gewalt, die er sich selbst antat. Jim stemmte sich nach hinten, um der grauen Masse auszuweichen, die auf ihn zukam. Aber die Ketten hielten stand.
Seine Füße rutschten auf dem Granit hin und her. Sie versuchten zu rennen, als ob sie nicht mehr zu ihm gehören wollten. Sein Herz raste, als wollte es aus seinem Körper fliehen. Jim wand sich wie ein gefangenes Tier. Schon als Kind hatte er von solchen Legenden gehört und sie für ebenso unwahrscheinlich gehalten, wie sein Bruder Engel. Trotz allem, was er und Ron erleben mussten, hatte Jim es nie geglaubt. Aber jetzt musste er erkennen, dass die Wahrheit schrecklicher war, als jeder Artikel, den er je darüber gelesen hatte. Verzweifelt suchte er nach Frigg. Aber die Göttin der Krieger war nicht mehr da.
Jims Augen hefteten sich auf die grauen Leiber und blankes Entsetzten ließ ihn so heftig zittern, dass die Kettenglieder über ihm anfingen zu summen. Lieber würde er sterben, als das durchzustehen. Ron hatte Recht gehabt.
„Bitte! Nein – bitte nicht! Nicht so …“, flehte Jim und Tränen überschwemmten sein Gesicht. Ein letztes Mal bäumte er sich auf, stemmte sich mit aller Kraft gegen die Fesseln um ihren Worten zu entkommen. Seine Finger umklammerten die Ketten und sein Schrei raste durch die steinernen Gewölbe von Anderswelt, wie das Betteln der letzten Seele um den Tod.
„Nein! Bitte nein, nein! Tut es nicht. Bitte!“


*** Geschichten ***



Langsam öffnete Ron die Augen und sah rote Nebelfetzen über sich hinweg gleiten. Schwitzende Kalksteinwände zeigten sich dahinter wie durch Seidenvorhänge. Schlammiges Wasser gurgelte in seinem Hals. Mit einem Stoß befreite sich seine Lunge von ihrer erstickenden Last und ein Schwall ergoss sich über seine Lippen, platschte auf sein Gesicht. Als er seinen den Oberkörper keuchend zur Seite drehte, versanken seine Hände in grauer Asche.
Die Luft war warm. Und obwohl Ron nicht fror, war sein Körper kalt und seine Gelenke steif. Langsam hob er den Kopf. Er wusste nicht mehr warum – aber er hatte das Gefühl, dass es wichtig war, aufzustehen.
Nur langsam löste sich der trübe Schleier vor seinen Augen und in seinen hämmernden Schädel kehrte die Erinnerung zurück.
JIM! – Explodierendes Adrenalin katapultierte Ron auf die Beine. Schwankend klopfte er Asche von seinen Sachen. Das Atmen fiel ihm unendlich schwer. Stirnrunzelnd betrachtete er schließlich seine Handgelenke. Die Fesseln waren weg. Er sah an sich hinunter und fand auch den Gürtel nicht mehr. „Toller Plan - Cole“, murmelte Ron zähneknirschend. „Alter, wie kommen wir jetzt zurück?“
Seine Blicke wanderten über graue Wände. Wind heulte in den verzweigten Gängen eines riesigen Gewölbes. Es klang wie Schmerzenslaute. Ron schnaufte. War er vielleicht doch tot?
Plötzlich zerschnitt ein Schrei die seufzende Luft. Sein Echo prallte an den Mauern ab, teilte sich in viele Stimmen und erreichte Ron als ein hilfesuchendes Wimmern. Gehetzt drehte sich der Jäger im Kreis. Dieser markerschütternde Ton schien von überall her zu kommen. Sein Herz fing an zu rasen. „Jim …?“, entfloh es ihm. Sofort glitt seine Hand in die Hosentasche. Schon zwischen den Fingern spürte Ron die Vibration des Amuletts, das sich ausrichtete um ihm den Weg zu weisen.
Mit aufgerissenen Augen musterte Ron die endlose Tiefe vor sich und begann zu laufen. Immer wieder knickten seine Knie ein, als er der Spur der Hunde folgte. Seine Füße rutschten aus. Ron wankte und stolperte er über schroffe Felsen, stürzte zu Boden, sprang wieder auf und rannte weiter.
Überwältigt blieb er stehen, als sich vor ihm das gewaltigste Kellergewölbe auftat, das er je gesehen hatte. Sein Atem stockte. Unter dieser Kuppel kreiselte gemächlich ein Himmel, es könnten Welten darin verschwinden.
Das Amulett begann zu leuchten, vollführte auf seiner Handfläche einen wilden Tanz, als er in der Ferne auch schon Jim erkannte. Mitten im Nichts hing er an langen Ketten, die in roten Nebeln verschwanden. Er pendelte leicht im Wind. Als Jim plötzlich aus schwindelerregender Höhe zu Boden stürzte, entfloh Ron ein kurzer Schrei.
Mit einem gewaltigen Satz eilte er los und wollte seinen Bruder auffangen, obwohl er wusste, dass dies unmöglich war. Jim war viel zu weit weg.
Seine Bauchlandung war unsanft. Asche schlug ihm ins Gesicht und verätzte seine Augen. Während Ron den Fall seines Bruders verfolgte, wich er langsam zurück.
Jim stoppte abrupt über einem Granitblock, der etwa einen Meter aus dem Boden ragte.
Ron suchte Deckung hinter einem der schroffen Felsen. Neben der knisternden Asche unter seinen Schuhen schienen sie die einzigen Objekte in dieser Welt zu sein. Die Einzigen – außer ihnen: Grauenhafte Gestalten reihten sich rechts und links neben Jim auf.
Der Ältere erschauerte.
Zerfetzte Körper auf der einen Seite und unheimliche verhüllte Leiber auf der anderen Seite. Ron hielt sich die Hand vor den Mund. Angespannt spähte er am Felsen vorbei. Warum stand sein Bruder gefesselt auf einem riesigen Steinblock?
Jims Kopf taumelte haltlos auf seiner Brust. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und wankte in den klirrenden Ketten. Ein dünner Film aus Schweiß bedeckte seinen Körper. Seine gereizte Haut zuckte wie das Fell eines Pferdes, das versucht, Fliegen abzuwehren. Jim schien stundenlang gehangen zu haben. Gequält vor diesem Anblick schloss Ron die Augen. Auf was für ein Spiel hatte Jim sich da eingelassen?
Ron zog sich schnaufend hinter den Felsen zurück und überlegte. Er brauchte dringend einen Plan. Diese unheilige Knochenarmee schien das Schauspiel zu überwachen und würde ihn niemals vorbei lassen.
„Bitte! Nein – bitte nicht! Nicht so …“, --- Ron erstarrte zu Stein, als er Jim hörte. Seine Stimme war das einzig menschliche in dieser Welt und so voller Angst. Er hatte Jim niemals betteln gehört.
Als Rons Blick erneut in das Gewölbe schweifte, sah er Jim an den Ketten reißen. Sein Zorn auf diese Wesen loderte auf und war kaum noch zu bändigen. Konzentriert beobachtete er das Geschehen aus seinem Versteck heraus. Einige der in grauen Stoff gehüllten Körper, die sich immer zahlreicher vor dem Altar drängten, waren an Jim heran getreten und streckten ihre Hände nach ihm aus. Zuckend wich er zurück. Die Ketten klirrten. Jims Atem hetzte zu Ron herüber und die unfassbare Panik in seiner Stimme brachte ihn schier um den Verstand.
„Nein! Bitte nein, nein! Tut es nicht! Bitte …“
„Oh Gott!“, schrie Ron auf und begann, um Jims Leben zu laufen …
Immer mehr düstere Gestalten kamen aus den dunklen Gängen und umringten Jim in erdrückender Zahl.
Ron rannte auf den endlosen Strom aus wankenden Leibern zu, der sich bis zum Horizont erstreckte. Er wurde kreidebleich, als er erkennen musste, wie sein kleiner Bruder verzweifelt um sich tretend unter ihrer Masse begraben wurde.

*** *** ***

Stunde Null
Als die erste Berührung Jims Haut traf, zuckte er still zusammen, versuchte, auszuweichen. Sein Körper schnellte nach hinten. Keuchend riss er sein Bein in die Höhe und starrte entsetzt auf den roten Streifen, der quer über seinen Oberschenkel verlief. Nur langsam färbte eine geringe Menge Blut die zierliche Schnittwunde rot. Kaum sichtbare Tropfen – so winzig wie Stecknadelköpfe - bildeten sich auf seiner Haut. Aber schon erwischte ihn die zweite Berührung. Ein reißender Schmerz, wie der Hieb einer Peitsche, schnitt über seinen Rücken. Jim stöhnte und zuckte nach vorn. Die Ketten klirrten unter der ruckartigen Bewegung und rissen seine Arme nach hinten. Keuchend wich Jim zur Seite aus, als ihn ein Hieb im Gesicht traf. Sein Kopf wackelte und ein Schrei entfloh seinen Lippen. Seine Finger ließen kurz von den Ketten ab, weil Schreck und Schmerz die Sehnen auseinander zerrten. Eine Sekunde später umklammerten sie das rostige Eisen noch fester.
Wieder riss es Jim zurück. Sein Körper wankte, als die nächste feine Linie über seiner Brust erschien. Gleich darauf eine auf seinem rechten Arm und auf den Innenseiten seiner Schenkel...
… und er wird sich zwischen die Fronten stellen und ihre Klagen, geschrieben in Blut, lesen. Erst wenn die letzte Geschichte erzählt, das letzte Wort erhört und der letzte Buchstabe gezeichnet ist, werden sie besänftigt sein und in Frieden ziehen …
Jim hatte sein Wort gegeben - pro Buchstabe eine winzige, glänzende Perle seines Blutes. Nun reihten sie sich Wort für Wort zu Sätzen aneinander und bildeten rote Striemen auf seinem Körper. Er sah durch einen Schleier aus Tränen über das wogende Meer verlorener Seelen. Jede einzelne von ihnen hatte eine Geschichte zu erzählen. Zwischen ihren knochigen Fingern blitzten Klingen auf und sie legten ihre Scheu ab, denn sie spürten seine Angst, die aus jeder seiner Poren strömte. Immer mehr von ihnen lösten sich aus der Masse, die sich vor dem schwarzen Altar dicht zusammen geschoben hatte. Sie stiegen zu ihm hinauf auf den Stein, drängten sich um ihn, rieben und schubsten sich gegenseitig. Sie zerrten ihn hin und her. Es gierte ihnen nach jedem Zentimeter seiner Haut und sie kannten kein Erbarmen.
Es waren nur winzige, kaum sichtbare Schnitte, die Jim verletzten. Aber es sollten tausende von Geschichten - zehntausende von Worten und hunderttausende Buchstaben werden. Mit ihren kalten Händen packten sie Jims Gliedmaßen und ritzten das Unrecht, das ihnen angetan wurde, in seine Hände, seinen Bauch, seine Fußsohlen und auf sein Geschlecht.
Unvorstellbares Leid schrieben sie in seine Haut. Ihre Klagen hallten in seinem Kopf wider und ließen seine Zähne vor Entsetzten aufeinander schlagen.
Als die graue Masse über Jim zusammenschlug, schrie er vor Schmerzen und Angst. Nur das heftige Klirren der Ketten, die ihn fesselten, übertönte den hohen Ton seiner Stimme. Jims Hände verkrampften sich, er riss seine Arme immer wieder in die Höhe um ihren Worten zu entkommen. Die Muskeln seiner Oberschenkel explodierten, als er mit heftigen Tritten versuchte, die Klingen abzuwehren, aber Jim hatte keine Chance – es waren Tausende.
Er war die Legende.
Er war das Buch der Schmerzen*.
Er las ihre Klagen gezeichnet in Blut.

*** *** ***

Ron rannte wie von Furien gehetzt. Asche wirbelte unter seinen Füßen auf. Sein keuchender Atem stieß in die Luft, als er sich der wilden Jagd näherte. Zähnefletschende Hunde, die sich ihm in den Weg stellten, ignorierte er genauso wie die furchteinflößenden Generäle und ihr Heer aus herzlosen, stummen Söldnern. Denn nichts machte ihm mehr Angst, als die panischen Schreie seines kleinen Bruders. Es gab keinen Plan. Ron hatte nur ein Ziel: Er wollte zu Jim.
Es schien, als würde das Amulett in seiner Hand die Abtrünnigen dieser Welt zurückhalten. Niemand unternahm einen ernsthaften Versuch, den Jäger aufzuhalten. Die sich wild gebärdenden Hunde verstummten und zogen sich unter die mächtigen Rösser ihrer Herren zurück.
Fast hatte Ron die hemmungslose Meute erreicht. Das Pfeifen durch die Luft sausender Klingen und Jims Schreie pumpten so viel Adrenalin in seine Adern, dass ihm schwindlig wurde. Auf den letzten Metern spannte Ron die Muskeln zum Sprung an. Als er seine Arme nach Jim ausstreckte riss es ihn unerwartet zu Boden.
Der Aufprall war hart und zog ihn mehrere Meter zurück. Asche rieselte durch seine Finger, die im losen Untergrund verzweifelt nach Halt suchten. Ron schlug mit der Stirn gegen einen Stein. Noch halb benommen, versuchte er aufstehen. Aber irgendetwas schnürte ihm die Hände auf seinem Rücken zusammen, hielt ihn eisern fest. Ron schrie außer sich vor Wut. Seine Verzweiflung stieg, als er versuchte, sich zu befreien. Alle Mühen waren umsonst.
Ron wand sich noch immer wie eine Schlange in der grauen Asche, als ihn ein grausamer Gedanke eiskalt traf. Plötzlich erinnerte er sich an Coles Worte:
„Ron! Egal was passiert – egal, was du siehst oder hörst. Du darfst Jims Hand erst ergreifen, wenn das letzte Wort angehört wurde!“
Ron hatte das Gefühl, ein Stahlband würde sich um sein Herz legen, um es zu zerquetschen. „ Jim!“, es war ein verzweifelter Aufschrei, denn jetzt erkannte er Friggs Willen. Er erinnerte sich auch an Jims Worte:
„Ich muss ihnen nur zuhören, Ron!“
Tränen überfluteten sein Gesicht. „Mein Gott – nicht so!“, stieß Ron hervor. Er hatte von anthropodermic bibliopegy** - Büchern, die in menschliche Haut gebunden waren, gehört. Auf eng beschrieben Seiten berichteten sie von Begräbniszeremonien und Totenbeschwörungen. Das Berühmteste war zweifelsohne das Necronomicon*** - ein fiktives Buch, das in die Horror- und Fantasyliteratur eingegangen war, wie kein anderes.
Aber das Grausamste war das Buch der Schmerzen. Die Legende erzählte von einem lebenden Buch, in das die verloren Seelen ihre Geschichten schrieben. - Und Cole hatte es gewusst. Er hielt die Fäden auf der anderen Seite in seiner Hand. Rons Fesseln waren nicht verschwunden. Sie sollten ihn lediglich zurückhalten bis der letzte Buchstabe gezeichnet war.
Der Jäger schrie sich die Seele aus dem Leib. Tiefgründiger Hass stieg in ihm auf. Er war nichts weiter als die Marionette in einem teuflischen Spiel. „Cole - du verdammter Mistkerl. Kapp die Seile – Um Himmels Willen … Cole … bitte! Schneide die verdammten Seile durch!“
Es war Ron egal, dass er für diesen Wunsch ewig hier bleiben musste. Bei Gott - dieser alte Druide konnte ihn doch nicht zwingen, tatenlos zuzusehen, wie Jims Körper verstümmelt wurde!
Wie besessen riss und zerrte Ron an seinen Fesseln! Aber die Lederriemen zogen sich dadurch nur noch enger zusammen. Dunkle Blutergüsse bildeten sich auf seinen Handgelenken. Seine Finger schwollen an und wurden taub. Wimmernd presste er seine Stirn in die Asche, als er auf den Knien lag – die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er konnte Jims Leid nicht verhindern, er konnte seinen kleinen Bruder nicht retten. Er war so nutzlos! Seine Ohren wurden, wie zum Hohn, von Jims schrecklichen Lauten überflutet.
Alles, was auf Ron einstürzte, trieb ihn in den Wahnsinn: Das Murmeln und Raunen aus unzähligen Mündern. Diese pfeifenden Geräusche der Klingen. Das quälende Klirren der Ketten. Vor allem aber Jims Schmerzensschreie, die sich überschlugen, sein gequältes Keuchen und der salzige Geruch seines Blutes, das sich allmählich über die Kanten des Altars ergoss und die Asche am Boden in roten Schlamm verwandelte.
Außer sich schlug Ron mehrmals mit der Schläfe gegen einen Stein. Seine Haut platzte auf. Aber der tief sitzende Schmerz in seinem Herzen ließ keine erlösende Ohnmacht zu.
„Das kannst du nicht von mir verlangen, Cole!“, wimmerte Ron. „Bitte – bitte, Cole … kappe die Seile.“ Er schluchzte wie ein kleines Kind. „Ich kann das nicht ertragen!“
Ein warmer Windzug trug Coles Stimme an sein Ohr „Es tut mir so leid, Ron … es tut mir so leid …!“
Ron bäumte sich auf und riss den Kopf in den Nacken: „COLE!“ Als er auf den Rücken fiel und mit brennenden Augen in den Himmel unter diesem verdammten Gewölbe starrte, verstummte das Jaulen des Windes. Doch die gequälten Laute seines kleinen Bruders blieben.

*** *** ***

Stunde zwei
Unermüdlich schrieben sie ihre Geschichten auf Jims Arme, seine Beine und sein Gesicht. Auf seinem Rücken, dem Gesäß und seiner Brust erschienen blutige Texte in allen Sprachen. Selbst auf seinen Lippen und Lidern drängten sich winzige Buchstaben zu Sätzen.
Jim brüllte unter ihren gnadenlosen Federn. Vergeblich riss und zerrte er an seinen Fesseln. Längst hatte sich sein Körper rot verfärbt. Blut verklebte sein Haar, stürzte in Bächen über seine Brust, mischte sich mit seinen Tränen und füllte seine Ohren. Es spritzte aus winzigen Buchstaben auf seinen Fingerkuppen und gerann unter seinen Füßen zu einer schaumigen Masse.
Die Grausamkeit ihrer Worte kannte keine Grenzen und entzog ihm jede Kontrolle über seinen Körper. Sein pfeifender Atem wurde begleitet von seinem rasenden Herzen. Mit aufgerissenen Augen starrte Jim, dem Wahnsinn nahe in nicht vorhandene Gesichter.
Als sein Wille brach und sich seine Hände von den Ketten lösten, zerschnitten ihre Klagen auch seine Handflächen. Jims Knie knickten ein und seine Füße rutschten im gerinnenden Blut zur Seite. Er sank nackt, zitternd und schutzlos in die eisernen Fesseln seines Versprechens. Seine Muskeln erschlafften, sein Kopf fiel zur Seite und die Ketten, die ihn gefangen hielten, begannen unter durch seinen vibrierenden Körper zu Singen.
Tausende von Klingen schrieben unermüdlich ihre Geschichten auf einen Jäger, der sich nicht mehr wehrte …


*** Die letzte Seele ***


Aber der Krieger wird besudelt sein mit Blut.
Beraubt seiner Seele, beladen mit Leid
wird ihm die Rückkehr ins Licht
aus eigener Kraft nicht mehr gelingen.



In Friggs Welt schien sich die Zeit mit dem Knistern von Asche, dem Klirren rostiger Ketten und den summenden Geräuschen schneidender Klingen zu einem Gift zu mischen, dass Rons Verstand allmählich zerfraß.
Einzig die Hilfe suchenden Schreie seines Bruders Jim hielten ihn vom übermächtigen Verlangen ab, dieser Tortur mit einem Messerstich ins eigene Fleisch für immer zu entfliehen. Ron hatte aus purer Verzweiflung seinen Schädel an einem Stein fast zertrümmert – nur um diesem Anblick und den marternden Tönen für den kurzen Moment einer Ohnmacht zu entgehen.
Zusammengekrümmt lag er nun am Boden. Unfähig zu sterben, keine Möglichkeit diesen gequälten Lauten, diesen wahnsinnigen Schreien, dem verzweifelte Kampf seines kleinen Bruders zu entkommen, ließ er die Zeit an sich vorbei gleiten. Es war ein zäher Fluss und erschien ihm länger als ein ganzes Leben. Aber er musste durchhalten.
Sollte er weinen? Er hatte keine Tränen mehr!
Sollte er schreien? Seine Kehle war rau und blutig!
Sollte er sich töten? Er war bereits tot!
Und so atmete Ron weiter, denn er hatte eine Aufgabe! Cole hatte es ihm in der zweiten Raunacht gesagt. Er war der Einzige, der Jims Hand ergreifen konnte – irgendwann, so hoffte Ron und biss sich auf die blutigen Lippen. Selbst wenn es nur Jims sterbliche Hülle sein sollte, die er dieser ungnädigen Welt entreißen sollte, war es das quälende Warten wert. Denn genau aus diesem Grund war er hier.
Zitternd zog er sich noch mehr in sich zurück und ertrug den grausigen Gesang der Eisenketten.

***

Jims Schreie hatten sich schon vor Stunden in den mit blutgeschwängerten Nebeln erfüllten Labyrinthen verloren. Doch immer noch blitzten die Klingen im Licht der Sterne und schrieben auf seinen Körper, der unter ihren Berührungen leicht pendelte. Aber Jims Augen zuckten nicht mehr. Seine gequälten Laute waren am Blut der Buchstaben auf seiner Zunge erstickt und sein Atmen war nur noch ein Röcheln.
Mit jeder Geschichte, die in Jims wunde Haut geschrieben wurde, ging eine Seele und mit ihr ein Peiniger. Die Hallen leerten sich. Schweigend, fast ehrfürchtig saßen Friggs Generäle auf ihren Rössern. Die schweren Pferde hatten ihre Köpfe demütig zu Boden geneigt. Das Heer aus Söldnern schwand dahin. Nur wenige Schlächter wankten noch auf ihren Gebeinen und warteten auf Vergebung. Der Strom aus verlorenen Seelen löste sich in einem gleißendem Licht auf.
Am Horizont berührte der purpurne Himmel zum ersten Mal nach Jahrtausenden den staubigen Boden. Kein Meer aus wankenden Schultern störte diese Umarmung. Kein Murmeln oder Flüstern unterbrach das Schweigen und keine nackten Füße wirbelten die Asche auf.
Eine beängstigende Stille ergriff Besitz von Anderswelt.

***

„Wer bist du?“, hauchte es an sein Ohr, als die Reflektion des Lichtes in der letzten Klinge erlosch. Er öffnete die Augen, stand auf und sah in ihr Gesicht. Er hatte so viel Leid ertragen, dass ihr Anblick ihm nichts mehr antun konnte.
„Mein Name ist Ron Barker.“
Erstaunt hob Frigg ihre Brauen. „Was willst du? Ich habe dich nicht gerufen“, sagte sie mit eisiger Stimme.
Ron begegnete ihrem Blick mit gleicher Kälte. „Ich werde meinen Bruder holen.“
Friggs Augen blitzten. Sie neigte den Kopf. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte sie und war auf einmal an seinem anderen Ohr.
Ron drehte sich in ihre Richtung und sah sie an. Frigg war wunderschön. Ihre weiße Haut schimmerte metallisch und ihr Umhang verdeckte nur halbherzig einen makellosen Körper. Sie war die schönste Frau, die Ron jemals gesehen hatte – und doch hasste er sie mehr, als sich selbst. „Ich kenne dich! Dein Name ist Frigg“, antwortete Ron gleichgültig.
Auf ihr Gesicht legte sich ein Hauch Bewunderung. Dieser Jäger hatte keine Angst. „Du kannst deinen Bruder nicht mitnehmen.“ antwortete sie.
Rons Augen folgen ihrem Blick zum Altar. Er zuckte zusammen. Sein Atem ging stoßweise. Mit zitternden Fingern klammerte er sich an einen Felsen hinter seinem Rücken.
Über einer erkaltenden Lache aus Blut pendelte ein Körper. Er bewegte sich nicht mehr aus eigener Kraft. Ein Windzug schaukelte ihn, die Ketten klirrten leise. Aber diesen Körper trugen die Beine nicht mehr. Jims Knie waren eingeknickt. Unter verdrehten Gliedmaßen rutschten seine Füße durch roten Schaum, der den Stein überzog. Ein Chaos aus Buchstaben und Symbolen zeichnete sich in dunklen Linien auf seiner Haut ab.
Ron konnte nicht einmal einschätzen, ob der leuchtend rote Hintergrund überhaupt Haut oder nur rohes Fleisch, wie bei einem gehäuteten Tier, war.
„Jim Barker existiert nicht mehr“, erklärte Frigg, als sich ihre Augen erneut auf Ron richteten. „Das da“, noch einmal sah sie auf Jim, „gehört mir!“
„Niemals!“ stieß Ron heraus.
Frigg hob verächtlich ihr Kinn: „Dieser Körper ist nutzlos in deiner Welt und wird dort nur verfaulen.“ Sie zog ihren Kopf nach hinten, als Rons eisiger Blick ihr Gesicht traf und sprach weiter: „Die Seele dieses Kriegers ist mit so viel Leid beladen, dass sie niemals zurück ans Licht finden wird.“
Ron schüttelte den Kopf. „Ich werde meinen Bruder mitnehmen und wenn es sein muss, in MEINER Welt begraben! Du wirst es nicht verhindern können.“
„Er gab mir sein Wort“, konterte Frigg und betrachtete den Jäger. „Du kannst dich mir nicht widersetzten, Ron Barker“, säuselte sie bedrohlich, „denn ich bin ein Gott.“
Ein kaltes Grinsen legte sich auf das bleiche, blutverkrustete Gesicht des Jägers, als er seinen Kopf anhob, um ihr in die Augen zu sehen. „Doch ich kann!“, widersprach er, „denn ich bin ein Mensch!“ Ron trat ganz dicht an Frigg heran. Seine Lippen berührten sie fast, als er in ihr Ohr säuselte: „Es ist meine Entscheidung und die Entscheidungen eines Menschen wiegen schwerer, als die eines Gottes!“
Ron trat einen Schritt zurück und forderte die Göttin mit lauter Stimme auf: „GIB MEINEN BRUDER FREI!“
Frigg hob die Augenbrauen. Ihre Mundwinkel zuckten. Sie neigte ihr Gesicht, als müsste sie überlegen. Dann sah sie in Rons Augen und sprach: „So sei es!“ Ihre schmalen Finger zupften einen silbernen Faden aus der Spindel des Schicksals. Als sie ihn fallen ließ, taumelte er zu Boden und legte sich wie eine feine Linie auf die graue Asche. „Ergreifst du die Hand deines Bruders, darfst er mit dir reisen!“
Fordernd sah sie auf ihre Generäle. Körper in schweren Rüstungen richteten sich auf und vernarbte Gesichter wandten sich dem Blick zu. Sie ergriffen das Zaumzeug ihrer Pferde und hoben ihre Schilde und Waffen. Frigg nickte ihnen zu: „Meine Reiter werden euch begleiten!“ Dann verschwand sie.

Die Schellen an Jims Gelenken begannen zu zittern. Mit einem Knacken öffnete sich die erste Fessel und seine schlüpfrige Hand glitt aus dem Eisen. Der befreite Arm zog seine Schulter nach. Jims Kopf taumelte in die gleiche Richtung. Gefesselt an einem Handgelenk pendelte er, in leichter Drehbewegung, über dem Altar.
Ein weiteres Knacken löste die Verschlüsse an der zweiten Schelle und lies Jim schlagartig zu Boden stürzen.
Ron presste die Lippen zusammen und trotzdem entfloh ihm ein Stöhnen. Gequält schloss er die Augen. Er hörte nicht das dumpfe Poltern eines Körpers. Es war vielmehr das Klatschen eines Stückes rohen Fleisches, das achtlos in eine blutige Lache geworfen wurde.
Jims Körper federte und schnippte wenige Zentimeter in die Höhe. Als sein rechter Arm über die Kante des Altars glitt, zog er den blutigen Rest hinterher. Mit dem Rücken an der Wand rutschte Jim kopfüber in die Asche und rollte Ron entgegen.
Bewegungslos blieb er auf dem Rücken liegen. Sein Gesicht war dem Altar zugewandt, die Beine waren verdreht und seine Arme hatten sich um seinen Oberkörper gewickelt. Es sah fast aus als umarmte er sich selbst.
Sofort hechtete Ron auf Jim zu. Die Fesseln an seinen Handgelenken hielten ihn nicht mehr zurück, denn Cole hatte die Stricke gekappt. Aber Jim blieb unerreichbar. Weniger als ein Meter die Brüder, denn der Faden aus Friggs Spindel versperrte den Weg. Nur Rons Arm durfte die Grenze überwinden, damit er Jim seine rettende Hand entgegen strecken konnte.
Ron stemmte sich gegen die Absperrung, bis sie sich so in seinen Bauchraum schnitt, dass er Blut auswürgte.
Er schrie und bettelte: „Jim! Gib mir deine Hand …Jim bitte – deine Hand.“
Fast konnte er Jim berühren. Er spürte sogar die Hitze auf den Fingerkuppen, die sein Körper ausstrahlte.
Ron wühlte sich durch die Asche - Zentimeter um Zentimeter, nur um Jim zu erreichen.
Er war dem Wahnsinn nahe, war ertrunken im eisigen Wasser und hatte Stunden, vielleicht Tage in dieser kreischenden Hölle ausgeharrt. Jeder Schmerzenslaut von Jim, jede pfeifenden Klinge, die seine Haut zerschnitten hatte, brannten auf seiner Seele. Er hatte einer Göttin die Stirn geboten und jetzt war er nicht in der Lage, die Hand seines Bruders zu ergreifen…
„Jimmy! … Bitte nur einmal! Bitte gib mir deine Hand“, bettelte er verzweifelt, „Versuch es doch wenigstens!“
Plötzlich taumelte Jims Kopf in seine Richtung. Ron konnte vage sein Gesicht erkennen. Es war geschwollen, vernarbt, blutverkrustet und entstellt. Als Jim die Augen öffnete, keuchte Ron auf. Das Weiß seiner Augäpfel leuchtete vor dem blutroten Hintergrund wie die Scheinwerfer eines Autos – riesig und rund. In ihrem Blick lag der gesammelte Schmerz aus zweitausend Jahren und eine einzige Träne wusch ein Rinnsal auf seine blutverschmierte Wange. Jim schüttelte den Kopf. Er hatte keine Kraft mehr für das Leben. Seine Seele war von grausamen Geschichten erdrückt worden und sein Körper gebrochen. Kein Wort hatte Jims Lippen verlassen, als er die Augen wieder schloss und sein Kopf kraftlos in die Asche sank.
„GIB MIR DEINE HAND!“, … schrie Ron. Er haste Frigg, diese Schlächter und diese verlorenen Seelen. Unermessliche Wut zwang ihn auf die Beine. Er war seinem Bruder so nahe und doch trennten sie Welten. Ron sah auf Jim, der nur eine Armlänge von ihm entfernt am Boden lag und trotzdem einsam verreckte wie ein Tier. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. Sein Blick wanderte über einen Himmel unter Kalksteinen. Es sah aus, als würden selbst die Gemäuer dieser Welt weinen. Außer sich vor Zorn und Verzweiflung riss Ron seine Arme auseinander und brüllte so laut in das Gewölbe, dass seine Fundamente erbebten. „Ihr Verdammten – hört mir zu! Er hat alle eure Geschichten gelesen. Er trägt euer aller Leid auf seinen Schultern. Er hat seine Seele geopfert, um euch zu befreien! Und was macht ihr? Ihr seht schweigend zu, wie er für euch verblutet! Ihr verdient keine Erlösung! Euer gerechter Platz ist hier!“ Seine Worte rollten wie eine Lawine durch Friggs Welt. Sie prallten an den alten Gemäuern ab, teilten sich und donnerten ihm als tausendfaches Echo entgegen.
Mit bebenden Schultern sank Ron schließlich zurück auf seine Knie, um dazubleiben, denn ohne Jim würde er diese Welt nicht verlassen.

***

Der Hauch einer Berührung streifte sein Gesicht. Als Ron sich der kleinen Hand zuwandte, die zärtlich seine Wange streichelte, strahlten ihn smaragdgrüne Augen an. Goldblonde Locken umringten ein blasses Gesicht und winzige Sommersprossen schienen auf ihrer Nase zu hüpfen, als sie mit einem Lächeln ihre strahlendweißen Milchzähne entblößte.
„Nicht weinen … es wird alles gut...“, flüsterte das kleine Mädchen und ihre schmalen Finger wischten zärtlich seine Tränen weg. Sie neigte den Kopf und musterte den Jäger neugierig.
Fassungslos sah Ron in seine eigenen Augen. Er wusste nicht, ob sein Herz in diesem Moment stillstand oder so schnell raste, dass er es nicht mehr spüren konnte. Die Kleine war drei, vielleicht vier Jahre alt und Ron schluckte, sie sah ihrer Mutter so ähnlich.
Das Mädchen nickte ihm zu. Dann beugte sie sich, um nach einer Kunstblume zu greifen, wie man sie in Schießbuden auf Jahrmärkten finden konnte. „Es wird alles gut – Daddy …“, rief sie lachend und rannte auf ihren nackten Füßchen zu Jim hinüber.
Eine zweite, schmale, in zerschlissenes Leinen gehüllte Gestalt hatte sich vor Jim niedergekniet. Sie beugte sich über ihn und strich sanft eine Strähne aus seiner Stirn. Dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange und ergriff sein Handgelenk. Als sie Ron zunickte, streckte er seinen Arm aus und Lilly ließ Jims Hand behutsam in seine gleiten. Ron packte zu. Mit einem gewaltigen Ruck riss er Jim an sich.
Tränen liefen über seine Wangen, als er Lilly betrachtete. Ron wollte ihr so viel sagen und brachte kein Wort hervor. Er weinte, als Lilly ihre Tochter auf den Arm nahm und in einem weißen Licht verschwand. Zurück blieben zu Boden tanzende Blütenblätter.
Nicht einmal Danke hatte er gesagt. Und doch spürte Ron, wie eine erdrückende Last von seinem Herzen wich. Er wollte Jim in die Arme schließen. Verzweifelt irrten seine Augen über pulsierendes Fleisch. Jims Blut war geronnen und überdeckte ihn mit einem klebrigen Film.
„Oh Gott!“, hauchte Ron. Er vermochte sich nicht auszumalen, welche Qualen Jim auch ohne Berührung immer noch ertrug. Aber er musste ihn doch hier fortbringen! Ratlos zog er den Kopf in den Nacken und stöhnte. Verdammt! Er … musste … ihn …anfassen!
Ron biss die Zähne zusammen als er sich neben Jim setzte und flüsterte: „Jimmy, Jimmy - es tut mir leid … es tut mir leid … ich muss …!“ Noch immer hielt er ratlos seine Hände in die Höhe und schüttelte seinen Kopf. Wo sollte er Jim nur berühren, ohne ihn zu quälen? Wie sollte er Jim nur transportieren? Es kostete ihm unendliche Überwindung – doch schließlich griff er behutsam nach Jims Schultern. Bei jeder Bewegung zuckte Ron schmerzlich zusammen. Die Haut unter seinen Fingern war glitschig und heiß. Er hob den Oberkörper etwas an und schob ganz vorsichtig seine Arme unter Jims Achseln. „Wir haben es gleich, Jimmy!“, flüsterte er mit zitternder Stimme. Dann zog er ihn rücklings auf seinen Schoß und verschnaufte. Ron wagte es nicht, sich zu bewegen. Ganz sacht legte er seine Stirn in Jims Nacken und flüsterte. „KEINE ANGST JIMMY - ICH HAB DICH!“ Ron verstand warum Jim keine Wahl hatte und verzieh ihm sein beharrliches Schweigen, denn Jim hatte alles gewusst.
Es war die letzte verlorene Seele, für die Jim all diese Qualen ertrug.
Es war die letzte verlorene Seele, die eine Geschichte auf seine Haut geschrieben hatte, die er bereits kannte.
Es war die letzte verlorene Seele, deren ewige Verdammnis Rons Herz zerrissen hätte und es war die letzte verlorene Seele, die schließlich Friggs Mauer brach, um Jims Hand in seine Obhut zu geben …
Ron schloss die Augen: „Hab keine Angst kleiner Bruder, ich halte dich … es wird alles gut…“


*** Das Ritual ***


»Es werden 36 Brüder reisen.
Unter ihnen werden auch zwei Fremde sein«

Rons Hemd wurde von Blut durchtränkt, als er Jim noch fester in die Arme schloss. Vergeblich versuchte er, seine Gedanken zu sortieren, um irgendetwas anderes als diese nagende Angst fühlen zu müssen. Sein Herz taumelte furchtsam in seiner Brust. Ron wusste nicht einmal, ob er selbst noch am Leben war – ob Jim noch am Leben war. Vielleicht war alles nur ein Alptraum.
Aber Jims Körper in seinen Armen und ein Geruch von geronnenem Blut, der von ihm ausging, waren real. Ron spürte, wie sich Jims Brust kaum merkbar ausdehnte. In einem beängstigenden gleichmäßigen Rhythmus hoben und senkten sich seine Rippen. Was er festhielt, erinnerte jedoch kaum noch an einen Menschen. Verzweifelt schloss er die Augen, um diesen Anblick nicht ertragen zu müssen. „Jimmy, was haben sie dir nur angetan … was hast du dir nur angetan?“, flüsterte er.
Jim hatte ihn von der zermürbenden Angst um sein eigen Fleisch und Blut befreit. Jim hatte die Entscheidung getroffen, zu der er nie fähig gewesen wäre. Diese Entscheidung hatte ihn zerstört und nun fühlte sich Ron nicht besser – nur schuldiger! Er erinnerte sich an die Worte seines kleinen Mädchens. Sie waren so voller Hoffnung und Zuversicht. „Es wird alles gut“, hatte sie gesagt. Ron wusste nicht, ob Lilly und seine Tochter real gewesen waren. Aber es hatte sich real angefühlt und es war ein seltsames Gefühl, vom eigenen Kind getröstet zu werden.
Jim gab keinen Laut von sich. Jeder seiner Muskeln war erschlafft, nur seine Haut pulsierte. Ron konnte es spüren. Wie ein stummer Hilfeschrei legte es Zeugnis ab über Qualen, die seine Vorstellungen sprengten.
Entschlossen hob Ron die Stirn. Er musste hier raus … verdammt … Jim brauchte Hilfe – er musste ihn dieser Welt voller Schreie, Leiden, Schmerzen und Tod entreißen.
Diese Aufgabe war real. „Es wird alles gut“, flüsterte Ron und zwang die nagende Furcht zurück in seine Eingeweide. Sie sollte dort verrotten, denn eins wusste der ältere Barker mit Sicherheit. Er würde Jim um keinen Preis der Welt loslassen.
„Cole, ich hab ihn“, schrie er mit aller Kraft. Der Klang seiner rauen Stimme war der letzte Funke Leben in Friggs verwaisten Hallen.

*** *** ***

Tiffanys Bar
01.01.2010, 03:00 Uhr

„Wie konnten wir das nur zulassen?“ In Tiffanys Augen spiegelte sich das Licht des Vollmondes, als sie Cole ansah. Die Tränen auf ihren Wangen waren kristallisiert und schneidender Wind zerrte an ihrem Haar.
Der alte Farmer war ebenfalls bleich. Aber trotz der Kälte schienen seine Tränen nicht zu gefrieren. Er hatte sich mit dem Rücken gegen das keltische Kreuz gelehnt und schwieg.
„Cole!“ Tiffanys Stimme riss den Alten aus seiner Lethargie. Kurz schnellte sein Gesicht in die Höhe. Es glich einem Totenschädel. Seine Wangenknochen traten deutlich hervor. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Er vermochte den Kopf nicht lange aufrecht zu halten. Vielleicht ertrug er Tiffanys Blick nicht.
„Wir haben ihn in den Tod springen lassen“, flüsterte Tiffany und ließ die Schulter sinken. Das Blatt mit der Hexen-Rune zitterte zwischen ihren Fingern. Als ihr Blick über den Rand des Brunnens in den gähnenden Schlund streifte, überschwemmten erneut Tränen ihre Augen. „Wie konnte ich nur so einen Unsinn glauben! Was haben wir nur getan? Wir sind Mörder!“
Cole sah sie an. Seine Augen waren weiß wie Milch.
Als Tiffany die Schritte ihrer Tochter hörte drehte sie sich um. Ein Seufzer stieß über ihre Lippen. Ron hatte nicht einen Augenblick gezögert. Er war in die Tiefe gesprungen, um Jim zu retten.
Tiffany hatte keinen Zorn auf den Jäger, denn sie wusste, dass es Menschen gab, für die auch sie sterben würde. Unglücklich betrachtete sie ihr kleines Mädchen. Tinas Augen waren gerötet von Tränen. Großer Kummer hatte eine erste Falte auf ihre jugendliche Stirn gezogen. Sie ging auf den Alten zu und griff nach seinem Oberarm. „Was ist mit dir, Cole?“, fragte sie. Ihre ganze Hoffnung schien auf den Schultern des Druiden zu liegen.
Der Alte atmete tief ein, als wollte er antworten, stieß jedoch nur seinen Atem in die Luft. Die weißen Brauen über seinen Augen hoben sich, als er flüsterte: „Merkt ihr das?“
Verwirrt sahen sich Mutter und Tochter an.
„Die Luft …!“ Cole blies noch einmal über seine Lippen.
Tiffanys linke Braue hob sich. „Dein Atem, Cole!“, flüsterte sie.
Der Druide nickte. „Er gefiert nicht.“
Tina war an den Alten heran getreten. „Bedeutet das …?“
Cole antwortete „ … ihr Zorn ist verschwunden!“ Dann zog er seufzend den Kopf in den Nacken. Eine einsame Träne blitzte auf seiner Wange. „Mein Gott – die letzte Geschichte wurde gehört.“
„Aber?“ Tina schüttelte ihn. „Es ist keine fünf Minuten her, als Ron gesprungen ist. Wie kann das sein?“
Warme Augen begegneten ihr. „Zeit ist relativ“, flüsterte Cole. Auf sein gezeichnetes Gesicht legte sich ein Hoffnungsschimmer. „Das kann nur bedeuten, dass sie es geschafft haben.“ Er zuckte zusammen. „Ich muss jetzt…“, abrupt richtete er sein Gesicht auf das Kreuz, „Ron finden!“ Der Druide schloss die Augen, um seine Gedanken auf eine unbekannte Reise schicken. Er geriet ins Taumeln. Halt suchend griff er mit einer Hand an die Brunnenmauer, um nicht zu fallen, während sich die Finger seiner zweiten Hand massierend auf seine Schläfen legten. Er zuckte spastisch und vor den erstaunten Augen der beiden Frauen begann er zu murmeln: „Wo steckst du, Ron?“ Ein leises Stöhnen mischte sich unter seinen keuchenden Atem.
„Er hat ihn!“ Coles Finger gruben sich in das Mauerwerk des Brunnens. Seine Hautfarbe wurde noch blasser und ließ ein schmales Rinnsal Blut, das ihm aus der Nase tropfte, aufleuchten.
„Cole?“, in Tiffanys Stimme vibrierte Angst, „Was ist nur los mit dir?“
„Es ist okay“, stöhnte der Alte, „es kostet Lebenskraft, Kontakt zu Anderswelt zu halten.“ Er lächelte: „Ich habe Ron gefunden. Es ist an der Zeit, das Tor zu öffnen.“
Cole schien um Jahre gealtert. Aber seine Entschlossenheit, die Jäger zu retten, mobilisierte seine letzten Reserven. Er sah Tina an: „Die Decken auf meinem Pickup. Hole sie und breite sie direkt hier an der Brunnenmauer aus.“ Er deutete auf den Boden vor seinen Füßen. Tina nickte und eilte zum Wagen.
„Tiffany ich werde jetzt das Portal aktivieren, du musst die Strophen lesen.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, kramte Cole den Dolch aus seiner Umhängetasche.
„Cole … ich, ich weiß nicht …“, stotterte die Wirtin. Ihre Augen irrten unsicher über das Gesicht des Alten, der sie nur für einen Augenblick ansah.
„Doch du kannst, Tiffany!“, flüsterte er und versuchte zu erklären: „Nur eine weibliche Stimme darf die Verse lesen. Du hast keine Wahl, wenn du die Brüder retten willst.“
Ungläubig beobachtete Tiffany den Druiden, der nun in die Hocke gegangen war und die blutige Spitze des Dolches in das Glas mit den Schrotkugeln aus Jims Schulter tauchte. „Ich weiß, meine Forderungen sind nicht fair – aber es ist einfach so, dass nur eine Frau die Macht besitzt, den Weg ins Leben zu ermöglichen“, murmelte er.

Die große Eisenniete welche die Kurbel fixierte, hatte einen Schlitz. Cole schob die blutgetränkte Klinge in die Öffnung und drehte den Messergriff nach links. Es folgte ein leises Knacken, wie beim Öffnen eines Türschlosses. Ein kurzes Summen, ähnlich der gezupfte Saite einer Wandergitarre folgte. Cole richtete sich auf und wischte mit der Hand über sein Gesicht.
Erwartungsvoll blickte er auf die Hanfseile, deren Enden im Brunnenschacht baumelten. Nach einem kurzen Zittern spannten sie sich, wie die Sehnen eines Bogens. Feuchtigkeit trat aus, als würde man ein Kleidungsstück auswringen. Glänzende Perlen rannen wie Schweißtropfen über das Geflecht.
Ein weiteres Geräusch riss Tiffany, Tina und Cole aus ihrem Staunen. Gebannt beobachten sie das keltische Kreuz, dessen Silhouette sich in den Nachthimmel erstreckte, als wollte es die Sterne vom Firmament holen. Knackend lösten sich verborgene Bolzen im Schnittpunkt seiner Balken und ließen die stählerne Verankerung, auf der die Führungsrollen der Seile montiert waren, nach vorn über die Brunnenöffnung klappen.
Nun lockerten sich, die Seile wieder. Sie schienen sich allmählich in Fleisch zu verwandeln während ihre Enden in der Tiefe des Brunnens verschwanden.
Der mit Symbolen verzierte Ring begann sich um den Schnittpunkt der Balken zu drehen. Erst jetzt bemerkten die überwältigten Beobachter, dass es sich um zwei ineinander liegende Ringe handelte, die sich entgegengesetzt bewegten. Das gesamte Kreuz vibrierte. Ächzend erzitterten die mächtigen Eichenstämme und aus den Rissen des trockenen Holzes rieselte jahrtausendealter Staub.
Aus der Bodenlosigkeit des Brunnens mischte sich ein bedrohliches Zischen unter das Stöhnen der alten Balken. Die Tropfen auf den fleischgewordenen Seilen verfärbten sich rot. Als sie schwer wie Blut in den Schlund des Brunnens stürzten, stiegen Nebelschwaden empor.
Schlagartig blieben die Ringe in neuer Position stehen. Nun hatten sich aus den undefinierbaren, ins Holz geschnitzten Symbolen Figuren gebildet. Leicht zu erkennen bildeten 34 bewaffnete Krieger auf schweren Pferden einen Kreis um den Schnittpunkt der Balken, auf dem 2 weitere Krieger sichtbar wurden. Das Vibrieren der Balken verstummte und das keltische Kreuz erstarrte mit neuer Symbolik. Es warf den Schatten seines Ringes über den Brunnenschacht, als die letzten Wolken verschwanden und das Licht des Mondes ungehindert den Hof erleuchtete.
Der Wind verebbte und eine unbekannte Macht stahl der Welt das Echo.
„Es ist soweit“, murmelte Cole. Seine hellen Augen eilten über den Nachthimmel. Sterne und Vollmond schienen noch nie so nah wie in dieser Nacht. Auch sie verfärbten sich blutrot.
„Es könnte gleich etwas stürmisch werden“, flüsterte er, „Jim und Ron werden nicht allein zurückkehren. Wenn Friggs Reiter erscheinen, schaut ihnen nicht in die Gesichter, denn das könnte sie erzürnen.“ Seine Augen trafen auf Tiffany. „Bist du soweit?“
Cole hockte sich vor die Seilwinde und hielt die Kurbel fest. Mit einem hohen Pfeifton begann sie in seinen Händen zu rucken. Dann nickte er Tiffany zu und begann die Seile aufzuwickeln. Ächzend glitten sie über die Führung und rollten sich langsam auf die leere Rolle am Fuße des Kreuzes.
Nach einem kurzen Zögern umschlossen Tiffanys Finger fester das Papier. Sie schluckte ihre Angst hinunter und begann mit zerbrechlicher Stimme, die uralten Zeilen zu lesen, deren Bedeutung sie kaum verstand.
Nach dem ersten Satz preschte eine Windböe über den Hof und aus den Tiefen des Brunnens dröhnte ein gequältes Stöhnen.

*** *** ***

Ron spürte einen reißenden Schmerz in seinen Eingeweiden und als ihn etwas nach hinten riss, schrie er unvermittelt auf. Augenblicklich wurde ihm klar, dass Cole sein Rufen gehört hatte. Er wusste, dass diese Reise zurück ans Licht sehr holprig werden würde. Wie die Fesseln an seinen Handgelenken existierte auch der Gürtel um seine Taille noch.
Hastig schlangen sich Rons Arme fester um Jims Brust. Als die Brüder vom Altar gerissen wurden, erfüllte ein Plätschern die Stille. Rote Rinnsale sickerten aus jeder der uralten Fugen und Rissen des Gemäuers. Zuerst waren sie noch schmal, aber schon bald schwollen sie zu reißenden Bächen an. Eine Springflut von Blut ergoss sich in Friggs Hallen, begrub Felsen und Asche unter sich und donnerte wie eine Lawine auf die Jäger zu. Ron schloss die Augen in Erwartung, zu ertrinken.
Als er sich jedoch erneut umsah, erstarrte er. Friggs Reiter hatten ihn und Jim umkreist. Eine Barriere aus schweren Schilden hielt das Meer zurück. Wie die schäumende Brandung eines vom Sturm gepeitschten Ozeans, prallten meterhohe Wellen an den Kriegern ab, die ihrer Gewalt trotzten. Ihre Rüstungen färbten sich, wie das Fell ihrer Pferde, rot vom Blut, das sie einst vergossen hatten. Zischende Gischt türmte sich bis in die Bögen der alten Gewölbe. Und ganz langsam wurde diese Wand aus Blut zu Fleisch und verzehrte die Reiter. Wie Geister verschwanden sie im zuckenden Gewebe der Erde.
Der Boden unter Ron füllte sich mit dampfendem Wasser. Aber er versank nicht. Wie ein Korken trieb er auf warmen Wellen, umgeben von Fleisch, das sich um ihn herum zusammenzog und ihn plötzlich mit einem Stoß in die Höhe trieb. Ron stöhnte auf, als sein Körper in den Brunnenschacht gepresst wurde. Seine Rippen knirschten. Jim krampfhaft festhaltend, stemmte er sich gegen eine pulsierende Wand, die ihn plötzlich wie ein pumpender Muskel umschloss.
Er begann zu schreien. Seine Fingerkuppen färbten sich blau, als sie sich über Jims Brust falteten. Ron konnte nicht mehr atmen und langsam kroch zäher Schleim an seinem Körper hinauf. Die ersten Tropfen fanden bereits einen Weg über seine Lippen und verstopften ihm Ohren und Nasenlöcher. Alle Kraft, die er noch besaß, benötigte er, um Jim festzuhalten. Jeder seiner japsenden Atemzüge, der einem weiteren Schub folgte, verwandelte sich in heiseres Schreien, bis ihm die Luft ausging und nur noch Krächzen aus seiner Kehle stieß. Rons Lunge konnte sich nicht mehr ausdehnen.
Plötzlich bäumte sich Jims Körper auf. Seine Rippen fixierten sich krachend, boten dem Fleisch, das die Jäger einschloss, Widerstand. Unzerstörbar stemmte sich der stählerne Brustkorb des Jüngeren gegen den Würgegriff der Erde und Ron konnte wieder atmen. Geschützt durch Jims Körper durfte sich seine Lunge ausdehnen.
Noch immer pulsierte es um ihn herum. Aber über ihm, am Ende des Tunnels, erschien der Mond.
Ein weiterer heftiger Stoß katapultierte die Brüder nach oben. Panische Schreie entwichen Rons Lippen, als er durch den fleischgewordenen Schlot des Brunnens der fahlen Nacht über Grafton entgegenraste.

*** *** ***

Mit dem Mut der Verzweiflung sprach Tiffany die magischen Worte. Noch während die ersten Silben verklangen, begann die Erde zu zittern. Diese unglaubliche Wirkung verstärkte ihren Glauben und die alten Strophen stießen nun mit geballter Überzeugung über ihre Lippen:


Dunkle Nacht und Mondenschein,
muss bei diesem Ritus sein,
Scharfer Frost verklärt die Nacht,
bis sein Opfer ist erbracht.

Verlorene Seelen - verloren zu quälen.

Die Macht des Schattens weicht dem Licht,
der Tod steht ihm im Angesicht.
Der Himmel färbt sich rot von Blut.
Wenn er in Bruders Armen ruht -
dann sieht kein menschlich Auge mehr
das durch die Schrift erlöste Heer.

***

Verstummt
ist jeder Schrei im dunklen
Dämmergrund

***

Ost, dann Süd, West, dann Nord,
Mächte, öffnet diesen Ort.
Königin von Himmel und Hölle,
lass sie gehn, das ist mein Wille.
All die Macht von Meer und Land,
soll liegen nun in meiner Hand.

***

Verfluchte Krieger dieser Nacht,
geleitet sie - gebt eure Kraft.
Führt sie aus dem Dunkel zurück in das Licht
bevor ihre Seele auf immer zerbricht!
Vertreibt den Tod mit seiner Sense
lebend überschreiten sie die Grenze.

Ihr Blut - es öffnet diese Tür,
Anderswelt ist jetzt und hier.

***

Eko, Eko Azarak,
Eko, Eko Zamilak,


*** *** ***

Als die letzten Worte verklungen waren, erschütterte ein Erdstoß den Parkplatz. Das Kreuz sowie wenige geparkte Fahrzeuge vor Tiffanys Bar bebten. Sie selbst und ihre Tochter gerieten ins Taumeln. Mit weit aufgerissenen Augen beobachten sie den Brunnen.
Das leise Zischen im Schacht schwoll an. Aufsteigender Nebel ballte sich über seiner Öffnung zu einer dichten Wolke zusammen, die plötzlich senkrecht in den Nachthimmel schoss und einen blutroten, langsam rotierenden Ring über dem Hof bildete. Nur schemenhaft konnte man die Silhouetten der verfluchten Reiter in ihm erkennen. Sie hatten sich im Kreis positioniert und verharrten bewegungslos.
Das Gemäuer des Brunnens begann zu reißen. Lose Kieselsteinchen klirrten zwischen den Fugen der Pflastersteine auf dem Hof. Eiskristalle in der Luft schaukelten und die Fensterschreiben der Gebäude summten wie ein Schwarm Bienen. Heftige Sturmböen preschten über den Platz, kreiselten um den Brunnen und rissen an den Personen. Sie trugen den Geruch von Blut, Schweiß und Pferden.
Tiffany und Tina verbargen ihre Gesichter hinter den Händen, denn Eiskristalle verfingen sich in ihren Haaren und schnitten in ihre Haut. Ihr entsetzter Aufschrei wurde vom Heulen des Windes übertönt, der Eis und Dreck vor sich her trieb.
Cole hockte von all dem unbeeindruckt vor der Kurbel, die in seinen Händen ruckte und zerrte, als hätte sie ein Eigenleben. Schließlich gelang es dem Druiden nicht mehr, sie zu bändigen. Sie riss sich aus seinen Fingern. Die Stricke qualmten durch die Hitze der Reibung, als sie über die Führungen surrten. Cole hatte Angst, die Winde würde brechen. Fieberhaft versuchte er, das Tempo zu drosseln. Aber die alte Mechanik hatte sich längst verselbstständigt. Er bekam von der im Kreis sausenden Kurbel nur einen heftigen Schlag gegen seine Brust und fiel stöhnend auf den Rücken.
Das Kreuz beugte sich ächzend unter der Last, die es der Erde entriss. Die Risse im Gemäuer fraßen sich in Richtung Boden. Wie Blitze rasten sie im Zickzack über den Hof und zerfetzten das Erdreich. Wassertropfen spritzten über die Mauer des Brunnens, bildeten blutrote Gischt und menschliche Schreie mischten sich unter das Rauschen.
Dann verschlang der Himmel Mond und Sterne. Mit lautem Klirren zerbrachen sämtliche Fenster an der Vorderfront des Pubs. Eine Orkanböe stürmte in die Innenräume und riss die Dekorationen um.
„Ich höre Ron!“ Tiffanys dünne Stimme verlor sich im Sturm. Sie schloss ihre Tochter fester in die Arme und wich einige Meter zurück. Schreie ertönten aus der Tiefe und wurden mit jeder Sekunde lauter. „Mein Gott, es wird sie in Stücke reißen …“, schrie sie und wandte sich ab.
Cole rappelte sich hustend auf und packte die Wolldecken am Fuße des Brunnens, um zu verhindern, dass sie fortgerissen wurden.
Dann hielt der Sturm inne, als müsse er verschnaufen. Sanft rieselten aufgewirbelte Eiskristalle zu Boden. Kein Laut war zu hören und die Bewegungen der drei Helfer wirkten wie in Zeitlupe. Als sich ihre ratlosen Blicke trafen, stießen 34 Blitze gleichzeitig aus dem Wolkenring zur Erde. Der Hof wurde in gleißendes Licht getaucht und die Druckwelle, die einem lauten Donnerschlag folgte, riss Tiffany und Tina zu Boden.
Schreiend schoss Ron, seinen Bruder in den Armen haltend, auf einer riesigen Fontäne aus dem Brunnen. Jim entglitt ihm und stürzte auf die Mauerkante. Das eigene Gewicht zog ihn über die Steine und er kullerte unter Coles entsetzten Blicken direkt auf die Decken.
Ron schrie … jeder Atemzug, der aus seiner Lunge stieß, war ein Schrei - nahe dem Wahnsinn.
Cole war wie gelähmt. Er hatte Schlimmstes erwartet. Aber gegen das Grauen, das er nun zu sehen bekam, weigerte sich sein Verstand. Der abrupte Temperaturwechsel zerrte an Jims Sehnen. Für einen Moment überdehnte sich sein gesamter Körper, bevor er zur Seite kippte. Die Arme des jungen Jägers legten sich über Kreuz auf seine Brust. Seine Hände umschlossen die Schultern. Langsam zogen sich seine Beine gegen den Bauch und der Rücken krümmte sich. Ohne einen einzigen Laut von sich zu geben, nahm der nackte Körper die Stellung eines Embryos ein. Warmes Wasser aus dem Brunnen hatte das Blut von seiner Haut gewaschen und einen schmierigen Film zurückgelassen. Über vielen Buchstaben und Zeichen bildete sich bereits Schorf. Cole konnte auf Jim Worte lesen wie in einem Buch. Entsetzt kämpfte er um Sauerstoff und gegen eine Ohnmacht, als sein Blick auf Ron traf.
Der ältere Barker war zurück in den Brunnen gestürzt, nachdem das Wasser unter ihm verschwunden war. Ron schrie laut und ohne jede Beherrschung. Seine Finger hatten gerade noch den Mauerrand erwischt und verkrampften sich, um Halt zu finden.
Schreiend kämpfte er gegen den Absturz an.
Schreiend wühlte er mit seinen Fingern nach Halt suchend im blutigen Schaum.
Schreiend stemmte er seine Beine gegen die Steinwand und presste seinen Körper aus dem Schacht.
Schreiend hing er schließlich halb über der Mauer. Schreiend kippte er nach vorn und stürzte auf den Boden.
Ron rappelte sich auf, sah Cole ins Gesicht und schrie wie besessen. In seinen Augen flackerte der pure Wahnsinn.
Mit irrem Blick packte er Jim an den Nackenhaaren, riss seinen Kopf nach hinten und fuhr mit der gesamten Hand in seinen Mund. Er wühlte Blut, Dreck und Schleim aus Jims Hals. Mit den Fingern zerrte er die Zunge, die in Jims Kehle gerutscht war, wieder nach vorn und schrie. Ron schrie weiter, als er Jims Nasenlöcher frei pulte und ihm einen heftigen Schlag gegen den Rücken verpasste, damit er endlich atmete.
Schlotternd beobachtete Cole das Geschehen, bis ihn aufgerissene Augen anstarrten. Rons Pupillen waren von blankem Entsetzen geweitet. Gehetzt irrten seine Blicke über Coles Gesicht und rasten über den Hof zu Tiffany. Sie lag auf den Knien und hielt ihre ohnmächtige Tochter in den Armen. Aber Ron schien nichts von allem wahrzunehmen.
Schreiend sah er wieder auf Cole.
Der alte Farmer packte ihn mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn. „ER LEBT! – RON ER LEBT!“ verzweifelt versuchte Cole, zu ihm durchzudringen. Aber Ron schrie ihn nur an. Nach Blut riechender Speichel explodierte in seinem Hals und klatschte Cole ins Gesicht!
„RON!“ Nun begann der Alte ebenfalls zu schreien. „Er lebt! Ron! Verdammt - hör mir doch zu! Er lebt!“ Seine Stimme konnten sich kaum gegen Rons Geschrei durchsetzen, geschweige denn, seinen Verstand erreichen.
Heftig zog er Ron ganz nah zu sich heran und sah ihm beschwörend in die Augen: „RON! … Nur lebendes Fleisch und Blut! Versteh doch …! Nur lebendes Fleisch kann passieren.“ Seine Finger bohrten sich noch fester in seine Schultern: „RON! … … Es ist alles gut!“
Ron verstummte mit geöffnetem Mund. Ungläubig sah er auf Jim. Dann hefteten sich seine Augen fragend auf Cole, der ihm zuflüsterte: „ES IST ALLES GUT! DEIN BRUDER LEBT!“ wiederholte er leise: „Jim lebt!“
Rons Lippen schlossen sich abrupt. „Jim lebt …“, flüsterte er und schluckte.
Cole lächelte und ließ langsam seine Schultern los. Beide sahen sie auf Jim.
Ron griff hastig nach den Decken und schlug sie um den zitternden Körper vor seinen Knien. „Jimmy – ich bin bei dir“, flüsterte er, „niemand tut dir mehr weh!“ Seine Blicke wanderten über ein zuckendes Bündel Mensch, eingewickelt in Decken, so dass nur noch das Gesicht zu erkennen war. Es war ein zartes, blasses Gesicht. Schmale Brauen ruhten über geschlossenen Augen. Verschmutzte, nasse Haare klebten auf Stirn und Schläfen. Sie umringten ein vernarbtes Antlitz.
Behutsam hob Ron eines der Lider. Jims Augen hatten sich nach oben gerollt und zuckten wild und abwesend.
Mit erstickender Stimme wandte sich Ron an Cole: „… Bitte ruf den Notarzt!“


*** Die Last, die du nicht trägst ***



Grafton, 09:30 Uhr
05.01.2010 (5 Tage später)

Hellgraues Linoleum dämpfte das Geräusch seiner eiligen Schritte. Nur das Rascheln einer braunen Tüte in seiner Hand mischte sich unter leises Summen von Neonröhren, die mit ihrem schattenlosen Licht einen menschenleeren Flur überfluteten. Lautlos öffnete Ron die Tür einen Spalt weit und schob sich in das Zimmer. Den schweren Desinfektionsgeruch in der Luft nahm er nicht mehr wahr.
„He Jimmy, ich hab dir dein Lieblingsfrühstück mitgebracht.“ Ron räusperte sich. „Ich weiß doch, wie wählerisch du bist!“ Kurz hob er die Tüte an, bevor er sie auf den Tisch stellte. „Heute gibt’s Eierkuchen mit Ahornsirup.“ Sein Blick schweifte durch das Zimmer. Neben einem grauen Spind und zwei Metallstühlen unter dem kleinen Tisch stand ein unberührtes Bett darin.
Mit wenigen Schritten war er bei Jim. Die Strahlen der Sonne reflektierten sich in verschiedenen Brauntönen auf seinem Haar, während er aus dem Fenster sah. Ron seufzte. Jim war blass. Die Verletzungen auf seinem Körper waren gut verheilt, das konnte er in seinem Gesicht und auf den Armen sehen. Aber Jim wirkte abstoßend. Größtenteils war der Schorf abgeblättert und nun zeigten sich unzählige Narben auf seiner Haut. Allerdings wusste Ron aus Erfahrung, dass diese winzigen Linien bald verblassen würden.
Er ging vor Jim in die Hocke und flüsterte: „Das wird schon wieder. In wenigen Wochen wirst du wieder der zweithübscheste Jäger im Land sein.“ Ron schluckte und zog die Brauen in die Höhe. „He Jimmy – weißt du was?“ flüsterte er und griff unter seine Jacke, um ein Röntgenbild hervorzuholen. „Es gibt gute Neuigkeiten.“ Ein Grinsen legte sich auf sein Gesicht, als er damit aufgeregt herumwedelte. „Du bist wieder völlig rostfrei …!“ Ron schnaufte.
„Ich habe mit Dr. Robbins gesprochen. Du darfst heute mit mir nach Hause kommen. Er hat das Zeug auf deiner Haut übrigens analysieren lassen und würde seine Seele für die Formel verkaufen.“ Rasch ließ Ron die Aufnahme wieder in seiner Jackentasche verschwinden: „Dieser Schleim scheint ein wahres Wundermittel gewesen zu sein. Er hat deine Wunden desinfiziert und den Heilungsprozess enorm angekurbelt. Ohne dieses Zeug wärst du wohl verblutet.“
Abrupt hielt er inne, als Jim seinen Kopf wegzog, ohne die Augen von der Straße zu wenden. Ron folgte Jim`s Blick und sah ebenfalls zum Fenster hinaus. Grafton pulsierte voller Leben. Am Neujahrsmorgen waren die Temperaturen geradezu in die Höhe geschnellt und es hatte den Anschein, als versuche die Sonne die eisige Kälte der vergangenen Tage aus den Erinnerungen der Menschen zu löschen. In den kahlen Ahornbäumen sang sogar eine Amsel und das milde Wetter trieb Krokusse aus der Erde.
„Sie sind nicht mehr zornig, Jim“, seufzte Ron und deutete kurz auf die Passanten. „Sieh dir nur all diese Menschen an. Wie sie rumwuseln und lachen. Sie haben keine Ahnung, was du für sie ertragen hast.“
Jim antwortete nicht. Unentwegt starrte er hinaus.
„Nun …“, fuhr der Ältere fort und atmete tief ein. „Dr. Robbins macht deine Papiere fertig. Wir haben also noch ein wenig Zeit. Bis dahin können wir frühstücken. Du kannst es doch nicht leiden, wenn der Eierkuchen kalt wird.“ Entschlossen ging er um Jim herum und fasste nach den Griffen des Rollstuhles. Leise quietschten die Räder auf dem Linoleum, als Ron das Gefährt nach hinten kippte, um es an den Tisch zu fahren.
Er griff sich einen der Stühle, setzte sich neben Jim und begann, das Frühstück auszupacken. „Weißt du - wir könnten ein paar Wochen zu Bill fahren. Ich meine …!“ Ron plapperte unentwegt weiter. „Lass uns einfach aussteigen, bis du wieder fit bist. Wir sollten nicht hier bleiben, Jimmy.“ Seine Stimme zitterte als er weitersprach: „Du musst einfach etwas anders sehen. Du musst…“, Ron riss seinen Kopf in den Nacken. Eine Träne blitze im Licht der Sonne: „… vergessen!“ Als er nach Jims Arm greifen wollte, zuckte dieser zusammen.
„Ist okay, Jimmy … ist okay!“, flüsterte Ron und als er zurückwich, wurde Jim wieder ruhig. Seine vernarbten Hände legten sich auf die Oberschenkel. Neben einem nervösen Zucken seiner Muskeln, waren es nur Jim`s Augen, die unentwegt kreisten. Von schrecklichen Erinnerungen gehetzt, irrten sie durch das Zimmer – unfähig, irgendetwas länger als eine Sekunde zu fixieren.
Ron zögerte: „Magst du?“ Er hielt einen Pappbecher in Jim`s Richtung. „Kaffee Latte – Ich weiß, du liebst dieses Zeug!“
Kurz hob Jim den Kopf. Er übersah Ron, als er zögernd die rechte Hand hob. Wenige Sekunden später vibrierte der Becher zwischen seinen Fingern.
Ron lächelte ihm aufmunternd zu: „Sei vorsichtig, Jimmy – er ist heiß!“
Jim umklammerte den Becher mit beiden Händen und ließ ihn auf seinen Schoß sinken. Ein kleiner Schwall des heißen Getränkes, der über seine Finger geschwappt war und ihn verbrühte, ließ ihn nicht einmal aufzucken. Er starrte wieder auf den Boden und pendelte mit dem Oberkörper.
Ron hatte inzwischen den Eierkuchen zerschnitten. Rasch pikste er ein Stückchen mit der Gabel auf, um es Jim zu reichen.
Als Jim den blinkenden Gegenstand auf sich zukommen sah, stieß ein heiserer Schrei über seine Lippen. Sein Körper schnellte in die Höhe. Der Kaffeebecher glitt ihm aus der Hand, fiel zu Boden und kreiselte unter dem Tisch. Jim versuchte, nach hinten auszuweichen. Dabei rutschte er auf der Pfütze aus. Er riss den Rollstuhl um und stürzte rücklinks darüber.
Mit angstverstörten Atemzügen beobachtete er Ron.
„Jimmy, Jimmy – ist ja gut!“ Erschrocken warf Ron die Gabel weg. Sein Gesicht war kreidebleich. Vorsichtig bewegte er sich auf Jim zu und hob die Hände. „Ich bin`s, Jimmy! Sieh her … ich bin`s!“ Tränen standen in seinen Augen, als er stotterte: „Es … es tut mir leid …. ich wollte nicht … ich … ich würde dir doch nie …!“
Er beugte sich langsam zu Jim herunter, der, auf dem Rücken liegend, weiter in Richtung Wand robbte.
„Jimmy … ich bin`s!“, flüsterte Ron und ging in die Hocke. Seine Knie schlotterten. Vorsichtig streckte er Jim die Hand entgegen. „Du hast ja Recht, Kleiner – Gabeln sind doof.“
Nur zögernd streckte Jim ihm die Hand entgegen.
„Ist gut, Jimmy – gib mir deine Hand“, ermutigte ihn Ron. „Komm, ich helfe dir hoch. Keine Angst. Ich pass auf dich auf!“ Ron spürte, wie sich Jims feuchtkalte Finger um seine Hand klammerten.
„Lass uns einfach hier verschwinden.“

*** *** ***

Betrübt musterte Albert Robbins Jim durch seine Nickelbrille. Leicht wankend stand er neben Ron und wich jedem Blick aus. Nur hin und wieder zuckten seine Muskeln nervös oder ein undefinierbares Brummen entwich seinen Lippen.
Robbins hüstelte, als er die Krankenhauspapiere vom überladenen Schreibtisch nahm. „Ich weiß nicht, was hier wirklich passiert ist“, schlussfolgerte der gedrungene, grauhaarige Mann. Seine Augen richteten sich auf Ron. „Es ist ein Wunder das Ihr Kollege lebt!“ Robbins schüttelte ratlos den Kopf. „Wissen Sie, noch vor wenigen Tagen hätte ich meinen eigenen Augen nicht getraut. Aber es ist so viel Seltsames hier geschehen, dass ich mich nicht vor dieser Tatsache verschließen kann.“ Der Arzt ging einen Schritt auf den jungen Jäger zu, um die Narben auf seinen Armen genauer zu begutachten. Als Jim zurückwich, hielt Robbins in seiner Bewegung inne. Er wandte sich wieder an Ron. „Es ist unglaublich, wie schnell seine Wunden verheilt sind. Es sieht fast so aus, als würden mehrere Schichten übereinander liegen, wobei es den Eindruck erweckt, dass die ersten Schnitte schon vor Wochen verheilten.“ Leise sprach er weiter: „Das kann aber nicht sein, denn ich habe ja vor wenigen Tagen mit Ihnen gesprochen. Abgesehen von der Tatsache, dass kein Mensch so etwas überle…“
„Dr. Robbins …“, fiel ihm Ron ins Wort. Seine Augen flackerten. „Wird Jim wieder gesund?“
Der alte Mediziner strich sich durch die Haare. Seine Stimme wurde noch leiser, als er den Kopf neigte. „Jim`s Körper heilt auf geheimnisvolle Weise. Aber…!“ Wieder stieß ein Seufzer über seine Lippen: „Sehen Sie … Ihr Partner … hat viel durchgemacht.“
„Er ist nicht mein Partner“, unterbrach ihn Ron. Für eine Sekunde wanderten seine Augen über Jim. „Er ist mein kleiner Bruder“, erklärte er und zog Jim an seinen Körper.
Robbins nickte. „Ich verstehe. Ich dachte mir schon, dass Sie nicht vom FBI sind.“ Seine wachen Augen fixierten den Älteren, als er weiter sprach. „Ich weiß nicht, was Ihr Bruder wirklich erlebt hat.“ Mitfühlend sah er Ron an. „Aber ich weiß, dass Sie es wissen. Ich kann mich nur an die Fakten halten, die mir sagen, dass Jim über Tage gefoltert wurde – und …“, Robbins sah zum Fenster hinaus. Er seufzte: „Nun versucht sein Verstand dieser schrecklichen Erinnerung zu entfliehen, die so grausam ist, dass er sie nicht ertragen kann.“ Dr. Robbins seufzte erneut, als er sich wieder an Ron wandte. „Ich weiß, dass Sie und Ihr Bruder den Menschen in diesem Ort - und wahrscheinlich noch vielen Menschen mehr, das Leben gerettet haben – und dafür bin ich ihnen dankbar.“
Ron`s Brauen schoben sich erstaunt in die Höhe, als er Robbins ansah. Dieser lächelte bitter. „Das, was Ihrem Bruder passiert ist, kann man aus medizinischer Sicht nicht erklären. Genau so wenig wie man die Todesfälle der Teenager vor einigen Tagen, den seltsamen Dornröschenschlaf des Ortes und die schrecklichen Morde im Gefängnis erklären kann. Wissen Sie, ich glaube nicht an das Übernatürliche und doch muss ich mich wohl an diesen Gedanken gewöhnen.“
Robbins ging zum Schreibtisch zurück und suchte nach einem kleinen Infoblatt. „Haben sie schon einmal etwas von Kriegszittern* gehört?“ Wieder sah er Ron an. „Sie werden viel Kraft bauchen und sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Jim möglicherweise nie wieder der sein wird, den Sie kannten. Ihr Bruder leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.“
Robbins Stimme wurde noch leiser, als er zu erklären versuchte: „Das ist eine Reaktion auf ein verstörendes Erlebnis mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde und von den Betroffenen nicht in Worte gefasst werden kann.“ Robbins Augen wurden feucht. „Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund einer andauernden emotionalen Stumpfheit auftreten.
Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Angst und Depression sind häufige Merkmale und Suizidgedanken sind nicht selten.“
Entschlossen ging er um seinen Schreibtisch herum auf Ron zu, um ihn das Blatt zu reichen. „Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich an. Hier sind einige Tipps und Institutionen, die Ihnen helfen werden, mit der Situation umzugehen.“
Ein Schatten legte sich auf Albert Robbins Gesicht, als er die Hand auf Ron`s Schulter legte. „Jim ist ein Pflegefall und Sie sind alles, was er hat.“

*** *** ***

Unzählige Menschen strömten durch die gläserne Pendeltür in den Korridor. Das milde Wetter lockte die Besucher der Klinik und ihre Angehörigen in die Sonne.
Ron hatte mit Jim Dr. Robbins Büro verlassen und bewegte sich durch die Menschenmassen zum Ausgang. Er hielt seinen Bruder fest an der Hand. Mit gesenktem Kopf und kurzen, ungeschickten Schritten trippelte Jim an seiner Seite. Ron spürte seine Angst mit jedem Herzschlag. Fast krampfhaft, so dass es schon schmerzte, klammerten sich Jims Finger um seine Hand. Er zitterte am ganzen Leib.
Alles jagte ihm unvorstellbare Furcht ein. Es waren die hektischen Bewegungen der Menschen, ihre grellen Stimmen, der Schall ihrer Schritte und die bedrohlichen Gegenstände, die sie bei sich trugen. Jeder Körper der ihm entgegen kam, machte ihm Angst. Sie alle wirkten wie unheilvolle Schatten, die ihn erdrücken wollten.
Jim ertrug es nicht, sie anzusehen. Er kniff die Augen zu und folgte blind der Hand, die ihn führte, in der Hoffnung, bald wieder allein zu sein – allein mit seinem Schmerz und den Erinnerungen, die ihn gefangen hielten und jede Minute quälten. Er wollte nichts hören, nichts sehen und nie wieder reden.
Die Menschen waren ihm so fremd wie Außerirdische, deren Worte und Emotionen er nicht mehr verstand. Es war ihm egal, was sie von ihm dachten. Es war ihm egal, was sie daher laberten, denn er hatte erkannt, dass ihr Lachen und ihre Worte nichts als Lügen waren. Jim wusste es besser. Er sehnte sich nach Stille. Er sehnte sich nach gleichmäßigen, immer wiederkehrenden Mustern und Riten, die vorhersehbar waren und mit ihrer schlichten Eindeutigkeit einen einfachen Zweck erfüllten: Klarheit in dieses Chaos aus heuchlerischen Stimmen, Bildern und Farben zu bringen.
Jim wollte keine leeren Worte, keine falschen oder hinterhältigen Versprechen und keine verschönten oder schwammigen Aussagen, die irgendwelchen Höflichkeitsfloskeln folgten. Er hatte es am eigenen Leib erfahren. Diese Menschen waren zu grausamen Dingen fähig, denn er kannte alle ihre Geschichten. Sie schrien unentwegt in seinem Kopf und brannten wie Säure auf seiner Haut. Menschen würden ihn nur quälen – und sie alle hatten abscheuliche Fratzen!
Ron spürte ihre heimlichen Blicke, als sie durch den unendlich lang erscheinenden Flur gingen. Es waren nicht die Augen, die sich auf ihn richteten - es waren die Augen, die sich auf Jim richteten und, mit Ekel und Ablehnung im Blick, Ron`s Seele zerrissen. Seine Finger schlossen sich fester um die Hand des kleinen Bruders. „Komm, Jimmy – gleich haben wir es geschafft. Keine Angst, ich bin bei dir!“, flüsterte er ihm zu.
Ron bemerkte, wie sie sich an die Wand drückten, um ihnen auszuweichen. Sie pressten ihre Körper gegen die Tapete, als wäre Jim mit der Pest infiziert und würde ihnen den Tod bringen. Sie hatten Angst vor dem hässlichen Riesen, der mit gesenktem Kopf durch den Flur torkelte, als wäre sein Leiden eine ansteckende Krankheit. Ron bemerkte auch Spott in ihren Augen, oder Unsicherheit und Abweisung, die sie zu verbergen versuchten, indem sie weg sahen. Sein kleiner Bruder war anders – er war ein Freak, den jeder mied oder auslachte.
„Mamma, Mamma, sieh mal den Verrückten an! Der sieht ja aus wie eine Zeitung!“, rief ein kleiner Junge und Ron konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie seine Mutter rasch ihren Zeigefinger auf die Lippen des Sohnes legte.
„Mach dir nichts draus“, flüsterte Ron und zog Jim dicht an seinen Körper. „Sie wollen über dich urteilen und kennen dich nicht einmal. Sie wissen nicht, was für ein Mensch du bist. Sie vertrauen nur ihren Augen und ahnen nicht, dass sie alle ihr Leben dir verdanken!“
Ein unerträglicher Schmerz brannte sich in Ron`s Herz. Er konnte nur vermuten, wie sich Jim all die Jahre gefühlt hatte, bevor sich sein Verstand in das unauffindbarste Versteck in seinem Innersten zurückgezogen hatte.

***

Milde nach Abgasen und Asphalt riechende Luft schwappte ihnen entgegen, als sie die Klinik verließen.
Ron hatte seinen Ford Mustang nicht weit vom Krankenhaus geparkt und doch war der Weg dorthin wie eine Reise durch ein Minenfeld. Jedes Geräusch, das Licht und Schattenspiel unter den Ahornbäumen, selbst der kleinste Windhauch, ließen Jim zusammenzucken. Ron hatte fast den Eindruck, dass sogar die warmen Strahlen der Sonne, die ihnen versöhnlich ins Gesicht schienen, für Jim zur Bedrohung wurden.
Schon von weiterem erkannte er Bill. Nach seinem Anruf hatte der alte Jäger sofort seinen Job abgebrochen und sich unverzüglich auf den Weg nach Grafton gemacht. Ungeduldig wartete er am Wagen der Brüder. Als er sie kommen sah, legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Mit ausgebreiteten Armen eilte er ihnen entgegen.

„Ron … Jim – He Jungs, bin ich so … froh …!“ Ein Kloß verschnürte ihm plötzlich den Hals. Auch wenn es den Eindruck erweckte, dass Jim seine Umgebung nicht registrierte, schien er jede noch so winzige Bewegung zu bemerken. Als Bill auf ihn zustürmte, stieß ein Schrei aus seinem Mund. Mit einem heftigen Ruck befreite sich Jim und wich den ausgebreiteten Armen des alten Jägers aus.
Ungeschickt stolperte er einige Schritte rückwärts, bis ihn eine Straßenlaterne stoppte. Sein Atem wurde rasend schnell und stieß zischend über seine Lippen. Die Hände verkrampft, presste sich Jim gegen den Widerstand in seinem Rücken und starrte mit angstgeweiteten Augen auf Bill.
Ron hatte sich nach dem Schreck sofort dazwischen geschoben. Er hob die Hände und beschwor Bill. „Nein - nicht … bitte nicht … Bill!“ Dann drehte sich Ron zu Jim um. „Es ist okay.“ Er streckte ihm seine Hand entgegen. Wie ein verschüchtertes Kind griff der Jüngere danach und unverständliche Laute sprudelten über seine Lippen.
Blankes Entsetzten riss Bill die Farbe aus dem Gesicht.
„Er hat Angst!“, erklärte Ron mit zitternder Stimme, „Jim … kann es nicht ertragen, berührt zu werden.“ Verzweifelt schluckte Ron und wühlte in seiner Jackentasche. „Würdest du fahren?“ Er warf Bill den Zündschlüssel des Ford Mustang zu. „Ich möchte nicht, dass Jim allein sitzt.“
Behutsam schob Ron seinen Bruder in die Fahrerkabine, sorgfältig darauf bedacht, dass dieser sich nicht den Kopf am Türrahmen stieß. Dann schloss er die Tür und ging um das Heck seines geliebten Wagens, um sich neben Jim auf die Rückbank zu setzen. Besorgt musterte er den Jüngeren, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Schließlich blickte Ron gedankenversunken aus dem Fenster. Er ließ Jim`s Hand nicht los.
Als Bill in den Rückspiegel sah, verkrampfte sich sein Herz. Selbst heftiges Schlucken vermochte es nicht, das trockene Kratzen in seiner Kehle zu lindern. Der alte Jäger brachte kein Wort über die Lippen. Als er den Zündschlüssel drehte und zum ersten Mal in seinem Leben am Steuer des nachtschwarzen Ford Mustang der Barkers saß, versickerten bittere Tränen in seinem grauen Bart.

*** *** ***

Bradshaw Farm,
05.01.2010; 23:10 Uhr

Mit matten Augen starrte Cole in den Kamin. Das Feuer darin war erloschen und langsam sank die Temperatur in seiner Stube auf ungemütliche Werte. Vor ein paar Stunden hatte er die letzten Holzscheite in die hungernden Flammen gelegt. Nun waren die Vorräte an Brennholz verbraucht. Um Nachschub aus dem Lagerhaus zu holen, fehlte ihm die Kraft.
Er schnaufte leise, als die Finger seiner linken Hand den Griff des Gehstockes umklammerten, der an seinem Lieblingssessel lehnte. Ächzend erhob er sich und ging auf das Buffet zu. Bei jedem Schritt schleiften die Pantoffeln an seinen Füßen über den abgetretenen Teppich.
Cole griff nach der Whiskyflasche und einem Glas in der geöffneten Bar. Als er sich etwas einschenken wollte, schwappte die ölige Flüssigkeit unkontrolliert aus dem Flaschenhals und ergoss sich auf die Oberfläche des Buffets. Cole fluchte leise und stellte die Flasche zurück.
Das Glas zitterte so heftig zwischen seinen Fingern, dass sich die geringe Menge darin auf dem Fußboden verteilte, während er sich wieder zum Sessel schleppte. Ächzend sank er zurück in das Polster. Das Ticken der Pendeluhr hinter seinem Rücken konnte er nicht mehr hören. Aber Cole wusste, dass in weniger als einer Stunde die letzte Raunacht beginnen würde.
Sein Blick heftete sich auf das Milchschälchen neben dem Kamin. Er konnte es kaum noch erkennen. Seine Lippen zuckten. „Wie kannst du nur so grausam sein“, flüsterte er und warf voller Zorn das Whiskyglas in diese Richtung. Es schepperte, als das kleine Gefäß zerbrach und die Milch eine Pfütze zwischen den tanzenden Scherben bildete.
Cole schloss die Augen. Seine Schultern bebten. „Er hat jede einzelne Geschichte über sich ergehen lassen!“, murmelte er, „warum lässt du ihn SO zurück?“ Der Alte schnaufte und zog seinen Kopf in den Nacken. „Verdammt – hast du denn kein Mitgefühl?“
Ein eisiger Windzug schlug ihm in den Nacken. „Er ist ein Schlächter!“, hauchte Frigg dem alten Mann ins Ohr. „Diesmal hat er die Welt gerettet. Aber das nächste Mal wird er sie in die Verdammnis stoßen. Das ist sein Schicksal. Glaube mir… es ist besser so wie es ist.“
„Wie kannst du das wissen?“, fragte Cole.
Ein wunderschönes Antlitz erschien vor seinen Augen. Frigg lächelte und antwortete: „Ich kenne das Schicksal aller Wesen.“
Cole schüttelte den Kopf und konterte: „Menschen können ihr Schicksal beeinflussen! Ron hat sich gegen sein Schicksal durchgesetzt und sogar dem Tod getrotzt!“
Frigg nickte. „Der Ältere ist ein Mensch.“ Ihre schmalen Brauen hoben sich und in ihren Katzenaugen loderte Glut. „Aber wird der Jüngere dem Ruf seines Blutes widerstehen? Wird er den Dämon, der seinen Namen trägt, jemals besiegen?“ Die Göttin sah ihrem Druiden in die Augen. „Was ist, wenn er erwacht und sich nicht mehr an seine Menschlichkeit erinnert? Was ist, wenn sein dunkles Herz gewinnt?“ Sie neigte den Kopf, ihre Augen formten sich zu Schlitzen. „Dieser Krieger kennt nun jede Grausamkeit und jede Abartigkeit, zu der ihr Menschen fähig seid. Nicht einmal Luzifer besitzt genug Fantasie, um sich alle Abscheulichkeiten auszumalen, die dieser Krieger gelesen hat. Ich kann nicht riskieren, einen Dämon mit solch einem grausamen Wissen zu entfesseln!“
„Nicht sein dunkles Herz wird entfesselt werden, sondern sein menschliches Herz wird befreit werden“, widersprach Cole laut. „Jenes Herz, welches für die verlorenen Seelen in deinen Hallen verblutet ist, wird zurückkehren!“
Die Überzeugung in Coles Worte ließ Frigg erstaunt fragen: „Vertraust du diesem Jäger so sehr, dass deine Seele statt seiner die Erste in meinen leeren Hallen sein soll?“ Sie sah Cole skeptisch an. „Bist du dir sicher, dass es in 2000 Jahren noch Menschen geben wird, die sich freiwillig diesem Ritual opfern, um deine Seele und alle anderen, die noch folgen werden, zu befreien?“ Ihre schmalen Finger umklammerten das Spinnrad fester, als sie den Druiden erstaunt fragte: „Woher nimmst du die Gewissheit, dass Jim sein Schicksal besiegen kann und die Menschheit nicht vernichten wird?“
Cole lächelte: „Nicht Gewissheit, meine Göttin - sondern Vertrauen! Vertrauen auf das Gute in Jim! Vertrauen auf die richtigen Entscheidungen dieser beiden Brüder! Und Vertrauen in die kommenden Generationen von Jägern!“ Der Druide sah Frigg an und sprach: „Göttin Frigg, Gemahlin von Odin aus dem Geschlecht der Asen, Schöpferin des Eisens, Schutzherrin der verlorenen Seelen und Gebieterin der wilden Reiter vertraue MIR: Nur die Seele, die absolute Finsternis ertrug, wird für das Licht kämpfen!“

Quellen und weiterführende Hinweise:

*Als Kriegszitterer wurden auf deutscher Seite im ersten Weltkrieg und auch noch danach Soldaten bezeichnet, welche an posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Die meisten Patienten zitterten unkontrolliert (daher der Name), konnten sich nicht auf den Beinen halten, verweigerten die Nahrungsaufnahme und hatten vor banal scheinenden Gegenständen wie z. B. Mützen oder Schuhen panische Ängste. (Quelle Wikipedia)




*** Das Herz des Jägers ***

Tiffanys Bar
05.01.2010; 23:45 Uhr

„Hat er überhaupt schon etwas gesagt?“, fragte Bill. Nachdem sein Blick über Jim gestreift war, musterte er Ron, der ihm gegenüber am Tisch saß.
Ron schnaufte. Er griff wortlos nach einer Flasche Bier und beobachtete seinen kleinen Bruder.
Jim saß auf dem Bett. Er zitterte, als würde eisiger Wind unablässig über seine Haut streifen. Sein Rücken war nach vorn gebeugt und die Schultern hingen kraftlos herab. Hinter vibrierenden Haarsträhnen starrte er seit Stunden auf seinen Laptop. Ron hatte ihm das Gerät in die Hände gelegt. Der Computer war nicht einmal an. Geschlossen und ohne Stromanschluss bebte er Jims Händen, der sich daran festklammerte, als wollte er eine verschwommene Erinnerung nicht gehen lassen.
Ron schüttelte den Kopf: „Nein, Jim sitzt einfach nur so da.“ Er holte tief Luft, bevor er leise weiter sprach: „Als Jim zu sich kam, hat er um sich geschlagen. Man musste ihn betäuben wie ein wildes Tier, um ihn überhaupt behandeln zu können.“ Rons Stimme bebte, als er zu Boden sah und murmelte: „Er lässt niemanden an sich heran. Ich bin jede freie Minute bei ihm gewesen und habe seine Wunden selbst versorgt, denn ich bin der Einzige, dem er ein wenig vertraut.“
„Was soll nun geschehen, Ron?“, fragte der Alte leise.
Ron presste sich gegen den kleinen Stuhl und schnaubte: „Wir sind raus aus dem Geschäft - Bill! Ihr müsst ohne uns weiter machen.“ Für einen Moment legte er sein Gesicht in seine Hände und schloss die Augen. Seine Worte zerbrachen, wie zu Boden stürzende gläserne Träume. „Jimmy ist nur noch ein Schatten – das Echo einer Erinnerung.“ Tränen überfluteten seine Augen, als er mühsam weiter sprach: „Du kannst dir nicht vorstellen, was Jim durchgemacht hat.“ Ron schluckte gequält: „Es ist alles meine Schuld. Ich hätte Jim nicht aus seinem Leben reißen dürfen!“ Mit flackernden Augen sah er Bill an. „Jimmy hatte eine Zukunft und ich habe sie zerstört. Ich kann diesen Fehler nie wieder rückgängig machen. Aber egal was nun mit ihm passiert – ich bleibe an seiner Seite.“ Als sich Ron wieder aufrichtete, entwich seinen schmerzverzerrten Lippen ein leises Stöhnen.
Bills Atem stieß geräuschvoll in die Luft: „Was ist mit dir, Ron?“, wollte er wissen. Mitfühlend wanderten seine Augen über einen Körper, der stumm vor Schmerzen schrie. Ron saß vor ihm wie ein Häufchen Elend. Mehrere Platzwunden an seinem Haaransatz schimmerten rötlich. Schatten lagen unter seinen Augen, seine Hände zitterten unablässig und seine Lunge pfiff bei jedem Atemzug. Ron war so abgemagert, dass seine Wangenknochen hervortraten.
„Es geht mir gut“, flüsterte er und als den misstrauischen Blick des alten Jägers bemerkte, fügte er schnell hinzu, „ich hab mich durchchecken lassen. Die Verletzungen werden heilen.“
Bill war zum Heulen zumute, denn er erkannte, dass auch Ron unablässig von furchtbaren Bildern und Erinnerungen gequält wurde. Er starrte auf die Bierflasche in seiner Hand und lauschte dem leisen Ticken der Wanduhr und dem Knistern des Feuers. Ab und zu mischte sich Jims Wimmern darunter.
„Ron?“
Der Ältere zuckte auf.
„Was ist mit der nächsten Raunacht?“, fragte Bill unvermittelt und sah auf die Uhr, deren Zeiger erbarmungslos diesem letzten Ereignis entgegensprangen.
Ron seufzte. „Was soll schon sein – sie sind nicht mehr erzürnt!“ Der Zorn in seinen Worten dagegen war nicht zu überhören, „Es hat 9 Grad plus im Januar. Cole ist sich sicher, dass sie nicht wieder kommen werden.“ Ron riss seinen Kopf in den Nacken. „Warum auch? Was sollten sie nun noch wollen?“ Seine Augen hefteten sich voller Schmerz auf Jim. „Einen menschlichen Körper ohne Seele? … Bill!“, schnaubte er vorwurfsvoll, „der … Krieger … ist … tot. Schlimmer noch … seine Seele ist mit so viel Leid beladen, dass sie nicht einmal bemerkt, dass sie tot ist.“
Rons Mund öffnete sich weit: „Aber …!“ Am liebsten hätte er seine Verzweiflung laut hinaus geschrien. Er hielt sich nur zurück, um Jim nicht zu erschrecken. „Wenigstens sind diese verdammten Hallen leer!“ Der Versuch, darin einen Trost zu finden, scheiterte kläglich. Ron konnte sich nicht selbst belügen. Er sah den Alten verbittert an. „Glaub mir, die haben alles was sie wollten.“
Bill erschauerte, als Ron weitermurmelte: „Und wenn schon … sollen Sie doch kommen, um Jim zu holen! Ich werde mit ihm gehen, denn ohne ihn will ich nicht bleiben!“ Ron stand auf, um nach seinem kleinen Bruder zu sehen.
„Ron …!“, raunte Bill vorwurfsvoll.
„Es ist genug, Bill!“, spie ihn Ron an. Er riss die Hände nach oben. „Wir haben alles gegeben und alles verloren! Wir sind fertig mit der Jagd!“ Langsam ging er vor seinem Bruder in die Hocke und schnaufte: „Ich habe Wichtigeres zu tun!“
Tränen glänzten im Bart des Alten. Machtlos sah er auf Ron, der ihm den Rücken kehrte. Bill wusste, dass mit dem Tod von Jims Seele auch die von Ron gegangen war. Es schien wirklich so, als teilten sich ihre beiden Körper diese eine blutende Seele. Ohne Jim bestand die Welt für Ron nur noch aus Schmerz. Sein Mitgefühl für das Schicksal anderer Menschen war ebenso taub wie das seines kleinen Bruders. Den Älteren hielt nichts mehr am Leben. Er funktionierte nur noch wie eine Maschine - angetrieben von Schuld. Er atmete noch für Jim – aber in der geheimen Hoffnung, in dieser letzten Raunacht mit ihm sterben zu können.
„Jimmy?“ Ron hob behutsam Jims Kinn. Jim gab dem sanften Druck nach und sah Ron für einen Augenblick lang an. Seine Pupillen flackerten. Tiefer Schmerz wollte aus seinem Herzen drängen. In seinem Innersten tobte ein Orkan aus Stimmen. Ein Zucken legte sich um seine Mundwinkel. Aber es war ihm unmöglich, diese Geschichten, die ihn mit quälendem Geschrei knechteten, zu entlassen. In Jims blaugrauen Augen spiegelte sich schließlich das Feuer des Kamins, als sie dem Blick nicht mehr standhielten und er sich abwandte. Er wagte es nicht, dieses Grauen beim Namen nennen, denn dann würden sie wieder kommen. Nur verstörendes Murmeln entfloh Jims Lippen, während seine Augen durch eine Welt voller Schatten irrten.
Ron strich seufzend eine braune Strähne aus Jims Stirn. „Vielleicht solltest du etwas schlafen“, flüsterte er und griff nach dem Laptop, der Jims Fingern entglitt. Nachdem Ron den Computer auf die Holzdielen gelegt hatte, drückte er seinen Bruder gegen das Bett.
Die Atmung des Jüngeren beschleunigte sich.
„Ich weiß, du fürchtest dich“, hauchte Ron, „ich habe auch Angst, Jimmy.“ Er schluckte. Sein kleiner Bruder war unfähig zu handeln, war immer noch gefangen in einer Welt jenseits aller Vorstellungen von Gut und Böse. Ron hätte alles gegeben für einen Funken in Jims Augen, ein Aufbegehren, einen winzigen Hauch von Protest in seinem Blick. Sein Herz stach bei jedem Schlag. Er wollte seine kleine Nervensäge wieder haben. Den Rebell an seiner Schulter. Den Bruder, der ihn immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Er wollte den Querdenker, Zweifler und Skeptiker, der doch so voller Optimismus war zurück.
Ron fühlte so intensiv wie nie zuvor, was ihm Jim bedeutet, und all die Jahre gegeben hatte. Er liebte diesen widerspenstigen Dickkopf, der ihm oft genug den letzten Nerv raubte, weil er den Mut aufbrachte, für seine Überzeugung einzustehen und seine Gefühle offen zeigen konnte. Die gähnende Leere, die Jim hinterließ, schnürte ihm den Hals zu. „Ich bleibe hier, Jimmy. Es wird dir nichts geschehen“, flüsterte er. Schweigend saß er auf dem Bettrand und betrachtete Jim. Er vermisste ihn wirklich - den Kämpfer und Träumer an seiner Seite.
Als Ron bemerkte, wie sehr Jim zitterte, hob er seine Beine ins Bett. Sie waren eiskalt. „Warum hast du denn nicht gesagt, dass du frierst - Jimmy“, murmelte er. Obwohl Ron wusste, dass er keine Antwort erhalten würde, redete er auf den Jüngeren ein, als er vorsichtig die Bettdecke hochzog. „Du wirst sehen, Jimmy – gleich wird dir wärmer.“ Als er Jims Arme auf das weiße Leinen legte, verkrampften sich seine Finger im Gewebe.
Schnaufend stand Ron auf und ging, um sich seinen Stuhl zu holen. Er setzte sich neben Jims Bett und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

*** *** ***

Ein eisiger Hauch zerrte Ron aus seinem Halbschlaf. Seine Blicke irrten durch das Zimmer. Im fahlen Licht des Mondes, erkannte er Bills Silhouette. Der alte Jäger war reglos auf seinem Stuhl zusammengesunken.
Als Ron Jims hetzenden Atem hörte, fuhr er in die Höhe, um im gleichen Augenblick zusammen zu knicken wie ein brechender Grashalm. Jim lag mit aufgerissenen Augen auf dem Bett. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen, obwohl seine Muskeln zuckten.
Rons Herz begann zu rasen, als er den Geruch von Asche und Blut wahrnahm. Er erkannte den eisigen Windzug, der seine Haut streifte und ihm wurde schlagartig klar, dass es zwecklos, war nach Bill zu rufen. Die vierte Raunacht war hereingebrochen und ein todesähnlicher Schlaf hatte Grafton erneut heimgesucht.
Rons wusste: Sie war da.
„Miststück“, fauchte er und begann sich auf seinem Stuhl zu winden, „du bist nicht nur verlogen, sondern auch noch feige. Zeig dich.“
„Habe ich dir nicht gesagt, dass sein Körper nutzlos sein wird in eurer Welt?“, hauchte Frigg in sein Ohr. Sofort riss Ron den Kopf herum. Aber sie stand bereits am Bett und ihre kalten Augen fixierten den jüngeren Jäger. Jim war nicht in der Lage einen Ton hervorzubringen. Nur sein Atem hetzte ihr in angstverstörten Stößen entgegen.
Ron erschauerte. Er hatte nie bemerkt, wie groß sie wirklich war. Erst jetzt, als sie im Zimmer stand, stellte er fest, dass Frigg fast die gleiche Größe wie Jim hatte. Sie war schlank, fast schon dünn und die weichen Federn ihres Umhanges vibrierten im warmen Windzug, der immer noch dem Kamin entwich.
„Was willst du noch von ihm?“, keuchte Ron beim Versuch, sich zu erheben. Die Begierde in Friggs Augen, als sie Jim ansah, ließ ihn erzittern. „Du hast ihn gebrochen“, zischte er.
Blitzartig funkelte Frigg den Jäger an: „Es war seine Entscheidung.“
„Klar!“, konterte der Ältere, „Du hast ihn belogen und manipuliert! Auf so einen Deal hätte sich Jim niemals eingelassen!“
Über Friggs eisige Augen legte sich ein warmer Glanz. „Sei dir da nicht so sicher, Ron Barker.“ Der Atem der über ihre schimmernden Lippen strömte, wurde zu einem leisen, wehleidigen Seufzen. „Es ist wirklich erstaunlich, was ihr bereit seid, füreinander zu ertragen“, stellte sie fest und betrachtete Jim. „Wie dem auch sei“, hauchte sie und als ihre Augen erneut auf Ron trafen, hob sie den rechten Arm. „Es scheint so, als genießt ihr Brüder sehr viel Vertrauen unter Euresgleichen.“
Ron öffnete erstaunt den Mund.
Frigg lächelte ihn an, als sie weiter sprach. „Cole glaubt, dass die gute Seite in Jim siegen wird.“
„Woher weißt du das?“, fragte Ron. Eine dunkle Vorahnung stieg aus seinem Innersten empor.
„Er hat es mir gesagt – er war sogar bereit, seine Seele für Jim zu opfern“, antwortete Frigg und sah auf ihre Handfläche, nachdem sie die Finger geöffnet hatte, „Der Druide gab mir sein Wort!“
Entsetzt starrte Ron auf ein Herz, das immer noch in ihren Händen pulsierte.
„Wie gesagt …“, erklärte Frigg mit eisiger Stimme. „Cole ist aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass die gute Seite in Jim siegen wird.“
Stöhnend riss Ron den Kopf nach hinten und flüsterte gequält: „Cole – verdammt … du hast alles gewusst! Nicht wahr, mein Alter?“
Als er wieder auf die Göttin sah, fiel ihr Umhang aus Falkenfedern zu Boden und entblößte einen makellosen Körper. Friggs Haut schimmerte bronzeartig. Ihre Beine schienen unendlich lang und rotblondes Haar wallte sanft um ihre schmalen Schultern bis über ihre Hüften.
Dem Älteren stockte der Atem. Er konnte nicht glauben, dass ein so wunderschöner Körper eine so kalte Seele beherbergte.
Coles Herz in ihrer Hand verschwand und im Bruchteil einer Sekunde saß sie auf Jim. Ihre Schenkel pressten sich fest gegen seine Hüften als sie seine Arme streichelte. Unter ihren Handflächen, verblassten seine Narben. Frigg beugte sich nach vorn und legte ihr Ohr auf Jims pumpenden Brustkorb, lauschte dem wilden Trommeln seines Herzens. Ihr Kopf hob und senkte sich mit jedem seiner Atemzüge. Gleichzeitig begegnete ihr Blick den aufgerissenen Augen des Älteren, auf dessen Gesicht sich blankes Entsetzen breit machte.
„Ich spüre sehr viel Macht in Jim!“, flüsterte sie. „Dein Bruder trägt auch ohne diese Geschichten eine schwere Last.“ Frigg richtete sich auf. Ihre Handflächen legten sich auf Jims Brust. „Ich werde dich zurückholen Krieger …,“ raunte sie liebevoll, „ …zusammen mit all den dunklen Geheimnissen in deiner Seele, dem dämonischen Blut in deinen Adern und den fremden Wesen, die dich bereits berührt haben und nun ein Teil von dir sind. Dein Weg wird steinig und entbehrungsreich sein und deine eigene Hand wird eines Tages das dunkle Herz aus deiner Brust reißen, um dein Leben im Kampf gegen dich selbst zu beenden. Aber du wirst dich nicht an mich und meine verlorenen Seelen erinnern. Denn du musst an der Seite deines Bruders kämpfen. Das ist dein Schicksal - Jim Barker!“
Sie beugte sich zu Jim hinunter und berührte seine Lippen zum Kuss.

*

Mit einem tiefen Atemzug schoss Jim in die Höhe. Sein Herz raste, als er Ron erblickte. Wie gelähmt saß der Ältere auf seinem Stuhl.
„Ron?“
Jims Brauen schoben sich zusammen, als er über seine Arme strich. Ein seltsames Kratzen reizte seinen Hals und als er hustete, taumelte eine Falkendaune auf die Bettdecke.
„Ron!“ Jims Stimme wurde energischer. Verunsichert sah er in Rons Gesicht. Ron vermochte nicht zu sprechen. Er hatte Angst, sein Herz würde ihm aus dem Hals springen, sobald er die Lippen öffnete. Graues Rauschen dröhnte in seinem Kopf und er begann auf dem Stuhl zu wanken.
„Woah, woah, woah …“, stieß Jim hinaus und sprang aus dem Bett. Er ging in die Hocke, um Ron zu halten. Fragend sah er in seine grünen Augen. „Ron – mein Gott, Alter! Was ist denn passiert?“, flüsterte Jim mit tiefer Stimme, als sich seine Finger fest um Rons Oberarme schlossen.
Der Ältere sah ihn nur an. Seine Lippen bebten.
Verwirrt erblickte Jim im Halbdunkeln Bill auf einem Stuhl. Er schien zu schlafen. Jim hatte keine Ahnung, wann der alte Jäger angereist war und dieses Zimmer war ihm völlig unbekannt.
Sein fester Griff löste sich, als er bemerkte dass Ron versuchte, zu sprechen. Der Adamsapfel rollte in seinem Hals auf und ab.
„Um Himmels Willen, Ron! Bist du okay?“ Jim musterte besorgt die genähten Platzwunden auf seiner Stirn. „Was ist denn nur geschehen?“
Ron lächelte. Tränen glänzten auf seinen Wangen, als er mühsam sprach: „Es ist alles okay, Jimmy.“ Plötzlich riss er Jim in seine Arme: „Du hattest Fieber – aber jetzt ist alles gut.“
Ron drückte Jim so fest an sich, dass dieser kaum noch atmen konnte. Japsend sah Jim über die Schultern seines großen Bruder in Bills Augen. Der alte Jäger war erwacht und konnte seine Tränen ebenfalls nicht zurückhalten.
Jim spürte den zitternden Körper seines Bruders, hörte sein hemmungsloses Schluchzen und unzählige Tränen kullerten über seine Schultern. Unbeholfen tätschelte er Rons Rücken, ließ ihn einfach gewähren. Er hatte den Geruch von Pferden in der Nase und keine Ahnung was passiert war. Aber tief im Herzen spürte Jim ein beklemmendes Gefühl, das ihn beschwor, dieses eine Mal nach Antworten zu suchen.

*** *** ***

Grafton
… im April 2010

Das Licht der Frühlingssonne fiel in silbernen Streifen auf den Hof. Jims Blick wanderte auf den alten Brunnen, neben dem der nachtschwarze Ford Mustang leise aber fordernd tuckerte. Ron lehnte mit dem Rücken an der Fahrertür und sah hinaus auf den Highway.
Die Brüder hatten den Brunnen repariert und das keltische Kreuz abgebaut. Seine verzierten Eichenbalken lagen verborgen unter einer Plane in einem geheimen Zimmer, das Ron in den letzten Wochen hinter der Gaststube gebaut hatte. Zusammen mit einem eingeschweißten Blatt Papier auf dem die Verse eines keltischen Rituals niedergeschrieben waren und einer Anleitung, wie die eiserne Mechanik zu bedienen war, versanken sie allmählich unter dem Staub des Vergessens. Aber die geheimnisvolle Magie dieses Ortes schlummerte nur. Sie wartete geduldig darauf, eines Tages erneut entfesselt zu werden.
Jim hatte nie erfahren, was in jenen Raunächten geschehen war. Denn immer wenn er es zur Sprache brachte, sah er Angst und Entsetzen in Ron`s Augen und in den Gesichtern aller, die es miterlebt hatten.
Seufzend schaute er zurück in Tinas blasses Gesicht. Er spürte ihr Herz, das trommelnd auf ihn einschlug als sie sich noch fester an seinen Körper schmiegte. Ihre flackernden Augen ertranken in Tränen.
Behutsam nahm Jim Tina`s Handgelenke und lösten ihren Griff von seinen Hüften. „Es wird schon gut gehen. Es ist nur ein Rudel Werwölfe“, flüsterte er und versuchte zu lächeln. Seine Stimme bebte. Er schluckte: „Tina … es ist … ich … muss …“, begann er zu stottern, denn es gab keine Worte, die es einfacher machten.
Tina nickte. „Ich weiß“, hauchte sie, „aber keine germanischen Monster mehr – versprich es mir Jim!“ Ihre Lippen bebten.
„Ich verspreche es“, flüsterte Jim und strich eine blonde Strähne aus ihrer Stirn.
„Wirst du dich melden?“, fragte Tina.
Jim schloss die Augen, zog seufzend seinen Kopf in den Nacken und schwieg.
Als er Tina wieder ansah, liefen Tränen über seine Wangen. Tina legte ihren Kopf in seine Hände. Zärtlich hob Jim ihr Gesicht an und hauchte Küsse auf ihre Lippen: „Pass auf dich auf, Tina!“

„Jim?“, Rons Stimme trennte ihre Umarmung.
Der ältere Bruder stand immer noch am Ford Mustang. Seine Gedanken schienen schon vorausgeeilt. Als er Jims Schritte hörte, drehte er sich zögernd um und hob die Hand, um Tiffany und Tina zum Abschied zu winken. Aus dem Augenwinkel musterte er Jim. Mit gesenktem Kopf schlenderte er ihm entgegen.
Jim spürte Tinas Blicke - vermochte es aber nicht, sich noch einmal umzudrehen. Es würde nichts ändern, sondern das Unvermeidliche nur hinauszögern, das wusste er – und auch Tina.
Nachdem sich die Türen des nachtschwarzen Autos geschlossen hatten, erwachte es mit einem satten Grollen zum Leben. Zweige und Kieselsteinchen knirschten unter seinen Reifen, als es langsam zurücksetzte, um über den Hof in Richtung Highway zu rollen.
Tina seufzte. Sehnsüchtig folgen ihre Augen dem Wagen, als er auf die Landstraße einbog und ihr den wichtigsten Menschen in ihrem Leben für immer entriss. Niemals zuvor hatte sie in Augen gesehen, die so viel Leidenschaft in sich trugen. In wenigen Wochen hatte sich ihr ganzes Leben gewandelt. Das sorglose Mädchen von damals war erwachsen geworden und Tina wusste trotz ihres jungen Alters von Dingen, die andere Menschen nicht einmal erahnten. Die Liebe des Fremden, dessen Schicksal es war, niemals ein Zuhause zu finden und der trotz dieser Bürde immer an das Gute glaubte, hatte sie verändert.
Der Lack des Ford Mustang reflektierte die Sonne. Kleine Wolken wirbelten in die Höhe und ließen das Auto im Licht und Schattenspiel der Ahornbäume mit dem tanzenden Staub der Landstraße verschmelzen. Als nur noch der vertraute Klang des Motors in der Ferne dröhnte, senkte Tina den Blick. Heiße Tränen liefen über ihr Gesicht und sie war dankbar, dass ihre Mutter sie in die Arme schloss.
Noch lange standen die Frauen vor ihrem Pub. Der Parkplatz war leer und still, denn das Grollen des Ford Mustang war längst verschluckt vom Motorengeräusch unzähliger auf dem Highway dahingleitender Autos. Mit jeder Minute entfernte sich die Vergangenheit weiter von der Gegenwart.
Seufzend sah Tina in die Ferne. Doch als sie ihre Arme um den Körper schmiegte, umspielte ein Lächeln ihre Lippen, denn sie spürte, dass unter ihrem gebrochenen Herzen ein Zweites zu schlagen begann. Noch war es ein zartes, zerbrechliches Pulsieren. Aber Tina wusste, dass dieses Herz mit jedem Tag stärker wurde, denn es war das Herz eines Jägers.

Jugendünden




*** Prolog ***

In verschiedenen Grautönen verdunkelten die Wolken eines herannahenden Gewitters den Horizont. Stürmischer Wind trieb sie zu einem sich auftürmenden Gebirge zusammen und presste kühlen Regen aus ihrer schwarzen Masse, die einen erlösenden Schatten auf die Weideflächen warf.
In silbernen Fäden fiel er senkrecht auf unzählige Leiber, die sich seit mehr als zwei Tagen auf dem 243 Hektar großen Gelände wie ein zuckender Fisch-Schwarm zusammen drängten.
Diese überraschende Abkühlung war willkommen. Denn es gab weit und breit keinen einzigen Baum, der Schutz vor der Glut der Sonne bot. Und so hatte die unerträgliche Hitze schon einige Lücken in ihre Reihen gerissen.

Viele von ihnen hatten seit ihrer Ankunft nicht mehr geschlafen, nichts gegessen und nur wenig getrunken.
Unter ihrem Ansturm war die Versorgung schon in den ersten Stunden seit Eröffnung des Festivals zusammengebrochen. Die Veranstalter rechneten mit 60‘000 Besuchern. Tatsächlich aber machten sich über eine Millionen Menschen auf den Weg. Wie ein gigantischer Heuschreckenschwarm fielen sie über die knapp 4000 Seelen zählende Provinz her und versetzten Bethel in einen Ausnahmezustand.

Die Hälfte von ihnen erreichte nicht einmal ihr Ziel. Sie blieben schon auf den völlig verstopften Zugangswegen stecken. Diejenigen, die es geschafft hatten erwartete ein Chaos.
Da mit dem Aufstellen der Kassenhäuschen bis zuletzt gewartet worden war, trampelten die eintreffenden Menschenmassen bald die Umzäunungen nieder. Also wurde das Festival von den Veranstaltern als kostenlos erklärt.
Sämtliche Straßen für Nachlieferungen waren überfüllt und die Vorräte an Nahrungsmitteln verbraucht noch bevor sich herumgesprochen hatte, dass es welche gab.
Etwa 600 mobile Toilettenkabinen waren sehr schnell überfüllt und verströmten einen beißenden Gestank. Für ihre Benutzung mussten die Konzertbesucher oft mehrere Stunden anstehen, was viele dazu brachte, die umliegenden Büsche oder einfach die Wiese zur Verrichtung ihrer Notdurft zu nutzen.
Eine kleine Gruppe von Ärzten, die nachträglich eingeflogen wurde, betreute die Unmengen an Drogenopfern, die durch den offenen Verkauf und Konsum von Mescalin und LSD zu beklagen waren. Unterstützt wurden sie von den Bewohnern einiger angrenzender Farmen, die uneigennützig ihre Hilfe anboten und die unzähligen kleineren Verletzungen und Schnittwunden der Besucher durch herumliegende Scherben zerbrochener Flaschen behandelten. Sie kümmerten sich außerdem um die durch Sonnenbrände und Hitzschläge Zusammengebrochenen. Schließlich half sogar das US-Militär dabei, verletzte Menschen aus dem Gebiet auszufliegen, um sie in umliegende Krankenhäuser zu bringen.

Sie hausten in ihrem eigenen Müll. Urindurchweichter Boden gluckste und schmatze unter ihren Jesuslatschen oder den Decken, auf denen sie ausharrten. Ihre Hemden, Jeans und wallenden Kleider waren von Regen und Schweiß durchnässt. Sie klebten, wie ihre langen Haare auf überhitzter, sonnenverbrannter Haut.
Meistens saßen sie in kleinen Gruppen zusammen, lachten, sangen und philosophierten über ihr Leben und ihre Zukunft, teilten sich einen Joint und lauschten den weit entfernten Klängen spontan auftretender, namenloser Musiker auf einer einzigen riesigen Bühne.
Dass sich ihr körperlicher Zustand von Stunde zu Stunde verschlimmerte, beängstigte sie nicht im Geringsten.
Sie waren glücklich, dabei sein zu dürfen. Ihre Gedanken waren erfüllt vom Streben nach Freiheit und Ungebundenheit. Sie stellten die ihrer Meinung nach sinnentleerten Wohlstandsideale der Mittelschicht in Frage und propagierten eine neue, von Zwängen und bürgerlichen Tabus befreite Lebensvorstellung. Ihre Pupillen waren vom Rausch durch Cannabis geweitet und sie schmückten sich zum Zeichen für Frieden und freie Liebe mit Blumen.
In ihren Adern pulsierte ein völlig neues Lebensgefühl von Stärke und Unbesiegbarkeit. Trotz der unkontrollierten und unkontrollierbaren Menschenmenge kam es in diesen Tagen zu keinen nennenswerten Gewalttätigkeiten. Denn sie waren die Kinder des Friedens – die neue Generation.
Wen kümmerten schon die anstrengende Anreise, das Gedränge, die Hitze, die ihre Körper ausbrannte und die verheerenden Auswirkungen von unbekannten Drogen.
Sie waren die Rebellen. Jung, voller Lebensmut und Hoffnung auf eine bessere Zeit. Sie waren die Blumenkinder. Es war im August 1969 – und sie waren alle dabei - in Woodstock – auf dem größten Musikfestival des Planeten.



*** *** ***

Shire Farm* in Bethel, Bundesstaat New York
(ehemaliges Woodstockgelände), Heute …

Das Licht der untergehenden Sonne flimmerte in aufsteigender Hitze am Horizont und ergoss sich als blutroter See auf die verwilderten Wiesen.
Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Das Weidegras, welches im Frühjahr kraftvoll in die Höhe geschossen war, bedeckte nun, umgeknickt durch Hitze und Trockenheit, das aufgerissene Erdreich unter sich, wie ein staubiges Leichentuch.
Längst war alles emporstrebende Leben unter der anhaltenden Dürre verdurstet. Die wenigen alten Ahornbäume am Rande der Koppel hatten aus blanker Überlebensnot ihre vertrockneten Blätter abgeworfen. Sie spendeten mit ihren kahlen Kronen schon lange keinen Schatten mehr und ihre Konturen verschwammen in der sengenden Glut, der auch die anbrechende Nacht nichts anhaben konnte.
Selbst aufkommender Abendwind versprach keine Erlösung. Wie der vernichtende Atem eines Drachens glitt er über das trockene Gras, um auch die letzten der Hitze trotzenden Halme in Staub zu verwandeln.
Kein Vogel sang, kein Hund bellte, kein Lebewesen zeigte sich in der verbrannten Landschaft. Und doch war die Luft erfüllt vom schrillen, anschwellenden Gesang unzähliger winziger Geschöpfe. Riesige Heuschreckenschwärme verbargen sich im sterbenden Gras.

Die morschen Pfeiler des Weidegatters standen in alle Richtungen geneigt. Hier und da schaukelten Reste einiger Zaunfelder im Wind haltlos an rostigen Nägeln. Noch hatte der Zahn der Zeit nicht alle abgenagt und am Boden verrotten lassen.
Auch die alten, verfallenen Gebäude einer Farm am Rande der Wiese verrieten, dass sich schon lange niemand mehr um das riesige Anwesen kümmerte.
Die Tore der Scheunen und Stallungen waren aus den Angeln gerissen und lagen zerborsten im Dreck. Fahles Licht fiel durch die teils zerstörten Dächer in ihr Inneres und schemenhaft konnte man vor sich hin rostende Maschinen erkennen. Heulend verfing sich die aufsteigende Abendluft unter den leeren Giebeln und zerrte an den letzten verbleibenden Ziegeln.
Das mächtige Haupthaus schien nur noch von abblätternder Farbe gehalten zu werden. Wind wirbelte die Holzspäne unzähliger Termitengenerationen, die sich auf der Terrasse angesammelt hatte zu kleinen Tornados auf, die wie Geister über die morschen Dielen kreiselten. Graue Fetzen von Gardinen flatterten hilflos hinter den zerborstenen Fenstern.

Niemand schien sich für die verlassene Farm mitten in dieser Einöde zu interessieren …
… wäre vor dem Hauptgebäude, in der flimmernden Luft, nicht die Silhouette eines nachtschwarzen 1967er Ford Mustang zu erkennen, inauf dessen verchromten Felgen sich die blutrote Scheibe der untergehenden Sonne spiegelte.

Nachdem Ron die von Holzwürmern durchlöcherte Tür mit einem beherzten Ruck aus dem Weg geräumt hatte, setzte er vorsichtig einen Fuß in das Innere des Hauses. Allein das Betreten der unheilvoll knackenden Holzdielen ließ ihn erschauern.
Kurz hielt er inne, um seinen Augen die Chance zu geben, sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Seltsamerweise schlug sein Herz vollkommen ruhig, als er kaum wahrnehmbar einatmete und nach seiner Beretta griff, die unter seinem verschwitzen Hemd im Hosenbund steckte.
Ron wusste, dass er die verhasste Kreatur hier antreffen würde. Denn er kannte sie gut. Immer wieder zog es sie zurück an den Ort, an dem alles begann. Der Ort, an dem dieses dunkle Wesen erschaffen wurde. Genau hier wollte sich der Jäger der Bestie stellen – überzeugt davon, dass nur einer von ihnen heute Nacht das Gebäude wieder verlassen würde.

Angespannt beobachtete er das Zimmer. Auf der vergilbten Tapete, die nur noch in Fetzen an den Wänden hing, zeichneten sich schwarze Flecken und Spritzer ab. Möbel waren umgeworfen und die Vorratsschränke in der Küche von Waschbärenbanden geplündert. Mit äußerster Sorgfalt suchten Ron´s Füße Lücken zwischen unzähligen Glasscherben am Boden, um nicht durch verräterisches Knirschen vorzeitig entdeckt zu werden.
Trotz seiner Vorsicht konnte er jedoch nicht vermeiden, dass die morschen Dielen unter ihm bei jedem Schritt den er tat gequält ächzten. Mit dem Rücken zur Wand schlich der Jäger, einem Schatten gleich, zu einer Treppe, welche ins Obergeschoss führte. Unablässig beobachte er die Umgebung, jederzeit auf einen Überfall gefasst. Prüfend blieben seine Blicke an herabhängen Spinnweben haften, um sich zu vergewissern, dass es der Luftzug seiner Bewegung war, der sie vibrieren ließ.

Ein umgekippter Tisch in der Mitte des Raumes lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen alten Teppich. Die dunklen Flecken in seinem Gewebe ließen den Jäger hart schlucken. Auch wenn Staub von Jahrzehnten die Konturen mittlerweile verblassen ließ und die Farben verfälschte, wusste er doch, dass es sich um Blut handelte. Menschliches Blut, das eine Bestie vergossen hatte - und dass nicht nur hier an diesem einsamen Ort ihrer unheiligen Geburt.
Unzählige Menschenleben hatte diese Kreatur über die Jahre hinweg in ihrer unstillbaren Gier und Mordlust ausgelöscht.

Tiefer Hass verdrängte für einen Moment die gefühllose Kälte auf dem Herzen des Jägers. Ron´s Hände ballten sich entschlossen zu Fäusten, seine Kiefer zuckten angespannt.
Diese Kreatur würde er vernichten … und wenn es das Letzte war, was er tat.
Langsam griff er nach dem Treppengeländer und hob den Fuß, um die alten Stufen empor zu steigen.
Als er das leise Knacken hinter seinem Rücken hörte, glitt der kalte Schaft der Waffe fester in seine Finger. Schlagartig drehte er sich dem Geräusch entgegen. Im fahlen Licht blitzte der polierte Lauf. Ron erstarrte in voller Konzentration und richtete seine Augen auf die vagen Umrisse einer lauernden Gestalt, die er schemenhaft in der Dunkelheit ausmachen konnte.

„Zeig dich, Bastard“, zischte er durch die Zähne. Seine Augen formten sich zu Schlitzen, um besser sehen zu können.
Ein plötzliche Windstoß, der sich in den geöffneten Schränken verfing, als die Kreatur aus dem Schatten trat, beeindruckte ihn nicht.
Ein stählerner Körper richtete sich vor ihm zu voller Größe auf. Das Spiel seiner Muskeln war deutlich unter seiner verschwitzten Haut zu erkennen. Jedes Mal, wenn er Luft in seine Lungen sog, war sein keuchender Atem zu hören. Das Gesicht zu Boden geneigt, verharrte das Wesen bewegungslos. Nur boshafte Augen fixierten Ron unter einer wilden Mähne. Es war ein Blick, funkelnd vor Kälte, wie der stahlblaue Himmel über der Arktis und ein arrogantes Grinsen umspielte seine Lippen. Auch die Kreatur hatte den Jäger erwartet, um den Kampf zu beenden.

Ron sah das Wesen unbeeindruckt an. Es existierte nichts mehr, was ihn noch erschüttern oder aus der Fassung bringen konnte. Der Jäger fürchtete seinen Tod nicht, denn er besaß kein Leben mehr. Seine Seele war aufgefressen von grausamen Erinnerungen und Bildern, die jede menschliche Empfindung in ihm vernichtet hatten. Emotionslos nahm er die Gestalt ins Visier und als er ihre Bewegung registrierte, schoss er ohne zu zögern.
Mehrere Pulverexplosionen zerrissen den Gesang der Heuschrecken. Im aufzuckenden Mündungsfeuer erkannte Ron, wie ihn der muskulöse Körper entgegensprang. Ein kreisrunder Einschlag zerschmetterte seine Stirn und das am Hinterkopf austretende Geschoss schlug mitsamt dem Schädelinhalt in die Wand hinter dem Angreifer ein. Lautlos brach er vor Ron zusammen.

Der Jäger starrte auf den Leichnam. Er spürte nichts. Weder Genugtuung über die erfolgreiche Jagd, noch Triumpf über den Sieg erwärmten sein Blut. Trotzdem musste er schlucken, als er mit einem Tritt gegen die Rippen den reglosen Körper auf den Rücken drehte. Langsam ging er vor dem getöteten Geschöpf in die Hocke und versank für einen Moment in erstarrte Pupillen, die sein Gesicht widerspiegelten. Bevor sich Ron erhob, verschloss er die Lider über Jim‘s blaugrauen Augen …


Anmerkungen des Autors:
die Shire Farm* ist von mir frei erfunden


*** Schatten auf der Seele ***

Bethel, Bundesstaat New York
3 Wochen zuvor

Die Luft war heiß und angefüllt mit dem Gesang unablässig zirpender Heuschrecken. Eine riesige Landmaschine arbeitete sich durch ein wogendes, goldfarbenes Getreidemeer. Sie verschwamm in flimmernder Abendluft, verfolgt von sich auftürmenden Staubwolken, die wie Rauchschwaden eines Steppenbrandes das Gelände in Nebel tauchten.

Ethan Brown saß seit den frühen Morgenstunden hinter dem Steuer seines historisch anmutenden Mähdreschers. Die anhaltende Hitzewelle versprach keine Steigerung des Ertrages mehr. So hatte sich der Farmer entschlossen, die Ernte einzubringen, bevor die Halme endgültig verdorrten.
Gedankenversonnen sah er auf das Schneidwerk, das sich mit stählernen Zähnen unaufhaltsam durch das Stroh fraß. Seine staubigen Finger hatte er fest um das Lenkrad gelegt, denn das gleichmäßige Vibrieren des 400PS starken Motors im Bauch des Eisenmonsters ließ seinen Körper wanken und wirkte einschläfernd, zumal Ethan in den letzten Nächten kaum ein Auge geschlossen hatte. Immer wieder wurde er von schrecklichen Alpträumen aus seinem Schlaf gerissen. Bilder aus seiner Kindheit kehrten zurück, begleitet von einer Stimme, die ihm schreckliche Dinge zuflüsterte.

Als sich Ethan streckte, knirschten seine vom stundenlangen Sitzen steifen Gelenke. Es war der letzte Drusch, den er heute einfahren wollte. Im Schritttempo quälte sich die Maschine über tiefe Furchen unter den Halmen. Der Farmer hatte die Fenster gekippt, mit dem Erfolg, dass sich im Laufe des langen Tages immer mehr Staub auf seinem Hemd und seinem sonnengegerbtem Gesicht geheftet hatte.
Sein Blick flog auf den Vesperkorb im Fußraum der Kabine. Enttäuscht stellte er fest, dass die Wasserflasche leer war. Ethan brummte vor sich hin und schluckte, um das Kratzen in seinem Mund infolge der eingeatmeten Getreidespelzen zu mildern. Dann konzentrierte er sich wieder auf den unsichtbaren Pfad, dem der Mähdrescher folgte. Er kniff die Augen zusammen, denn die blutrote Sonne am Horizont blendete ihn. Sie berührte bereits den Boden und wirkte in der flimmernden Hitze über dem Feld wie der Schlund eines Vulkanes. Noch nie war dem Farmer aufgefallen, welch lange Schatten zu dieser Tageszeit auf die Erde geworfen wurden. Wie Schlangenleiber, glitten die verzerrten Konturen einiger spärlich belaubter Kastanien und Ahornbäume vom Rande des Feldes, über die kahlen Stoppeln, die schon einen Hauch von Herbst versprühten.
Als Ethan ein Frösteln bemerkte, das heimlich über seinen Rücken strich, drehte er sich um. Doch nur sein Schatten leistete ihm Gesellschaft. Etwas ungelenk strich sich Ethan durch sein graumeliertes Haar, das er im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte und stoppte die Maschine abrupt. Leise grollte der Motor weiter und hielt die rotierenden Messerbalken knapp über dem Erdboden in Position, während Ethan Brown auf den Grünstreifen am Rande des Ackerlandes zuging. Er bückte sich, um einen schweren Gesteinsbrocken zu ergreifen.

*** *** ***

Schwerer Atem, leises Stöhnen und zuletzt durchgehende Schreie rissen Jim Barker aus einem Schlaf, der ihm erst in den frühen Morgenstunden vergönnt war. Schlagartig spannten sich seine Muskeln und katapultierten ihn in die Höhe. Aufrecht im Bett sitzend, blinzelte Jim gegen Licht, das sich in schmalen Streifen durch die geschlossenen Vorhänge in das Zimmer ergoss.
Ron wälzte sich unter der Decke. Seine Stirn war schweißnass und seine Augen hetzten hinter verschlossenen Lidern. „Das kannst … du … nicht – NEIN!“, keuchend warf er sich auf die Seite. „Ich hab dich … ich … ich!“

„Ron! Wach auf!“, heftig rüttelte Jim die Schulter seines Bruders, „Alter, komm schon!“ Besorgt beobachtete er seinen Bruder.

Schlagartig riss Ron die Augen auf. Für eine Sekunde irrten sie schreckgeweitet durch das Zimmer. „Jim? … wa … was ist?“

„Du hattest einen Alptraum“, raunte Jim und richtete sich auf, „Wieder einmal …!“

Der Ältere hob seine Beine aus dem Bett und ließ sein Gesicht in den Händen verschwinden, um zu verschnaufen. Sein Shirt war völlig durchgeschwitzt.

„Ist alles okay?“, fragte Jim.

„Mir geht es gut!“, zischte Ron und rieb sich die Augen.

„Klar! Deswegen hast du ja auch im Schlaf geschrien.“ Jim spürte, wie sich seine Atmung beschleunigte. Er konnte schon gar nicht mehr nachvollziehen, wie oft er Ron in den letzten Wochen aus dem Schlaf gerissen hatte. Mit einem Mischgefühl aus Sorge und Zorn griff er nach seiner Schulter.

Schlagartig sprang Ron auf. Seine Brust bebte. „Ich habe doch gesagt, es geht mir gut!“, schrie er und befreite sich ruppig aus Jims Griff.

„Ron …!“, raunte Jim langezogen. Er folgte seinem Bruder zur Küchenzeile. „Wir müssen reden - Alter!“
Auf halben Weg blieb Jim stehen und zog den Kopf in den Nacken. Pfeifend stieß sein Atem in das Zimmer: „Seit wir Grafton verlassen haben geht es dir immer schlechter!“
Ron hatte ihm den Rücken zugewandt und ließ Wasser in die gläserne Kanne der Kaffeemaschine laufen.
Jim trat noch einen Schritt näher und versuchte erneut nach der Schulter seines Bruders zu greifen. „Alter – egal, was du da mit dir rumschleppst! Du musst es nicht alleine tragen! Rede mit mir!“, beschwor er ihn.

Wie vom Donner gerührt schnellte Ron herum und prallte gegen Jim. „Was willst du denn hören, Jim?“, fauchte er.
Jim taumelte überrascht zurück. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er wieder auf Ron zuging. Brust an Brust standen sich die Brüder gegenüber und die stickige Luft im Zimmer füllte sich mit explodierendem Adrenalin.

Unvermittelt stöhnte Ron auf, strich sich mit der Hand übers Gesicht und sah zu Boden. „Ich kann nicht, Jimmy …!“, flüsterte er.

Schnaufend riss Jim den Kopf in den Nacken: „Okay … wie du willst. Ich geh dann duschen!“

*** *** ***

Wie zärtliche Finger glitten die Wasserstrahlen über seine Haut. Jim schloss die Augen. Er versuchte die Erinnerung, die diese sanfte Berührung in ihm auslöste, zu verleugnen. Als er seine Stirn gegen die Fliesen presste, ließen diese Gedanken einen elektrisierenden Schauer durch seinen Körper gleiten. Es war ein Gefühl von Geborgenheit, Liebe und am Ziel angekommen zu sein. Es war die Sehnsucht nach einem Zuhause, die Sehnsucht nach einem Menschen, den man begehrte und der einem Vertrauen in die Zukunft schenkte. - Es war der einfache Wunsch nach einer Familie.
Mit einem heftigen Stoß atmete Jim aus. Er hätte Tina niemals so nahe kommen dürfen. Warum hatte er diese Gefühle überhaupt zugelassen? Er wusste doch, dass sie nur Schmerzen verursachen würden.
Jim drehte sich um – und als besäße er nicht mehr genug Kraft zu stehen, lehnte er seinen Rücken gegen die Wand. Er hob das Gesicht. Wasser strömte durch sein braunes Haar. Es floss über Jims schmale Augenbrauen und berührte seine Lippen wie ein zarter Kuss, bevor es durch den Abfluss gurgelte und seine Träume mitriss.
Verdammt! Mit einem Ruck befreite sich Jim aus seinen Illusionen. Was machte er hier bloß?
Ron ging es von Tag zu Tag schlechter und er verlor sich in sentimentalen Erinnerungen, die nie hätten sein dürfen. Mit einer hastigen Bewegung drehte er das Wasser ab, schob den Vorhang zur Seite und trat in das von Dunstschleiern durchzogene Bad.

Ein blasses Gesicht blickte auf ihn zurück, als er das Kondenswasser auf dem Spiegel verwischte, ein Gesicht voller Sorge und Schuld. Was war geschehen in den Wochen zwischen Weihnachten und Neujahr? Er erinnerte sich an Fetzen, an Fieberträume, deren Inhalt verblasst war.
Langsam bewegte Jim seinen Kopf näher an den Spiegel. Er wusste von nichts, ahnte aber, an den furchtbaren Träumen seines Bruders schuldig zu sein. Tief in seinem Inneren schien etwas verborgen, von dem Ron höllische Angst hatte, es Preis zu geben. Jim hauchte gegen das Glas und wischte seinen Atem wieder weg, als wollte er die Erinnerung daran freilegen. Sie hatten die Stadt gerettet, das hatte man ihm gesagt. Dieses Kreuz, der Brunnen – es war ein Weg! Aber für wen oder was?
Jim biss sich auf die Lippen. Er musste etwas getan haben, das seinen Bruder an den Rand des Wahnsinns trieb. War er vielleicht ein Mörder – oder Schlimmeres? Rons ausweichende Blicke, wenn er Fragen stellte, sprachen Bände. „Ron! Rede endlich mit mir!“, hauchte Jim verzweifelt gegen sein Spiegelbild. Der Gedanke, für diesen ganzen Kummer verantwortlich zu sein, fraß ihn allmählich auf.
Als sich Jim die feuchten Strähnen aus der Stirn strich, betrachtete er seinen Körper. Er beobachtete das Heben und Senken seiner Brust und seufzte. Das letzte Jahr hatte ihnen beiden mehr Energie gekostet und Wunden zugefügt, als sie zugeben wollten.
Mit Fingerspitzen berührte er die kaum noch sichtbaren Spuren der Schrotladung, die ihm Rene verpasst hatte. Jim grinste … Peanuts!
Wesentlich schmerzhafter war ihm eine andere Narbe in Erinnerung. Er fixierte seinen rechten Brustmuskel. Der Prankenhieb eines urtümlichen Werwolfs hatte ihn fast das Leben und die Seele gekostet. Deutlich zeichneten sich auf seiner Haut vier grauenhafte Striemen ab, ihnen haftete der bittersüße Nachgeschmack von übernatürlicher Kraft und Stärke an. Jim erschauerte beim Gedanken an dieses Gefühl. Nie hatte er seine dunkle Seite stärker gespürt, als in jenen Tagen, an denen er den Keim dieses alten Wesens in sich getragen hatte.
Besorgt zogen sich Jims Brauen zusammen, als seine Nasenspitze den Spiegel berührte. Er sah sich fragend in die Augen: Welche Narben verbarg seine Seele?

Als Jim sein Rasiermesser aufklappte, blitzte das Sonnenlicht auf der scharfen Schneide. Fasziniert ließ er die Klinge in der Hand vor seinen Augen um die eigene Achse rotieren. Der geschliffene Stahl reflektierte das Tageslicht in überwältigender Weise. Geblendet neigte Jim den Kopf und stöhnte leise. Die Schönheit eines einfachen Messers war ihm bisher nie aufgefallen.


*** Blutige Tränen ***

Als die Tür zum Bad ins Schloss fiel, zuckte Ron zusammen. Es tat ihm leid, Jim wieder einmal so angefahren zu haben. Schnaufend schloss er die Augen und seine zitternden Hände suchten Halt an der Arbeitsplatte.
Noch immer raste sein Herz in Angst und Schrecken, versetzt von Bildern, die ihn immer wieder durch die gleiche Hölle jagten. Er starrte auf die Kanne, die sich allmählich mit starkem Kaffee füllte und seufzte: „Nur eine Nacht!“ Er wünschte sich nur eine einzige Nacht, in der er nicht von marternden Schreien und Strömen aus Blut verfolgt wurde.
Die Hilflosigkeit, mit der er zusehen musste, wie sie aus Jim ein physisches und psychisches Wrack gemacht hatten, ließ ihn niemals los. Ron fürchte nichts mehr, als seinen Bruder ein zweites Mal zu verlieren, sollte dieses Geheimnis jemals durch die Oberfläche brechen. Er war völlig außer Stande, Jim klar zu machen, dass er nicht darüber reden konnte, ohne ihn damit endgültig zu zerstören.
Verzweifelt biss sich Ron auf die Lippe. Das Einzige, was er tun konnte, war schweigen - auch wenn er selbst daran zerbrach. Sein Blick wanderte auf die angebrochene Whiskyflasche neben der Spüle. Sie versprach das Vergessen, dass sich Ron herbeisehnte. Der Alkohol verbannte die Erinnerung an jene Nacht für wenige Stunden aus seinem Kopf. Er betäubte ihn, schenkte ihm Taubheit, die all diese Bilder verblassen ließ.
Zögernd griff Ron über die marmorierte Platte nach der Flasche. Ihr goldener Inhalt funkelte im Licht der wenigen Sonnenstrahlen, die es durch die geschlossenen Vorhänge bis in die Ecke des Zimmers geschafft hatten.
Er wollte doch nur vergessen!
Langsam rotierte die Flasche in seiner Hand und Ron betrachtete die weiche, kreiselnde Bewegung der öligen Flüssigkeit. Er schluckte gequält - nur wenn er sich an der Schwelle zum Tod wähnte, wenn Adrenalin und Jägerinstinkt die Herrschaft über seinen Körper an sich rissen und er sich in einen kaltblütigen Killer verwandelte, fand seine Seele für einen kurzen Moment Frieden.
--- …Oder wenn er … Abrupt ging Ron zurück in den kleinen Raum. Die glucksende Kaffeemaschine interessierte ihn nicht mehr und das Gefühl von Hunger war ihm seit Wochen unbekannt. Als er auf einen alten Sessel vor dem Fernseher zusteuerte, nahm er einen großen Schluck aus der Flasche. --- …wenn er sich hoffnungslos betrank …
Müde sank Ron in das abgewetzte Polster. Obwohl er auf die flimmernde Mattscheibe starrte, hatte er Jims fragenden Blick vor Augen, hörte seine drängende Stimme und spürte tief im Herzen, wie sich sein kleiner Bruder immer weiter von ihm entfernte. Dieses Gefühl raubte ihm den letzten Halt. Trotzdem schien es besser als die Alternative.
Trauer und Verzweiflung stieg in Ron auf. Was war nur aus ihnen geworden?
Jim war so still und duldete wortlos sein selbstzerstörerisches Verhalten.
Sein Blick wanderte zur Tür, hinter der Jim verschwunden war. Die Dusche rauschte nicht mehr.
Seufzend legte Ron seinen schweren Kopf in die Hände und beugte sich nach vorn. Die Whiskyflasche ruhte auf seinem Schoß. Immer öfter beschlichen ihn Zweifel. Vielleicht war es falsch, die Vergangenheit tot zu schweigen. Vielleicht war es ein Fehler, Jim aus seinem Leben zu verbannen.

Aus einem bedrohlichen Gefühl heraus sprang Ron auf die Beine. Er lauschte angespannt. Doch er hörte nur das Scheppern der Whiskyflasche, die am Boden kreiselte und glucksend einen Teil ihres Inhaltes auf die Holzdielen spie. Leise rief er Jims Namen. Zu leise, als das er hätte gehört werden können. Wie immer, unterdrückte Ron schlussendlich das Verlangen, mit Jim zu reden und rutschte antriebslos zurück in den Sessel. Fehlender Schlaf und zu viel Alkohol ließen seine Augenlider schwer werden.

„Jim war stark und würde sein Schweigen irgendwann akzeptieren. Er konnte ohne diese Erinnerung besser leben.

Benommen streiften Rons Augen über die Zimmerdecke. Jim sollte nie wieder seinetwegen bluten.

*** *** ***

Dieses kleine Messer war so schlicht, ehrlich und schön. Und trotz der kühlen Ausstrahlung wirkte es verlockend wie ein leises Versprechen. Vorsichtig, als hätte Jim Angst, den glänzenden Stahl mit Schweiß zu beschmutzen, glitt sein Zeigefinger über die Schneide – so behutsam und sanft, als berührte er einen alten Freund.
Neugierige Blicke folgten dem Weg seines Fingers, wobei Jim den Atem anhielt. Das Beben seiner Lippen bemerkte er nicht. Auch die Schweißperlen, die sich an seinen Schläfen bildeten, nahm er nicht mehr war. Aber Jim spürte, wie sich seine Atmung beschleunigte. Er fühlte wieder diesen Hauch von Leben in seinem empfindungslosen Inneren aufflammen. Nach unendlichen Wochen des Schweigens fühlte Jim endlich sein Herz, das wild gegen die unerträgliche Taubheit in seiner Seele einschlug.
Er schloss die Augen, zog den Kopf in den Nacken und seufzte. Ein warmes Kribbeln ging von der Berührung aus. Doch ein Brennen riss ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken ließ Jim das Rasiermesser fallen und beobachte, wie es klingelnd im Waschbecken kreiselte, gefolgt von einigen Tropfen seines Blutes, die lautlos auf das Porzellan fielen und ein bizarres Muster aus Kreisen und zerrissenen Sternen bildeten. Die satte Farbe faszinierte Jim. Als das Summen des tanzenden Stahles im Becken verstummt war, hefteten sich seine Augen auf seine blutige Fingerkuppe. Jim zog seine Stirn in Falten und neigte den Kopf. Er beobachtete, wie ein letzter Tropfen eine schmale Linie auf seine Haut zeichnete, bevor er lautlos in die Tiefe stürzte.
Die kleine Verletzung wurde unglaublich warm. Es tat gar nicht weh. Der kurze Schmerz war verflogen, bevor ihn Jim bemerkt hatte und hinterließ nun ein leises Pochen im Fleisch – wie sein Herz, das er so lange nicht gespürt hatte.
Reflexartig schob Jim den Zeigefinger zwischen seine Lippen und kostete dieses Pulsieren.

Als er sich im Spiegel beobachtete bebte seine Brust erregt. Das Gefühl innerer Zufriedenheit, das ihn unerwartet überkam, war unbeschreiblich. Jim atmete mit einem heftigen Stoß aus. Langsam griff er nach der Klinge, hielt kurz inne und lauschte angespannt. Hinter der Tür schepperte eine Flasche. Jim wusste, dass Ron wieder begonnen hatte, seine Erinnerungen in Whisky zu ertränken. Von Tag zu Tag wurde es schlimmer und irgendwann hatte er es unterlassen, Fragen zu stellen. Aber Jim ahnte es: Ron flüchtete sich vor seinen Erinnerungen in selbstmörderische Monsterjagden und wenn es nichts gab, was er töten konnte, blieb nur der Whisky. Jim vermochte es nicht, ihm zu helfen und kam sich so erbärmlich vor. Ron wich jeder Frage aus oder reagierte mit Aggression – er war verschlossen wie ein Grab. Alle Versuche, mit ihm zu reden, endeten im Streit.
Unglücklich sah Jim zum Nebenzimmer. Er hatte das Gefühl, den letzten Menschen, der ihm noch geblieben war, zu zerstören. Wie zwei Fremde vegetierten sie nebeneinander her und dieses Wissen ließ seine Sinne bis zur Unkenntlichkeit verdorren.

Leise verriegelte Jim das Schloss. Sein Atem stieß in feuchtwarmen Dunst aus der Dusche. Es war totenstill.
Nach Asphalt riechende Luft trug Staub vom nahegelegen Highway durch das gekippte Fenster. Es war ein vertrauter Geruch. Kondenswasser legte sich auf die Haut des hochgewachsenen Jägers, der wie versteinert am Waschbecken stand. Mit allen fünf Fingern hatte er den Messergriff fest umschlossen. Nur die Schneide blitzte im Sonnenlicht, als er den Arm anwinkelte.
Mit hasserfüllten Augen starrte Jim auf sein Spiegelbild und konnte vor dem, was er sah, nur angewidert zurückweichen. Als er sich gegen die kalten Fliesen hinter seinem Rücken presste, steigerte sich sein Atem zum Keuchen. Tief aus seinem Inneren stieß der Ruf unbekannter Stimmen an die Oberfläche, war so schrill dass er drohte, seinen Schädel zu sprengen. Tränen rannen über Jims Wangen, als er den Stahl an seiner Bauchdecke spürte. Bei jedem Atemzug drängte sich sein Körper begierig gegen die geschliffene Klinge.
Es bedurfte weder Kraft noch Überwindung und das Messer glitt geschmeidig durch die vom Duschen aufgeweichte Haut.
Ein leichtes Zucken - ein kurzer schmerzlicher Ton, der seinen Lippen entfloh und Jim konnte die Wärme seines Blutes spüren. Wie eine verschollene Erinnerung, die sich langsam befreite, quoll es unter seinen Händen hervor.
Jim stöhnte leise auf, seine Zähne vergruben sich fest in seine Unterlippe, als er mit zitternder Hand das Messer weiter zog.

Als die Klinge Jims Haut zerschnitt – als diese glatte, weiche Oberfläche, die ihn schützen sollte aufbrach und ihm das eigene Blut über den Leib strömte, konnte er wieder etwas fühlen.
Keuchend ging er in die Knie. Sein Körper glitt der Wand entlang zu Boden. Das Zittern seiner Muskeln verebbte und sein stockender Atem fand einen gleichmäßigen Rhythmus. Ächzend zog Jim den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lehnte sich haltsuchend gegen die kalten Fliesen. Sein schmerzverzerrtes Gesicht entspannte sich. Seine geschlossenen Lider flatterten vor abwesenden, der Welt entrückten Augen und auf seine Lippen hatte sich ein seliges Lächeln gelegt.
Langsam entglitt das Rasiermesser seinen Fingern. Es fiel geräuschlos auf mehrere Lagen blutigen Küchenkrepp.
Jims Hände bedeckten zärtlich die klaffende Wunde. Unaufhaltsam bahnte sich sein Blut den Weg durch seine Finger und mehrere, bereits unterschiedlich abgeheilte Narben, die er sorgfältig unter seinem Shirt versteckt hielt, bezeugten, dass diese Hände nicht zum ersten Mal ins eigene Fleisch geritzt hatten.
Jim stöhnte leise, Schmerz war der einzige Freund, der ihm geblieben war. Es war dieser Schmerz, der den verwaisten Platz an seiner Seite eingenommen hatte.

*
Als der Rausch der Endorphine verflogen war, überfluteten Tränen seine Augen. Kälte und Stumpfheit schlugen über ihm zusammen wie eine Sintflut. Der scharfe Verstand des Ex-Studenten Jim Barker hatte längst analysiert was hier geschah. Jim wusste, was er tat und er kam nicht dagegen an.
Schluchzend zog er seine Beine gegen den Bauch und umschlang sie mit den Armen. Scham, Ekel, Reue und grenzenloser Selbsthass schüttelten seinen Körper in einem nicht enden wollenden Weinkrampf.
Seine Stimme war dünn und zerbrechlich: „Hilf mir – bitte hilf mir!“
Niemand hörte sein Flehen. Der einzige Mensch, dem er sich anvertrauen würde, war vor Kummer taub und ihm so fremd wie niemals zuvor.
Jim war allein – nur ein Schatten, der sich vor ihm auf dem Boden abzeichnete, stand ihm bei.


*** Im Rausch ***


Zähflüssig tropfte Blut über die abblätternde Farbe des Schneidwerkes und versickerte im Boden. Zurück blieb eine Ansammlung undefinierbarer menschlicher Bestandteile auf den abgemähten Strohhalmen in den Förderketten der Maschine.

„Wo ist der Gerichtsmediziner?“, fragte Inspektor Stan Warren. Er musterte einen Moment lang einen jungen Deputy Sheriff, dessen Gesicht sich in den letzten Sekunden grünlich verfärbt hatte. Es war nicht einmal der metallische Geruch von Blut, der den Mageninhalt des jungen Mannes zum Brodeln brachte, sondern die nagenden Zähne des Schneidwerkes über den Rückenwirbeln eines zerfetzten Torsos. Die untere Körperhälfte des Farmers Ethan Brown war vom Dreschwerk bereits zermalmt worden und hatte sich als Matsch mit dem Getreide im Tank seines Mähdreschers vermischt.
Deputy Sheriff Smith riss seinen Kopf nach hinten. „Der Gerichtsmediziner ist dort“, keuchte er und sah über seine Schulter auf einen Mann, der hinter einem Ahornbaum stand und sich krümmte, „er kotzt sich gerade die Seele aus dem Leib.“ Smith schloss die Augen und schluckte.
Warren klopfte seinem jungen Kollegen sachte auf die Schulter. „Ist okay, Michael, wir übernehmen das.“ Seine Stimme war gefasst.
Inspektor Warren war einer jener Männer, dessen Alter man schlecht einschätzen konnte. Schlank, hochgewachsen und mit sonnengebräunter Haut wirkte er trotz seiner graumelierten, kurzen Haare jünger, als er wirklich war. Er schnaufte. In über vierzig Jahren Dienstzeit hatte er selten etwas so Grausiges gesehen. Langsam schlenderte er um das riesige Gefährt und warf einen Blick in die Fahrerkabine. Nichts deutete auf einen Kampf hin. Ein schwerer Stein klemmte das Gaspedal fest und die Tatsache, dass Ethan offensichtlich nichts unternommen hatte, um dem Schneidwerk auszuweichen, bestätigte die Vermutung seiner Kollegen über einen Selbstmord. Warren zog die Stirn in Falten, als er die Tür zuschlug.
Die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Anzughose vergraben, schlenderte er zurück. Eine graue Krawatte flatterte bei jedem seiner Schritte über einem weißen Hemd. Es war zu heiß und der schwere Geruch von Blut in der Abendluft hatte Warren veranlasst, seine Anzugjacke im Dienstwagen zu lassen. Langsam ging er vor Smith in die Hocke. „Wer hat ihn gefunden?“

Der Deputy Sheriff saß am Feldrand. Den Blick starr zu Boden gerichtet zog er mit zitternden Händen Linien in den Staub. „Sein Sohn Noah“, flüsterte er, ohne den Kopf zu heben.
Warren nickte kurz. Er wusste, dass die beiden jungen Männer befreundet waren. Sein Blick wanderte noch einmal über die schwere, immer noch tuckernde Landmaschine. Führerlos war sie durch eine tiefe Bodenfurche zur Seite gekippt. Nur diesem Umstand war es zu verdanken, dass der Mähdrescher sein grausiges Werk nicht vollendet hatte.

„Würde jemand mal diese verdammt Maschine abstellen?“, rief Warren den Leuten von der Spurensicherung zu. Winzige Schweißperlen sammelten sich in Grübelfältchen auf seiner Stirn. Das war der zweite ungewöhnlich brutale Selbstmord innerhalb einer Woche – und der August hatte noch nicht einmal begonnen. Stöhnend zog Warren den Kopf in den Nacken – das fängt ja diesmal früh an …

*** *** ***

Irgendwann zitterte Jim`s Körper so heftig, dass er befürchten musste, Ron könnte das Klappern seiner Zähne durch die geschlossene Tür hören. Jim fror trotz sommerlicher Temperaturen, fühlte sich schwach und elend. Langsam hob er den Kopf und lauschte, konnte aber außer dem eigenen Atem und unverständlichen Stimmen aus dem Fernseher nichts hören. Als er sich auf die Beine zwang, vermied er einen Blick in den Spiegel. Zu groß war die Scham für seine Unfähigkeit, dem selbstzerstörerischen Drang aus seinem Inneren zu widerstehen.
Jim öffnete seufzend die Tür des Spiegelschrankes und suchte nach Verbandsmaterial. Mit wenigen Handgriffen hatte er alle nötigen Utensilien auf dem Ablageboard verteilt. Seine Bewegungen waren routiniert, als er den Schnitt versorgte. Behutsam reinigte er die Wunde mit Jod, hielt unter dem Brennen den Atem an.
Er betrachtete die Schere nur kurz, als er das Pflaster zurechtschnitt und schwor sich, dies zum letzten Mal getan zu haben. Plötzlich war seine Faszination für scharfe Gegenständen verschwunden.
Entschlossen schlüpfte Jim in sein Shirt und musterte sich kritisch. Ein bisschen Schonung bis zum Abend und es würde schon gehen. Er musste fit sein, durfte sich keine Schwäche leisten. Heute Nacht war Vollmond und in wenigen Stunden bestand die Chance, einen Werwolf, den sie seit Wochen verfolgten, zu erledigen. Ron würde alles daran setzen, diese Jagd zu beenden.
Ein Lächeln zuckte um Jims Lippen. Nur in höchster Gefahr, wenn jeder noch so winzige Fehler den sichereren Tod bedeuten konnte, standen sie sich so nahe wie einst. Wenn das Leben des Anderen auf den eigenen Schultern lastete, verdrängte diese Verantwortung den eigenen Schmerz und sie bildeten eine Einheit. Sollte dies der Preis für das Gefühl der Gemeinschaft sein, das Jim so sehr vermisste, dann wollte er immer jagen. Er war Rons Rückendeckung und hatte kein Recht auf Selbstmitleid.
Fluchend betrachtete er das Chaos im Bad. Mit den Füßen schob er den Küchenkrepp zusammen und verstaute es im Abfalleimer.

*** *** ***

Bethel, Bundesstaat New York
August 1969, später Nachmittag

„Ach komm schon. Sei doch kein Feigling.“ In Emilys Augen funkelte Neugierde und Spott. Sie strich sich ihr langes Haar auf den Rücken und gab Mia einen Stups, um sie durch die geöffnete Tür ins Innere des Hauses zu schieben. „Was soll schon passieren“, säuselte sie, als sie sich zu Natalie umdrehte und ihr zuzwinkerte.
Emily war schon immer die Spontanste der drei Freundinnen gewesen. Es war ihre Idee, den etwas seltsam anmutenden Bewohnern der Shire-Farm einen Besuch abzustatten.

„Ich weiß nicht“, flüsterte Mia und trat zaghaft über die Türschwelle, „wir kennen diesen Typen doch gar nicht.“

Natalie kicherte. „Mia, du solltest nicht so ängstlich sein. Jetzt sind wir einmal hier und wenn wir schon nicht zur Bühne kommen, sollten wir uns wenigstens diesen Spaß gönnen.“ Mit erhobenen Augenbrauen suchte sie Bestätigung in Emilys Gesicht. „Der Typ ist echt süß! Ein bisschen alt zwar, aber irgendwie süß!“

Emily nickte. „Was meinst du, was unsere Kinder und Enkel mal sagen werden! Wirklich!“, hauchte sie und zog Mia heran, um ihr ins Ohr zu flüstern. „Dieser Aiden hat uns doch eingeladen und so unheimlich ist er gar nicht. Außerdem“, über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, „bin ich patschnass geworden und der Stoff, den er uns versprochen hat, ist auch umsonst!“ Mit einem entschlossenen Schritt schob sie sich an ihren Freudinnen vorbei.
Schwerer Duft von Räucherstäbchen schwebte im Zimmer. Er sollte den Geruch von Cannabis überdecken. Fremdartige Musik säuselte den Mädchen hinter einem Vorhang aus bunten Holzperlen entgegen. Neugierig sahen sich die drei um. Schwülstige Ornamenttapete verlieh dem Zimmer eine bedrückende Atmosphäre. Zwei klapprige Kommoden an einer Wand brachen unter der Masse kitschiger Engelsfiguren, Kerzen und Schmuckstücken fast zusammen. Auch auf einer schmalen Holztreppe standen die Figuren und Kerzen so dicht, dass es fast unmöglich erschien, nach oben zu gelangen. Der Windzug einer zuschlagenden Tür zu ließ den Perlenvorhang leicht schwingen und gab den Blick auf eine schattenhafte Gestalt frei.
Als Emily Aiden sah, zog ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie erkannte ihn schon an der Statur, an der Art, wie er sich bewegte. Obwohl sie diesen Mann erst auf dem Festival kennengelernt hatte, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die rauchige Stimme, das schöne Gesicht und die schmalen Hände – vor allem aber diese intensiven blauen Augen, mit der er sie durch einen einzigen Blick verzaubert hatte, ließen sie nicht mehr los.
Aiden schob den Vorhang auseinander und huschte in den Flur.
„Oh, ich sehe, du hast deine Freundinnen mitgebracht!“, flüsterte er, während seine Finger zärtlich über Emilys Nacken wanderten. Er beugte sich zu ihr hinunter und murmelte: „Ich wusste, du würdest kommen.“ Seine Lippen berührten fast ihre Haut. „Wollt ihr nicht reinkommen?“ Aidens Blick wechselte zu Mia und Natalie. Völlig verwirrt betrachteten die beiden Mädchen den Mann, auf dessen nackter Brust ein indisches Medaillon blitzte.
Emily warf ihren Freundinnen ein triumphierendes Lächeln zu.
Ohne eine Antwort abzuwarten, drängte Aiden die Mädchen ins Wohnzimmer. Dunst umfing sie, trotz der geöffneten Fenster. Obwohl draußen die Sonne schien, wurde ihr Licht durch schwere Vorhänge daran gehindert, in den Raum zu gelangen. Nur ein paar vereinzelte Strahlen erleuchteten winzige Staubteilchen in der Luft.
Es dauerte eine Weile, bis sich die drei Mädchen an das Halbdunkel und die tanzenden Lichter der Kerzen gewöhnt hatten. Mias Augen irrten durch das Zimmer. Es fiel ihr schwer, in der mit unbekannten Aromen angereicherten Luft zu atmen. Sie hatte sich hinter Emily und Natalie zurückgezogen. Dieses Haus war ihr unheimlich. Bedrohliche Götzenbilder an den Wänden und sich langsam in flimmernder Hitze drehende Luftschlangen die zahllos von der Zimmerdecke hingen, verwandelten die Umgebung in ein Szenario aus einem ihrer Alpträume.

„Setzt euch doch zu uns“, bat Aiden. Erst jetzt bemerkten die Mädchen, dass sie nicht die einzigen Gäste waren. In der Mitte des Raumes hatte sich bereits eine kleine Gruppe auf einem Teppich niedergelassen. Blaue Flammen loderten aus einem kupfernen Schälchen im Inneren des Kreises, den sie bildeten. Irgendwo säuselte ein Samowar.

„Wer ist dieser Typ?“, zischte Mia, als sie in der kleinen Runde Platz genommen hatte. Auch Natalie hatte sich inzwischen gesetzt. Einige widerspenstige Locken, die sich aus ihrem Pferdeschwanz befreit hatten, klebten auf ihrer Stirn. Gebannt verfolgte sie das Handeln des hochgewachsenen Unbekannten, der nun zum Buffet ging. Während er nach dem Wasserkessel griff, registrierte Emily wie Natalie schamlos „ihren“ Fremden anhimmelte. Sie konnte die Augen nicht vom Rücken des Mannes reißen und schien ihn mit ihren Blicken zu verschlingen.
Mia konnte die Euphorie ihrer beiden Begleiterinnen nicht nachvollziehen. Sicher, Aiden war attraktiv und er hatte ein Karma, das einem die Luft rauben konnte. Aber der Typ war mindestens 30 und eindeutig zu alt. Zornig darüber, Emilys Wunsch nachgegeben zu haben und nun in dieser merkwürdigen Runde zu sitzen, senkte sie den Kopf. Für Mia war klar, was dieser Kerl vorhatte und am liebsten wäre sie gegangen. Aber sie wollte ihre Freundinnen nicht allein zurück lassen.
Plötzlich spürte sie Aidens Hand auf ihrer Schulter. Er schien ihr Misstrauen bemerkt zu haben und schenkte nun ausgerechnet ihr all seine Aufmerksamkeit.
„Ich weiß, was du denkst“, säuselte er, während seine Finger ihren verspannten Rücken massierten. Langsam hob Mia den Kopf, um dem Fremden ins Gesicht zu sehen. Seine Augen waren stahlblau. Sie funkelten so gefährlich wie der Polarhimmel, bevor ein Sturm ausbricht. Ein Lächeln umspielte Aidens Lippen, als er eine ihrer Haarsträhnen durch seine Finger gleiten ließ. „Ich spüre Skepsis in dir“, flüsterte er.

Mia war es unangenehm, plötzlich so viele Augenpaare auf sich gerichtet zu wissen. Sie schluckte verlegen.
Aiden setzte sich und Mia zweifelte nicht an seiner Absicht, ausgerechnet die Lücke zwischen ihr und Emily gewählt zu haben. Er hatte sie getrennt und immer wieder streifte sein Körper wie zufällig ihren Arm. Diese Reibung ließ eine leichte Röte auf Mias Wangen entstehen.
Schmunzeln registrierte Aiden Mias Erregung, schloss die Augen und atmete tief ein. Es wurde still im Zimmer, als er meditierte. Nach einer Weile griff er hinter seinen Rücken und reichte ein gläsernes Schälchen mit Tee in die Runde. Nickend forderte er seine Anhängerschaft zum Trinken auf.
Als das Gefäß schließlich in Mias Händen lag, sah sie zögernd zu Aiden hinauf.
„Du kannst gehen, wenn du möchtest“, flüsterte er. Seine Stimme schickte heiße Wellen durch ihren Körper und ließen sie alle Zweifel vergessen. Unfähig, den Blick von Aiden zu nehmen, führte Mia das kleine Gefäß an ihre Lippen und trank.
„So ist es gut“, raunte der Fremde. Er breitete seine Arme aus: „Folgt mir in eine unbekannte Welt. Sprengt mit mir die Grenzen des menschlichen Bewusstseins.“ Sein Blick heftete sich auf Mia. Er lächelte: „Ich weiß, wir haben heute ein Medium unter uns, das uns den Weg zeigen wird!“

Die Gruppe hatte sich bei den Händen gefasst und wankte im Schneidersitz in eine Welt aus singenden Farben und bunten Tönen hinüber. Einzig Aiden behielt die Kontrolle, denn er hatte nichts getrunken. Er spielte seine Rolle meisterlich und war sich seiner unglaublichen Ausstrahlung bewusst. Der Cocktail zeigte schnell Wirkung. Nach und nach kippten die Mädchen zur Seite. Als sich ihre schweißnassen Körper auf dem Teppich krümmten, warf Aiden einen raschen Blick über seine Schulter. Den roten Punkt über dem Objektiv einer sorgfältig versteckten Kamera hatte niemand bemerkt.
Aiden erhob sich und beobachtete die Mädchen, die, vor ihm am Boden liegend, mit ihren schlimmsten Alpträumen kämpften. Langsam schritt er zwischen ihnen hindurch und rollte gelegentlich mit dem Fuß einen Körper auf den Rücken. Als er seine Runde beendet hatte und wieder bei Mia angekommen war, beugte er sich zu ihr hinunter. Vorsichtig schob er ihre zuckenden Lider nach oben und betrachtete ihre geweiteten Pupillen. Dann verließ er das Zimmer. Am Telefon im Hausflur wählte er eine Nummer. „Ich habe es begonnen“, berichtete er, „und diesmal ist die Zielperson dabei …“


*** Gemeinsam Einsam ***

Ein stillgelegtes Gewerbegebiet.
Im fahlen Schein des Vollmondes ragten zerfallene Gebäude wie stumme Zeugen eines nuklearen Angriffs in den Himmel. Kaum ein Lichtstrahl erreichte den Grund der weit verzweigten Straßenschluchten. Umso lauter heulte der Sommerwind in den Winkeln und Gassen. Hier und da trieb er einen Fetzen Papier oder eine aufgeblähte Plastiktüte vor sich her. Rostende Container standen mancherorts so dicht, dass kaum auszumachen war, wohin der Weg durch die Ruinen führte.
Nicht einmal Waschbären und Stadtfüchse schienen sich hier wohl zu fühlen, denn kein Lebewesen wollte sich das Revier mit einem Werwolf teilen.

Kein Lebewesen - außer zwei Brüdern, die sich auf das ewige „Jäger und Gejagte – Spiel“ eingelassen hatten und dem Untier bis hierher gefolgt waren. Auf dem mit Scherben übersäten Boden war an ein schnelles Vorankommen nicht zu denken. Ihre Körper dicht an eine Backsteinmauer hinter ihrem Rücken gepresst, versuchten sie jeden Fehltritt, der spröde Schlacke unter ihren Schuhen knirschen lies, zu vermeiden. Die Kommunikation auf einfache Gesten und Blicke reduziert, glitten Jim und Ron an der Wand entlang. Unentwegt schauten sich die Jäger um und inspizierten sorgfältig jede geöffnete Tür und jedes zerbrochene Fenster.

Die Stille war erdrückend.
Mit erhobener Braue sah Ron über seine Schulter zu seinem Bruder. Jims unschlüssig zuckende Lippen bestätigten ihm, dass sie möglicherweise die Spur im Labyrinth verloren hatten. Schlimmstenfalls waren sie bereits selbst unfreiwillig zu Gejagten geworden.

Das Geräusch von splitterndem Glas aus einer Gasse, die sie gerade gekreuzt hatten, hob die Stille abrupt auf und ein lang gezogenes Heulen verriet ihnen, dass der Werwolf nicht die Absicht hatte, sich zu verstecken. Auf ihre hochsensiblen Reflexe vertrauend, drehten sich die Jäger um die eigene Achse und im Bruchteil einer Sekunde richteten sich ihre Waffen dem heimtückischen Geräusch zwischen den dicht beieinander stehenden Gebäuden entgegen. Nur das Knirschen unter klauenbewehrten Pfoten verriet die herannahende Kreatur.
Schneller als ein Wimpernschlag schoss ein gewaltiger Schatten aus der Dunkelheit. Nur das boshafte Funkeln gelber Augen bot den Jägern eine Millisekunde lang die Möglichkeit für einen gezielten Schuss. Im aufzuckenden Licht des Mündungsfeuers blitzte kurz vor ihnen eine Batterie von messerscharfen Reißzähnen auf. Nach Blut riechender Atem schlug den Jägern ins Gesicht, bevor der Werwolf vor ihren Füßen zu Boden ging. Jim und Ron beobachteten erstarrt, wie sich die Kreatur winselnd im losen Staub auf dem Asphalt wälzte, um eine Sekunde später wieder auf die Beine zu springen. Mit einem Satz brach sie durch das Fenster einer Lagerhalle und war verschwunden.

Zwei Herzschläge später hatten die Brüder den lähmenden Schreck abgeschüttelt. Wieder einmal war ihnen der Tod näher als das Leben gewesen und sie hatten ihm getrotzt. Um Rons Lippen zuckte ein überlegendes Lächeln, als er mit einem Kopfnicken seinen Bruder aufforderte, ihm zu folgen.
Mit verbissener Entschlossenheit setzten beide Männer dem Untier nach.

In der Lagerhalle war es noch heißer als auf der Straße. Ein altes Wellblechdach hatte die Hitze des Sommertages aufgesaugt und strahlte diese nun gnadenlos ab. Jedes Geräusch schien sich in der stickigen Luft zu vervielfachen. Unter ihr schwerfälliges Atmen und ihren tastenden Schritten auf verstaubtem Betonboden mischte sich kurz das Klicken einer Taurus und einer Beretta, die erneut entsichert wurden. Die schallende Akustik der geräumten Halle erwies sich trotzdem als Vorteil, denn in der Dunkelheit war es nahezu unmöglich, etwas zu erkennen. Mit einem Lichtstrahl die Aufmerksamkeit der Bestie auf sich zu lenken, hielten beiden Jäger für gefährlicher.

Jim nahm als erster ein leises Knacken wahr. Doch bevor er seinen Bruder warnen konnte, stieß seitlich von diesem ein Maul aus der Dunkelheit. Ohne zu zögern wehrte Jim das mörderische Gebiss mit einem explosiven Faustschlag ab und stellte sich dem Untier in den Weg. Seine breiten Schultern, die sich energisch den Weg nach vorn bahnten, trafen den Älteren unvermittelt und rissen ihn von den Beinen. Alles beherrschende Angst, Ron zu verlieren, schaltete Jims Selbsterhaltungstrieb aus. Reinem Instinkt folgend zog sich sein Zeigefinger um den Auslöser, während er mit einem unglaublichen Satz der tödlichen Pranke des Werwolfes auswich und über seine Schulter abrollte.
Das angeschlagene Geschöpf bekam keine weitere Chance. In bernsteinfarbenen Augen spiegelte sich das Mündungsfeuer der Taurus, gefolgt vom schrillen Quieken eines tödlich verwundeten Tieres. Wieder ging die Kreatur zu Boden. Diesmal war es endgültig.

*

„Ron! Ist alles Okay?“ Jims Stimme war zerrissen von hektischen Atemzügen, als er sich neben seinem Bruder auf die Knie warf.

„Verdammt!“, knurrte der Ältere, drehte sich auf die Seite und hustete. Als er sich stöhnend aufrichtete, rügte er Jim. „Was hast du dir dabei gedacht, Jimmy!“ Kopfschüttelnd fixierte er ihn. „Du hättest sterben können.“ Noch immer vom Sturz auf den harten Stein benommen rieb sich Ron die Stirn und senkte fassungslos den Kopf.
Jim stand leicht gekrümmt vor ihm und hielt sich den Bauch. „Ich habe gar nichts gedacht“, keuchte er, „ich habe dir gerade den Arsch gerettet, Bruderherz!“

Ron winkte stöhnend ab. „Das hätte ich auch allein geschafft.“ Sein Schädel dröhnte wie eine tickende Bombe und er wusste, dass dieses Hämmern nicht vom Sturz herrührte. Als Ron seinen Bruder erneut ansah, schluckte er, denn Jims gebeugte Körperhaltung entging ihm nicht. „Alles Okay, Jim?“

Der Jüngere nickte. „Ja – das Miststück hat mir nur einen Schlag verpasst“, murmelte er. Aber ein brennender Schmerz verriet ihm, dass die Schnittwunde auf seinem Bauch eingerissen war.

„Lass mal sehen“, flüsterte Ron. In seinen Augen zeigte sich Besorgnis.

Jim wich zischend aus. „Ich sagte, es ist nichts!“ Sein Herz schlug heftiger, als Ron ihn überrascht in die Augen sah. Diesem Blick hielt Jim nicht stand. Da war sie wieder, diese Mauer aus Eis. Das Gefühl, versagt zu haben. Der unerträgliche Gedanke daran, wie Ron auf sein blutiges Geheimnis reagieren würde – wie er reagieren MUSSTE! Diese brennende Scham in seinen Eingeweiden und die alles verschlingende Angst, Ron zu verlieren, zwang seinen Blick zu Boden. Jim befürchtete, Ron könnte es nicht verstehen. Er verstand es ja selbst nicht. Ron würde sich endgültig abwenden.
Jim drehte sich abrupt um und ging einige Schritte auf einen nackten Menschen zu, der im rostigen Dreck der Lagerhalle starb. Nichts war übrig geblieben von der bedrohlichen und gefährlichen Bestie in ihm. Er war nur ein röchelnder junger Mann. Seine aufgerissenen Augen starrten fassungslos und voller Angst zum Himmel.

Ron war ebenfalls herangetreten und kniete sich neben den Jungen, um seine Hand zu nehmen. Er schnaufte bedrückt. Wahrscheinlich hatte dieser Mensch nicht die geringste Ahnung vom Gift in seinem Blut gehabt. Als sich sein Kopf zur Seite neigte, sickerte Blut über seine Lippen.
Jims Blicke ruhten einen Moment auf dem Rücken des Bruders, der die Hand des Sterbenden hielt. Schließlich wanderten seine blaugrauen Augen über die blasse Haut des Jungen, die über deutlich sichtbaren Rippen spannte. Fast beneidete er den Kerl, wobei er nicht einmal genau wusste, worum: War es seine Ahnungslosigkeit über die dunkle Seite, die in ihm steckte oder war es die Tatsache, dass er jetzt erlöst davon war? Jim holte tief Luft: NEIN - Es war die tröstende Hand seines Bruders, um die er diesen Werwolf beneidete!

Jim schluckte. „Ron?“ Er musste reden. Ron verdiente die Wahrheit. Seine Stimme bebte. Er hatte den Eindruck, den Namen nur gedacht zu haben. „Ich … ich …muss!“ Noch nie lagen ihm die Worte so schwer auf der Zunge.

Mitfühlend sah Ron zu Jim hinauf. „Jimmy“, murmelte er. „Du hattest keine Wahl. Du musstest ihn töten.“ Rons Worte waren wärmend – trotz des Kummers, der in ihnen mitschwang. „Er war nicht mehr zu retten“, erklärte er und sah wieder auf den Jungen.

Jim verstummte. Eine Träne blitzte in seinem Augenwinkel, als er seinen Kopf in den Nacken riss: „Er war nicht mehr zu retten!“

Als Ron sich endlich erhob und Jim seine Hand auf der Schulter spürte, neigte er den Blick. Braune Haarfransen verdeckten sein Gesicht wie ein Vorhang aus Schweigen.

***

Die Jäger fuhren in dieser Nacht nicht mehr zurück ins Motel. Bald würde man hier eine Leiche finden, dessen Tod die Polizei einmal mehr vor ein Rätsel stellte. Zu diesem Zeitpunkt war es besser für die Brüder, so viele Meilen wie möglich zwischen sich und dem Toten gebracht zu haben. Und so raste der schwarze Wagen abseits der belebten Highways bereits seit Stunden auf verwaisten Landstraßen unter einem Nachthimmel, der sich wie eine dünne Haut über das Land spannte. Jede Meile, die sie vom letzten Tatort weiter entfernte, brachte sie dem nächsten Alptraum näher.
Obwohl beide wussten, dass sie nicht allein im Kampf gegen das Böse waren, hatten sie oft genug das Gefühl, allein zu sein - allein in einem Kampf, in dem sie selbst immer öfter verloren. Dieser Krieg war nicht zu gewinnen. Wenn nicht irgendein Geschöpf der Finsternis sie eines Tages töten sollte, würden sie mit Sicherheit als Grabschänder und Serienkiller in einer Todeszelle enden, denn ihre Geschichten waren zu unglaublich.
Also was trieb sie immer wieder auf die Straße? Was hetzte sie in eine Schlacht, in der es keine Gewinner gab?
War es Rache für den Tod ihrer Familie? Waren es die Menschenleben, die sie retteten? Oder die nicht endende Flucht vor der Polizei und dem FBI? Wurden sie von ihrem eigenen Gewissen gehetzt? War es das fehlende Zuhause? Oder war es einfach nur der letzte Anruf von Bill?
Der alte Jäger hatte einen Hinweis auf merkwürdige Ereignisse in einem kleinen Ort im Bundesstaat New York entdeckt. In den letzten Jahren kam es in der Umgebung von Bethel immer wieder zu einer Anhäufung von merkwürdigen Unfällen oder Selbstmorden. Bill glaubte nicht an derartige Zufälle und hatte die Brüder gebeten, diese Sache zu überprüfen.

Angespannt starrte Ron auf die Straße. Der gelben Fahrbahnmarkierung schenkte er schon lange keine Beachtung mehr. Er war froh, endlich wieder fahren zu können. Nicht, dass es etwas Besonderes für ihn gewesen wäre. Er fuhr den Wagen fast immer. Aber in letzter Zeit waren es neue Beweggründe für Ron, sich hinter das Steuer zu setzen. Stundenlanges Fahren hielt ihn wach und verschonte ihn vor den schrecklichen Träumen.
Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn, als sich seine zitternden Finger fester um das Lenkrad klammerten. Dieses Zittern suchte ihn nicht wegen Angst oder Kälte heim. Der Ältere hielt betroffen den Atem an: Dieser verdammte Whisky! Nicht enden wollende Kopfschmerzen, die dem betäubenden Rausch folgten, hatten ihm ziemlich zugesetzt und seine Reflexe verlangsamt.
Rons Kiefer knackten. So durfte es nicht weiter gehen. Die Folgen seines rücksichtslosen Handelns hätten Jim heute das Leben kosten können!
Aus dem Augenwinkel beobachtete er Jim. Er schlief auf dem Beifahrersitz und sein Anblick zauberte ein Lächeln auf Rons Lippen. Er erinnerte sich an das Gefühl, als er mit vor Stolz geblähter Brust seinen kleinen Bruder das erste Mal im Arm halten durfte. Jim war damals wenige Tage alt. In diesem Augenblick spürte Ron eine unerschütterliche Verbundenheit, die sich im Laufe ihrer einsamen Kindheit in unpersönlichen Motelzimmern, in ständig wechselnden Schulen und auf dem Rücksitz des Ford Mustang zum einzig Beständigen in ihrem Leben entwickelt hatte. Ron liebte seine Rolle als großer Bruder, als Beschützer. Es war das mächtigste und das einzige Gefühl, das er in all den Jahren seiner Kindheit, als er auf sich allein gestellt, für Jim da war, gelernt hatte. Er durfte ihn nicht enttäuschen.
Jim sah so friedlich aus, wenn er schlief. Die blassen Strahlen des Mondes, gefiltert durch das dichte Laubwerk über der Allee, zeichneten tanzende Lichter auf sein Gesicht. Es schien, als hätte Jim die schrecklichen Erlebnisse der letzten Monate einfach ausgesperrt. Sein Kopf war zur Seite gefallen und die glatte Stirn schimmerte unter vibrierenden Haarfransen. Nicht eine einzige Falte zeigte sich, während er leicht im Rhythmus des Wagens schaukelte.
Ron musste grinsen. Selbst wenn der Klugscheißer schlief, ließ er den Laptop nicht los. Auf seinem Schoß flimmerte das Gerät noch immer und Jims Finger hielten krampfhaft daran fest. Er war über der Recherche zum neuen Fall einfach eingenickt und schien völlig entspannt, obwohl seine überlangen Beine, die kaum Platz im Fußraum des Wagens fanden, ihn in eine recht merkwürdige Körperlage zwangen.

Ron sah zurück auf die Fahrbahn und seufzte leise. Jim sah wirklich friedlich aus - wenn er schlief!
Ein Schatten zog über das Gesicht des Älteren. Wenn Jim wach war, veränderte sich alles. Dann verschwand der sorglose, vertrauensselige kleine Bruder von damals. Zu viel Leid, zu viel grausames Wissen und der allgegenwärtige Tod hatte seinen Glauben verzehrt. Jim war erwachsen geworden. Nicht nur körperlich – und Ron war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel. Die Gesichtszüge des Jüngsten waren kantiger und härter als früher. Seine Augen lachten nicht mehr. Jim war kälter, verschwiegener, aber vor allem dunkler geworden. Zu oft hatte seine Seele schon vom Bösen gekostet. Obwohl Ron all die Jahre an seiner Seite verbracht hatte und jedes seiner Geheimnisse kannte, wurde er das Gefühl nicht los, etwas zu übersehen.
Mehr denn je schien es in Jim zu brodeln, insbesondere seit den verhängnisvollen Ereignissen während der Raunächte des letzten Jahres, an die er sich nicht einmal erinnern konnte. Jim hatte sich verschlossen. Jede Faser im Körper des Älteren stand in Alarmbereitschaft. Ron hatte das Gefühl die Kontrolle zu verlieren – Jim zu verlieren!

*** *** ***

Den größten Teil des Vormittages hatte Inspektor Stan Warren damit verbracht, in den Akten nach ähnlichen Fällen zu suchen. Dieses Vorhaben erwies sich als nicht besonders schwer, denn im Laufe seiner Dienstzeit hatte sich ein beachtlicher Stapel in den Schränken seines kleinen Büros angesammelt. Beim Durchblättern der maschinenbeschriebenen Seiten schüttelte Warren verständnislos den Kopf.
Besonders in heißen Jahren wie diesem schienen sich die Anwohner der kleinen Stadt im Sullivan County, umgeben von riesigen Weideflächen und Maisfeldern, reihenweise umzubringen. Selbst Touristen in verschiedenen Camps, alle am Silver Lake gelegen, wurden von der periodisch auftretenden Massenhysterie betroffen. Und die Umsetzung ihrer blutigen Fantasien war bizarr. Ohne jeden Grund fand man immer wieder zerfetzte oder verstümmelte Körper – verunglückt oder freiwillig in den Tod gegangen. Viele von ihnen konnten nicht einmal identifiziert werden. Was trieb die sonst so friedlichen Menschen von Bethel in den Tod?
Stan Warren hatte in den letzten Jahren mehr Selbstmord- und Unfallakten geschlossen, als Fahrraddiebstähle aufgeklärt.

Seufzend griff er nach seiner Tasse mit kaltem Pfefferminztee und nahm einen kräftigen Schluck. Auch wenn er von seinen jüngeren Kollegen für diese Vorliebe belächelt wurde, ließ er sich nicht davon überzeugen Kaffeetrinker zu werden. Er schwor auf das Gebräu. Nichts war erfrischender an heißen Sommertagen, als eisgekühlter Pfefferminztee.
Nachdem er die schwere Tasse wieder zwischen die Aktenstapel auf seinem Tisch gestellt hatte, lehnte er sich zurück und zog den Kopf in den Nacken. Gedankenversunken beobachtete er eine Weile den riesigen Deckenventilator, dessen schwere Messingblätter träge kreisten, es aber nur vermochten, einige Fliegen zu verscheuchen. Vermutlich war das antike Stück nur Dekoration.
Warrens Finger fuhren über seinen Hemdkragen und nestelten an der grauen Krawatte. Die Hitze wurde langsam unerträglich. Obwohl die Klimaanlage, ebenso alt wie der Ventilator, unablässig brummte, schaffte sie es nicht, die Temperatur im Zimmer auf erträgliche Werte zu senken. Warren musste innerlich lächeln. Wahrscheinlich war auch er ein antikes Stück.

Sein Blick streifte über ein Wandregal, vollgestopft mit diversen Urkunden und Auszeichnungen, zum Fenster.
Auf dem staubigen Parkplatz vor dem Gebäude standen nur wenige ebenso staubige Autos. Kein Blatt bewegte sich an den Kastanienbäumen am Straßenrand. Es war totenstill. Nicht einmal fröhliche Kinderstimmen vom nahegelegen Spielplatz erfüllten die Luft. Obwohl Warren es manchmal als nervig empfand, diese Stimmen hören zu müssen, denn sie quälten ihn mit Erinnerungen, auf die er lieber verzichten würde, hätte er sich heute gern einige gewünscht.
Ruckartig erhob er sich und ging auf das Fenster zu. Seine Hand schob eine dahinsiechende Zimmerpflanze zur Seite und stützte sich auf die Fensterbank. Die halb geöffneten Jalousien zeichneten schattige Streifen auf das müde Gesicht des Inspektors.
Hitze flimmerte über den Dächern. Warren seufzte, denn er wusste, dass es wieder anfing. Immer in heißen, trockenen Sommern wie diesem starben die Menschen in Bethel.

Für eine Sekunde hielt der Inspektor unter einer allgegenwärtigen Erinnerung den Atem an. Sein flüchtiger Blick streifte eine Pinnwand gegenüber des Schreibtisches. Zwischen unzähligen schrecklichen Fotos, die an ihr hafteten, suchten seine Augen nach einem bestimmten Bild. Er fand es schnell, denn er hatte es nie abgenommen. Es hing mahnend immer noch an derselben Stelle. Seine dunklen Augen fixierten die vergilbte Fotografie.
Niemals würde er die braunen Augen dieses 17 jährigen Mädchens vergessen. Er war damals noch ein junger Polizist. Kaum älter als sie. Es war nie sein Fall gewesen – aber es war der erste Fall, zu dem er beigezogen wurde. In all den Jahren, die folgen sollten, hatte er nie wieder etwas Schrecklicheres gesehen. Dieser Fall wurde zu seiner persönlichen Besessenheit – und nahm ihm alles.
Dennoch - aufklären konnte er ihn nie. Eine Mauer aus Schweigen, die unnachgiebigen Mühlen der Bürokratie und die Wirren der damaligen Zeit, in der die Menschen nach neuen Wegen suchten, waren unüberwindbar. Stan Warren hatte schon lange einen Verdacht, aber seine Gehaltsstufe war zu gering, als dass er diesem Gegner gegenübertreten konnte.
Die Geschichte eines Mädchens und ihrer Freundinnen blieb ungehört, denn sie nahmen dieses Geheimnis mit in den Tod oder in eine noch schlimmere Existenz. Damals hatte es begonnen und nur wegen Mia blieb Warren – jede freie Minute an diesem Fall arbeitend, denn der alternde Inspektor wusste, dass ihm die Zeit davon lief.
Und da draußen war immer noch der Killer.

Dumpfes Grollen riss ihn aus seinen Gedanken, als ein nachtschwarzer 1967 Ford Mustang gemächlich vor dem Gebäude einparkte. Auf seinen verchromten Felgen spiegelte sich die Sonne. Erstaunt hob Warren die Brauen, der Oldtimer war älter als jener Fall und die Jahrzehnte hatten dem Fahrzeug, im Gegensatz zu ihm, nichts anhaben können.

Seine Augen formten sich zu Schlitzen, als er zwei Männer in dunklen Anzügen dabei beobachtete, wie sie das Auto verließen und auf das Gebäude zu schlenderten.
„Ist es wieder mal so weit“, zischte er. Entschlossen, sich diesmal nicht den Mund verbieten zu lassen, drehte er sich um und ging zur Tür, überzeugt, dass der Besuch ihm galt.
Immer in heißen Sommern kamen sie, versprachen Hilfe und baten um Diskretion. Sie nannten es Zusammenarbeit mit dem CIA. Es waren immer andere scheinheilige Gesichter, aber ihre Ziele waren die Gleichen: Ein Tuch des Schweigens über den Ort zu werfen, wenn die Menschen starben. Stan Warren war sich sicher – dieser Sommer würde sehr heiß werden!

*** *** ***

Knurrend quetschte sich Rob Garvey durch das leicht geöffnete Tor in den Innenhof und fluchte: „Verdammt, Pope! Wo steckst du?“ Er stellte den Eimer in seiner Hand auf den Boden, um das Tor zu schließen. Es bedurfte einiger Kraft, denn die schweren Scharniere waren verrostet. Als er seinen gesamten Körper gegen die Stahltür stemmte, färbte sich sein Gesicht puterrot.
Schnaufend sah Garvey über den Hof, während er erneut nach dem Eimer griff.
Eine Wellblechwand, die das Gelände von der Außenwelt abschirmen sollte, war für Einbrecher kein ernsthaftes Hindernis. Aber drei mächtige und ständig wütende Rottweiler, die zu dieser Tageszeit üblicherweise in Ketten lagen, machten den unerlaubten Aufenthalt in der Nacht zur Todesfalle. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sah Garvey auf die sich wild gebärdenden Hunde. Sie waren sein ganzer Stolz. Erst, als er seine Stimme erhob, begrüßten die staubigen Muskelpakete freudig ihren Herren und wurden dafür mit einigen gammelnden Schlachtabfällen aus dem Eimer belohnt. Ein brutaler Kampf um die besten Fetzen Fleisch entbrannte sogleich. Knurren, Drohen und Geifern mischte sich unter das Klirren rostiger Ketten, dem Aufeinanderprallen muskulöser Körper und den Geräuschen zuschnappender Gebisse. Der Lärm dieser hungrigen Kampfmaschinen schallte als wirksame Mahnung kilometerweit und richtete sich an alle, die es versuchen sollten, in das Gelände einzudringen.

„Pope! Du Idiot - Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, schließ das Tor ab!“, schrie Garvey lauthals, als er über den mit Schlacke und Schotter bedeckten Hof stapfte. Seine Stimme wurde von verrottenden Karossen verschluckt. Private und gewerbliche Fahrzeuge, zerbeulte Autos, Transporter, Tankwagen und sogar ein Bus mit eingedrückter Fahrerkabine säumten seinen Weg. Die meisten von ihnen waren nicht mehr zu retten. Sie bildeten ein riesiges Sammelsurium - hintereinander gereiht und übereinander gestapelt – jedes einzelne ein Unfallopfer.
Hastig schritt Garvey auf den kleinen Bürocontainer am Ende seines Schrottplatzes zu. Die Sonne knallte ihm auf den kahlen Schädel. Bäche von Schweiß glitten seinen Stiernacken hinab und versickerten in einem ölbefleckten Trägerhemd, dessen Farbe nicht mehr zu erkennen war.
Wenige Sekunden später schlug die Tür des Containers hinter seinem Rücken ins Schloss.

„Pope – du räudiger Hund. Wenn du wieder gesoffen hast, bist du gefeuert!“, drohte Garvey in den spärlich eingerichteten Raum und sah sich um. Aber die abgewetzte Couch war leer - das Büro verwaist. Mit einem heftigen Ruck fegte seine Hand eine leere Whiskyflasche vom Tisch. Klirrend landete sie auf dem Boden und kullerte unter das Sofa.
Dieser Kerl lag bestimmt wieder irgendwo zwischen den Autowracks im Schatten und schlief sich den Rausch aus.
Mit anwachsender Wut im Bauch riss Garvey die Tür erneut auf, um nach draußen zu stürmen. Seine Blicke hasteten über das Gelände, als er die Metalltreppe hinab stolperte. Dabei trat er den Eimer um. Ein Schwarm Schmeißfliegen, die sich mittlerweile an den blutigen Resten labten, stob in die Luft. Fluchend fuchtelte Garvey mit seinen Armen, um die summenden Quälgeister zu verscheuchen und kickte den Eimer zur Seite. Dann bewegte er sich zielstrebig durch das nur ihm bekannte Labyrinth. Am anderen Ende des Autofriedhofs vernahm er ein Motorengeräusch. Und je lauter es wurde, umso intensiver mischte sich der Geruch von heißem Eisen und schmorenden Kabeln darunter. - Aber da war noch etwas anderes.
Garvey blieb irritiert stehen und roch. Fliegen schwirrten in der flimmernden Hitze um seinen Kopf. Irgendetwas Süßliches drang in seine Nase und ließ ihn würgen. Garvey zog die Stirn in Falten. Es war der Gestank von Fäulnis und Verfall - das widerliche Aroma das ihm immer aus dem Eimer entgegen stieß, wenn er seine Hunde fütterte.
„Verdammte Köter!“, murmelte er und eilte um den Rumpf einer Stahlpresse mit der Absicht, den qualmenden Motor der monströsen Maschine abzuschalten. „Dieser Idiot setzt mir noch den Laden in Brand“, entfuhr es Garvey, als er den Zündschlüssel zog.
Noch immer hielt er Ausschau nach dem Schrottplatzwärter. Jetzt, als der überhitzte Motor schwieg, erfüllte ein anderes Geräusch den späten Nachmittag. Unbehagen stieg in Garvey auf und ließ die Übelkeit in seinem Magen überschäumen. Seine Eingeweide verlangten plötzlich nach Erleichterung.
„Pope?“
Es antwortete niemand. Nur dieses Summen wurde mit jedem Schritt lauter.
Am hinteren Ende einer Seitengasse bewegte sich etwas. Der Pfad durch ein Wirrwarr von verknoteten Eisenstangen und Kotflügeln war schattig, denn meterhohe Wände aus Schrottwürfeln verweigerte jedem Lichtstrahl den Zutritt.
Rob Garvey vertrieb die lästigen Fliegen vor seinem Gesicht. Von weitem beobachtete er ein seltsames Gebilde. Seine Oberfläche vibrierte in fließender Bewegung und erzeugte bizarre Reflektionen in Schwarz, Stahlblau und Dunkelrot. Es war ein beständiges Wuseln und Winden. Garvey sah verwirrt auf die zuckende Haut des Würfels, der auch diesen unerträglichen Gestank verströmte. Noch zwei Schritte und er war am Ziel. Als sich seine Augen, mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, erneut auf die wabernde Oberfläche konzentrierten, lag ein Hauch des Begreifens in ihnen, der schlimmer war als jeder Wahnsinn.
Fliegen in unermesslicher Zahl drängten sich über- und nebeneinander. Sie leckten, summten und paarten sich unbeeindruckt von der Verwesung, die sie umgab. Sie legten ihre Eier zwischen den wimmelnden Nachwuchs unter ihren Füßen um sich in aller Eile erneut zu paaren. Ihre Flügel glitzerten perlmuttartig und ihre vollgesogenen Leiber drückten sich gegenseitig in die schmierige Masse, von der sie zehrten.
Angewidert riss Garvey die Arme in die Höhe. Der Schwarm stieß auseinander – erfüllte summend die Luft und gab den Blick auf ein bizarres Kunstwerk frei.
Felgen, Auspuff und Karosse waren von der Presse zu einem perfekten Quader auf kleinstem Raum zusammen gedrückt worden. Sorgfältig ineinander verwoben, füllten zerrissene Eisenteile und Schrauben nahezu jede Lücke im Inneren des Würfels. Und mit diesem abstrusen Gewirr rostender Überbleibsel der menschlichen Gesellschaft hatten sich Haut, Knochen und glänzende Darmschlingen zu einer makabren Symbiose verflochten. Ein Stück einer derben Schuhsohle und ein blauer, ölgetränkter Stofffetzen ließen kaum einen Zweifel daran, dass er seinen vermissten Schrottplatzwächter gefunden hatte.

*** *** ***

„Das war wirklich widerlich!“, stieß Ron in das Motelzimmer, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Schnaufend warf er die Tasche zu Boden und fuhr fort: „Überhaupt … dieser Inspektor Warren. Wie war der denn drauf? Hast du bemerkt, wie der dich angestarrt hat?“

Jim warf seine Reisetasche auf eins der Betten und hob die Schultern.

„An deiner Stelle würde ich Angst bekommen!“, schnaubte Ron. „Ehrlich, Jim, ich glaube nicht, dass das ein Fall für uns ist.“ Nachdem er sich umgesehen hatte, stellte er fest: „Ich glaube, die Menschen hier sind einfach nur verrückt!“

Jim starrte gebannt auf die Retro-Tapete und nickte. Riesenhafte Blumenornamente in grellen Farben prangten ihm entgegen. „Hast du die vielen Fotos an der Pinnwand in Warrens Büro gesehen?“, fragte er.

„Ich sagte doch, die Menschen hier sind verrückt“, kommentierte Ron Jims Frage.

Jim setzte sich auf das Bett. Für einen Moment legte er das Gesicht in seine Hände und schnaufte leise. „Ron, das geht hier seit vierzig Jahren so. Ich vermute, Warren hatte während dieser Jahre des Öfteren Besuch vom FBI oder der CIA.“

„Und…?“ Ron fixierte seinen Bruder fragend.

„Er schien mir sehr verbittert!“, erklärte Jim.

„Das habe ich bemerkt“, stellte Ron fest, „aber warum?“

„Ich weiß nicht – aber wir sollten es herausfinden. Ich habe das Gefühl, dass er die Leute vom CIA nicht besonders mag.“ Jim sah seinen Bruder an.

Ron hatte mittlerweile auf dem gegenüberstehenden Bett Platz genommen. Er brummte: „Das ist aber kein Grund, so unfreundlich zu sein!“

„Ron - !“, flötete Jim. „Wir wissen nicht, was der Inspektor erlebt hat. Wir sind keine Hellseher und können Menschen nur vor den Kopf – aber nicht hinein sehen!“, murmelte er. „Immerhin wurde er ja dann doch etwas zugänglicher und hat uns gleich zum nächsten Tatort mitgenommen.“

„Womit wir wieder beim Thema sind, Jimmy!“, fiel ihm Ron spontan ins Wort. „Die Menschen hier sind irre.“ Er sah schnaufend an die Zimmerdecke. „Ich meine, wer springt denn freiwillig in eine Stahlpresse?“ Fassungslos schüttelte Ron den Kopf und musste ein Würgen unterdrücken. „Hier wohnen nur verrückte Hippies. Die haben sich alle den Verstand weggekifft!“

Jim sah ihn gequält an. „Man kann auf unterschiedliche Weise seinen Verstand verlieren“, flüsterte er, „wie kommst du eigentlich auf Hippies?“

„Mann, Kleiner!“ bellte Ron. „Manchmal solltest du wirklich Kant und Freud zur Seite legen und dich den wichtigen Dingen im Leben zuwenden!“ Die Augen des Älteren funkelten vor Begeisterung, als er seinen Bruder ansah. Dieser öffnete erstaunt den Mund, kam aber nicht dazu etwas zu sagen.

„Jimmy, Jimmy …!“, lächelte Ron. „Unweit von hier fand im Sommer 1969 auf den Feldern von Woodstock das berühmteste Musikfestival der Erde statt.“ Erschüttert über Jims Ahnungslosigkeit rollte Ron mit den Augen: „Das weiß man doch!“ Er sprang auf und breitete seine Arme aus. „Mensch, Kleiner, sieh dich mal um!“ Rons Blicke streiften durch das Zimmer. „Es sieht so aus, als wäre hier die Zeit stehen geblieben.“
Tatsächlich erinnerte das Zimmer an die frühen Siebziger. Der kleine geschwungene Sperrholztisch an dem zwei Schalen-Stühle standen, die Blumen-Tapete und ein Perlenvorhang, der die Sicht auf die Kochnische verdecken sollte. Die gesamte Einrichtung schien aus dieser Zeit zu stammen. Eigentlich fehlten nur noch Räucherstäbchen und eine fette Wasserpfeife in einer Ecke des Zimmers, um die Illusion perfekt zu machen.

„Dann können wir ja noch ein Weilchen bleiben“, flötete Jim zynisch, „es sollte dir hier doch gefallen.“ Als ihn der vorwurfsvolle Blick des Bruders traf, verstummte er rasch.
Es war Jim recht, einige Tage zu bleiben, denn er fühlte sich ausgelaugt. Seine Schnittwunde brannte und diese Stimmen in seinem Kopf machten ihm eine Höllenangst. Als sich Ron zur Tür drehte, um das Zimmer zu verlassen, sprang Jim vom Bett. „Wo willst du denn noch hin?“, fragte er und sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht.

„Ich geh noch was trinken“, antwortete der Ältere, ohne sich umzudrehen.

„Ron!“, Jims Stimme klang besorgt. Über seine Augen legte sich ein Schatten. „Du bist die ganze letzte Nacht gefahren und mittlerweile fast 24 Stunden wach. Du solltest etwas schlafen, Alter.“

Rons Hand lag bereits auf der Türklinke, als er sich umdrehte: „Schlafen kann ich wenn ich tot bin.“

„Ron …!“ Jim breitete seine Arme aus und sah den Älteren flehend an.

„Jim – Lass es!“, knurrte Ron. „Ich bleibe nicht lange, okay?“ In seiner Stimme schwang ein Hauch von Bedauern. „Leider habe ich nicht so einen tiefen und ruhigen Schlaf wie du“, gab er leise zu. Ohne eine Antwort abzuwarten verschwand Ron aus der Tür.

„Ich weiß …“, flüsterte Jim. Eine Weile stand er regungslos im Halbdunkeln. Dann trat er ins Bad. Er musste dringend den Verband wechseln.

*
Die Luft war warm und roch muffig – irgendwie nach Schimmel. Vor dem gekippten Fenster zirpte eine einsame Heuschrecke in der lauen Nacht. Und irgendwo in einer dunklen Gasse waren Katzen in ihr Liebesspiel vertieft. Ihr kreischender Gesang veranlasste einen Bewohner des Motels dazu, das Fenster aufzureißen und über den Parkplatz zu brüllen: „Schert euch zum Teufel, ihr Mistviecher!“ Es schepperte eine Flasche, eine Mülltonne kippte um und rollte dröhnend über Straßenpflaster.
Eine Sekunde herrschte Stille. Aber der Instinkt der Vierbeiner war stärker und so begann das nächtliche Konzert im Schein einiger Laternen von vorn.
„Sie sollten sie lassen, dann ist es schneller vorüber“, dachte Jim. Er stand im Licht einer kahlen Glühlampe vor dem Waschbecken und begutachtete die Wunde. Sie hatte sich bei seinem halsbrecherischen Einsatz gegen den Werwolf geöffnet. Allerdings begannen die Ränder sich wieder zu schließen. Sie waren noch gerötet – aber nicht bedrohlich, stellte der Jäger fest. Denn mit Verletzungen kannte er sich aus.
Jim seufzte leise. Die nächsten Tage würden sowieso aus Recherchearbeit bestehen und keine erhöhte körperliche Anstrengung erfordern. Diese Zeit sollte reichen, um sich zu erholen – sofern die Stimmen Erholung zuließen. Jim hörte sich einen Fluch ausstoßen, als er den frischen Verband anlegte.
Ein leichter Windhauch, der Straßenstaub und die leidenschaftlich schmerzlichen Töne kopulierender Katzen mit sich trug, streifte seine Haut.
Das Licht flackerte.
Alarmiert sah Jim zum Spiegel auf und stellte fest, dass dieser nicht mehr so tat, als würde er sein Ebenbild und den weiß gefliesten Hintergrund reflektieren. Entsetzt wich der Jäger zurück, die geweiteten Augen auf das gerichtet, was dieser Spiegel ihm zeigte: Die Fliesen an der Wand begannen zu schwimmen und verwandelten sich allmählich in raue Felsen. Die Glühbirne pendelte heftig und ihr Licht tauchte das Zimmer in purpurnen Nebel, bis sich seine Grenzen auflösten. Wind wirbelte Asche auf und als Jim einatmete, füllte sich seine Lunge mit dem Geruch rostiger Ketten. Eine fremde Welt quoll ihm aus dem Spiegel entgegen.
Jim fuhr zusammen und unterdrückte einen Schrei. Plötzlich erschienen auf seinem Körper blutrote Striemen. Und jede feine Linie, die von unsichtbarer Hand in seine Haut gezeichnet wurde, war begleitet vom klagenden Geschrei der Katzen.
Stöhnend presste Jim die Hände auf seine Ohren. Als er an sich herab sah, färbte Blut aus unzähligen Wunden seinen Körper rot. Unter dem Geschrei versagten seine Beine. Jim stürzte zu Boden. „Aufhören – aufhören!“, schrie er und zerrte sich an den Haaren, als wollte er sie büschelweise ausreißen. Verzweifelt schlug er mit dem Kopf gegen die Wand. „Aufhören!“ Auf den Fliesen bildete sich eine blutige Rutschbahn. Es schmatzte, als er erneut den Hinterkopf gegen die Wand schlug. Irgendwann zeigten die Hiebe gegen seinen Schädel Wirkung und vernebelten ihm die Sinne.
Die kahle Glühlampe schien auf ihn herab. Vor dem gekippten Fenster zirpte eine einsame Heuschrecke in der lauen Nacht und einige Katzen aus der Nachbarschaft hatten ihr Liebesspiel beendet. Sie schlichen, jedes Interesse füreinander verloren, wie graue Schatten davon. Im Zimmer roch es muffig – irgendwie nach Schimmel … und Tränen.
Schluchzend kauerte Jim auf den kalten Steinfliesen. „Aufhören – bitte aufhören! Ihr sollt mich in Ruhe lassen!“


*** Das Leben des Todes ***

Weinend verbarg Jim das Gesicht in den Händen. Er versuchte, nicht zu denken, aber seine Fantasie bevölkerte jeden Schatten und gab jedem Lufthauch einen bedrohlichen Schall. Obwohl er wusste, dass ihm seine Sinne einen Streich spielten, ihm Lügen vorgaukelten, war er ein Gefangener dieser Illusion. Stumm ertrug er ihre Gegenwart, bis das leise Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte, ihr Jammern verstummen ließ.
Rons schwere Schritte polterten ins Zimmer. Die Eingangstür fiel ins Schloss und das Licht wurde angeknipst.
Schlagartig war Jim hellwach. Er riss den Kopf in die Höhe und lauschte. Sein flüchtiger Blick auf die Uhr verriet ihm, dass inzwischen zwei Stunden verstrichen waren. Zwei Stunden zwischen Sein und Schein.

„Jimmy?“ In der rauchigen Stimme seines Bruders schwang Verwunderung und ein Hauch von Sorge. Leises Knacken von Holzdielen unter schweren Schuhen verriet Bewegung im Raum. Eine Tasche wurde auf den Boden geworfen. Ein Schlüsselbund landete klirrend auf dem Tisch.
Jim schnellte in die Höhe, eilig nach seinem Shirt greifend.

„Jimmy? – Wo bist du?“

Hastig zwängte sich Jim in das enge Shirt und warf einen Blick in den Spiegel. Es gefiel ihm nicht, was er sah. Er hatte geweint. Viel zu lange! Seine geröteten Augen verrieten es.

„JIM!“ Ein ängstlicher Ruf. Noch mehr Poltern - hektisches, wackliges und mühevolles Treiben. „Jim?“

Jim drehte den Wasserhahn auf und hielt seine Hände unter den Strahl. Sofort näherten sich schnelle Schritte. Die Klinke wurde nach unten gedrückt.

Kaltes Wasser klatschte in Jims Gesicht. Es sollte die Tränen abwaschen – wieder einen Teil von ihm verbergen - wie das Shirt die Narben. Hastig fuhren Jims Hände durch sein Haar, um es zu ordnen. Blut klebte in seinem Nacken. Prüfend betrachtete er sich und nestelte am Saum des Shirts. Seinen Schreck atmete er laut gegen den Spiegel.
Als die Tür aufgerissen wurde, versteckte der weiße Stoff seine Narben, noch bevor sich Ron in das Bad geschoben hatte.
Der Ältere erfasste die beunruhigende Situation in Sekundenbruchteilen. Jims Brust bebte ungewöhnlich heftig. Sein Gesicht war blass, die Augen gerötet. Hatte Jim geweint?
Rons Blick wurde starr, als er die Flecken an der Wand sah. Eine Warnung – in schmalen Rinnsalen über die weißen Fliesen zu Boden gleitend. Rot war noch nie eine schöne Farbe gewesen – erst recht nicht, wenn sie metallisch roch.
„Was ist passiert?“

Besorgte Augen taxierten Jim. So hatte er sie lange nicht mehr gesehen. Er hatte fast vergessen, wie es war, geliebt zu werden. Ron bedrängte ihn: „Was ist passiert, Jimmy?“ Mit wackligen Schritten ging er auf ihn zu, berührte liebevoll seine Wange und suchte in den wirren Fransen nach der Ursache des Blutes.
Jims Atem stand still. Er schloss die Augen. Sein Herz pochte. Er konnte es wahrhaftig spüren, denn in diesem Moment fühlte er sich zuhause!

„Jim? Was ist passiert?“

Dieser Geruch! Jim verabscheute ihn. Whisky klebte an jedem Wort, das Ron mühevoll flüsterte. Leise stieß Jims Atem durch die Nase. Dieser dumme Gedanke. Es war doch nur eine Illusion. Er öffnete die Augen und sah wieder klar - ein Bild, das ihn zerriss – die kalte Wahrheit.
Rons Augen waren trüb vom Alkohol. Der ausdruckslose Blick des Älteren trieb Jims Schmerz zurück in einen Teil von ihm, der gelernt hatte, Kummer begierig zu fressen. Schnaufend riss er den Kopf in den Nacken, holte tief Luft und befreite sich aus der ersehnten Umarmung. „Ich bin ausgerutscht“, antwortete er kühl.

Ron sah ihn erstaunt an. Dann musterte er das Bad. Die Dusche – sie war genauso wenig nass wie der Boden. „Du solltest vorsichtiger sein, Jim!“ Ron war zu müde, um nach Antworten zu suchen, obwohl er zweifelte. Er fühlte sich, als hätte er Monate nicht geschlafen und sah auch so aus – so ausgelaugt und apathisch, dass man ihn beinahe für tot hätte halten können. „Kommst du klar?“, fragte er mit schwerer Zunge.

Jim nickte nur. Er griff eilig nach einem kleinen Handtuch und presste es gegen seinen Hinterkopf. „Ich bin okay, Ron“, seine Worte waren leise, „es ist nicht schlimm. Mach dir keine Sorgen.“

Als sich Jim im schmalen Bad an Ron vorbeiquetschte, folgten ihm seine Augen. Der Kleine war groß geworden – hatte breite Schultern! Ron hob den Arm und wollte ihn aufhalten, an einer Schulter zurückziehen. Aber Jim war schon aus der Tür. „Ist wirklich alles okay …Jimmy?“, flüsterte er.

*** *** ***

Diese Nacht schlenderte Warren noch langsamer als üblich durch die verwaisten Gassen. Der obligatorische Spaziergang verschaffte dem Inspektor den notwendigen Abstand von seiner Arbeit, bevor er sein trautes Heim betrat. Durch eine bittere Lektion musste er lernen, dass es weder den Ermittlungen noch dem häuslichen Frieden dienlich war, berufliche Probleme mit nach Hause zu nehmen. Und so hatte Warren beschlossen, jeden Abend bei einem kleinen Fußmarsch seine Gedanken zu befreien. Er hielt an dem Ritual fest – auch wenn die Erkenntnis zu spät gekommen war, um zu verhindern, dass seine Frau ihn verlassen und seine Kinder sich ihm entfremdet hatten.
Kurz blieb er stehen und lauschte. Es schien, als würde die Luft über dem Asphalt knistern. Aber es war nicht die Luft. Warrens Blick wanderte nach oben, unter den Schirm einer Straßenlaterne. Geblendet hielt er sich eine Hand über die Augen.
Eine einsame Motte war im trügerischen Schein gefangen. Verwirrt flog sie wieder und wieder in das Licht. Obwohl jede Berührung sie unendlich quälte und ihre Flügel verbrannten, war sie unfähig, die Wahrheit zu erkennen. Die Motte hatte eine faire Chance und taumelte trotzdem berauscht vom Blendwerk freiwillig in den Tod.
Gebannt verfolgte Warren den aussichtslosen Kampf.
Wie viel Leid konnte eine Seele ertragen, bevor sie zerbrach?
Wie viel Schmerzen war ein Mensch bereit, auf sich zu nehmen, bevor er aufgab zu kämpfen?
Wie oft musste Vertrauen betrogen werden, bevor der Freund zum Feind wurde?
Ein leises Zischen ertönte als der Leib der Motte im Feuer brannte. Ihr Körper verschwand - ein letztes Mal aufleuchtend in einer winzigen Flamme. Traurig verfolgten Warrens Blicke ihre Flügel, die langsam zu Boden taumelten. Sie waren zerrissen und vernarbt von unzähligen Versuchen, sich dem Schicksal entgegen zu stemmen.
Warren schloss die Augen. Unweigerlich holten ihn grausige Bilder ein.
Er sah wieder ihre Leiber. Zerfetzt! Blut klebte auf jedem Zentimeter der Tapete und ihre Brustkörbe waren aufgebrochen, als hätte man versucht, ihnen die Seele zu entreißen. Warren erinnerte sich an ein Zimmer, angefüllt mit würdelos zurückgelassenen Körpern – fleischgewordene Marionetten, verrottend wie Müll.
Die Szene – obwohl vollkommen still, quoll über vor Panik. Münder – weit aufgerissen in einem letzten Schrei verformten ihre Gesichter.
Damals stand er inmitten eines Mahnmales an die Vergänglichkeit des Lebens. Ihm wurde bewusst, dass er bloß Zeuge von Resultaten war, die er nicht mehr ändern konnte. Sein gesamtes Leben bestand aus blutigen Schnappschüssen, die eine Grausamkeit dokumentierten, zu der nur Menschen fähig waren. Damals musste er erkennen, dass der Tod nichts Mystisches hatte und auch keine Erlösung versprach. Er war nichts anderes, als Fraß für die Brut der Fliegen. Scheinbar hatte auch sie das gewusst, denn ihre protestierenden Augen verfolgten ihn von nun an Nacht für Nacht.
Niemand vermochte sich vorzustellen, was damals geschah. Die Indizien waren verrückt: Sie hatten sich selbst bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Undenkbar nachzuvollziehen, dass es einem Menschen überhaupt möglich war, den eigenen Körper so weit zu zerstören, ohne dabei das Bewusstsein zu verlieren. Drei Tage nach dem Festival fand man die kleine Gruppe.
Noch immer schwelte bei dieser Erinnerung der Gestank von Verwesung in Warrens Nase. Es hatte weitere zwei Stunden gedauert, ehe einem aufmerksamen Mitarbeiter der Spurensicherung das leise Wimmern im hektischen Betrieb der Ermittlungen auffiel. Warren war es, der beherzt die Schranktür aufriss und sie fand.
Es bedurfte einiger Anstrengung, unter all dem Blut und Dreck ein zitterndes Mädchen zu erkennen. Aber es lebte und sah ihn stumm vor Entsetzen an!

Wann immer der Inspektor Zeit fand, besuchte er Mia in der geschlossenen Anstalt. Dort verbarg sie sich vor der Öffentlichkeit, zusammen mit einem Geheimnis, das ihre Seele zerbrochen hatte. Sie hatte niemals über die Ereignisse gesprochen. Warren studierte alle Zeichnungen und Skulpturen, die ihre geschickten Hände über die Jahrzehnte erschufen, in der Hoffnung, mehr als nur diesen einen Hinweis zu finden. Denn er hatte nie an eine eskalierte Seance verrückter Hippies unter Drogen geglaubt. Und heute wurden seine Zweifel bestätigt - heute hatte er in ein Gesicht gesehen, das er ebenfalls nicht vergessen konnte. Jedes von Mia`s Werken bildete es ab. Es sah von unzähligen Bildern und Skizzen, die Mia`s Zimmer schmückten auf den Betrachter herab. Jede ihrer Skulpturen – ob geschnitzt oder aus Ton geformt, hatte seine Statur.

Es gab damals nur ein männliches Opfer. Die Polizei fand im Flur einen hochgewachsenen Mann an der Wand sitzend, als hätte ihn der Tod so schnell ereilt, dass nicht einmal Zeit blieb zu fallen. Der Telefonhörer baumelte noch neben seinem Ohr. Am anderen Ende meldete sich niemand und der Anruf konnte nicht zurückverfolgt werden.
Durch einen Irrtum der Behörden verschwand seine Leiche. Dieser Aiden war, wie sich später herausstellte, ein Mitarbeiter des CIA. Aber allen Ermittlungen zum Trotz, fand man nicht heraus, weshalb sich dieser Mann zu jener Zeit auf der Shire Farm aufhielt und wo seine sterblichen Überreste hingekommen waren. Seine Identität und sein Tod blieb bis auf diese wenigen Erkenntnisse ein unlösbares Rätsel.
Warren erschauerte erneut: Genau dieses schöne, fast feminine Gesicht und der hochgewachsene, muskulöse Körper eines vor über 40 Jahren Ermordeten, schmückte nicht nur Mia`s Zimmer, sondern gehörte einem lebenden Menschen.
Stan Warren zog den Kopf ein und eilte über das staubige Pflaster nach Hause. Er ahnte es: In schwülen Nächten wie diesen, hatten Schatten Augen und ihre Münder wisperten in der flimmernden Hitze über den Straßen. Sie schlichen sich in die Träume der Menschen und bevölkerten sie mit dem Leben des Todes.


*** Berührungen ***

Hitze, Schmerz und Hoffnungslosigkeit zogen es an. Meilenweit konnte es Tränen erkennen, die niemand sah. Es ließ sich vom Wind über die Dächer treiben und folgte Nacht für Nacht ihren verzweifelten Rufen.
Jetzt stand es unbemerkt an der Wand. Im kleinen Zimmer roch die Verzweiflung, die tief unter ihrer Haut brannte, umso intensiver. Sie sickerte aus jeder ihrer Poren und der Duft dieses süßen Giftes war berauschend.

Aufmerksam beobachtete es die Männer.
Einer schlief im Schein des Fernsehers auf dem Sessel, den Kopf auf der Lehne abgestützt. Hinter verschlossenen Lidern zuckten seine Augen im Alptraum. Der schwere Atem, den er in die Luft stieß, roch nach Whisky. Trotz des rauschenden Fernsehers hörte es seine Schreie. Sie waren voller Angst.
Neugierig schlich es heran und beugte sich über sein Gesicht, um von seinem Traum zu kosten. Es näherte sich dem leicht geöffneten Mund und berührte warme, weiche Lippen. Der Geruch von Alkohol störte nicht, als es seinen Atem einsog. Es hatte sich daran gewöhnt. Viele, die es herbei riefen, rochen so.
Es schmeckte Blut, sah einen pendelnden Körper in Ketten. Einen Namen hörte es ihn wieder und wieder schreien. Die brennende Angst in den Adern des Mannes war ein Fest – sein rasendes Herz betörende Musik.
Als er stöhnend den Kopf zur Seite riss, wich es blitzschnell zurück und beobachtete ihn. Ja, dieser Mann war ein Kämpfer. Er hatte gelernt, viel zu ertragen. Seine Qual schmeckte verführerisch. Sie war groß. Noch einmal berührte es seine Lippen.
Aber die Gier die es in sich verspürte, war Größer. Zu groß für den schlafenden Mann im Sessel. Enttäuscht zog es sich zurück. Nach dem Kuss würde er nicht mehr ins Leben zurückkehren. Er würde am Ende kollabieren wie all die anderen. Die Suche würde von vorn beginnen – und mit ihr dieser unerträgliche Hunger. Es lauschte. Die Stimmen, die gerufen hatten, kamen nicht vom ihm!
In diesem Raum befand sich mehr. Viel mehr Verzweiflung!

Es huschte an der Tapete entlang und näherte sich dem zweiten Mann. Unheimlich groß war er. Aber sein Gesicht wirkte filigraner, fast feminin. Schwer wie Blei lag er auf dem Bett, die schmalen Brauen leicht zusammengezogen. Auch sein Atem schmeckte berauschend. Doch seine Bilder verwirrten es.
All diese Scham und das bittere Gefühl von Machtlosigkeit waren nur ein winziger Teil des Leides, das er in den Raum atmete.
Es studierte ihn ungläubig, roch Tränen auf seinem Gesicht und spürte Schmerz, den er sich selbst zugefügt hatte. Seine Verzweiflung war eine Andere. Einsamkeit machte ihn taub. Sein Herz quoll über vor Selbsthass.
Aber da war so viel mehr!
Wieder berührte es seine schmalen Lippen und genoss dieses Prickeln. Gierig nahm es einen weiteren Atemzug Schmerz auf und geriet in Verzückung. Das Leid, das er vor sich selbst verbarg, wurde von schattenhaften Wesen begleitet. Es konnte ihre Anzahl nicht bestimmen, wusste aber, dass sie sich um ihn scharrten wie Geister. Es war sich sicher, dass sie ständig flüsterten – möglicherweise sogar schrien. Konnte ein einzelner Mensch so viele Geheimnisse verbergen?
Neugierig glitt es über seine schimmernde Stirn. Es hätte gern nach einer dieser weichen Haarsträhnen gegriffen. Leider war das unmöglich. Stattdessen schmiegte es sich an seinen Körper um ihn zu erkunden. „Beweg dich“, hauchte es in seine Träume.
Als sich er sich leise stöhnend auf die Seite rollte umschloss es ihn ganz. Nun spürte es ihn im Innersten und wurde sonderbar erregt. Dieser warme Körper verbarg ein ganzes Heer von Geheimnissen. Fremdes Leid trug er. Er war etwas Besonderes – nicht wie die Anderen, die zerbrachen wenn es ihre Geheimnisse enthüllte. Er würde nicht nur den unersättlichen Hunger stillen.
Überglücklich löste es sich von diesem Mann und bewunderte sein Gesicht. Mit ihm wollte es verschmelzen. Denn er war nicht wie die winselnden Hüllen, die es erweckt hatten.
Es jubelte. Diese einfältigen Menschen hatten doch tatsächlich geglaubt, es kontrollieren zu können. Dabei besaßen sie nicht einmal die Kraft, dem Kuss zu widerstehen.
Überlegen musste es nicht. Die einzige Hülle, in die es sich für kurze Zeit zurückziehen konnte, ohne sie zu zerstören, alterte unaufhaltsam. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Wieder sah es auf den Jäger. Sein Körper war jung, stark und so voller Gift, dass es ewig davon zehren würde.

Triumphierend betrachtete es den anderen Mann im Sessel. „Du siehst seine Einsamkeit nicht!“, wisperte es in den Wind, der es durch das geöffnete Fenster getragen hatte, „deine Blindheit riecht nach Whisky.“

*

Lautlos und sanft legte sich ein Schatten auf Jim.
„Mein Schöner – bald du gehörst mir, denn dein Bruder kann dich nicht mehr erkennen!“

*** *** ***

Warren starrte auf die knallrot geschminkten Lippen. Ihre üppigen Rundungen formulierten Worte, die sich überschlugen, als sie ihm entgegen sprudelten. Aber in seinen Schädel wollten sie nicht. Warren nickte trotzdem und begann am PC zu schreiben. Hysterische Ziege, dachte er, was interessieren mich zertrampelte Rosenbüsche – ich habe zwei Tote am Hals.
Die klickernden Tasten unter seinen Fingern ließen die Frau verstummen. Ungeduldig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her und reckte den Hals, um einen Blick auf den Monitor zu erhaschen.
Warren ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wartete darauf, dass der Drucker den Bericht ausspie. Gemächlich lehnte er sich zurück und besänftigte seine Klientin. „Machen sie sich keine Sorgen, Miss Holm. Wir werden der Sache auf den Grund gehen.“
Schließlich hielt er das Blatt in der Hand. „Ich benötige noch ihre Unterschrift.“
Miss Holm schien nicht im Geringsten zufrieden gestellt. Sie beugte sich über den Schreibtisch und trällerte aufgeregt: „Sheriff … ich wohne jetzt über 26 Jahre in diesem Ort. Und ich kann ihnen versichern – hier geht alles den Bach runter.“ Als sich Miss Holm seufzend gegen die Lehne des Besucherstuhles drückte, knarrte dieser bedrohlich unter ihrem Gewicht. „Diese Verrückten werden immer dreister“, fuhr sie mit gespielter Entrüstung fort und fummelte eine wasserstoffblonde Strähne zurück in ihr Haarband, „ich möchte Anzeige erstatten.“
Ja, ja ich weiß …, Warrens Geduld erreichte langsam einen krischen Punkt. Er suchte schnaufend nach einem Kugelschreiber, um ihn Miss Holm zu reichen.
„Eine Unterschrift bitte“, sagte er ruhig aber fordernd. Abrupt hielt Miss Holm inne, griff nach Papier und Kugelschreiber und begann kritisch, den Bericht zu lesen.
„Keine Sorge, Miss Holm. Wir kriegen den Kerl.“ Am liebsten hätte Warren die Frau umgehend aus seinem Büro geschoben. Für die Spielchen einer überdrehten Witwe hatte er wirklich keine Zeit. Er sah sie an, presste die Lippen aufeinander und zwang sich, gelassen zu bleiben. Sein kurzer Blick streifte die Wanduhr.
Als hinter den halb zugezogenen Jalousien der Bürotür zwei Silhouetten auftauchten, war Warren erleichtert. Lieber das FBI, als dieses Frauenzimmer, entschied er rasch und erhob sich.
„Sie hören von mir.“ Lächelnd öffnete Warren die Tür. „Darf ich Sie dann bitten, Miss Holm? Wie sie sehen, erwarte ich noch Besuch.“ Er entschuldigte sich, bevor sie protestieren konnte.
Mit kurzen Schritten stöckelte Miss Holm hinaus. Dabei würdigte sie die Besucher, die gerade das Büro betreten wollten, mit keinem Blick, sondern drängte sie in das Vorzimmer zurück.
Verblüfft sah Ron der Frau nach, bis er den riesigen Klatschmohn auf ihrem wehenden Sommerkleid aus den Augen verlor.
Mittlerweile war auch Warren aus der Tür getreten und rief nach seiner Sekretärin: „Cassy … bringen Sie mir bitte einen Tee?“ Er wagte sich erst aus dem Büro, nachdem Miss Holm verschwunden war und lächelte nun der jungen Frau hinter der Rezeption entgegen. Diese nickte kurz. Als sie aufstand, verbarg sie ein leichtes Grinsen unter einigen dunkelblonden Strähnen, die nicht mit dem Pferdeschwanz zu bändigen waren.
Amüsiert hatte Jim das Szenario verfolgt.
„Möchten sie auch Tee?“, fragte Warren gequält. Jim schüttelte den Kopf.
Ron war bereits im Büro. Er drehte sich um und sah zum Inspektor: „Miss Piggi wohnt also auch in Bethel“, bemerkte er trocken.
Jim räusperte sich lautstark, Warren musste lachen und Ron kratzte sich feixend am Hinterkopf.
Der Inspektor bot den Brüdern einen Platz an und setzte sich wieder hinter den Schreibtisch. Er stellte fest: „FBI Agenten mit Humor hatten wir hier noch nie.“ Die Hände über seinem Kopf verschränkt, drückte er sich gegen die Sessellehne. „Sie haben mich gerade vor dieser … Naturgewalt … gerettet“, gab er verlegen zu und plauderte weiter, „seit ihr Mann vor drei Jahren verunglückt ist, findet die liebenswerte Miss Holm immer einen Grund, mir den Feierabend zu vermiesen.“
„Darf ich raten?“ Ron sah den Inspektor spöttisch an, als er weiter sprach: „Es hat jemand am Sonntag den Rasen gemäht - oder?“ Triumphierend wandte er sich an Jim, der mit erstauntem Gesicht die Schultern hob.
„Nicht ganz“, antwortete Warren. „Sie behauptet, einen Stalker zu haben.“ Er beugte sich über den Tisch. „Sie hat heute Morgen eine Gestalt in ihrem Vorgarten gesehen“, hauchte er mit ironischer Stimme und entlockte Ron ein überraschtes Stöhnen. „Da ist wohl eher der Wunsch der Vater des Gedanken, was?“, bemerkte der Ältere sarkastisch.
Jim lachte laut los: „Und, wurde der Sünder überführt?“
Warren schüttelte den Kopf. „Sie konnte nur einen Schatten erkennen“, seufzte er.
Es klopfte. Cassy`s schmale Silhouette erschien in der Tür. Sie brachte den Tee. Vorsorglich hatte sie für die Herren vom FBI Tassen mitgebracht. Trotz ihres netten Lächelns lehnten diese höflich ab.
„Ich möchte jetzt nicht gestört werden, Cassy“, bat Warren. Seine Stimme wurde väterlich sanft. Die junge Frau nickte. „Ist okay, Inspektor Warren.“ Nachdem sich die Bürotür hinter ihr geschlossen hatte, blieb ein hauchzarter Vanilleduft im Zimmer zurück.

Als Jim auf die verdeckte Pinnwand sah, verdunkelten sich nicht nur seine Augen. Fragende Gesichter fixierten den Inspektor.
„Alles Selbstmorde oder Unfälle …“, stieß Warren monoton heraus. Er stand auf und zog das Tuch zur Seite. „Die meisten sind Touristen oder Urlauber. Sie kommen hierher und bringen sich nach wenigen Tagen um.“ Warren sah sich die Bilder nicht an. Er kannte jedes Einzelne.
„Was war mit diesem Pope und Ethan Brown?“ Rons hatte sich etwas nach vorn gebeugt. Er deutete mit dem Zeigefinger auf zwei verschlossene Akten auf dem Tisch.
„Ethan kenne ich schon lange“, antwortete Warren, als er sich wieder auf seinen Platz gesetzt hatte. „Unsere Söhne gingen zusammen zur Schule.“ Mit zitternder Stimme sprach er weiter: „Er war ein anständiger Kerl.“
Für einen Moment hielt der Inspektor resigniert den Atem an. „Pope zog vor zwei Jahren hierher. Er hatte keine Familie – nur einen Job auf dem Schrottplatz.“
Ron nickte: „Verstehe.“
„Was ist mit den anderen?“, wollte Jim wissen. Sein Blick streifte über die freigelegte Fotogalerie. „Gibt es irgendeine Gemeinsamkeit bei den …?“, er räusperte sich … „Opfern?“
Warren sah den Jüngeren erstaunt an. „Sie sprechen von Opfern?“ Er zog die Stirn in Falten. „Woher dieser plötzliche Sinneswandel? Seit wann interessiert sich das FBI plötzlich ernsthaft für den Fall?“
Die Jäger husteten verlegen.
Warren stand auf. Er ging zum Fenster. Seine Finger schoben die Lamellen etwas auseinander, als er auf den Parkplatz sah. „Es sind ganz normale Menschen. Arbeiter, Angestellte oder Touristen. Seit 40 Jahren stoße ich bei den Ermittlungen auf eine Mauer des Schweigens.“ Ruckartig drehte er sich um und lehnte sich gegen die Fensterbank. „Jeden Sommer kommen andere Agenten.“ Warren ging wieder auf seinen Bürosessel zu. Die Hände auf die Tischplatte gestützt, musterte er die Jäger. Ihm fiel sofort ihr ratloser Gesichtsausdruck auf.
„Nun, wir sind eben besonders gründlich“, versuchte Ron die Situation zu retten.
„Blödsinn …“, fiel ihm Warren ins Wort. „Das einzige, was Ihre Behörde bisher erreicht hat, ist Beweise zu …“, er räusperte sich, „… verlegen.“
Jims Augen öffneten sich erstaunt. „Wollen Sie damit sagen, dass …?“
„Ich will damit sagen ...“, schnaufend sank Warren wieder in seinen Sessel, „… dass weder FBI noch CIA in diesem Fall jemals eine große Hilfe waren.“ Fahrig ließ er den Teebeutel in seiner Tasse auf und ab sinken.
„Ich denke, es waren Unfälle? Warum also FBI oder CIA?“ stellte Ron fest.
Warren musterte ihn misstrauisch und legte den Teebeutel auf die Untertasse. „Warum interessieren Sie sich für den Fall?“, konterte er bissig.
Jim beugte sich über den Tisch und griff nach dem Arm des Inspektors. Er sah ihn eindringlich an. „Wir wollen das Gleiche wie Sie!“, raunte er mit tiefer Stimme. „Also! Was glauben Sie – ist geschehen?“
Warren atmete tief ein, befreite sich von der Hand des Jüngsten und lehnte sich zurück. „Ich denke nicht, dass es Unfälle oder Selbstmorde sind.“
„Sondern?“, auf Rons Gesicht bildete sich eine steile Falte.
„Mord!“, stieß Warren in die schwüle Luft. „Da draußen läuft ein Killer herum.“
„Seit 40zig Jahren?“, warf Jim ein.
„Ich weiß nicht, wie er es macht“, murmelte Warren. Aber Irgendjemand treibt die Menschen in heißen Sommern in den Wahnsinn.“ Dabei sah der Inspektor fasziniert in Jims Gesicht. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, dachte er und nahm einen Schluck Tee, bevor er weiter erzählte. „Es ist fast wie Gift, das sich bei Hitze ausbreitet.“ Noch immer beobachtete er den riesenhaften jungen FBI-Mann.
Die Brüder wechselten einen kurzen Blick, als sie bemerkten, dass der Inspektor Jim genau studierte.
Jim räusperte sich verlegen: „Ist was?“
Warren schreckte aus seinen Gedanken auf. „Ähm … nichts.“ Er hüstelte. „Sie sehen nur einem der Toten sehr ähnlich“, murmelte er.
„Ha“, Ron gab Jim einen Rippenstoß und sah Warren lachend an: „Ich sage ihm auch immer, er soll öfters mal an die frische Luft gehen …!“
Geräuschvoll stieß Jim seinen Atem durch die Nase. „Könnten wir eine Liste der Opfer bekommen?“, fragte er vorsichtig.
„Sicher!“, kam es erstaunt über Warrens Lippen.

*** *** ***

Stan Warren war verwirrt. Diesmal schien es tatsächlich so, als würde das FBI daran interessiert sein, den Fall zu lösen. Die neuen Agenten machten einen entschlossenen und ehrlichen Eindruck. Auch wenn ihre Fragen mitunter seltsam erschienen.
Warren war von sich selbst überrascht, denn er hatte ihnen bedenkenlos eine Kopie der Opferliste ausgehändigt – unter der Voraussetzung, über neue Erkenntnisse informiert zu werden. Wie kam er bloß dazu, diesen Männern zu trauen?
Grübelnd sah er durch das Fenster. Kein Mensch war auf der Straße. Die schwüle Nachmittagshitze lag lähmend über der kleinen Stadt. Als würde das grelle Licht der flachstehenden Sonne ihn unbewusst daran erinnern, dass es immer drückender wurde, begann er an seiner Krawatte zu nesteln.
Plötzlich klopfte es leise an die Tür. Eine Sekunde später erschien Cassy`s schmales Gesicht. Sie sah irritiert aus. „Inspektor Warren?“, flüsterte sie, „hier draußen sind zwei Herren vom FBI und möchten sich wegen der neuerlichen Selbstmorde mit ihnen unterhalten...“
Warrens Augen weiteten sich erstaunt: „Was? Noch zwei Agenten?“


*** Hunger ***

Heuschreckenschwärme übertönten den Motor des Ford Mustangs und heißer Fahrtwind stürmte durch die geöffneten Fenster. Jim sah unruhig auf einen goldgelben, wogenden Horizont, spürte er doch Rons Blicke im Nacken.

Rons Finger umklammerten das Lenkrad. Tief im Inneren spürte er, dass er handeln musste. Aber er fühlte sich so schwach und hilflos. Die Furcht allein zurück zu bleiben erdrückte ihn. Er wagte es nicht mit Jim zu reden aus Angst vor der Wahrheit. Lieber jagte er fremde Geister und sah weg, anstatt sich den eigenen Dämonen zu stellen.
In seinen Erinnerungen sah er Jimmys lachendes Gesicht. Diese unglaublich stahlenden Augen gaben ihm all die Jahre Kraft, sich gegen alles zu erheben was ihnen den Weg versperrte. Mit einem unerschütterlichen Vertrauen hatte sein kleiner Bruder zu ihm aufgeschaut, bis er in jener Hölle zerbrach. Anfangs erschien es Ron als Segen, dass Jim die verloren Seelen vergaß. Aber nun spürte er immer mehr, dass ihre Geschichten allgegenwärtig waren. Die dunkle Vergangenheit zerfraß Jim.
Rons Kiefer knirschten. Er musste es riskieren Jim zu verletzten – ihn mit den schlimmsten Stunden seines - ihres Lebens konfrontieren. Allerdings war er kein Meister großer Gefühle, besaß nicht das Redegeschick seines kleinen Bruders.

*

Das Zittern machte sich nur schwach bemerkbar. Heimlich schlich es zunächst in seine Beine, bis Jim sie nicht mehr still halten konnte. Je mehr er versuchte sie zu kontrollieren, um so mehr schlugen seine Knie gegeneinander. Eine Hitzewelle rollte über ihn hinweg. Zuckungen beherrschten schließlich seinen gesamten Körper. Auch ungewollten Tränen musste er freien Lauf lassen. Und mit den Tränen kam Übelkeit.
Kaum hatte Ron den Wagen gestoppt, riss Jim die Tür auf, lehnte sich hinaus und übergab sich.
Mehrere Minuten lang schluchzte und kotzte er am Straßenrand.
Irgendwann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. „Geht es wieder?“, fragte Ron.

Jim nickte, schluckte den bitteren Gallefilm in seinem Hals hinunter und sah seinem Bruder ins Gesicht.

„Ich habe gleich gesagt du sollst nicht so schlingen!“ murmelte Ron und schüttelte verständnislos den Kopf. „Was ist eigentlich los mit dir?“

„Ich hatte Hunger!“, keuchte Jim. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen.

„Auf drei Portionen Big-Mac-Menü?“ Der Ältere hob ungläubig die Brauen. „Du verabscheust doch das fette Zeug!“

„Ich weiß auch nicht“, nuschelte Jim. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. Dann schlug er die Wagentür zu, um den beißenden Gestank von halbverdauten Pommes und Rindfleisch auszusperren.

„Jimmy?“ Rons Stimme bebte.

Mit hoffnungsvoll geöffneten Augen sah ihn Jim an. „Was?“

Ron starrte auf die Fahrbahn. „Ach nichts …“, seufzte er. „Können wir fahren?“

Jim neigte den Kopf. „Ja – ich bin okay Ron“, flüsterte er.
Jim war nicht okay. Die Leere in seinem Inneren trieb ihn. Aber er wusste nicht wohin sie ihn trieb. Ständig anwachsende Unruhe ließ Schweiß auf seiner Stirn glänzen und seine Muskeln zittern. Sein eigener Körper bedrängte ihn - und das immer stärker. Jim fühlte sich elend und hatte einen quälenden Hunger. Mit zuckenden Mundwinkeln sah er wieder aus dem Fenster.

*** *** ***

„Nun Jimmy, was hast du heraus gefunden?“ Ron hatte sich ein Handtuch um die Hüften gebunden als er aus dem Bad kam. Er ging zum Bett und begann in seiner Reisetasche zu wühlen.

Jim sah vom Laptop auf und rieb sich die Schläfen. „Nicht viel“, begann er zu berichten. „Bethel war bis vor 41 Jahren ziemlich unbekannt.“ Jim seufzte. Mit kritischem Blick beobachtete er Ron. „Genau gesagt tauchte der Name 1969 erstmals auf der Weltkarte auf, als sich fast eine halbe Million Menschen für 3 Tage voller Frieden und Musik auf den Feldern in der Nähe der Shire-Farm trafen.“

Ron blickte über seine Schulter und grinste: „Frieden und Musik … und so …“ Er schüttelte den Kopf. Dann stieg er in seine Jeans.
Jim sah auf die Uhr. „Ron wo willst du denn noch hin?“

„Was gibt es über Bethel zu berichten?“, wich der Ältere aus.

Jim verdrehte die Augen und sah wieder auf den Laptop. „Die ersten Siedler kamen um 1795 in der Nähe der heutigen Gemeinden Bethel und White Lake an. Die Stadt Bethel wurde 1809 aus Teilen der Stadt Lumberland gebildet. In der Mitte des 20. Jahrhunderts begann die Tourismusindustrie zu wachsen.“

„Das war nach dem Festival“, stellte Ron fest.

„Genau!“ Jim schluckte und versuchte seinen trockenen Gaumen zu befeuchten. Noch immer war ihm speiübel. Sein Magen krampfte vor Hunger. „Bethel ist Standort mehrerer Hotels und zahlreichen Camps – alle um den Silver Lake gelegen.“

Als sich Ron ein frisches Shirt überzog und mehrere Dollarscheine in seine Hosentasche steckte, traf ihn Jim`s zorniger Blick: „Alter! – Musst unser sauer verdientes Geld ständig versaufen!“ Nur mit Mühe gelang es ihm sich wieder auf seine Recherche zu konzentrieren.

„Das Geld habe ich beim Pokern gewonnen Jimmy. Und was soll`s wir sind in Bethel! Drogen, Alk und Sex …! Alles was Spaß macht Kleiner. Du solltest dich auch mal entspannen!“ Ron klappte den Mund zu als wollte er sich die Zunge abbeißen.

„Nein Danke“, zischte der Jüngere.

Ron setzte sich auf sein Bett und beobachtete Jim. Dieser hatte sich wieder hinter seinen Computer verschanzt. Seine langen Beine ragten unter dem Tisch hervor. „Bei der Volkszählung des Jahres 2000 betrug die Bevölkerungszahl 4362. In den Jahren von 2001 bis 2007 war aber ein starkes Wachstum zu verzeichnen. Bethel ist die am schnellsten wachsende Stadt im Sullivan County.“

„Gute Jagdgründe für das Übernatürliche“, flüsterte Ron. Mit seiner tiefen Stimme versuchte er den Bruder zu versöhnen.

Jim sah über den Monitor. „Weißt du was merkwürdig ist?“ Er kramte Warrens Kopien unter einem Stapel alter Zeitungen hervor und tippte auf einige Namen, die dort aufgelistet waren. „Die ersten Selbstmordopfer wurden drei Tage nach dem Festival entdeckt.“

„Ja und …?“ Ron hob die Brauen.

Jim lehnte sich zurück und neigte den Kopf. Misstrauisch zuckten seine Mundwinkel. „Es soll ein Sektenselbstmord gewesen sein.“ Grübelnd kratzte er sich am Hinterkopf und murmelte. „Als man die Leichen fand, waren sie schon in starke Verwesung übergegangen.“

„Das soll vorkommen wenn Tote bei über 30 Grad längere Zeit herum liegen“, bemerkte der Ältere trocken.

„Wenn die schon länger gelegen haben, dann ist es während des Festivals passiert.“
Ron nickte.

„Also“, schnaufte Jim, „laut Wikipedia und allen anderen Quellen, die ich angezapft habe, heißt es, dass dieses Festival absolut friedlich verlief. Es gab nur zwei offizielle Tote. Aber das waren eindeutig Unfälle.“

„Mhhhh …“, Ron fuhr sich grübelnd durch die blonden Stoppelhaare. „Was willst du damit andeuten?“

Der Stuhl knarrte leise als sich Jim noch weiter zurücklehnte und die Arme ausstreckte. „Alter! Ich frage mich warum man dieses Ereignis vertuscht!“

„Das ist eine gute Frage!“ stellte Ron anerkennend fest.

Jim nickte: „Mehrere Menschen kamen auf furchtbarste Art und Weise ums Leben – und nirgends findet man etwas darüber. In keinem Zeitungsarchiv und auch nicht beim FBI in den X-Akten.“

„Was macht dich da so sicher Jimmy?“

Der Jüngere hob seine Brauen und lächelte. „Ich habe mich in die Datenbank gehackt!“

Ron konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Jimmy, Jimmy - und mich bezeichnest du als kriminell… Woher weißt du es dann?“, wollte er wissen.

Jim fuchtelte demonstrativ mit einem Stapel loser Blätter in der Luft herum. „Ich habe Warrens Berichte gelesen. Dachtest du etwa ich penne nur wenn ich neben dir im Wagen sitze?“

Ron hob abwehrend die Hände.

Der Jüngere räusperte sich. „Es waren Frauen und Mädchen … und ein Mann.“ Jim räusperte sich.

„Lass mich raten Jim! Es war ihr Prophet der freien Liebe“, warf Ron ein. „Ich sagte es ja - verrückte Hippies! Ich hätte den Abend mit den Mädels anders organisiert!“

Jim kramte in den Unterlagen des Inspektors und schleuderte eine Fotokopie über den Tisch. „Der Mann war ein Agent. Offensichtlich ein sehr geheimer … Seine Leiche verschwand und nur der Vorname ist bekannt. Er hieß Aiden.“

Ron ergriff das Foto und wurde blass. „Mein Gott Jim!“, stieß er hervor. „Der sieht ja aus wie …!“ –

„Genau!“, fiel ihm Jim ins Wort „Wie ich.“ Er schluckte trocken und betrachtete das Foto der Leiche. „Werde ich so aussehen wenn ich … - wenn ich tot bin?“ Jims Stimme war leise.

Ron erhob sich vom Bett. „Unsinn …!“ Er strich sich übers Gesicht. „Es gibt eben Doppelgänger. Sowas passiert. Fast jeder Star hat einen...“ Beherzt trat er einen Schritt auf Jim zu. „Außerdem …“, Rons Brauen wippten, „…bist du eindeutig hübscher!“ Er grinste und ging zur Tür.

„Ron!“ Jim war aufgesprungen. Vorwurfsvoll breitete er die Arme aus. „Kannst du denn nicht einmal …“, traurig senkte er den Kopf. „Wir müssen endlich darüber reden!“

„Worüber?“

„Wir brauchen Hilfe …“, murmelte Jim und sah verstohlen auf Ron. „Ich mache mir Sorgen.“

„Um mich?“ Der Ältere starrte seinen Bruder erstaunt an. „Es geht mir gut Jim! Ich komme schon klar.“

„Ron – warum fällt es dir so schwer zu akzeptieren, dass es jemanden gibt der sich um dich sorgt?“

„Weil ich sowas nicht brauche!“ Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Die Tür fiel krachend ins Schloss und Ron verschwand.

„Dann bist du der einzige Mensch auf der Welt der sowas nicht braucht!“ murmelte Jim verzweifelt.

*

Die Männer hatten es nicht bemerkt. Nachdem der Eine gegangen war, wartete es geduldig, bis sich der Andere schlafen legte. Er versuchte es zumindest.
Still sah es auf ihn herab.
Im tiefen Schmerz war er wunderschön. Unzählige helle Funken schwirrten um seinen Körper. Ihr Licht verwandelte die Dunkelheit in ein flimmerndes Universum aus Sternen. All diese Seelen hielt er in seinem Herzen verschlossen. Er musste es sein …
Langsam näherte es sich dem Bett.
Er verbarg das Gesicht in seinen Händen. Tränen steckten ihm in der Kehle und brannten in seinen Augen. In diesem winzigen Zimmer spürte es seine ganze Ohnmacht. Er schämte sich für sein Schluchzen, konnte es aber nicht unterdrücken. Also rollte er sich zusammen, zog seine Knie an die Brust und vergrub sein Gesicht in das Kissen.

Mit jedem Herzschlag fühlte es seinen Hunger. Es musste nur beenden, was er begonnen hatte. Die Narben auf seinem Bauch verrieten, dass er Schmerz genau so begehrte wie es selbst. In ihm loderte die gleiche Gier.
Ein sanfter Windhauch ließ sein Haar im Nacken vibrieren, als es vorsichtig über den warmen Körper streifte. Er roch betörend. Es legte sich zu ihm und lauschte seinen Geschichten: Im Moment erinnerte er sich an einen milden Frühlingstag, erfüllt mit dem Duft von Kirschblüten und gebrannten Mandeln. Er hörte jubelnde Kinderstimmen und spürte das Kribbeln in seinem Bauch als die Achterbahn über die höchste Klippe in die Tiefe donnerte. Glücklich blickte er in grüne Augen - strahlend vor Freude über diese gelungene Überraschung. Er erinnerte sich an den Geschmack von Himbeereis … vor unendlich langer Zeit.

Tränen und Himbeereis hatte es noch nie gekostet. „Sch… sch… sch…“, hauchte es in seinen Traum. „Er braucht dich nicht mehr! Lass ihn los.“
Seine seidigen Haare vibrierten im Flüstern des Nachtwindes. „Folge MIR und ich werde dir zeigen, wie man diesen Hunger stillt … du hast es nur vergessen – du hast vergessen wer du wirklich bist.“

*** *** ***

Eine Stunde später …

Er überragte die zuckenden Leiber um Längen. Berauscht ließ er sich durch die Masse treiben. Bei jedem Schritt berührten ihn fiebrige Körper und er genoss es. Fasziniert blieb er stehen und sah sich um. Im blitzenden Licht der Strobe`s wirkten ihre Bewegungen spasmisch, als befänden sie sich in höchster Ekstase. Heiße Luft, angefüllt mit süßen Nebel hinterließ auf ihrer nackten Haut einen feucht-glänzenden Film. Unter engen Tops zeichneten sich kurvenreiche Leiber ab. Überall entdeckte er Verheißungen höchster Wollust. Weiche Hüften kreisten aufreizend zur Musik. Blutrot geschminkte Lippen bedrängten ihn mit feuchten Anspielungen.
Die Beats dröhnender Club-Musik preschten mit harten Stößen durch seine Venen und entflammten lodernde Gier. Er hatte das Gefühl von tausend Händen gleichzeitig berührt zu werden. Doch nicht Finger strichen über seinen Körper. Es waren Blicke, die er – auch wenn sie ihn heimlich verfolgten - lustvoll spürte. Sie schienen die Brunst in ihm zu wittern.
Nur unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft gelang es ihm dieser Reizflut zu widerstehen. Lässig strich er sich eine braune Strähne aus der Stirn und setzte seinen Weg zur Bar fort.

Sie hatte ihn sofort bemerkt. Zwar bevorzugte sie Liebhaber, die etwas älter waren als er, aber sein Körper versprach ein Geschick wie es kein Gigolo aufbringen würde – und ihr gefiel der Hauch von Zerstörung hinter seiner sanften Fassade.
„Ich würde gern mit dir schlafen“, flüsterte sie in sein Ohr.

„Das freut mich“, raunte er und drehte sich ihr entgegen. Zärtlich strich er über ihre Wange. Obwohl sie stand und er auf dem Barhocker saß, befanden sich ihre Augen auf gleicher Höhe. Als er sie ansah, spürte er ihre Hand langsam an der Innenseite seines Schenkels nach oben gleiten. „Wo?“ fragte er mit rauchiger Stimme.

Sie lachte. Es gefiel ihr was sie ertastete. Noch etwas womit sie vor ihren Freundinnen prahlen konnte. Heute war ihr Glückstag. „Nicht hier Tiger“, hauchte sie. Ihre Finger drückten sanft zu.

Er stellte seinen Drink beiseite und nahm ihre fordernde Hand. „Sollen wir uns unsichtbar machen?“ Blaugraue Augen blitzten unter den wilden Strähnen auf seiner Stirn.

„Wir könnten in ein Hotel gehen“, schlug sie vor. „Ich meine es ernst.“

„Ich auch …“, keuchte er und zog sie an seinen Körper. Ohne Umweg glitt seine Hand unter ihren Mini. Ein tiefes Brummen entwich seiner Kehle. Als er die Stirn auf ihre Brust legte, griff sie in sein langes Haar und zerrte seinen Kopf in den Nacken. Dann trafen sich ihre Lippen mit rückhaltloser Leidenschaft.

Nachdem er sich erhoben hatte, warf er einen 50-Dollar-Schein auf den Tresen, nahm ihre Hand und zog sie gegen den nicht abreißenden Menschenstrom in Richtung Ausgang.
Der anbrechende Morgen brachte keine Abkühlung. Noch immer flimmerte Hitze über der Stadt.
Sie sah sich um. Die menschenleere Gasse, durch die er sie führte war ihr unheimlich.
„Ich denke wir wollten in ein Hotel?“, flüsterte sie und beobachtete ihn misstrauisch. Ohne Zweifel war er fieberhaft erregt.
Abrupt blieb er stehen und packte sie. Seine Augen blitzten stahlblau.

„Hey, hey nicht so hastig Tiger“, fauchte sie energisch. Aber ihre Stimme wurde zum Schweigen gebracht als er sie in einen verwaisten Hausflur drängte. Dieser Hunger war unerträglich …


*** Wenn der Damm bricht ***

Blindlings rannte Jim die schmale Gasse entlang, als die Sirene des Polizeiwagens zwischen den verwitterten Gemäuern widerhallte. Er begriff nicht was geschehen war. War das grauenerregende Spektakel eine Halluzination und nur für seine Augen bestimmt?
Als der Streifenwagen mit quietschenden Reifen am Ende der Straße stoppte, drückte er sich in einen Hausflur. Er wartete im Dunkeln. Vor Entsetzen zu sehr erschöpft, um noch einen Schritt weiter zu laufen und mit der Gewissheit im Nacken, dass sie ihn entdecken würden.
Aber das Auto fuhr weiter, um seine menschliche Ladung an anderer Stelle zu entlassen.
Vielleicht hatte er das Verbrechen, vor dem er geflohen war, nicht wirklich begangen? Er sah an seinem Körper hinunter. Seine Haut war eine einzige Schreckenskarte. Tiefe Kratzspuren auf Brust und Armen bestätigten die vage Erinnerung. Er riss den Kopf in den Nacken, sein Mund öffnete sich zum Schrei – blieb aber stumm. Die Empfindungen, die ihn durchfluteten - so intensiv und fordernd, dass sie Lust und Schmerz zugleich waren, verließen langsam seine Nervenenden.
Die bittere Wahrheit ließ sich nicht verdrängen. Er hatte all das getan, was er zu tun sich eingebildet hatte.
Schon bald würde der erwachende Tag auf sein grauenvolles Werk herabsehen.
Jim schlich sich aus seinem Versteck neben der Tür, floh in eine andere Straße. Auch sie war menschenleer.
Er humpelte weiter, brachte so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und seinem Vergehen, bevor es entdeckt wurde. Er war sorgfältig darauf bedacht, nicht in die Arme der Polizei zu laufen.
Dann rannte er los. Aber wie schnell ihn seine Beine auch trugen, die Schuld kam mit ihm und in einer verborgenen Zone seiner Eingeweide auch die unerbittliche Gier. Sie drohte bei jedem seiner verzweifelten Schritte, seinen Körper erneut in Brand zu setzten.

*** *** ***

Eine nicht zu leugnende Traurigkeit war klammheimlich über Ron gekommen, als er in den Sessel sank. Er sah auf das leere Bett und seufzte unter seinem Schmerz und jenen unwillkommenen Gedanken, dass er allein war. Sein schwerer Kopf lehnte am Polster und Ron lauschte dem Geplärr eines Radios im Nachbarzimmer. Während sich sein Körper immer noch im Kreis zu drehen schien, säuselten die alten Songs seinen Geist ins Nirwana.

Das laute Krachen der Tür riss ihn aus dem Schlaf. Immer noch benommen starrte Ron auf seinen Bruder, dessen besorgniserregender Zustand augenblicklich jede Promille in seinem Blut verdampfen ließ. Jims Körper war von Kratzern übersät. Oberhalb seines rechten Ohres war ihm ein Büschel Haare ausgerissen worden. Eine Spur geronnenes Blut erstreckte sich bis zu seiner Schulter, seine Lunge kämpfte immer noch um Sauerstoff und gegen einen Strom von Tränen der nicht abreißen wollte.
Am Entsetzlichsten aber war der Ausdruck in Jims Gesicht. Seine vom Weinen geröteten Augen irrten durch den Raum, als wäre er von Furien gehetzt. Jim war nicht in der Lage zu sprechen. Er zitterte am ganzen Leib, begann zu würgen und torkelte am Älteren vorbei ins Bad. Lautstark schlug die Tür ins Schloss und Ron vernahm das metallische Klacken der Verriegelung.
„Jim?“ Nach einer Sekunde des Schreckens klopfte Ron gegen das Holz. „Jimmy, was ist passiert?“ Sein Herz schlug so schnell, dass ihm schwindlig wurde. „Bist du überfallen worden? Jim! Sag doch was!“ Er presste die Stirn gegen die Tür und lauschte dem Husten und Würgen seines Bruders. Er schien sich die Seele aus dem Leib zu kotzen. „Jim! Verdammt, mach die Tür auf!“

„Lass mich in Ruhe!“, schrie er zwischen zwei keuchenden Atemzügen, in einem Ton, der Ron alle Farbe aus dem Gesicht riss. Er klopfte energischer. Seine Fäuste trommelten so laut gegen das Holz, dass er glaubte, ihr Echo im Raum zu hören. „Jim!“ Abrupt unterbrach er sein Klopfen und lauschte. Verdammt! Ron riss den Kopf herum. Das war kein Echo. Da klopfte jemand mit gleicher Intensität an die Zimmertür. Hin und her gerissen hetzten Rons Blicke durch das Zimmer.
Als es im Bad still wurde, versteckte er die Waffentasche unter dem Bett und war mit drei gewaltigen Sätzen an der Tür. Als er sie einen Spalt weit öffnete, blitzte ihm die polierte Dienstmarke eines Sheriffs entgegen.

„Darf ich bitte reinkommen?“

Zögernd trat Ron zurück ins Zimmer. Sein Blick eilte nervös in Richtung Bad.

*

Jim hob den Kopf aus der Kloschüssel und lauschte. Noch immer zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Aber er schloss die Augen und unterdrückte das Würgen. Da waren sie schon. Sie kamen, um ihn festzunehmen. Auf ihn wartete der elektrische Stuhl. Er würde schmoren wie ein gemeiner Killer – denn nichts anderes war er. Ein Killer!
Leise schlich er zum Waschbecken und legte seine Finger auf den weißen Porzellanrand. Sein Kopf glitt nach vorn, bis das Spiegelglas seine Stirn kühlte.
Aus seinem Entsetzen wurde Hass.
Jim schloss seine Augen, doch die Bilder der letzten Stunden brauchten keinen Spiegel, um den Nebel des Vergessens zu überwinden. Sie brannten in seinem Gedächtnis. Nichts davon war geträumt. Es war die bittere, grausame Realität:

„Ich denke wir wollten in ein Hotel?“, hatte sie geflüstert.

Der Geruch ihrer Angst mischte sich verlockend in die nach Teer riechende Luft.

„Hey, hey, nicht so hastig Tiger“, sträubte sie sich, doch betäubt von diesem Duft spürte er ihre Fingernägel kaum und schleuderte sie mühelos gegen die Wand. Sie prallte ab, stürzte zu Boden und blieb liegen. Mit beiden Händen packte er ihre Gelenke, zerrte sie in die Höhe und drückte sie gegen die Mauer. Dann ließ er los und betrachtete sie.

„Verdammt … hör auf – du tust mir weh“, hörte er sie wimmern.
Ihr zitternder Körper schien vor Panik in allen Farben zu leuchten während ihre Fäuste verzweifelt gegen seine Brust schlugen. Es war ihm ein Leichtes gewesen, sie am Mauerwerk fest zu halten. Als sie zu schreien anfing verschloss seine Hand ihren Mund. Mit der Anderen zerrte er an seinem Hosenbund. Ihre Hilferufe erstickten in seiner Handfläche als er ihr seine Zuneigung aufzwang. Aber ihr Körper genügte ihm nicht …

„Gib mir dein Herz …“, hatte er gefordert.

Eisige Kälte durchflutete Jim. Nicht die Furcht, für diese Tat büßen zu müssen, ließ langsam jede Faser seines Körpers gefrieren, sondern Hass auf die Kreatur. Es sah auf: „Wer bist du?“, stieß es aus ihm hinaus.

„Ich bin du …!“, flüsterte das Spiegelbild und neigte melancholisch den Kopf. Ein Windhauch strich über seinen Körper. „Du hast mich gerufen und mir Einlass gewährt!“

Jim nickte. Ja – er hatte es getan. Angeekelt betrachtete er das Antlitz eines Engels. Es war ein Trugbild. Er war die Bestie, die es zu töten galt. Er war es immer gewesen – vom Moment seiner Geburt an, als sein erster Atemzug die Luft verpestete. Langsam glitt Jims Hand über die Ablage. So vorsichtig wie möglich.
Hinter der Tür hörte er die erregte Stimme seines Bruders. Auch die andere Stimme erkannte er. Es war Inspektor Stan Warren. Beide diskutierten heftig.

“Es ist okay, Ron“, dachte Jim, „beschäftige ihn, Bruder - damit ich etwas Zeit gewinne. Wir waren schon immer ein gutes Team, Alter…“

Wenn er nur einen Hauch Selbstachtung bewahren wollte, dann gab es nur diesen Weg. Er sah sich in die Augen. Fieberhaft suchten seine Finger zwischen den Utensilien auf dem Spiegelboard. Dass Duschgel, Zahnbürsten und Plastikbecher dabei nicht klappernd übereinander fielen, konnte er gerade noch verhindern.
Schließlich lag sie in seiner Hand. Schön und kalt wie immer - seine geliebte Klinge.

„Gib mir dein Herz …“, flüsterte Jim. Seine Hand zitterte nicht vor Begierde nach Schmerz oder in Erwartung eines berauschenden Kicks, sondern aus Angst, zu versagen. Eine Mullkompresse klemmte zwischen seinen Zähnen. Er trat zwei Schritte zurück, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Ihm war klar, dass er bei dem was er vorhatte, nicht lange stehen würde.
Jim wollte es sich nicht einfach machen - sich nicht in eine Dusche setzen und Blut mit Wasser verdünnen. Er wollte sich in die Augen sehen. Wollte sehen wie der Killer stirbt. – Und sein Spiegelbild starrte zurück.
Jim studierte es wie ein Chirurg, bevor er den ersten Schnitt ansetzte. Reißende Schmerzen peitschten durch seinen Körper, zwangen ihn aufzuhören, um zu Leben – zu Überleben!
Sein Gewissen ließ es nicht zu. Seine Zähne vergruben sich in den weichen Knebel, um den Schrei zu unterdrücken. Einen Schrei, der nach Hilfe rief. Der letztendlich ungehört in seiner Kehle erstarb.
Das Atmen fiel ihm schwer, ging nur stoßweise, war kurz und hektisch. Es wurde zum Gurgeln. Jim spürte die Kälte des Stahles in seinem Fleisch. Der Boden drehte sich. Keuchend, stöhnend – jeden gequälten Laut zurückhaltend, zog er den Kopf in den Nacken und das Messer weiter. Zentimeter um Zentimeter fraß es sich durch seine Haut, zerteilte sein Fleisch und sägte an seinen Rippen, angetrieben durch die Herrschaft seines unbändigen Hasses.
Es knackte. Ein Ruck erschütterte seinen Körper und Jim begann zu wanken. Er brach zusammen und gleichzeitig auseinander. Noch einmal sah er flüchtig sein Spiegelbild und erkannte die Gestalt. Sie hatte ihn ein Leben lang begleitet wie eine ständige Bedrohung.
Es wurde kalt, als er zu Boden stürzte. Den Aufprall spürte er schon nicht mehr. Seine Lider flatterten, seinen tauben Fingern entglitt die Klinge. Rasend schnell verließ die Angst Jims Körper und schwamm als blutroter See im Bad. Das Letzte, was er wahrnahm, war das Weinen eines Mädchens und seine eigene Stimme: „Jetzt wirst du büßen … du wirst sterben …und niemand wird dich retten.“

*** *** ***

„Sie stecken in Schwierigkeiten!“, knurrte Warren. Er musterte Ron für einen Augenblick. Der Ältere war nervös und unternahm keinen Versuch, sich zu rechtfertigen. Dieses Verhalten passte so gar nicht zum Bild, das sich Warren von den Männern gemacht hatte.
Geräuschlos schloss der Inspektor die Tür. „Sich als FBI-Agenten auszugeben ist Amtsanmaßung! Ich könnte sie verhaften lassen.“ Trotz seines drohenden Tonfalls blieb er gelassen. Er hatte nicht die Absicht, die Situation eskalieren zu lassen.

„Hören Sie…“, Ron hob beschwichtigend die Hände. „Es ist nicht so, wie Sie denken.“ Kurz hielt er inne und lauschte.
Warren sah sich um. Ein anonymes Motel. Die Luft im Zimmer war unzählige Male aus und eingeatmet worden und roch nach Waffenöl und Whisky. Abgenutzte Reisetaschen standen halbgeöffnet auf dem Boden. Nur wenige Bekleidungsstücke waren auf den Betten verstreut. Nirgends konnte Warren etwas Persönliches entdecken. Es gab kein Foto, keinen Brief und keinen Hinweis auf eine Vergangenheit dieser Männer. Auf dem Tisch flimmerte zwischen Stapeln aus alten Büchern und Zeitschriften ein Laptop. Er bemerkte auch die Kopien, die er den Beiden ausgehändigt hatte. „Wo ist ihr Kumpane?“, fragte Warren misstrauisch.

„Jim ist im Bad. Es geht ihm nicht gut“, flüsterte Ron. Als sein Blick erneut die Tür streifte, nagte er an seiner Lippe. Dann sah er zurück zum Inspektor. Er ging auf ihn zu. „Hören Sie, wir wollen keinen Ärger machen“, schwor er. „Wir kommen morgen aufs Revier und erklären es Ihnen. Aber bitte lassen sich Sie mich jetzt nach Jim sehen!“ Rons Stimme klang ernsthaft besorgt.

Warren setzte sich auf einen der Stühle. „Erklären Sie es mir jetzt!“

„Um Himmels Willen“, stöhnte Ron, „wir haben das gleiche Ziel!“ Seine Gefasstheit lang vollends am Boden. Die Stille im Bad war beängstigend, er fühlte sich wie ein gefangenes Tier.

„Ich scheine nicht ihr einziges Problem zu sein“, bemerkte der Inspektor. „Was ist mit ihrem … Partner?“, wollte er wissen und äugte ebenfalls zum Bad.
Ron fuhr sich nervös durchs Haar. „Er ist mein Bruder! Wir sind hier, um das zu beenden.“

„Um was zu beenden?“ Warren sah Ron fragend an. Seine braunen Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. „Vor wem sind Sie auf der Flucht? Und warum interessieren Sie sich für die Selbstmorde in Bethel?“ Warren blätterte in den vergilbten Seiten eines Buches. Dann hielt er es in die Höhe. „Das ist ziemlich fragwürdige Lektüre. Finden Sie nicht?“, murmelte er und musterte das alte Grimoire*, auf dem ein Pentagramm abgebildet war. Mit Okkultismus kannte er sich nicht aus.

„Wir glauben nicht, dass es Selbstmorde sind“, erklärte Ron. Schweiß glänzte an seinen Schläfen. Als er weitersprach, vibrierte seine Stimme. „Wir glauben, die Menschen werden in den Selbstmord getrieben.“

Warren Gesicht verzog sich. Erwartungsvoll legte er das Buch zurück.

Ein lautes Rumpeln im Bad ließ Ron zusammenzucken und Warren aufspringen. „Nun sehen Sie schon nach!“, zischte der Inspektor und zog seine Waffe unter seinem Jackett hervor.
Mit einem Satz war Ron an der Tür. „Jim? Jim, verdammt mach auf!“
Auf der anderen Seite war es totenstill.
„Da stimmt was nicht“, keuchte Ron. Er ging einen Schritt zurück und trat gegen die Tür. Sie knarrte.
Warren lehnte mit entsicherter Waffe etwas seitlich an der Wand.
Beim zweiten Tritt zersplitterte der Holzrahmen. Die Tür sprang auf, schlug jedoch gegen einen Körper und schnippte zurück.
Ron quetschte sich durch den Spalt ins Bad.

*

„JIM!“ Der Schrei erstickte in Rons Hals.
„Oh mein Gott!“, hörte sich Warren keuchen, als er auf seinem Handy auch schon die Nummer des Notrufes wählte.
Das Bad war über und über mit Blut besudelt. Es klebte sogar auf der kahlen Glühlampe die von der Decke hing.
Ron hatte Jim aus der roten Lache gezogen und auf den Rücken gedreht. Nun kniete er neben ihm und presste ein Handtuch auf die klaffende Wunde in seiner Brust. Mit der anderen Hand suchte er nach der Halsschlagader. Jims Puls war kaum noch fühlbar. Er war bewusstlos.
„Wie schnell kann ein Mensch verbluten?“, schoss es Ron durch den Kopf. Er sah an sich hinunter. Seine Jeans glänzte rot. Noch immer weigerte sich sein Verstand zu begreifen. Aber das Rasiermesser am Boden, das geschlossene, unversehrte Fenster und die verriegelte Tür ließen keinen anderen Schluss zu. Hier war niemand eingedrungen. Diese Grausamkeit war Jims eigenes Werk.
Ron rang nach Luft. Jeder Atemzug brannte in seiner Kehle. Er warf den Kopf zurück und stieß einen Schrei von sich, wie ihn Warren, hätte er ihn nicht selbst gehört, niemals einer menschlichen Kehle zugetraut hätte.

„Der Notarzt ist unterwegs“ flüsterte Warren heiser. Er kniete sich neben den Älteren, um ihn zu beruhigen.
Rons Blick irrte orientierungslos durch das Bad. Handschellen und Haftbefehl waren ihm völlig egal. Mit aller Gewalt riss es ihn aus seinem Wachtraum und er erkannte die nackten Tatsachen. Verzweiflung mit Nicht-wahrhaben wollen überspielend, hatte er sich und Jim betrogen. „Jimmy… nicht einschlafen bitte!“ Fest drückte er das Handtuch auf Jims Brust. Sein tränenüberfluteter Blick senkte sich auf das bleiche Gesicht. „Halte durch, Kleiner … bitte … halte durch!“
Es war zu spät, um noch irgendetwas zu ändern oder zu richten - zu spät, um zu Vergeben oder Vergebung zu finden …


Quellen und weiterführende Hinweise:

Ein *Grimoire oder Zauberbuch ist ein Buch mit magischem Wissen. Die Blütezeit dieser Schriften war zwischen dem Spätmittelalter und dem 18. Jahrhundert. Solche Zauberbücher enthalten astrologische Regeln, Listen von Engeln und Dämonen und Zaubersprüche, sowie Anleitungen zum Herbeirufen von angeblichen magischen Wesen oder zur Herstellung von Talismanen und Mixturen.
Das Wort grimoire kommt vom altfranzösischen gramaire und hat die gleiche Wurzel wie das Wort Grammatik. Quelle: wikipedia


*** Nicht ohne Dich ***

„A C H T U N G“ - Ihre Stimme riss Ron aus seiner Starre. Er zuckte zusammen und wich zurück. Seine Zähne klapperten. Im Bad klebte der Geruch von Schweiß, Blut und Erbrochenem. Viel zu eng und zu heiß war der Raum für das Rettungsteam.
Ihre routinierten Hände hatten bereits Infusionen mit einer kolloidalen Lösung* gesetzt, als sein Herz aufgab.
Mit einfühlsamen Augen sah sie Ron an. Doch nur eine Sekunde lang. Dann schickte sie einen Stromstoß durch den Mann auf der Trage. Sein Körper bäumte sich auf.
Aufmerksam beobachtete sie die flache unveränderte Linie auf dem Monitor. Der erhoffte Sinusrhythmus blieb aus.
„Verdammt“, fluchte sie und wischte Reste von Blut und Erbrochenem von der Brust ihres Patienten. „Wie kann man sich nur so etwas antun?“ Sie nahm beide Elektroden und platzierte sie erneut unter dem rechten Schlüsselbein sowie auf der linken Seite des Brustkorbes.
Das EKG des Defibrillators zeigte Kammerflimmern. Die rote Lampe leuchtete und ein leiser Heulton signalisierte die Bereitschaft des Gerätes. Sie wiederholte den Vorgang dreimal. Ohne Erfolg.
Verzweifelt sah sie auf den ersten Rettungssanitäter. Er kniete neben dem Bewusstlosen und hatte den Beatmungsbeutel übernommen. Mutlos schüttelte er seinen Kopf.
Sie atmete durch: „Nochmal – A C H T U N G!“
Entschlossen stellte sie den Defibrillator auf maximale 360 Joule ein und löste einen weiteren Stromstoß aus. Weder am Patienten noch auf dem Display war eine Reaktion zu erkennen.
Sie drehte sich zu Ron. „Wie lange ist er schon bewusstlos?“
„Acht Minuten … ich … ich denke etwas über … acht Minuten…“ Rons Stimme krächzte. Kaum ein Wort konnte sie verstehen.
Ron kniete hinter ihr, in der Blutlache seines Bruders und hatte beide Hände auf seine Oberschenkel gestützt. Er schlotterte vor Angst.
Die Ärztin sah zum zweiten Rettungssanitäter. Der stand leichenblass im Türrahmen und starrte auf den halbnackten Mann, dessen tiefe Schnittwunden schon notdürftig versorgt waren. „Hat er … hat er etwa versucht, sein eigenes Herz …?“, stotterte er.

„Wir brauchen Adrenalin!“, schrie sie und schnitt ihm das Wort ab.

„Äh, ja … das ist!“

„Wo?“ Sie fragte so ruhig wie möglich.

„In … in der Tasche - nebenan!“

Ron sprang auf die Beine, eilte am Sanitäter vorbei ins Nebenzimmer und riss die Tasche an sich. Ihr Verschluss schnappte auf. Durch die schleudernde Bewegung verlor sie die Hälfte ihres Inhaltes. Glasampullen klirrten über den Boden. Verteilten sich unter Tisch und Betten - rollten ins Bad.

„Jetzt machen Sie schon!“, drängte sie.

Ron kramte fieberhaft im verbleibenden Inhalt und gab ihr schließlich eine Ampulle und eine Einwegspritze. Nickend überprüfte sie die Etikettierung. Dann riss sie mit den Zähnen die Verpackung auf und zog die farblose Flüssigkeit auf die Spritze. Entschlossen trieb sie die Nadel in das Herz ihres Patienten.
Ron und der zweite Sanitäter beobachteten die EKG Anzeige.
Mit sanfter Stimme fragte sie. „Haben sie uns gerufen?“
Ron nickte abwesend. Sein Blick war versteinert auf den Monitor gerichtet. Weder die Stromstöße noch das Adrenalin schienen Jims unwilliges Herz wiederbeleben zu können.

Langsam senkte die Ärztin den Kopf. „Exitus, wir hören auf!“, murmelte sie und fügte mit Rücksicht auf den Gemütszustand aller hinzu: „Wir haben getan, was wir tun konnten!“
Als sie zusammenpacken wollte, spürte sie den festen Griff an ihrem Oberarm. Ron sah sie an. Er vermochte nicht mehr zu sprechen, aber seine Lippen bebten. Ihr Gesicht spiegelte sich in seinen tränennassen Augen. Seufzend sah sie wieder zum Sanitäter der aufgehört hatte, Jim zu beatmeten und nickte: „Gut! Wir versuchen es. - Noch einmal!“
Sie ließ die Einstellung des Defibrillators bei 360 Joule und aktivierte den Stromstoß. Unkontrolliert schnellte der Körper in die Höhe. Ein zögerliches Piepsen begleitete den ersten Ausschlag auf dem Monitor. Jims Lider flatterten kurz und ein rhythmischer Ton stellte sich nach wenigen Sekunden ein. Es klang wie das Zirpen einer Grille.
„Wir haben ihn“, stöhnte sie erleichtert und schüttelte Ron heftig an der Schulter. „Stabilisieren … und nichts wie ab!“
Das ganze Helferteam war in hektischer Aktivität vertieft, als sie die Trage im Eiltempo über den Parkplatz zu einem der blinkenden Rettungswagen rollten.

*** *** ***

Als Stan Warren durch die Straßen fuhr, spürte er eine beklemmende Ruhe. Schon seit Wochen verwandelte sich die Stadt jeden Morgen unter der Sonnenglut in einen Backofen. Zum Schutz hatten die meisten Bewohner die Rollläden herabgelassen. Trotzdem beschlich ihn das Gefühl, nicht allein zu sein. Hinter den stummen Fassaden schienen unzählige Augen seinen Weg zu verfolgen.
Warrens Hände zitterten immer noch. Wäre die Lenkung seines Dienstwagens, einem alten Ford, nicht derart ausgeleiert, müsste er befürchten von den eigenen Kollegen für betrunken gehalten zu werden.
Der Inspektor schnaufte. Dieser Ort schien verflucht zu sein. Oberflächlich betrachtet war Bethel ein romantisches Idyll voller Erinnerungen an eine rebellische Zeit, bewohnt von alternden Hippies und besucht von nostalgiesüchtigen Touristen. Doch blickte man nur wenige Millimeter unter die Oberfläche, war alles verrottet. Seine Existenz verdankte Bethel den aufgegebenen Idealen und zerplatzten Träumen von Woodstock. – Und Warren war ein Teil davon. Er musste sich damit abfinden, dass seine Frau nicht zurückkommen würde, seine Kinder ihn einen Fremden nannten und die einzige Gesellschaft in seiner Wohnung der eigene Schatten war. Der tiefe Wunsch, eine Familie zu gründen war ebenso an der Boshaftigkeit dieses Landes gescheitert, wie die kleinen Hoffnungen der meisten Anwohner.
Warren beschloss, ins Büro zu fahren, um den Sektenselbstmord auf der Shire-Farm noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Wenn nur ein Fünkchen Wahrheit an der verrückten Theorie erzwungener Selbstmorde sein sollte, dann war dieser Jim Barker die Lösung – sofern er die nächsten Stunden überlebte.
Obwohl dem Inspektor klar war, sich den Dienstvorschriften zu widersetzen, entschied er, die Brüder nicht festzunehmen. Schließlich lag nichts Offizielles gegen sie vor und verschwinden konnten sie in nächster Zeit auch nicht. Nach vierzig Jahren Katz und Maus Spiel mit den Behörden hielt er es für angemessen, diesmal ebenfalls wegzusehen. Er hatte viel von seinen pflichtbewussten Kollegen der CIA gelernt und musste unweigerlich grinsen. Diesmal saß er am längeren Hebel, denn er hatte einen Zeugen, den er um keinen Preis der Welt ausliefern wollte.

*** *** ***

Die abgestandene Luft ließ seine Nebenhöhlen austrocknen. Ron versuchte unablässig, durch leeres Schlucken seinen Gaumen zu befeuchten, was den Geruch von Desinfektionsmitteln und Automatenkaffee jedoch nur verstärkte. Er war außer Stande, auch nur eine Minute auf dem klapprigen Wartestuhl auszuharren. Immer wieder zog es ihn in den langen Korridor, in der Hoffnung, man würde ihn zu seinem Bruder lassen.
Sie hatten Jim nach einer vierstündigen Not-OP auf die Intensivstation gebracht und bisher jeden Besuch verweigert. Ron blieb nichts übrig, als zu warten – und zu beten. Und genau das tat er …
Jimmy hatte immer gebetet. Er glaubte an eine höhere, gute Macht. Wenn dieser Glaube nun half, wäre Ron bereit, seinen Zorn auf Gott zu begraben. Seufzend vergrub er das Gesicht in seinen Händen. Er wollte alles ertragen, alles tun, was die Ärzte ihm rieten und wenn es sein musste, hier stundenlang ausharren.
Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Wechselnde Gesichter, die ihm gegenüber saßen, erzählten die gleiche Geschichte – teilten sich den gleichen Schmerz und mussten sich schließlich der Wahrheit stellen. Manchen von ihnen war es vergönnt, nach endlosem Warten einem Arzt folgen zu können, um ihre Liebsten in die Arme zu schließen. Andere mussten für immer Abschied nehmen. Hoffnung und Verzweiflung lagen nirgends so dicht beieinander, wie an diesem Ort.

„Mister Barker?“ Eine Hand berührte ihn sanft an der Schulter. Ron sah auf. „Sie dürfen ihren Bruder jetzt sehen. Aber erwarten Sie nicht zu viel.“

„Sie sind noch da?“, fragte er erstaunt.

Sie nickte: „Wir scheinen uns sehr ähnlich zu sein. So schnell gebe ich nicht auf.“
Nach den vielen Stunden sah sie müde aus. Eine schlichte Spange hielt ihre Haare im Nacken zusammen. Die widerspenstigen, rot schimmernden Spitzen standen starr nach oben, wie der Gamsbart eines Tirolerhutes und gaben ihr trotz der respekteinflößenden Arbeit, die sie täglich bewältigte, ein keckes und unerschütterliches Aussehen. Sie bemerkte Rons Angst. „Nur Mut“, flüsterte sie, „das kriegen wir wieder hin. Sie können froh sein, dass ihr kleiner Bruder so ein Riese ist.“ Aufmunternd zwinkerte sie Ron zu. „Er hat etwas mehr Blut zur Verfügung als die meisten Menschen.“

„Wie heißen Sie?“, fragte Ron leise, während sie den schmalen Gang entlanggingen.

„Nennen Sie mich Tasha.“

Abrupt blieb Ron stehen und sah ihr ins Gesicht. „Tasha, Sie haben meinem Bruder das Leben gerettet. Ich .. ich weiß … nicht wie…“

„Ist schon okay, das ist mein Job.“ Tasha tippte demonstrativ auf das obligatorische Stethoskop um ihren Hals. Ich bin Ärztin … mh?“ Sie lächelte kurz. Doch als sie nach der Türklinke griff, bildeten sich Kummerfalten auf ihrer Stirn. „Allerdings haben wir noch einen steinigen Weg vor uns“, fuhr sie fort und überließ es Ron, als erster das Krankenzimmer zu betreten.

„Jimmy, Jimmy … Jimmy!“ Alles um sich herum vergessend, war Ron mit einem Satz am Bett. Doch die Bewegung seiner Hand erfror, als er Jim eine Strähne aus der Stirn streichen wollte. Gelähmt sah er in sein Gesicht. „Es … ich … Jimmy – es tut mir so leid!“ Tränen rollten über Rons Wangen. „Es ist alles meine Schuld.“
Jim war so blass – fast durchsichtig, dass Ron den Eindruck hatte, er würde sich jeden Moment unter seinen Augen in Luft auflösen. Piepsende Geräte und flimmernde Monitore überwachten mit kühler Akribie seine Vitalfunktionen. Jims Arme ruhten auf einer sterilen Bettdecke. Kanülen in seinen Venen zwangen Tropfen für Tropfen das Leben, das er weggeworfen hatte, zurück in seinen Körper. Ein Schlauch in der Nase sollte ihm das Atmen erleichtern.

Tasha stand noch in der Tür und beobachtete Ron. Sie bemerkte das Beben seiner Schultern und hörte das leise Schluchzen. Geduldig ließ sie ihm Zeit, bevor sie zum Bett ging. „Ihr Bruder hat großes Glück gehabt. Hätten Sie nicht so professionell reagiert und ihm die Wunde abgedrückt, wäre er mit Sicherheit verblutet.“ Sie machte eine kurze Pause. „Die meisten Menschen werden beim Anblick eines derartigen Traumas ohnmächtig oder zumindest handlungsunfähig. Allerdings, so scheint es mir, haben Sie einige Erfahrungen mit Verletzungen.“
Als Ron sich zu ihr umdrehte und sie schulterzuckend ansah, hob sie ihre Brauen: „Jim hat viele Narben.“

„Sie haben ja keine Ahnung …“, murmelte der Ältere, bevor er deutlicher sprach. „Ähm … ja – wir reiten Rodeo“, er räusperte sich.

„Worauf? – Auf Grizzlybären?“ Ihre aufmerksamen Augen streiften demonstrativ über eine mächtige Narbe auf Jims rechter Brust, die teilweise unter dem Verband hervor lugte. Dann beobachtete sie Ron mitfühlend.
Behutsam, als hätte er Angst, seinem Bruder weh zu tun, strich er ihm über die Wange und flüsterte: „He, Tiger, wir packen das. Ich bin bei dir!“
Abrupt wandte er sich an Tasha. „Warum reagiert Jimmy nicht auf mich?“

Tasha seufzte. „So wie es aussieht, hat Jim versucht, sich das Herz heraus zu schneiden.“ Sie zupfte an einer verirrten Haarsträhne auf ihrer Stirn. „Es ist mir ein Rätsel, wie er bei diesem Vorhaben so weit kommen konnte.“
Ron sah sie fragend an.
„Ihr Bruder hat es geschafft, sich eine Rippe direkt am Brustbein abzutrennen! Mit einem Rasiermesser!“ Ihre zweifelnden Augen trafen auf den Älteren. „Normalerweise wäre ein Mensch bei dieser Tortur bewusstlos geworden.“ Sie flüsterte: „Zum Glück ist das gerade noch eingetreten, bevor er das Herz oder eine Arterie erwischt hat.“ Tashas Gesicht nahm sehr ernste Züge an, als sie weiter sprach: „Glauben Sie mir … Jim wusste ziemlich genau, was er tat!“ Kopfschüttelnd gestand sie: „Mir ist klar, wie sich das anhört. Theoretisch ist das unmöglich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, jemand hätte nachgeholfen.“
Ron zuckte zusammen.
„Wir haben die Rippe verdrahtet und Haut, Fett sowie Muskelgewebe mehrfach vernäht.“ Ratsuchend holte sie Luft. „Ich hielt es für besser, Jim eine Weile zu sedieren**. Er spürt so keine Schmerzen und in Anbetracht seiner labilen Psyche kann sich sein Körper auf diese Weise besser erholen.“
Die letzten Worte der jungen Ärztin ließen den Boden unter Rons Füßen einstürzen. Sprachlos sah er in ihre Augen. Ihm wurde eiskalt. „Was hat Jim?“ Aufkommende neue Tränen erstickten Rons Stimme.

„Sie haben es nicht bemerkt … oder?“, flüsterte Tasha und versuchte, so behutsam wie möglich zu sein. Sie wusste aus Erfahrung, dass für viele Angehörige die Welt aus den Fugen geriet, wenn sie die Wahrheit erfuhren.
Als Ron sie hilfesuchend ansah, zog sie vorsichtig die Bettdecke nach unten. Sie betrachtete schweigend unzählige schmale Narben die kreuz und quer über Jims Bauch verliefen.
„Wann hat sich ihr Bruder das letzte Mal nackt gezeigt?“, fragte sie leise, erwartete jedoch keine Antwort. Stattdessen legte sie ihre Hand auf die Schulter des Älteren: „Jim verletzt sich schon seit vielen Monaten selbst!“
Ron erstarrte. Das Zimmer drehte sich im Kreis. Wie Ohrfeigen schlugen Erinnerungen auf ihn ein: Jims lange Aufenthalte unter der Dusche. Das Blut im Bad. Seine gekrümmte Haltung nach der letzten Jagd und nicht zuletzt die Abweisung, als Ron seine Verletzung sehen wollte. Ja, er hatte Jim lange nicht nackt gesehen. Er trug immer ein Shirt, wenn er aus dem Bad kam oder hinein ging.
Warum hatte er all diese warnenden Zeichen übersehen? Warum hatte er nicht nach Antworten gesucht?
„Oh Gott - N E I N !“ Japsend rang der Ältere nach Luft und sank auf einen Stuhl, den ihm Tasha vorsorglich bereitgestellt hatte.
Jims Worte waren Hilfeschreie gewesen: … Er war nicht mehr zu retten … Viele Dinge können einen Menschen in den Wahnsinn treiben … Dann bist du der einzige Mensch, der sowas nicht braucht …

Jim hatte um Hilfe gefleht – immer und immer wieder. Und er – Ron Barker hatte es ignoriert. So sehr darauf bedacht, den kleinen Bruder in Watte zu packen und den eigenen Schmerz mit Whisky zu ertränken, hatte er den freien Fall, in dem sie sich befanden, nicht bemerkt.
Rons Herz krampfte mit jedem Schlag, als er den Kopf in den Nacken riss und brüllte: „ NEIN!“ --- Eine Abwehrreaktion. Ein letzter Versuch, die Augen zu verschließen – diesem Alptraum zu entfliehen.
Aber es war unmöglich, die deutlich sichtbaren Male zu ignorieren. Langsam richtete sich Ron auf und strich mit sanften Fingern über die Narben. „Was habe ich dir nur angetan? Jimmy – verzeih mir! Gib nicht auf bitte … gib nicht auf.“ Trotz seines gequälten Blickes legte sich plötzlich Entschlossenheit auf das Gesicht des Älteren. Es war an der Zeit, aufzustehen. Er war an der Zeit, seine Bestimmung zu erfüllen und zu den Wurzeln zurück zu kehren. Für Ron gab es keine Chance auf Selbstmitleid, denn Jim brauchte ihn jetzt. „Kämpfe! Ich bin bei dir. Ich werde dich niemals allein lassen! Wir stehen das durch – gemeinsam!“
Tasha verspürte das Bedürfnis, etwas zu sagen. Aber in jedem Wort, in jeder Geste und in jedem Atemzug des Älteren lag so viel Hingabe und Liebe, dass ihr Versuch, sich einzumischen die Magie dieses Augenblickes zerstört hätte. Sie wusste, dass die meisten Menschen, die Selbstmordversuche begingen, weder sterben, noch leben wollten. Sie wollten beides gleichzeitig, gewöhnlich das eine mehr als das andere. Sie wollten nichts anderes, als angehört werden.
„Ich werde die Dosis des Sedativums langsam verringern“, sagte sie. „Morgen früh dürfte ihr Bruder ansprechbar sein. Reden Sie miteinander!“

Endlich bereit, sich den Tatsachen zu stellen, sah Ron wieder klar und erkannte das wahre Ausmaß der Tragödie. Vielleicht war es nur Zufall – eine Täuschung seiner überreizten Nerven. Aber an derartige Zufälle glaubte Ron nicht. Nicht bei dem, was er bisher erlebt hatte.
Wahrscheinlicher war es, dass die Mauern des Schweigens hinter denen sich die Brüder seit Monaten verschanzten, Risse bekamen. Er musste akzeptieren, dass die Vergangenheit ihnen beiden gehörte und konnte sie nicht länger vor Jim verbergen. Die gelöschten Erinnerungen an Friggs Hölle bahnten sich bereits einen Weg aus Jims Unterbewusstsein an die Oberfläche. Die Narben waren nicht zufällig angeordnet. Auf Jims Körper stand in eingeritzten Buchstaben der Name einer Geschichte …


Weiterführende Erklärungen und Anmerkungen des Autors:

* Kolloidale Infusionslösungen werden als Blut-Volumenersatz (Plasmaersatz) oder in der Volumentherapie eingesetzt. Durch ihre Zusammensetzung können sie die Gefäßwand nicht überschreiten. Neben einer gegenüber Elektrolyten verlängerten Verweildauer im Gefäßsystem ergibt sich daraus auch ein ausgeprägter und länger anhaltender Effekt auf das Blutvolumen, weshalb sie zum Ausgleich größerer Volumenverluste beim hypovolämischen Schock (Verbluten) eingesetzt werden. Quelle: Wikipedia

** Der Begriff Sedierung (lat. sedare, „beruhigen“ eigentlich „sinken lassen“) wird vor allem in der Medizin, insbesondere in der Intensivmedizin oder bei der Nutzung von Psychopharmaka verwendet. Er bezeichnet die Dämpfung von Funktionen des zentralen Nervensystems durch ein Beruhigungsmittel. Der Übergang von einer Sedierung zu einer Allgemeinanästhesie (Narkose) ist fließend. Der vor allem in den Medien genutzte Begriff „Künstliches Koma“ ist nicht korrekt, denn dieses ist primär ein ungeregelter Bewusstseinsverlust. Quelle: Wikipedia


*** Wahrheiten ***

Es war still geworden in den langen Fluren der Klinik. Lediglich das Summen kalter Neonröhren und monotones Piepsen lebenserhaltender Apparaturen erfüllten das abgedunkelte Zimmer.
Ron ging zum Fenster. Er schob die Vorhänge beiseite und sah auf den Parkplatz. Die klare Nacht zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. In Nächten wie diesen hatten er und Jim oft nach erfolgreicher Jagd die Sterne am Firmament betrachtet. Irgendwo im Nirgendwo bot ihnen der Himmel immer einen Ort der Zuflucht und Stille in ihrem bewegtem Leben. Dann saßen sie Schulter an Schulter auf der Motorhaube ihres schwarzen Wagens und lauschten dem Flüstern des Windes.
Aber diese Gemeinsamkeit lag weit zurück, bemerkte Ron, als er Jim betrachtete. Im blassen Licht erschien seine Haut weißer als der Verband, der seinen Brustkorb zusammenhielt. Er wirkte entspannt, denn sein Körper war ruhig gestellt durch die Flüssigkeit, die durch seine Venen schlich.
Langsam ging Ron zum Bett, setzte sich auf einen Stuhl und stützte den schwer gewordenen Kopf mit seinen Händen ab.

Ein platschendes Geräusch schreckte ihn auf.
Blutrot lag gehäuteter Kadaver in beschmierten Laken, die allmählich zu Staub zerfielen. Doch es war kein Tier, welches festgekettet, aufgeschlitzt und weggeworfen worden war. Der Geruch nach altem Blut - menschlichem Blut - und der Geruch von Erbrochenem raubten Ron fast die Sinne.
„Gib mir deine Hand!“, bettelte er und streckte seine Finger nach Jim aus. Doch so sehr er sich auch bemühte, er war unfähig, ihn zu erreichen. Die Schmerzen in seinem Körper ignorierend, zwang er sich auf die Beine, um im gleichen Moment nach hinten zu straucheln und gegen schroffe Felsen zu prallen. Das Hämmern hinter seinen Schläfen war zu einem ständigen Begleiter geworden, den er zu erdulden gelernt hatte. Aber dieser Anblick! Jim - sterbend in grauer Asche – zerriss ihn. Seine Haut war durchzogen von blutroten Linien.
„Jimmy! Bitte!“ Ron winselte, bettelte, flehte - ließ sich erneut in die Asche fallen. Ungewohnt heiß brannten Tränen in seinen Augen, bis sie schließlich im Staub versandeten. „Gib mir deine Hand! Versuch es doch wenigstens!“
Jims Augen öffneten sich. Sie blitzen vor dem fleischlichen Chaos auf und warfen ihm stumm vor, was schmale Lippen nur mühsam zu Worte formten: „Warum hast du mich nicht sterben lassen?“
Nach all diesen Stunden zitterte Ron, wie er noch nie zuvor gezittert hatte. Er zitterte nicht, weil sich seine Hände in den staubigen Boden krallten, ohne dass er wusste, wann und wie er in die Knie gegangen war. Er zitterte, weil es Jim war, dessen Haut in Fetzen hing. Sein Herz raste. Heiße Luft explodierte in seiner Lunge. „NIEMALS! Hörst du Jim – werde ich dich sterben lassen!“ Wieder öffnete er die Augen, seine Pupillen fixierten ein Stück rohes Fleisch.

„WARUM HAST DU MICH NICHT STERBEN LASSEN - RON?“

Obwohl Ron förmlich mit dem Rücken an der Wand klebte, bereitete es ihm Mühe, sich aufrecht zu halten. Nur langsam schmolzen die schrecklichen Bilder unter wärmenden Strahlen auf seiner Schulter dahin. Ron atmete schwer, als der Gesang einer Amsel sein rasendes Herz beruhigte und er allmählich begriff, dass die Nacht vorüber war. Und mit ihr der Alptraum.
Schweißgebadet sackte er in sich zusammen und heulte enthemmt wie ein kleines Kind.

„Warum hast du mich nicht sterben lassen?“

Diese zerbrechlichen Worte ließen ihn verstummen. Ron hob den Kopf und seine Blicke eilten durch das Zimmer. Tasha hatte ihr Versprechen gehalten. Jim war wach und seine Augen klar. Selbst als Ron auf ihn zuging, starrte er unentwegt an die Zimmerdecke. „Wie kannst du dir nur wünschen, zu sterben, Jim?“, flüsterte Ron als er behutsam eine braune Haarsträhne aus der Stirn seines Bruders strich.
Jims Kopf taumelte zur Seite. Er sah weg - auf die kahle Wand und schwieg.

„Jimmy, ich … ich werde dir zuhören. Ich werde für dich da sein. Es tut mir so leid… ich hatte doch keine …. Es ist alles meine Schuld“, flüsterte Ron, „Jim … bitte! Sprich mit mir!“ Er zog die Decke etwas herunter und ließ seine Finger über die schmalen Narben auf Jims Bauch gleiten. „Warum?“

Jim schluckte. Mehrmals. „Ich konnte nichts mehr fühlen“, begann er zu flüstern, „konnte dich nicht mehr fühlen – nur deine Angst, deine Abneigung … bis.“ Für einen Moment schloss er die Augen. „Es war anfangs nur ein Kribbeln … ein leises Wispern - und wenn mein Blut lief, befreite es mich von dieser Leere.“
Worte voll Scham und Reue sprudelten, wenn auch leise und unbeholfen über Jims Lippen. Er erzählte Ron von seiner quälenden Taubheit und von seinen verzweifelten Versuchen, dieser Leere mit der Klinge ein Ende zu setzen. „Ich werde wahnsinnig, Ron“, erklärte Jim. Er leckte eine Träne von seiner Oberlippe, bevor er weiter sprach: „Diese Stimmen! Sie flüstern nicht mehr… sie schreien.“ Hilflos irrten seine Augen über Rons Gesicht. „Ich weiß nicht, wer sie sind und woher sie kommen – ich weiß aber, dass ihnen Furchtbares widerfahren ist. Denn sie erzählen mir schreckliche Dinge. Immer mehr von ihnen sind in meinem Kopf!“

Ron schluckte. Er musste sich setzen. Mit jedem Satz, den Jim aussprach, verkrampften sich seine Hände mehr im Stoff der Jeans. Jims Gedächtnis hatte das Versprechen gegenüber Frigg und all die Qualen, die er erdulden musste, vergessen, aber sein Körper erinnerte sich an jedes blutige Detail und gönnte ihm nicht den Frieden, den sich Ron durch sein Schweigen erhofft hatte. Ihm wurde klar, dass der menschliche Geist grausame Erinnerungen verdrängen und sich selbst belügen konnte, aber solange ihre Vergangenheit unausgesprochen blieb, würde sie Jim unbarmherzig weiter quälen.
„Jim! Hör mir zu.“ Ron ergriff Jims Handgelenke. Er sah ihm direkt in die Augen: „Du wirst nicht verrückt!“ Ron japste wie ein Fisch an Land. „Bei Gott, Jim … ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als dir diese Erinnerung zu ersparen – als sie von dir fern zu halten. Ich wollte, dass es aufhört.“ Tränennasse Augen richteten sich erneut auf Jims Gesicht. „Zumindest für dich…“, murmelte er, „es ist alles wahr … alles.“

Jim hörte aufmerksam zu, als Ron von Frigg und ihren Reitern, den verlorenen Seelen in Anderswelt und dem Ritual berichtete. Seine Stimme war brüchig. Als die letzten Worte seinen Mund verlassen hatten, wurde es still im Zimmer. Wieder schob sich Schweigen zwischen die Brüder. Es war ein Schweigen der Erleichterung - ein Schweigen wie damals, als sie in sternenklaren Nächten gemeinsam das Firmament beobachteten.

„Du hast mich gerettet“, hauchte Jim.

Ron lächelte gequält. „Nein, Jim - du hast mich gerettet, du hast Lilly und mein Baby gerettet. Jim, du hast mich von der Ungewissheit erlöst.“ Seine Hände umgriffen noch fester die kühlen Handgelenke des Bruders, als er flüsterte: „Ich habe dir deine Entscheidung schon lange vergeben, Jim.“ Tief atmete Ron ein. „Du solltest dir auch vergeben!“

Jims Atmung beschleunigte sich. Er biss sich auf die Lippe und warf den Kopf zur Seite. Das Herz in seiner Brust hämmerte so heftig, als versuche es zu beenden, was er mit eigener Hand vor 24 Stunden begonnen hatte – auszubrechen aus dem knöchernen Gefängnis. „Es ist zu spät – Ron!“ Jims raue Worte waren voller Hoffnungslosigkeit. Er erlaubte sich ein letztes Lächeln, dann verschwand jede Emotion aus seinem Gesicht.
Ron hatte Jims Kopf ergriffen, um ihm in die Augen zu sehen. Sie füllten sich mit Tränen. „Ich bin ein Schlächter!“

Ron schüttelte energisch den Kopf. Er wollte nicht glauben, was Jim da immer noch von sich behauptete. „Nein, Jim, das bist du nicht. Du weißt, dass Frigg unrecht hatte!“

Jim schlug die Lider nieder. „Da war diese fremde Stimme.“

„Welche Stimme?“ Rons Augen weiteten sich.

„Die Stimme, die mit mir redete, als du nicht da warst. Die Stimme, die mir zuhörte, die versprach, mir die Taubheit zu nehmen“, antworte Jim. Bedrohlich schnell und hoch schlug plötzlich die Anzeige auf dem EKG aus. Der rhythmische Ton, der Jims Herzschlag wiedergab, verwandelte sich in schrilles Pfeifen und die nach oben rasende Zahl in der rechten oberen Ecke des Monitors zeigte, dass Jims Puls in Bereiche schoss, die lebensbedrohlich waren. Er keuchte. Kalte Finger krallten sich in die Bettdecke. Als er die Muskeln anspannte, rissen die Kanülen aus seinen Venen. Blut sickerte in das weiße Laken. Jim schnellte direkt in Rons Arme.

„Jim … Jim beruhige dich!“ Durch diesen Ausbruch völlig überrascht versuchte Ron, seinen Bruder am Aufstehen zu hindern. Mit aller Macht umschloss er ihn mit den Armen und stemmte sich gegen seinen Körper. „Schwester … ich brauche eine Schwester“, brüllte Ron.

Jim würgte. „Ich muss es töten!“ Er gluckste und gurgelte: „Warum hast du mich nicht sterben lassen Ron?“

„Schwester … Schwester!“ Ron schrie und kämpfte gleichzeitig mit und um seinen Bruder. Endlich gelang es ihm, nach dem Notschalter zu greifen. Gleichzeitig presste er Jim zurück ins Bett und war erstaunt über die Kraft, die er dafür aufbringen musste. „Schwester! Ich brauche Hilfe!“

Die Tür flog auf und eine junge Frau eilte herein. „Was ist passiert? Was regt ihn so auf?“, fragte sie, während sie eine Spritze an Jims Oberarm setzte. „Mein Gott, er kollabiert ja!“

„Ich … ich habe keine Ahnung“, keuchte Ron, Jim mühsam auf der Matratze haltend.

„Ich muss es töten, Ron“, wimmerte Jim. „Ich muss … dieses … in mir … das Herz!“
Das Sedativum war stark. Fast zeitgleich setzte die betäubende Wirkung ein und Jim sank zurück in das Kissen. Langsam verringerte sich der Ausschlag auf dem Monitor und der Pfeifton wurde wieder zum rhythmischen Piepsen. Nur seine angstgeweiteten Augen irrten durch das Zimmer, als Ron beruhigend auf ihn einsprach: „Sch … sch … Jim – es ist alles gut!“

Jim schloss die Augen. „Zu spät …“, flüsterte er, abgleitend in einen Nebel aus Gleichgültigkeit. Seine Finger umschlossen die Handgelenke des Älteren. „Ich bin ihr blind gefolgt … Ron … ich habe … der Stimme geglaubt … wollte …“
Noch einmal riss er die Augen auf und sah Ron mit geweiteten Pupillen an. Sein Verstand wehrte sich gegen den lähmenden Griff der Injektion. „Mein Gott… was habe ich getan!“ Schließlich verließ Jim die Kraft und sein Kopf sank zur Seite. „RON! … Da war diese Frau!“, hauchte er mit bebender Stimme.

*** *** ***

„Stan… sind Sie es?“, rief Harry Svann. Er konnte hinter dem Tisch am Boden hockend nicht erkennen ob es sein Kollege war, der den Raum betrat. Aufgeschreckt durch die laute Stimme des Gerichtsmediziners schmetterte eine Gelbkopfamazone eine Salve durchdringender Schimpflaute in die Küche, bevor sie ihre Federhaube aufstellte und mit geneigtem Kopf verstummte. Warren betrachtete erstaunt den Papagei im goldenen Käfig. Eigentlich hatte er einen mit rosa Schleifenbändern verunstalteten Pudel erwartet.
Svanns Kopf tauchte hinter dem Tisch auf, bevor er sich erhob. „Da drunter“, murmelte er und nickte zu Boden. Vor seinen Füßen lag ein roter High-Heel. Etwas weiter entfernt unter dem Küchentisch in verkrampfter Haltung seine Besitzerin.
Warren kam langsam näher. Er wirkte wie ein Seiltänzer, als er mit vorsichtigen Tritten nach einer Lücke im getrockneten Blut suchte. Schließlich streiften seine Blicke den leblosen Körper. „Ist sie tot?“ Offensichtlich war sie vom Täter in aller Eile versteckt worden.

Svann verdrehte die Augen. „Meine Güte“, stöhnte er: „Sehen Sie sich die Frau an! Jemand hat sie aufgerissen.“ Der Gerichtsmediziner ging in die Hocke und versuchte, den steifen Körper hervor zu ziehen. „Verdammt – sie wurde regelrecht in die Ecke gestopft, “ zischte er durch die Zähne.

Die schlimmsten Wunden hatte Warren noch nicht sehen können, da Svann vor der Leiche kniete. Bis jetzt erblickte er lediglich einen Schwall blonder Haare und einen unbeschuhten Fuß, der starr aus dem Versteck ragte. „Vielleicht hat sie versucht, zu fliehen und schaffte es bis hierhin?“

Svann schüttelte den Kopf und gab die Sicht frei. „Das glaube ich nicht.“

Warren schloss entsetzt die Augen. Möglicherweise wollte er einfach nicht sehen, was er bereits ahnte. Ihr Kleid war zerrissen. Ihre Wäsche ebenfalls. Und als wollte jemand die Bloßlegung vervollständigen, waren auch ihre Haut und das darunter befindliche Muskelgewebe zerfetzt.
Emotionslos spähte Svann in ihren geöffneten Brustkorb. Mehrere Rippen waren zerbrochen, vom Brustbein selbst fehlte ein Stück und ihr Herz war ansatzweise aus seinem natürlichen Sitz herausgerissen. Der Gerichtsmediziner beendete sein vorläufiges Tète-a-tète mit der Leiche und erhob sich, um seine Arzttasche zu holen. „Toter kann man nicht sein!“, murmelte er kopfschüttelnd.

Warren wollte den Anblick nicht mehr ertragen. Stumm sah er zum Fenster hinaus. Wieder hatte die Sonne damit begonnen, das Land zu verbrennen. Ihre Strahlen brachten nicht nur Dürre über Bethel, sondern auch Wahnsinn und Tod. „Es wird ein verdammt heißer Sommer“, murmelte er und atmete gegen die Scheibe. Zwischen dem ekelhaften Gestank nach Blut lag noch ein anderer Geruch, den er erkannte, aber seltsamerweise nicht zuordnen konnte. Irritiert verharrte Warren einen Augenblick. Als Svann mit seiner Tasche zurückkam, fragte er: „Wie lange ist sie schon tot?“

„Ist bei dieser Hitze schwer zu sagen!“ Svann hob unschlüssig die Schultern. Er zog es vor, das Thermometer zu befragen und beugte sich wieder über das Opfer.
Distanziert beobachtete ihn der Inspektor. Dieser Mann hatte wahrscheinlich schon hunderte von Leichen begutachtet – in allen erdenklichen Verfassungen. Trotzdem lag in seinem Gesicht eine gewisse Faszination. Eines verwirrte Warren immer wieder: Wie konnte es einem Menschen nur Spaß machen, einer Toten rektal die Temperatur zu messen? Er wandte sich schaudernd ab. „Welche Waffe?“ fragte er.

Svann murmelte: „Auf Grund der Wunden wäre ich glatt versucht, auf ein Tier zu tippen.“ Seine Finger glitten über den Rumpf. „Sehen Sie das? Fransige Ränder. Mehr Risse als Schnitte!“

„Ein Hund, meinen Sie?“

Svann sah den Inspektor von unten herauf an: „Ich habe eigentlich an einen Tiger gedacht!“

Erstaunt hob Warren die Brauen.

„Das sollte ein Scherz sein!“, brummte Svann und versuchte zu grinsen.

„Das ist nicht lustig!“, zischte Warren. Plötzlich kam ihm, womit der Geruch im Zimmer zusammenhing. Ein Hauch Wehleid huschte über seine Lippen. Es war derselbe Duft, der ihm immer in der Nase prickelte, wenn er zurück ins Schlafzimmer kam - nachdem er Dorothea geliebt hatte. Es war der Geruch von Sex.
Warren schnaufte. „Vergewaltigung?“

Svann nickte: „Ziemlich eindeutig, was? Die Belästigung war äußerst gründlich. Jede Menge Quetschungen und Geweberisse – jede Menge Samenablagerung.“

„Also ein todsicher Weg den Mistkerl zu überführen“, stellte Warren fest.

„Sofern er in der National DNA Database erfasst ist - ja“, raunte Svann. „Das kann nur ein Wahnsinniger gewesen sein. Der Mann muss völlig die Kontrolle verloren haben. Ich meine diese Verletzungen! Kaum zu glauben, dass ein Mensch so etwas fertig bringt.“ Svann schaute finster drein. „Ich bin mir nicht mal sicher, ob vorher oder danach. Nun, nach der Obduktion werden wir mehr wissen. Aber ich würde schon jetzt behaupten, dass Vergewaltigung und Verletzung gleichzeitig stattgefunden haben.“

„Gleichzeitig?“ Warrens Gesichtsausdruck grenzte an einen Schock. „Wir suchen also nach einem geistesgestörten Gewaltverbrecher: Groß, stark und wild!“


*** Opfer ***

Wieder protestierte die Gelbkopfamazone. Ihr ohrenbetäubendes Geschrei hallte von polierten, nachtschwarzen Flächen wider, in denen sich die Sonne spiegelte. Die geräumige Küche wurde beherrscht von zur Schau gestellten Hightechgeräten. Hier roch es nach Geld. - Abgesehen vom Gestank alten, eingetrockneten Blutes auf den Marmorfliesen und einer verstümmelten Leiche unter dem Esstisch.
Warren betrachtete den Vogel und murmelte: „Schade, dass er nicht reden kann.“ Dann drehte er sich zum Fenster.
Svann richtete sich ebenfalls auf. Das Thermometer in seinen Finger haltend, folgte er dem suchenden Blick des Inspektors durch den Vorgarten. „Jedenfalls scheint dieser Vogel ein guter Wachhund zu sein“, stellte er fest.

„Hat ihr aber nichts genützt“, bemerkte Warren trocken. Seine Brauen schoben sich nachdenklich zusammen: „Vielleicht hat er einfach nichts gesehen.“ Er ignorierte Svanns verdutzten Blick, als sich seine Aufmerksamkeit auf zwei Männer richtete, die ungeniert die Absperrung auf dem Gehweg überwanden. „Die haben mir gerade noch gefehlt.“
Die Besucher in dunklen Anzügen schlenderten durch den Vorgarten auf das Haus zu. „Ihre Freunde, Warren?“ Svann grinste. Er zog seine Schutzhandschuhe aus und schmiss sie auf den Küchentisch neben seine Arzttasche.

„Guten Tag, meine Herren - CIA.“ Mit emotionsloser Mine zückten sie ihre Dienstmarken: „Wir gehen davon aus, dass Sie unter den grausigen Umständen dieses Fundes vergessen haben, uns zu informieren.“

„Sieh an, die Men in Black – immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, kommentierte Warren ihr Erscheinen.
Die sarkastische Begrüßung des Inspektors überhörend, sprach der Jüngere weiter: „Freundlicherweise hat uns Ihr Büro informiert, dass Sie bereits am Tatort sind.“ Über sein verpickeltes Gesicht huschte ein Grinsen.

Warren entschied, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und lächelte zurück: „Bin selber erst seit fünf Minuten hier.“

„Nun, da wir davon ausgehen, Ihre volle Unterstützung zu haben, möchten wir Sie bitten, zu berichten, was geschehen ist“, übernahm der Ältere umständlich das Gespräch. Er ließ die Dienstmarke im Jackett verschwinden und riskierte einen kurzen Blick an Svanns Schulter vorbei auf die Leiche.

Der Gerichtsmediziner trat zwei Schritte zurück. Er räusperte sich: „Die Frau ist etwa Mitte 40, verwitwet. Offensichtlich wurde sie vergewaltigt.“ Prüfend sah er auf das Thermometer und runzelte die Stirn. „Der Tod trat etwa vor 30 Stunden ein. Es gibt keine Hinweise auf einen Einbruch. Offensichtlich kannte sie ihren Mörder.“ Abwartend beobachtete Svann den älteren Agenten, als er sich über die Leiche beugte, um sie oberflächlich zu inspizieren. „Ist das alles?“, fragte er und nestelte nervös an seiner Krawatte.

Warrens Blick streifte über die leuchtenden Spots, die zahlreich in die Zimmerdecke eingelassen waren: „Über die Verletzungen des Brustkorbes können wir bisher nur Vermutungen anstellen. Nach der Obduktion wissen wir mehr.“

„Wir gehen davon aus, dass es sich hier um Tierfraß handelt“, unterbrach ihn Pickelgesicht eifrig. Svann grinste wieder und sah auf Warren.

„Klar, in den Vorgärten von Bethel wimmelt es auch nur so von großen Raubtieren, die intelligent genug sind, um in verschlossene Häuser eindringen.“ Als Warren zischend Luft holte, spürte er Svanns Finger am Oberarm. Er befolgte den gut gemeinten Rat und verkniff sich weitere Kommentare.

„Haben Sie noch etwas zu sagen?“ Der offensichtlich diensthöhere Beamte, ein dünner Mann, Ende vierzig, mit schütterem Haar sah Warren skeptisch an. Nachdem er keine Antwort erhielt, hüstelte er. „Nun, wir danken Ihnen für die Zusammenarbeit und werden Sie selbstverständlich über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden halten. Sie haben sicher Verständnis dafür, dass wir aufgrund der Umstände diesen Fall übernehmen.“ Mit einem süffisanten Lächeln streckte er dem Inspektor seine Hand entgegen.
„Wir rechnen mit ihrer vollsten Unterstützung!“ Pickelgesicht kläffte hinter ihm wie ein großschnäuziger Pinscher auf Mamas Schoß.

„Ah, Unterstützung und … auf dem Laufenden halten! Wie bei den anderen Morden?“ Svanns lautes Schnauben ließ Warren verstummen. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und zog den Oberkörper zurück. Missbilligend musterte er die Agenten, deren Größe er um einen halben Kopf überragte. Pickelgesicht zog rasch seine Hand ein, machte aber Anstalten, Einspruch zu erheben. Doch sein Kollege fuhr ihm über den Mund. „Inspektor Warren … würden Sie uns jetzt bitte unsere Arbeit machen lassen?“
Das war unmissverständlich. Warren drehte den Kollegen vom CIA den Rücken zu: „Dann bin ich mal gespannt auf Ihre Berichte. Es ist Ihr Fall.“
Viel zu müde, verspürte er keine Lust, den zermürbenden Zweikampf fortzusetzen. Warren wollte nach Hause. Glücklicherweise fragte niemand nach dem misslungenen Selbstmordversuch, der sich im gleichen Zeitraum ereignet hatte und so war dieser Barker in den nächsten Stunden vor dem Zugriff der CIA sicher. Für Warren war offenkundig, dass es hier einen Zusammenhang gab. Eine gewisse Ähnlichkeit bei den Verletzungen war nicht zu leugnen.
Gleichgültigkeit machte sich in ihm breit. Sollten diese Affen doch hier ermitteln. Er hatte seine eigene Spur. Warren überließ den Tatort dem CIA und verließ kommentarlos das Gebäude. Später würde er bei Svann vorbeisehen, um einen genaueren Blick auf die Tote zu werfen. Mit gesenktem Kopf schlich er an einer lauernden Meute von Neugierigen und Journalisten vorbei. Die meisten von ihnen kannte er schon lange. Geübt ignorierte er ihre Fragen.
„Eine Wahnsinns-Tat“, dachte Warren. Diese Frau wurde so viel Gewalt angetan, dass es für vier oder fünf Personen gereicht hätte. Warum diese unsinnige Gewalt?

Als er sich seinem Ford näherte, bemerkte er ein Ziehen im Bauch. Ihm fiel auf, dass er seit gestern Morgen nichts mehr gegessen hatte. Aber war der Schmerz Hunger oder Angst?
Rasch stieg er ein, startete den Motor und wechselte die Kassette. Nach In A Gadda Da Vida von Iron Butterfly war ihm jetzt nicht zumute. Zu sehr erinnerte ihn diese Musik an die Vergangenheit.
Warren dachte an die Ermordete. Einiges hatte er für sich behalten. Wut stieg in ihm auf. „Zertrampelte Rosenbüsche … du Idiot“, schimpfte er sich selbst und schlug mit beiden Händen auf das Lenkrad ein. Er hätte ihren Worten mehr Glauben schenken sollen. Stattdessen hatte er sie abgewimmelt wie eine lästige Fliege. Zu sehr war er mit diesen Morden beschäftigt – und nun war sie ein weiteres Opfer.
Genau wie vor 40 Jahren grenzten seine Ermittlungen an Besessenheit und drohten, den Blick für das Wesentliche zu trüben. Es war das gleiche, alles beherrschende Gefühl wie damals, als er sich dazu entschlossen hatte, in dem Fall auf der Shirer Farm weiter zu ermitteln. Damals wusste er noch nicht, dass dieses Vorhaben sein Leben zerstören würde.
Warren hatte jung geheiratet und nicht bemerkt, dass die Ehe an seinem Job und eben dieser Besessenheit scheiterte. Wie aus heiterem Himmel traf es ihn schließlich. Allerdings gestand er sich heute ein, dass er diese Gefahr schon viel früher hätte erkennen müssen. Da derartige Gedanken aber eine solche Bedrohung in sich bargen, verdrängte er sie immer wieder und stürzte sich noch tiefer in seine Arbeit, bis Dorothea die Scheidung wollte. Sie war nicht mehr bereit, ihren Mann mit unzähligen Toten und einer stumpfsinnigen Drogensüchtigen zu teilen, die vor Jahren ein Massaker überlebt hatte.
Das Gefühl, plötzlich verlassen zu werden, erfüllte ihn so mit Scham und Wut, dass er die Beherrschung verlor und ihr ins Gesicht schlug. Dorothea sah ihn nur stumm an. Schließlich zog sie mit den Töchtern über Nacht aus - während er sich hoffnungslos betrank.
Er hatte sie angefleht, zu bleiben. Er bat um Verzeihung für all die nicht gezeigte Aufmerksamkeit. Ohnmächtig vor Eifersucht und Trauer hatte er die gesamte Wohnungseinrichtung zertrümmert. Aber Dorothea war nicht zu bewegen, jemals wieder zu ihm zurück zu kehren. Doch das begriff er erst, als die Scheidungsunterlagen mit der Post kamen.
„Verdammt“, dachte Warren, „du hast es doch kommen sehen. Du hättest zuhören müssen.“ Der Inspektor wusste, wie weit Verzweiflung Menschen treiben konnte.
Völlig in Gedanken versunken, merkte er nicht, dass die bevölkerten Gehwege wie im Flug an ihm vorbeirauschten. Erst als er auf den Parkplatz vor seinem Appartement einbog, wurde ihm bewusst, dass er zuhause war.
Müde schloss Warren die Tür zu seiner Wohnung auf und überlegte kurz. Er wollte Cassy anrufen und sie bitten, eine kurze Pressemitteilung herauszugeben. Egal, was die CIA für ein Spiel spielte – es war nicht seins. Die Menschen in Bethel mussten gewarnt werden.

*** *** ***

24 Stunden später …

Ron wachte über Jim. Er saß seit fast zwei Tagen auf einem kleinen Metallstuhl mitten im Zimmer. Schweigend ließ er die Stunden verstreichen. Sein Gesicht in den Händen vergraben, ignorierte er das Verlangen seines Körpers nach Nahrung und Schlaf. Die diensthabenden Krankenschwestern betrachteten ihn fast schon als Inventar und lächelten dem ausgemergelten Blonden zu, wenn sie das Zimmer betraten und wieder verließen.
Abermals stürzte das Licht der Sonne in schmalen Streifen durch die halbgeöffneten Jalousien. Die wärmenden Strahlen auf seiner Schulter und der helle Gesang einiger Vögel in den Kastanienbäumen am Rande des Parkplatzes holten Ron aus seiner Lethargie. Langsam hob er den Kopf und sah sich um. Vom langen Sitzen schmerzten seine Gelenke. Er legte die Hände auf seine Oberschenkel und lauschte dem monotonen Piepsen der Maschinen. Es war hypnotisch. Diese leisen, beständigen Töne ließen ihn hin und wieder ruckartig in sich zusammen sinken. Aber Ron sträubte sich gegen das Einschlafen. Er rieb sich mit den Handballen die Müdigkeit aus den Augen und streckte die Beine aus. Schließlich betrachtete er aufmerksam Jims blasses Gesicht.
„Jimmy …was ist nur mit uns passiert?“, flüsterte er in den Raum und erinnerte sich an die Nacht, als ihre Mutter starb. Es war die Nacht, als er Jim vor dem dämonischen Feuer rettete, das im gleichen Augenblick ihr Schicksal schmiedete. In jenen Minuten, als Ron mit seinem kleinen Bruder im Arm mit ansehen musste, wie ihre Zukunft in Flammen aufging, hatte er die Verantwortung für Jim übernommen. Dass auch Jims Schicksal in jener Nacht besiegelt wurde und mit ihm untrennbar auch seins, ahnte Ron damals noch nicht.
Ron hatte nun eine Aufgabe: Er war der große Bruder und stand Jim all die einsamen Jahre zur Seite - in der Schule, als Prügel von Mitschülern drohten, später, als sich Jim immer öfter mit ihrem Vater stritt – und das nicht nur, weil er ein Leben als Jäger ablehnte und studieren wollte.
Ron war es, der kurze Zeit später Jim über den Tod seiner großen Liebe Jessica hinweghalf. So wuchs diese Verbindung im Laufe ihres Lebens mit jedem Schicksalsschlag. Nachdem sie auch ihren Vater im Kampf gegen Dämonen verloren hatten, gaben sie sich gegenseitig Halt und jagten weiter. Sie hatten nichts anderes gelernt.
Als sie schließlich akzeptieren mussten, dass Jim sich veränderte, schafften sie es nur durch dieses gewachsene Vertrauen zueinander, die kommenden Jahre zu überstehen. Es war die Zeit, als andere Jäger begannen, die schlummernde Macht in Jim zu fürchten. - Als dunkle Wesen auf ihn aufmerksam wurden und versuchten, sich seiner zu bemächtigen. Es war die Zeit, als Jim selbst zum Gejagten wurde.
Ron schnaufte leise und schloss die Augen.
Tief im Herzen wusste er es. Jim war ein Mensch, der trotz seiner Größe und Stärke in vielerlei Hinsicht zerbrechlicher war als die meisten, gerade wegen des dämonischen Blutes in seinen Adern. Und … Jim war immer noch sein kleiner Bruder.
Sie brauchten sich gegenseitig, denn nur durch ihre Liebe bewahrten sie sich im Kampf gegen die Mächte der Finsternis die Menschlichkeit. Nur gemeinsam hatten sie eine Chance, dem Schicksal zu trotzen. Das würde sich niemals ändern.

Die betäubende Flüssigkeit in Jims Venen floss langsamer. Einige Kanülen waren schon vor Stunden entfernt worden und sein körperlicher Zustand verbesserte sich zusehends. Ein tiefer Schlaf, ähnlich einer Bewusstlosigkeit hielt ihn dennoch gefangen.
Nach seinem letzten Kontrollverlust hatte Tasha veranlasst, Jim wieder zu sedieren. Sie wollte das Risiko eines erneuten Selbstmordversuches nicht eingehen.

Ein leises Stöhnen drang an Rons Ohren, der dem Geräusch folgend seine Blicke auf Jim heftete.
Auf der Stirn des Jüngeren kräuselte sich eine Falte. Mit einem Satz war Ron am Bett seines kleinen Bruders angelangt und beobachtete ihn aufmerksam.
Jims Kiefer zuckten und weiteres leises Stöhnen bahnte sich einen Weg über schmale Lippen. Er bewegte leicht den Kopf. Seine Lider flatterten. Zitternde Hände ballten sich kurz zu kraftlosen Fäusten.

„Jimmy?“ Rons Stimme war voller Ungeduld. Er strich sanft über Jims Stirn und beugte sich über sein Gesicht „Ich bin hier – ich bin bei dir!“

Der Kopf des Jüngeren zuckte augenblicklich in die Richtung, aus der die vertraute Stimme kam. Langsam öffnete er seine Augen und blinzelte lichtscheu. Seine blassen Lippen vibrierten, brachten aber kein Wort hervor.

„Jim! Ich bin hier“, flüsterte Ron wieder und wieder und griff nach den kühlen Handgelenken.
Jims Mundwinkel hoben sich zu einem stummen Lächeln, als er Rons Stimme weit entfernt murmeln hörte. In seinem Kopf war eine beruhigende, gähnende Leere. Nur schwach spürte er das Leben in seinen Adern pulsieren. Aber der Hals kratzte vor Trockenheit und mit jedem Atemzug stach es über seinem Herzen. Vorsichtig tastete Jims rechte Hand über die Bettdecke zur Brust, um den Verband zu befühlen.
Ein Warnton vom EKG.
Panik flackerte plötzlich in Jims Augen, als er Ron erneut ansah. Jim biss sich auf die Lippe und drehte seinen Kopf ruckartig zu Seite. Ihm wurde speiübel. Nur knapp konnte er verhindern, sich zu übergeben. Heftige Luftstöße entwichen seiner Lunge und jede seiner Muskeln spannte sich an – wie bei einem Tier, das flüchten wollte.
Jim erinnerte sich an ihre Schreie, an ihre berstenden Knochen und an ihre Augen, die ihn flehend angesehen hatten. Er fühlte, wie ihr warmer Körper in seine blutigen Hände sank.
Sein schneller werdendes Herz ließ die Kurve auf dem EKG erneut heftig ausschlagen und das rhythmische Piepsen wurde wieder zum schrillen Pfeifen.

„He, he Jimmy – es ist alles ok.“ Mit leisen Worten sprach Ron auf seinen Bruder ein. Die Finger, die Jims Handgelenke hielten, lösten sich und glitten über seine Wange. „Du hast es überstanden, Tiger.“ Er griff mit beiden Händen nach Jims Kopf und sah ihm in die Augen. „Jimmy? Du bist nicht allein.“ Rons Finger strichen behutsam durch das verschwitzte Haar. „Es wird alles gut!“

Jim wollte sich aufrichten. Mühsam stemmte er sich gegen Rons Hände, die ihn daran hinderten. Er wollte schreien, doch nur ein pfeifendes Keuchen durchbrach seine Lippen.
„Es ist okay, Jim. Bleib liegen!“

Mit Tränen in den Augen sank Jim zurück ins Kissen und schloss die Lider. Aber die schreckliche Erinnerung verschwand nicht.
Schließlich suchte sein Blick erneut Rons Gesicht. Er schluckte heftig, bevor ein erstes Wort den Weg über seine Lippen fand. „Ron!“ Jims Flüstern war kratzig, seine Brust bebte in heller Aufruhr, als er schließlich den Mut aufbrachte, um zu beichten.
Aber Ron legte seinen Finger auf Jims Lippen. „Sch … sch … Nicht jetzt, Jim“, flüsterte er. „Jimmy – Mann … ich bin einfach nur glücklich, dass du noch lebst. Wir können später darüber reden. Ruh dich aus. Ich kann warten.“ Explosionsartig sprudelten Tränen über Rons Gesicht. „Wie konntest du dir nur sowas antun? Ich schwöre dir, wenn du das noch einmal machst – dann bring ich dich um“, schluchzte er.

„Ich ... ich muss …“, fiel ihm Jim mit schwerer Zunge ins Wort.

Ron unterbrach ihn: „Ja - Du bist mir eine Erklärung schuldig. Aber nicht jetzt – nicht heute!“

Jim sah Ron gequält an. „Ich bin …“, wisperte er. Doch schon verschwanden seine Gedanken im Nebel der Psychopharmaka und sein Kopf sank kraftlos in Rons Hände.

„Du bist hier, Jim und du lebst, nur das zählt.“

Jim nickte noch einmal kurz, bevor sein Bewusstsein nicht enden wollender Müdigkeit erlag und sich seine schweren Lider schlossen.

„Jimmy?“, flüsterte Ron, noch immer seine Hand haltend, „Ich weiß nicht was du getan hast. Aber glaub mir. Nichts ist so schlimm, dass du es mir nicht erzählen könntest. Denn ich bin dein Bruder.“
*** Menschliche Überreste ***

Das Krankenhaus von Bethel war kein Ort für lange Aufenthalte. Schon gar nicht, wenn man Barker hieß. Während Ron die langen Flure entlang eilte, dachte er an Jim. Noch immer kannte er den Grund für seinen Suizidversuch nicht. Er überlegte, ob es nicht besser für Jim sei, in einem eigenen Bett zu genesen, mit dem eigenen Geruch als Begleiter. Dieser Desinfektionsgestank konnte den Hauch menschlichen Leids nie vollständig abdecken, summende Neonröhren das verhaltene Schluchzen nie komplett übertönen. Ron fürchtete, dass sich Jims Depressionen dadurch nur verstärken könnten.
Tausend Dinge schossen ihm durch den Kopf. Inspektor Warren war misstrauisch geworden und saß ihm im Nacken. Ein unbekanntes Wesen trieb sich in der Gegend herum und der gesamte Ort wimmelte plötzlich von CIA und FBI-Agenten.
Ron stöhnte. Er musste dringend Bill anrufen und um Hilfe bitten. Ihr Motelzimmer schien auch nicht geeignet für die nächsten Wochen. Sie benötigten eine sauberes Unterkunft, gute Betten und jemanden, der täglich die Wäsche wechselte.
Am meisten aber quälte Ron ein dumpfes Angstgefühl. Da lag etwas in Jims Augen, etwas, das nichts mit den Ereignissen der vergangenen Tage zu tun hatte. Unweigerlich erinnerte er sich an Friggs letzte Worte:

„Ich werde dich zurückholen, Krieger“, hatte sie gesagt, „zusammen mit all den dunklen Geheimnissen in deiner Seele, dem dämonischen Blut in deinen Adern und den fremden Wesen, die dich bereits berührt haben und ein Teil von dir sind. Dein Weg wird steinig und entbehrungsreich sein und deine eigene Hand wird eines Tages das absolut Böse aus deiner Brust reißen und dein Leben im Kampf gegen dich selbst beenden.“

*

Nachdem Jim zu sich gekommen war, hatte man ihn in ein normales Zimmer verlegt. Sein Körper erholte sich überraschend schnell. Nur Ron kannte den Grund und vielleicht ein paar Jäger, die aufgegeben hatten, ihnen nachzustellen. Als Jim sich langsam stabilisierte, meldete der eigene Körper umso intensiver seine Rechte an. Ron musste essen, duschen und vor allem schlafen.
Eine kleine braune Tüte in seiner Hand knisterte bei jedem hastigen Schritt. Da er dem Nachtpersonal vertraute, hatte er es gewagt Jim allein zu lassen. Grelles Licht im menschenleeren Korridor blendete seine geröteten Augen und Ron glaubte, selbst die weißen Wände jammern zu hören, als hätten sie sich über die Jahrzehnte mit Tränen vollgesogen. Doch die Laute kamen nicht aus dem alten Gemäuer. Erregtes Stimmengewirr drang aus Jims Zimmer. Schlagartig beschleunigte Ron seinen Schritt und drückte die Tür auf. „Was ist hier los?“

Die Nachtschwester stand am Bett und hatte sich halb über Jim gebeugt. Dieser hielt verbissen ihr Handgelenk fest. Es sah aus, als würden die Beiden einen Zweikampf austragen.

Ron schob sich durch den Türspalt. „Was tun Sie hier?“, seine Stimme donnerte bedrohlich, als er näher trat.

„Es .. es tut mir leid … es ist nur“, stotterte die Schwester, als sie über ihre Schulter zu Ron sah. Sie schluckte betroffen.
Jim ließ ihre Hand los. Er neigte sich etwas zur Seite und lugte an ihr vorbei. Seine Haare standen völlig zerzaust in alle Richtungen, es wirkte, als ständen sie ihm regelrecht zu Berge. Sein Brustkorb bebte heftig auf und ab. Über das blasse Gesicht hatte sich ein roter Schimmer gelegt und Schweißperlen glitten seinen Hals hinab in den Ausschnitt seiner lindgrünen OP-Bekleidung.
Die Schwester richtete sich auf. Sie schupste ihre verrutschte Haube zurecht und ordnete die Haare. „Ich … es“, murmelte sie und sah verlegen zu Boden. „Ihr Bruder hat doch so lange geschlafen … es ist … er muss …ich wollte doch nur!“ Überfordert seufzte sie.

Ron runzelte die Stirn, als sie ihre Schultern hob und ihn errötend ansah. „Er darf … doch … noch nicht …“ sie verstummte.

„Ron …“, flötete Jim verzweifelt im Hintergrund. „Ich … ich kann das nicht“, sein Gesicht wurde glutrot. „Bitte …“, murmelte er verlegen, „nicht … nicht vor ihr!“ Wie ein verschreckter Welpe sah er seinen Bruder hilfesuchend an.

Als Ron den Gegenstand in ihrer Hand erkannte, riss er den Kopf in den Nacken und schnaufte erleichtert. „Ich verstehe“, sagte er. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Dann hüstelte er verlegen und ging auf die verwirrte Schwester zu: „Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Mein Bruder ist etwas schüchtern.“
Zügig stellte Ron die Tüte auf den Tisch und griff nach der Ente. „Ich denke, wir kriegen das allein geregelt.“ Ihren protestierenden Blick ignorierend, schob er sie aus der Tür. Dann drehte er sich zu Jim und sah ihn vorwurfsvoll an. „Mann, Jimmy. Kaum bist du wach …!“ Verlegen kratzte sich Ron am Hinterkopf.

„Ron …“, unterbrach ihn Jim quengelnd.

„Schon gut. Hier!“ Er reichte Jim das Gefäß. „Ich dreh mich auch um …“, fügte er bissig hinzu.

„Ron … bitte. Ich möchte ins Bad“, stöhnte der Jüngere.

Erstaunt drehte sich Ron wieder. „Klappt das?“

„Ich denke schon“, keuchte Jim gequält. Er hatte bereits die Beine aus dem Bett geschoben und sah auf seine Füße. „Hilft du mir?“

„Jim! Ich glaube, du bist noch stoned.“
Ron wollte es nicht glauben, aber dieser Dickschädel hatte wirklich die Absicht, aufzustehen. Es war sicher - er würde es tun und dann zu Boden stürzen. Das wollte Ron nicht riskieren. Hastig griff er nach Jims Oberarm, um ihn zu stützen.
„Aber die Tür bleibt offen!“ Knurrend begleitete er Jim die wenigen Meter zur Toilette. Er spürte, wie sein Bruder zitterte und wankte. Doch es machte keinen Sinn, zu debattieren. Jim würde sich nur aufregen und das wollte Ron auf jeden Fall vermeiden. Mit langsamen Schritten schlurften sie in die kleine Zelle. Ron inspizierte konzentriert jeden Winkel. Kalte, weiße Fliesen, kein Fenster, nur eine behindertengerechte Dusche, eine Toilette und ein Waschbecken mit Spiegel. Keine Rasierklingen – keine Gefahr.
Jim brummte missmutig, als er schwankend vor der Toilette stand.
„Okay, okay“, murmelte Ron. „Nicht umfallen, ja?“ Er verließ das Bad und lehnte sich erschöpft neben der geöffneten Tür an die Wand. Seufzend zog er den Kopf in den Nacken. Das Zittern in seinen Knien wurde immer heftiger. Ron war körperlich am Ende. Die alptraumhaften Ereignisse, tagelanges Wachen an Jims Bett, keine Nahrung, kein Schlaf und unablässig nagende Angst, hatten seine Reserven verbraucht.
Langsam rutschte Ron zu Boden. Mit zitternden Fingern suchte er in seiner Hosentasche nach dem Handy und wählte eine Nummer, die er auswendig kannte. Seine Beine dicht an den Körper gezogen, hockte er an der Wand als jemand am anderen Ende den Hörer abnahm. „Bill?“ flüsterte Ron mit tränenerstickter Stimme.

*

Jim zog erleichtert den Kopf in den Nacken. Dann drückte er auf die Spülung. Noch ein paar Minuten länger und er wäre mit Sicherheit geplatzt. Er hasste Krankenhäuser.
Als er sich zum Waschbecken drehte, begegnete er seinen eigenen Zügen im Spiegel. Es waren müde Blicke, die ihn streiften. Jim drehte den Hahn voll auf. Kühles Nass würde das Summen hinter seinen Schläfen mildern und die Müdigkeit verscheuchen.
Als er das Gesicht in die mit Wasser gefüllten Hände tauchte, hörte er ein leises Seufzen.
Er drehte den Wasserhahn zu und richtete sich auf. Glitzernde Perlen tropften ihm von Kinn und Wimpern, Wasser gurgelte den Abfluss hinunter.
Hart schlug ihm das Herz gegen die Rippen. Angstallarm löste Adrenalinschübe aus. Mit äußerster Sorgfalt destillierten Jims Sinne die Umgebung. Du lebst in der Wirklichkeit, sagte sein Verstand, als er erneut in den Spiegel sah. Seine Hände legten sich auf den Rand des Waschbeckens, die Finger umklammerten ihn haltsuchend. Zu schwer wurde sein Körper. Die beißende Helligkeit der weißen Fliesen, die kalten Tröpfchen in seinem Gesicht, der aufdringliche Geruch von Desinfektionsmitteln – alles Wahrnehmungen, die sein Bewusstsein jetzt zurückdrängte. „Wer ist da?“, flüsterte er und hoffte, keine Antwort zu erhalten.

Sein Spiegelbild neigte den Kopf. Ein Hauch von Bitterkeit lag auf seinem Gesicht. „Wir werden eine Narbe bekommen“, seufzte Es schwermütig.

Jim sah entsetzt an seinem Körper hinab. Er trug einen OP-Kittel und ein Verband verdeckte seine Brust. Aber im Spiegelbild erschien er völlig nackt. Jim taumelte rückwärts, prallte gegen die Tür. Diese fiel ins Schloss, sperrte die Wärme weg und Ron aus. Es wurde kälter, viel kälter als zu dem Zeitpunkt, als er das Bad betreten hatte.
Ängstlich spähte Jim in den Spiegel. Sein Abbild schwebte und wankte leicht, als sei die glasige Oberfläche Wasser. Die Vision streckte ihre Hand aus und fuhr mit ihrem Finger über Jims Verband. Dann bestimmte sie an ihrem eigenen Körper den Platz, an dem sich die Narbe befinden sollte und übertrug die Berührung. Es war exakt die Stelle, an der Jim das Messer durch sein Fleisch gezogen hatte. Unter ihren Fingern öffnete sich die Haut. Blut quoll hervor, doch nur einen Augenblick später schloss sich die klaffende Wunde und eine Narbe blieb zurück. „Warum hast du versucht, uns zu töten?“, flüsterte Es. „Das ist wirklich traurig“, Es sprach mit seiner Stimme.

Jims Brust hob und senkte sich unter wachsender Panik. Er schüttelte verzweifelt den Kopf. Krampfhaft kniff er die Augen zu und seine Finger vergruben sich in sein Haar. Sie zerrten daran, als würde dieser Schmerz ihn zurückholen können, zurück in die Realität. Er wollte nicht wahrhaben, was er sah. Jim war sich sicher: Später würde er tausend Gründe finden, diese Situation nicht akzeptieren zu müssen. Er würde es den Medikamenten zuschreiben und seinem betäubten Verstand.

„Das Mädchen?“

Noch eh Jim seine Frage in Worte formulieren konnte, antworte sein Ebenbild. „Sie wirkte so unschuldig – diese Schlampe!“ fauchte Es. Dann legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. „Aber ihr Schmerz und ihre Angst war berauschend. Sie hat uns doch gerufen. Wir brauchten ihre Qual!“

Die Luft explodierte in Jims Lunge, als er dem Spiegelbild entgegen schrie: „Wer bist du?“

Erschrocken zuckte Es zurück und musterte Jim. Er war wunderschön. Natürlich hatte Es viele schöne Menschen gesehen. Aber sie alle wirkten neben ihm wie unvollendet. Sie erinnerten ehr an die unfertige Arbeit eines Bildhauers – roh und skizzenhaft. Er hingegen war vollkommen durchgestaltet. Alles Machbare war restlos bis zur Perfektion ausgeführt. Es bestaunte ihn – war überwältigt von der Genkollision, die ihn hervorgebracht hatte. Es musste vorsichtig sein, denn nun galt es, diese Vollkommenheit zu bewahren. „Ich bin ein Ding, für das die Erklärung fehlt“, murmelte Es. „Ich kenne niemanden wie mich.“ Traurig senkte Es den Kopf. „Vielleicht… bin ich die eiternde Wunde auf der Seele der Menschheit.“ Zögernd erhob Es sein Gesicht und sah in Jims Augen. „Ich brauche den Schmerz, um zu überleben. Ich gedeihe darin.“ Seine Augen flammten hoffnungsvoll auf. „Aber ich bin auch der Freund, den du dir als Kind immer herbeigesehnt hast. Der Freund, der deine Hand nimmt, dir sagt, wie schön du bist und der deine Geheimnisse mit dir teilt.“ Es neigte den Kopf. „Das bin ich doch? … Oder, oder?“, fast flehend sah Es ihn an.

Jim erstarrte. Woher kannte Es die Träume seiner Kindheit? Woher wusste Es von seinem einsamen Weg auf unzähligen Straßen quer durch das Land? Aufmerksam betrachtete Jim dieses Bild im Spiegel. Es hatte seine plastische Schönheit, von seinen wohldefinierten Muskeln bis hin zum letzten Muttermal. Sein breiter Brustkorb hob und senkte sich langsam. Die makellosen Hände hatte Es jetzt auf der Brust gekreuzt.

„Ich bin du“, raunte Es und verbeugte sich ehrfürchtig. Eine winzige Träne glitzerte in seinem Auge. Als Es sich wieder aufrichtete schloss es die Lider und seufzte selig: „Endlich bist du zurückgekehrt. Du hast mich nie vergessen.“ Seine Iris blitzte stahlblau. „Du bist zurückgekehrt und hast all das Leid mitgebracht, das wir brauchen, um lebendig zu werden. Damals warst du noch nicht stark genug – aber jetzt und an diesem Ort werden wir erwachen.“ Es streckte seine Hand aus und berührte Jims Wange, um sie zärtlich zu liebkosen. „Ich habe all die Jahre nach dir gesucht.“

Entsetzt wich Jim der Berührung aus. „Du kannst nicht ich sein!“, stieß er keuchend hervor. „Das Mädchen! So etwas hätte ich nie getan“, beschwor er.

„Wirklich nicht?“, konterte Es.

Jim schloss die Augen. Ruckartig zog er den Kopf in den Nacken. Er presste die Hände auf seine Ohren, in dem verzweifelten Versuch auszusperren, was Es ihm ins Gesicht sagte.

„Es war deine Stimme, Jim, die sie ansprach. Er war dein Körper, der sie verführte und der gewaltsam in sie eindrang. Es waren deine Hände, die ihren Brustkorb zerfetzten. Es war dein unstillbarer Hunger nach Schmerz, der ihre Seele verschlang.“

Außer sich vor Wut, schlug Jim mit der Faust gegen das Glas und sein Spiegelbild zersplitterte.

„Ich suche dich wieder auf“, wisperte die geheimnisvolle Stimme, „inzwischen würde ich von hier verschwinden, wenn ich du wäre!“ Es lachte.

„Ich werde dich töten“, schrie Jim. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. „Ich werde dich aus meiner Seele reißen, du Ausgeburt der Hölle.“

„Nein, Jim, das wirst du nicht“, flüsterte Es. „Du wirst mich nähren und beschützen. Viel zu sehr liebst du deinen Schmerz. Und diese Qual in dir wird mich wachsen lassen, sicher und geborgen wie ein Kind im Mutterleib. - Bis ich so wie du den Wind auf meiner Haut fühle, bis ich so wie du die Erde unter meinen nackten Füßen spüre, bis die Sonne meine Haut erwärmt, damit der Regen sie abkühlen kann - bis ich atme - so wie du.
Du wirst an mir festhalten bis zum Ende - bis deine Seele ein blutüberströmtes Schlachthaus ist und von deinem Körper nichts übrig bleibt, außer dampfendem Fleisch. - Und dann … werde ich deinen Platz einnehmen!“

*

Ron spürte noch den Luftzug der Tür wie eine mahnende Berührung auf seiner Wange, als sie auch schon laut krachend ins Schloss fiel. Eisige Kälte eroberte jeden Zentimeter seiner Haut. Sein Blick hastete durch den Raum. Schmerzhaftes Reißen in seinen Knien und die Müdigkeit seiner Muskeln ignorierend, trieb ihn blanke Panik in die Höhe. Seine Fäuste trommelten gegen das Holz. Sein Atem hetzte. „Jim, öffne die Tür!“
Es verging nur ein Augenblick und er hörte die Stimme seines Bruders. Schrill und angstverzerrt überschlug sie sich, seine Worte durchbohrten ihn wie eine Lanze. „Ich werde dich töten. Ich werde dich aus meiner Seele reißen, du Ausgeburt der Hölle.“
Einem gewaltigen Knall folgte das Scheppern zu Boden stürzenden Glases und schließlich das bedrohliche Klirren tanzender Scherben. Ron wehrte sich gegen den Gedanken, der ihn überrollte. Er stand gelähmt vor der Tür und war sich der verheerenden Tatsache bewusst, nicht eingreifen zu können. Hundert Glasscherben - rasiermesserscharf und genau so effizient wie jede Klinge.
Kalter Schweiß rann ihm von den Schläfen, obwohl er zitterte wie Espenlaub. Seine Hand, nur noch das hektische Werkzeug blanker Panik, rüttelte und zerrte an der Klinke. Sein Körper wurde taub vor Angst, seine Stimme ein erstickendes Betteln – dahinsiechend wie seine Kraft. Die letzten Tage hatten Ron ausgelaugt, wie ein nicht abzuschüttelnder Parasit. Wie ein Alp hockte die Angst auf seiner Seele und ließ ihn nun taumeln. „Jim, öffne die Tür! Bitte…“
Viel zu schnell wurde es still im Bad.
Verstrichen Sekunden oder Minuten? Ron wusste es nicht. Er trat gegen die Tür. Sie war ein Bollwerk, das sich zwischen ihn und Jim schob. Als er seinen Körper verzweifelt dagegen warf, krachte seine Schulter. Aber diese verdammte Tür vibrierte nicht einmal. Wie aufgemalt, leuchtete sie im blendenden Weiß der Wand und Ron begriff langsam: Sie war eine Nachahmung der Realität, nur das Wirken einer subtilen Verschwörung, die sich in ganz Bethel ausbreitete. Ein brillantes Schauspiel – zweifelsohne – aber letztendlich eine simple Täuschung.
Und nach all seinen Bemühungen, seinem Bitten und Flehen, gab dieses Bollwerk nach und die Tür öffnete sich wie zum Hohn. Sie schob sich Ron entgegen, drängte ihn sogar beiseite. Jetzt, da er besiegt am Boden lag, gestattete Es ihm den Blick auf eine Hölle, die er sich selbst erschaffen hatte.
Nur zwei Schritte brauchte der Jäger. Unsicher und wankend, begleitet von einem rasenden Herzen, schleppten ihn seine Beine ins Bad.

Wie angekettet hing Geruch von Blut und Tränen in der Luft. Das grelle Licht der Lampe brach sich in unzähligen Glasscherben. Kaltes Weiß schien die Grenzen des Zimmers aufzulösen, wären da nicht purpurne Sprenkel, die das Knirschen unter seinen Schritten dämpften.
Jim kauerte am Boden, sein Gesicht in den Händen vergraben. Seine bebenden Schultern ließen immer wieder einige Tropfen Blut zwischen seinen Fingerknöcheln durchsickern und lautlos auf die Fliesen fallen.
Ron ging langsam in die Hocke. Vorsichtig, als hätte er Angst, dass selbst tanzende Staubkörnchen in der Lage sein könnten, Jim durch bloße Berührung zu verletzen, hielt er den Atem an. Während eine seiner Hände sich behutsam auf Jims Schulter legte, grub sich die andere fest in sein verschwitztes Nackenhaar, um den Kopf anzuheben. „Jimmy?“, raunte er.

Langsam hob Jim das Gesicht und stützte sich mit den Händen am Boden ab. Ron konnte ihm in die Augen sehen. Von ihnen ging eine Kälte aus, die seinen Atem sichtbar machte. Eine Kälte, die Eiszapfen an Rons Herzen bildete. „Warum hast du mich nicht sterben lassen?“ flüsterte Jim. „Warum?“, schrie er plötzlich und sah auf die Scherben, welche sein Antlitz tausendfach reflektierten.

„Was ist passiert?“ Rons Finger vergruben sich in Jims Schulter.

Der Kopf des Jüngeren schnippte unkontrolliert in die Höhe. „Ich habe sie getötet!“, stieß er heraus. Zwischen seinen Fingern knirschte Glas. Jim senkte die Lider, als eine Welle eisiger Schauer ihn durchflutete. Er hatte alles zu verantworten, denn er hatte die Wahl gehabt. Seine Atmung beschleunigte sich. Aus Entsetzen wurde rasender Zorn. Es war, als riss etwas von seiner Seele, als verstoße sein Herz diese ekelhafte Seite, um sie nicht mehr ertragen zu müssen?

„Ich habe sie in den Schatten gezogen, sie gegen die Wand geschleudert und geschlagen, bis sie schwieg“, flüsterte er mit geschlossenen Augen. „Ich habe sie gewaltsam genommen - aber ihr Körper gab mir nicht das, was ich suchte.“ Jim riss den Kopf hoch und starrte auf die flackernde Lampe. „Doch das wusste ich nicht“, raunte er.
Kleine Fältchen kräuselten sich auf seiner Stirn, als eine Motte seine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Alles Ratten“, flüsterte Jim und beobachtete die Motte. Einige Male gelang es ihr dem verlockenden Licht der Glühbirne zu entkommen. Aber der Raum war zu eng und das Verlangen zu groß, um der Versuchung zu widerstehen. Sie verbrannte zischend.
Jim wandte sich ab und murmelte: „Es ist alles viel simpler!“ Lächelnd begegnete er Rons entsetztem Blick. „Weißt du, wie schnell Knochen brechen - Ron? Jeder kleine Windstoß könnte sie bersten lassen.“ Jims Augen formten sich zu Schlitzen. „Wirklich, Ron! Wenn du erst mal Haut und Fleisch aufgebrochen hast, ist es ganz einfach. Es macht nicht einmal Lärm – nur ein kurzes Knirschen.“

Jim riss den Kopf in den Nacken. Sein Mund öffnete sich, als er tief Luft holte. Dann sah er erneut in Rons starres Gesicht. „Das wirklich Komische ist nur“, Jim grinste, „wie lange das Herz schlägt … nachdem du es aus seinem Gefängnis befreit hast!“ Wie ein Stoß entwich ihm der nächste Atemzug. Sein Gesicht verschwand jetzt fast unter den braunen Fransen, die einen dunklen Schatten über seine flackernden Pupillen warfen.
„Du starrst und starrst in den pulsierenden Abgrund und denkst, es müsste doch müde werden – dieses Herz – meine ich!“ Jim schnaufte und schüttelte heftig seinen Kopf: „Aber nein! Selbst in deinen Händen schlägt und pulsiert es weiter…es wärmt - noch eine lange, lange Zeit!“ Nach einem kurzen Seufzen verstummte er abrupt und senkte die Schultern.

Als er erneut zu Ron aufsah, glänzten seine Wangen nass. „Ich bin ein Monster - Und deshalb muss ich sterben - Ron …!“ In dieser Stimme lag Entschlossenheit, die langsam in Form von Verzweiflung jede Ader im Körper des Älteren durchströmte.
Plötzlich fing Jim an zu lachen. Er riss den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. Seine Stimme überschlug sich schallend im Bad. Tränen kullerten über Jims Wangen, dennoch wurde sein Körper von irrem Gelächter durchgeschüttelt. „Sie hatte Recht, Ron“, jauchzte Jim, „ich bin ein Schlächter und verschlinge unzählige Herzen.“ Gurgelnde Geräusche mischten sich allmählich unter seine Lachsalven, bis markerschütternde Schreie über seine Lippen stießen. Es war, als wüsste er bereits, dass selbst der Tod unfähig war, seine Qualen zu beenden. „Sie hatte Recht … Ron!“
Jims Augen irrten durch den Raum. Geweitete Pupillen in tiefem Schwarz, auf der Flucht vor dem eigenen Ich. Sonnenlicht war für Jim nur noch Erinnerung. Sein Herz schien überhaupt nicht mehr zu schlagen und sein Atem stolperte in angstverstörten Stößen über seine Lippen.
Aber auf irgendeine Weise war Frieden in ihn eingekehrt, als er ohnmächtig in Rons Arme sank.

Ron konnte nicht mehr klar denken.
Alle Wärme, die er hätte aufbieten können, wurde von maßlosem Entsetzen und den Trümmern seiner Hoffnungen verschüttet.


*** Sein und Schein ***

Vorsichtig öffnete Inspektor Warren die Tür und betrat den kühlen Raum. Aus einem kratzenden Lausprecher, irgendwo an der Decke, lärmten die Rolling Stones. Leichter Fäulnisgestank schwebte in phenolgetränker Luft. Unter Reihen flimmernder Leuchtstoffröhren stand Svann am einzigen Obduktionstisch. Inmitten von weißer Keramik und blitzendem Edelstahl wirkte er verloren, zumal sein schmächtiger Körper von einem schweren Lederschurz erdrückt zu werden schien. Um ihn herum am Boden stapelten sich große, gelbe Plastikbehälter, deren Inhalt Warren gar nicht sehen wollte.
Der Gerichtsmediziner sah von der Leiche auf. Sein Gesicht verbarg er hinter einer Schutzbrille. Er winkte Warren kurz zu und setzte seine Arbeit fort.
Als Svann das Skalpell ansetzte, entwich dem aufgedunsenen Körper vor ihm ein zischendes Geräusch.
Beißender Gestank, der Warren augenblicklich entgegenschlug, veranlasste ihn, reflexartig den Arm vor die Nase zu halten. Sein Atem stockte, als sich die zersetzten Innereien des Toten über den Tisch ergossen. Hätte Warren nicht ein beharrliches Ziel vor Augen gehabt, würde er auf dem Absatz kehrt machen. Stattdessen ging er zu Svann hinüber. Dieser beobachtete ihn aus dem Augenwinkel.
„Der ist schon überreif“, bemerkte er. Ein leichtes Grinsen umspielte seine Mundwinkel beim Anblick der ungesunden Gesichtsfarbe des Inspektors. Warren konnte über den Witz nicht lachen und beobachtete angewidert, mit welcher Begeisterung der Mediziner das Innenleben einer Leiche begutachtete. Auf dem Rand des Tisches lag ein Berichtsblatt. Es las sich wie die Aufbauanleitung eines bei IKEA gekauften Möbelstückes – allerdings von hinten nach vorn. Anstatt zu erklären, welche Teile zusammengebaut werden sollten, hatte Svann minutiös alle Teile aufgelistet, die bereits entfernt wurden.
Nach einer Weile zog Svann seine Hände aus dem geöffneten Bauchraum. Er murmelte: „Ich vermute mal, dass Sie nicht wegen diesem Opfer hier sind.“ Mit wenigen Schritten ging er um den Tisch. Auf dem Weg streifte er sich klebriges Blut an seiner Lederschürze ab und entfernte den Gesichtsschutz. Er griff nach einem Diktiergerät, das zwischen einigen furchteinflößenden Instrumenten auf dem Rollwagen lag und begann mit der Sprachaufzeichnung: „Männlich, Alter 52, 1,86m, Gewicht 89 kg – recht gut in Schuss … wenn er nicht tot wäre.“ Er nahm ein zylinderförmiges Probeprojektil vom Wagen und hielt es gegen das Licht. „Kaliber 45“, plauderte er in sein Diktiergerät. Dann wies er auf die kreisrunde Verletzung in der Brust des Mannes und spähte kurz in das schwarze Auge einer Kamera über seinem Arbeitsplatz, um sich zu vergewissern, dass auch die Bildaufzeichnung lief. Langsam kreiste sein Zeigefinger um das Einschussloch. „Deutliche Schmauchspuren - wurde aus kürzester Distanz erschossen. Ich denke, damit ist der Fall erledigt.“ Svann beendete die Aufnahme.
Den ungläubigen Augen des Inspektors begegnete er schnaufend. „Es war seine Frau. Sie lag - noch die Waffe in der Hand, neben ihm.“ Svanns Blick wanderte zur Wand mit den Kühlfächern. „Jetzt liegt sie dort …“
Sein Gesicht wurde nachdenklich. „Durch die verdammte Hitze scheint jeder Mensch in der Gegend langsam dem Wahnsinn zu verfallen!“ Svanns Kopf neigte sich auf einen imaginären Himmelspunkt jenseits des vergitterten Fensters, als er weiter sprach: „Es waren Touristen. Man fand sie am Silver Lake. Haben schon ne Weile im Campingwagen gelegen.“ Ruckartig streifte er seine Handschuhe ab und warf sie in einen der Behälter. Den Inspektor forderte er auf, ihm zu folgen: „Ich nehme an, die CIA hat Ihr Büro nicht über diesen Fund informiert?“

„Die können mich mal …“, knurrte Warren.

„Stan, Sie sind wie immer ein charmantes Plappermaul“, bemerkte Svann sarkastisch, bevor er flüsterte: „Das ist ziemlich merkwürdig“, kurz unterbrach er den Satz, um zu überlegen, „aber nicht so merkwürdig wie das hier.“ Er räusperte sich: „Die CIA hat mir den Fall übrigens auch entzogen. Mit der Begründung, dass die Notwendigkeit einer Obduktion nicht bestünde.“ Svann tippe sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Sein allgegenwärtiges Grinsen verbreiterte sich und entblößte kleine Zähne. „Zu dumm nur, dass ich immer so übereifrig bin!“ Er kramte auf einem zweiten Rollwagen nach einer Akte, die gut versteckt unter einem sich auftürmenden Ordnerstapel lag. „Sie wissen schon, dass wir hier gegen die Dienstvorschriften verstoßen?“, bemerkte er beiläufig.

Warren ignorierte den letzten Satz. „Was hat Ihnen die tote Miss Holm verraten?“, fragte er und sah neugierig über Svanns Schulter.

„Nicht viel … uns Beiden fehlte leider die Zeit, sich näher kennen zu lernen“, antwortete Svann zynisch. „Aber einige Ungereimtheiten sprangen mir sofort ins Auge!“ Er drehte sich um, öffnete einen Kühlschrank und fingerte zwischen aufgereihten Proben.

Warren hob die Brauen, als Svann ihm ein Röhrchen entgegenhielt. „Ist das sein Sperma?“

Svann nickte und hüstelte: „Könnte man so sagen.“

„Was meinen Sie damit?“

„Nun …“ Svann atmete tief ein. „Was Sie hier sehen ist blanke Samenflüssigkeit – nicht ein einziges Spermium und somit keine DNA!“

Warrens Augen weiteten sich erstaunt: „War der Täter sterilisiert?“

„Kann ich nicht mit Sicherheit bestätigen … es ist irgendwie …“, wieder schien Svann zu grübeln. Er legte das Glasröhrchen auf den Tisch und wühlte in der Akte. „Sehen Sie das hier!“ Mit leicht zitternder Hand streckte er dem Inspektor ein Foto entgegen.

„Ein Fingerabdruck!“

Svann nickte. „Die Leiche war übersät davon. Aber fällt Ihnen etwas auf?“

„Mhhh … Kein Muster. Es fehlen die Papillarlinien!“ Warren überlegte: „Möglicherweise trug er Handschuhe?“

„Nein“ entgegnete Svann. „Ich habe Epidermis und Blut in der Wunde und auf den Abrisskanten der Rippen gefunden!“

„Er könnte sich die Finger verätzt haben, damit man ihn nicht verfolgen kann!“

Svann kratzte sich am Hinterkopf. „Gute Idee, Stan - aber dann hätten wir Narbengewebe!“ Er sah Warren in die Augen. „Glauben Sie mir, diese Fingerkuppen sind so glatt wie ein Kinderpopo – und das ist eigentlich unmöglich!“

„Seine Hautschüppchen?“ Hoffnungsvoll erwiderte Warren den Blick des Gerichtsmediziners.

„Keine DNA – Stan!“ Svann hob bedauernd die Schultern. „Da ist Nichts, was eine Authentifizierung mit vorhandenen Referenzdaten ermöglicht – weder im Blut noch im Speichel oder sonst irgendwo.“

Warren zog enttäuscht den Kopf in den Nacken. „Sind die Proben verunreinigt worden?“, schnaufte er.

Svann riss entrüstet die Augen auf. „Bei mir? Ein oder zwei Proben könnten vor Ort verunreinigt worden sein - aber alle?“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Nein Stan - Es wirkt alles irgendwie … unfertig!“ Nachdenklich folgte er dem Blick des Inspektors und sah auf die vergitterten Leuchtstoffröhren.
„Wie bei einem …“, unterbrach Svann die Stille. Dann holte er tief Luft. „Dieser Täter hat keine biologisch nachweisbare Identität – Es gibt ihn gar nicht! Es dürfte ihn noch gar nicht geben, denn … denn er befindet sich im Entwicklungsstadium eines … naja … ähm … man könnte ihn mit einem … Embryo vergleichen – also DNA-technisch.“ Hilflos hob er Brauen und Schultern, als Warrens entgeisterter Blick ihn traf.

„Wie bitte?“

„Fragen Sie mich nicht, wie das möglich ist. Ich halte mich nur an die Fakten und die zeigen mir Zellen ohne Zellkern – leere Hüllen … und das in Hülle und Fülle!“ Svann machte eine hektische Handbewegung, als wolle er eine Seifenblase platzen lassen. Dann griff er nach Warrens Oberarm. „Hier stinkt etwas gewaltig zum Himmel“, kurz sah er über seine Schulter, „und es ist nicht dieser Kerl auf meinem Tisch!“ Er zog die Stirn in Falten. „Ich frage mich schon die ganze Zeit, was die CIA hier macht.“

„Danke für den Tipp“, murmelte Warren. Er schlug Svann freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich dem Ausgang zu.

„Was haben Sie jetzt vor?“ wollte Svann wissen.

Der Inspektor schnaufte: „Ich werde jemanden besuchen, der diesen Wahnsinn überlebt hat!“

*** *** ***

Migräne war keine Erfindung ihrer Patienten, um mal einen Tag blau zu machen. Das spürte Tasha heute wieder mit aller Konsequenz. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und hatte die Brille bis zur Nasenspitze herunter gezogen.
Als es klopfte sah sie auf: „Ja bitte!“
Rasch schlug sie die Patientenakte zu und blinzelte zur Tür. Sie hasste es, im Alltag eine Brille zu tragen und benutzte sie nur, wenn das Gewitter in ihrem Kopf keine Ruhe geben wollte. Sie war der Meinung, mit jeder Brille unvorteilhaft auszusehen – egal ob sie von Gucci, Dior oder nur von einer Tankstelle war.

Schüchtern schob sich Ron in das Zimmer.
Tasha lächelte: „Es ist gut dass Sie meinen Rat befolgen Ron. Sie haben Ihrer Schulter einen ziemlichen Schlag verpasst.“

Ihr Satz zwang ein verlegenes Lächeln auf das Gesicht des Jägers. „Es ist nichts!“, nuschelte Ron und sah zu Boden. Der Gedanke, dass jemand anderes als Jim seine Verletzung behandeln wollte, beunruhigte ihn.

„Wie geht es Jim?“, fragte Tasha, als sie aufstand.

„Er schläft und … aber … ich habe nicht viel Zeit … ich muss ... zurück!“ Schon war Ron im Begriff, das Zimmer fluchtartig zu verlassen.
Im Laufe ihrer Tätigkeit hatte Tasha gelernt, dass bei den meisten Patienten der Puls ein wenig schneller wurde, wenn sie ein Behandlungszimmer betraten. Das lag einfach an der Autorität, die Ärzte genossen. Vielen Menschen war ihre Macht über Leben und Tod immer noch unheimlich. Allerdings schien diesem Mann ärztliche Gegenwart geradezu Furcht einzuflößen.
„Es ist okay. Ihr Bruder ist unter Beobachtung. Es kann nichts geschehen.“ Tasha seufzte: „Kommen Sie mal zur Ruhe, Ron!“
Zwischen ihre geschwungen Brauen schoben sich einige Fältchen: „Darf ich mir das mal ansehen?“, fragte sie leise und deutete auf seine rechte Schulter. Besorgt musterte sie Ron, der ihrem Blick beharrlich auswich. Seine Haut war aschfahl, die Augen eingefallen und die Wangenknochen viel zu deutlich sichtbar. Seine spröden Lippen verrieten einen hohen Flüssigkeitsverlust. Mühsam versuchte er, Haltung zu bewahren, konnte aber ein leichtes Schwanken seines Körpers nicht vermeiden.
„Sie sollten etwas Vernünftiges essen und mehr trinken - und außerdem fehlt ihnen eine tüchtige Portion Schlaf.“
Tasha nutzte die Autorität ihres weißen Kittels und wies auf einen Stuhl. Ron setzte sich gehorsam. Zögernd öffnete er das Hemd und ließ es über seine Schultern gleiten. Als er sich das darunter befindliche Shirt über den Kopf zog, konnte er einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken.
„Sie scheinen Ärzten nicht besonders zu vertrauen“, sprach Tasha mit möglichst unverfänglicher Stimme, denn ihr Patient war sichtlich angespannt. Mit geübten Augen taxierte sie die Schulter. Diese hatte sich mittlerweile von kräftigem Rot in dunkles Blau verfärbt. Als ihre Finger prüfend darüber strichen, zuckte Ron zurück.
„Ist okay - bleiben Sie einfach sitzen – es geht schon“, flüsterte Tasha. Sie schritt langsam um den Stuhl. Während sie vorsichtig das verletzte Schulterblatt betastete, verschaffte sie sich sekundenschnell einen Eindruck über die körperliche Verfassung des Mannes, der nach Leibeskräften bemüht war, gesund zu wirken. Sein Zustand war jedoch besorgniserregend.
„Sie haben eine heftige Prellung und sind am Verhungern. Ich werde Ihnen etwas gegen die Schmerzen und ein Vitaminpräparat verschreiben“, sagte Tasha, nachdem sie den Stuhl umrundet hatte und Ron erneut in die Augen sah.
Er nickte nur.

„Wie konnte das bloß passieren“, fragte sie.

„Die Tür hat geklemmt.“

Tasha ging hinter ihren Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl. Sie versuchte, etwas Abstand zwischen sich und Ron zu bringen, denn bei dem, was ihr auf dem Herzen brannte, war Abstand nötig. Sie ahnte schon, dass es nicht einfach werden würde.
„Sie machen sich sehr viele Sorgen um ihren Bruder“, stellte Tasha fest und bemerkte, wie sich Ron unbeholfen anzog. Jede Bewegung fiel ihm schwer.
Sie nickte in Richtung seiner Brust. „Das Tattoo - hat es eine Bedeutung?“

Ron schüttelte den Kopf. „War bloß ‘n Jugendstreich“, murmelte er, während seine Finger rasch die Knöpfe des Hemdes schlossen.

„Ihr Bruder hat auch so Eins.“ Tasha beugte sich nach vorn und seufzte: „Ron – was machen Sie wirklich?“

„Sagte ich doch!“

Sie lehnte sich zurück. „Ja, Rodeo reiten … ich weiß.“ Tasha lächelte bitter: „Das spricht für einige ihrer Narben, aber längst nicht für alle.“ Ihre Lippen pressten sich kurz aufeinander. „Schon gar nicht für die verheilte Schusswunde an ihrem Oberarm.“

Ron war aufgestanden. Er sah mit müden Augen auf die Ärztin. „Tasha, ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie Jim das Leben gerettet haben … aber“, er verstummte.

„Jim – richtig“, flüsterte sie. „Sie haben eine sehr starke Bindung an ihren Bruder.“

„Es gibt nur noch uns!“, antwortete Ron leise.

Tasha nickte: „Verstehe. Ron, hören Sie mir zu – ihr Bruder braucht Hilfe.“ Angespannt zog sie ihren Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Diese verdammte Migräne dröhnte hinter ihrer Stirn wie eine ins Tal stürzende Lawine. Als sie sich wieder nach vorn beugte, genoss sie Rons volle Aufmerksamkeit. „Hat ihr Bruder das öfter? Diese Anfälle von Gewalt … meine ich.“

„Jimmy ist ausgesprochen sensibel“, rechtfertigte ihn Ron.

Auf Tashas Gesicht lag Besorgnis. „Ron! Er hat den Spiegel zertrümmert. Er hat wieder damit gedroht, sich zu umzubringen! – Halt!“ Tasha hielt kurz inne, als müsste sie überlegen. „Falsch! Er wollte sein Spiegelbild töten, weil es zu ihm gesprochen hat. Jim ist der festen Überzeugung, ein Monster zu sein.“

Ron senkte den Kopf. „Er hat viel durchgemacht. Aber wir bekommen das geregelt!“ Er wandte sich ab, um zur Tür zu gehen.

„Ron – bitte!“ Tasha war aufgesprungen. „Setzen Sie sich – nur einen Moment“, flüsterte sie.

Zögernd machte Ron kehrt und sank zurück auf den Stuhl.
Nervös glitten Tashas Finger durch die Patientenakte. Sie setzte sich ebenfalls. „Jim leidet unter extremen, religiösen Wahnvorstellungen und akustischen Halluzinationen. Er glaubt, von Etwas oder Jemandem verfolgt zu werden.“ Tasha verstummte und sah Ron bedrückt an. „Ich dachte zunächst, es sei eine Depression“, fuhr sie fort: „– aber …“

„Was aber!“ Rons Stimme wurde kalt.

„Ich weiß nicht, was Sie wirklich machen“, Tasha seufzte. Sie rieb sich die Schläfen. „Aber auf keinen Fall reiten Sie Rodeo.“ Zwischen ihren Fingern kreiste mittlerweile ein Kugelschreiber. „Möglicherweise hat Ihre … Ihre Tätigkeit das Maß an Stress überschritten, das ihr Bruder bewältigen kann.“ Tasha legte den Kuli zurück und flüsterte: „Ich befürchte, Jim ist sehr, sehr krank.“

Auf Rons Stirn bildeten sich Schweißperlen. Langsam glitten sie an seinen Schläfen herab. „Was wollen Sie mir damit sagen!“

Tashas Stimme wurde tiefer: „Hatten Sie eine schwierige Kindheit? Sind Sie viel umgezogen oder waren sie oft allein? Gab es in Ihrer Familie jemals Fälle von geistiger Verwirrtheit?“

Ron sprang heftig atmend auf. Als er ins Straucheln geriet, klammerten sich seine Finger so fest um die Stuhllehne, dass sie sich blau verfärbten. „Wollen Sie mir etwa weis machen, dass mein Bruder verrückt ist“, stieß er hervor. Hitze schoss ihm durch die Adern und verwandelte sich hinter seiner Stirn in dumpfes Rauschen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Vorsichtig sprach Tasha weiter: „Ron – Ihr Bruder ist hoch gebildet. Wenn Jim klar ist, bedient er sich einer sehr gewählten Sprache“, erklärte sie. „Ich habe die Bücher gesehen, die er liest.“ Sie holte tief Luft: „Es gibt heute vielversprechende Behandlungsmethoden bei Schizophrenie. Ihr Bruder hat auf Grund seiner Primärpersönlichkeit, seinem Ausbildungsniveau und seiner guten soziale Anpassung eine echte Chance auf Heilung. – Ich kann ihnen helfen!“

Rons Körper bebte vor Zorn: „Schizophrenie!“ Seine Stimme überschlug sich. „Sie meinen also mein Bruder ist irre!“ Er schüttelte heftig mit dem Kopf. „Jim ist nicht verrückt“, schrie er völlig außer sich.

„Ron – seien Sie doch ehrlich zu sich selbst“, bat Tasha inständig. „Sie haben seine Ausbrüche erlebt. Sie können ihn nicht ständig überwachen.“ Vorwurfsvoll betrachtete sie den Jäger. „Sehen Sie sich doch mal an! Es macht sie kaputt!“

Rons eisiger Blick schlug ihr ins Gesicht. „Sie haben keine Ahnung, Tasha.“ Er schluckte und schloss kurz die Augen: „Sie wissen gar nichts“, flüsterte er.

„Dann sagen Sie es mir“, forderte Tasha.

Ron wandte sich ab um zu gehen. „Sie würden es nicht verstehen.“ Bevor er die Tür öffnete, verharrte er einen Moment und sah über seine Schulter. „Danke für die Tabletten, Tasha“, murmelte er mit rauer Stimme.

Sie nickte lächelnd: „Ich lass Ihnen ein Bett in das Zimmer bringen“, rief sie. Die zuschlagende Tür ließ Tasha zusammenzucken. Seufzend vergrub sie das Gesicht in ihren Händen. Dieses schmerzhafte Stechen hinter den Augen wollte nicht weichen und der Zorn auf sich selbst machte es keinesfalls besser. „Verdammter Dickschädel“, zischte sie.


*** Moloch Angst ***

Bill war fassungslos. Blankes Entsetzen fesselte ihn auf dem kleinen Stuhl. Der alte Jäger wusste nicht, ob ihm Rons furchtbarer Anblick, oder die Geschichte, die er soeben gehört hatte, mehr Angst einjagte. Nach Atem ringend, zog er den Kopf in den Nacken und stöhnte. „Mein Gott, Ron“, sein Blick senkte sich auf das Gesicht des jungen Jägers. In sich zusammen gesunken saß ihm Ron gegenüber und starrte auf den Boden. Seine Hände, die sich im Stoff der Jeans verkrampften, zitterten unablässig.
„Bill …“, Rons Stimme taumelte ihm entgegen, wie ein sterbendes Blatt, das der Wind mit sich nahm. „Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.“ Angst und Verzweiflung flackerten in seinen Augen, „Ich glaube, Jim wird wahnsinnig …!“

Bills Brustkorb pumpte so hektisch, dass ihm schwindlig wurde. Heiß und kalt schoss ihm das Blut durch die Adern, als die Erinnerung an Jims katatonischen Zustand bei ihrem letzten Treffen aufflammte. Trotz seiner Bitte hatte Ron nichts von ihrer Jagd preisgegeben. Nur vage Andeutungen konnte ihm der alte Jäger damals entlocken. In gewisser Weise war Bill einfach nur froh, als sich Jims Zustand besserte und so entschied er, diese Entwicklung als erledigt hinzunehmen.
Ein Fehler!
Denn nun musste er feststellen, dass seine Vorstellung von den Ereignissen in Grafton nicht annähernd die Wirklichkeit getroffen hatte. Bills Blick flehte Ron an, diese Geschichte zu widerrufen. Aber jede Faser im Körper des älteren Barker bezeugte die Wahrheit.

Der alte Jäger fand kaum Worte. „Ich … ich habe von solchen Legenden gehört … aber!“ Stöhnend vergrub er das Gesicht in seinen Händen und murmelte: „Ich … hätte niemals gedacht … doch nicht so …!“ Wieder riss Bill den Kopf in die Höhe. „Ein lebendes Buch? … Wie … wie konnte Jim das überleben? Wie konntet ihr das durchstehen?“

Ron fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich glaube nicht mehr, dass Jim es überlebt hat!“ Sein Blick wich dem Alten aus. Er flüsterte: „Jim ist daran zerbrochen.“ Plötzlich bebten Rons Schultern. „Bill…“, schluchzte er. „Es war so furchtbar. Alle diese Geschichten. Tagelang haben sie …!“ Ron rutschte vom Stuhl und kauerte am Boden. „Ich, ich konnte es nicht verhindern …!“ Verzweifelt kämpfte er gegen die Tränen. Er gluckste und gurgelte: „Ich konnte Jim nicht helfen … ich werde … diese … Bilder … niemals vergessen!“ Seine zitternden Finger vergruben sich in seine kurzen Haare. „Jims Schreie, diese Ketten … diese … diese abscheulichen …!“ Ron schlug mehrmals mit der Faust auf den Boden. „Du kannst dir nicht vorstellen, was sie ihm antaten!“ Abrupt stoppte er und sah ängstlich über seine Schulter zum Bett. Jim schlief. Sein Gesicht war bleich, ein feuchter Film aus Schweiß schimmerte auf seiner Haut. Nach seinem erneuten Ausbruch hatte Tasha die Dosis des Sedativums erhöhen lassen. Stoffgurte fixierten die Hand- und Fußgelenke.
Ron wandte sich wieder an Bill und flüsterte weiter: „Ich war glücklich, dass Jim es vergessen hatte, Bill! Ich habe geglaubt, er habe es überstanden!“
Der Alte schüttelte den Kopf. Tränen glitzerten in seinem grauen Bart.

„Ich habe mich geirrt, denn … Jim kann weder mit noch ohne dieser Erinnerung leben. Sein Körper erinnert sich an jedes Wort.“ Rons Pupillen flackerten. „Es … ist … als wolle Jims Seele jede einzelne dieser Geschichten ans Licht holen!“

Bill sah entsetzt auf den älteren Barker, der auf dem Boden kniete und sich verzweifelt die Haare raufte. „Er hat sich verletzt – monatelang – ohne dass ich es bemerkt habe. Er hat versucht, sich das Herz heraus zu schneiden. Bill! Was soll ich nur tun?“ Rons Kinn sank schwer auf seine Brust und er schloss die Augen. Seine Stimme konnte der Alte kaum noch verstehen und doch rissen die folgenden Worte eine Kluft in sein Herz. „Jim hat einen Menschen getötet!“, brachte Ron hervor. Als sich sein Blick erneut auf das Gesicht des alten Jägers heftete, war er leer und kalt.

Bills Augen weiteten sich. „Niemals – das kann ich nicht glauben.“ Er packte Ron und zerrte ihn zurück auf den Stuhl. Dann holte er tief Luft. „Wahrlich - in Jim schlummert eine dunkle Seite… - Junge“, er spähte an Rons Schulter vorbei auf Jim. „Aber es steckt auch so viel Gutes in ihm!“ Bills Hände vergruben sich hart in Rons Schultern, um ihn zu aufzurütteln. Sein Atem explodierte. „Du darfst ihn nicht aufgeben, Ron!“

Ron lächelte bitter, als er dem alten Jäger in die Augen sah. „Als Jim an dem Morgen nach Hause …“, er räusperte sich, „ins Motel kam, hatte er tiefe Kratzer auf seinen Armen. Seine Kleidung war zerrissen, überall war Blut und er war völlig verstört.“ Ron flüsterte weiter: „Ich weiß, was ich gesehen habe – und Jim … er hat es mir gebeichtet.“

Bill sprang auf und schüttelte den Kopf. „Ron“, schrie er, „das nimmst du doch nicht etwa so hin!“ Bill rieb sich die Schläfen, als versuche er, einen klaren Gedanken aus seinem Gehirn zu massieren. „Verdammt - Wir müssen was tun!“ Er sah Ron fragend an. „Hat man eine Leiche gefunden?“

… „Das wird man noch…“, kam es kühl aus dem Hintergrund. Sofort drehten sich Bill und Ron zum Bett herum.

Jim hatte die Augen geöffnet. Seine Lippen zuckten und in seinen Pupillen spiegelte sich das Licht der Sonne. „Ich bin ein Mörder und es wird Zeit, es zu beenden!“, säuselte er in einem gleichgültigen Ton. Die Gurte hinderten ihn, sich zu erheben. Halbherzig zog er daran. Schließlich trommelten seine Finger ungeduldig auf dem Bettlaken.

„Jim!“ Bill schluckte betroffen. Langsam ging er auf den Jüngeren zu. „Was ist passiert?“

Jim neigte den Kopf zur Seite. Er wollte nicht in Bills Augen sehen: „Es war in dieser Bar.“ Seine Stimme bebte: „Sie hat uns angesprochen.“ Ein Seufzer stieß über seine schmalen Lippen: „Sie war so schön und jung!“ Jims Augen irrten suchend durch die geöffnete Tür in das Bad. „Es war erregend“, hauchte er, „wir haben es versucht – Ehrlich – aber wir konnten nicht widerstehen. All diese tanzenden Leiber – überall nackte Haut, diese blutroten Lippen und der heiße Atem, der über sie stieß. Wir haben ihre Gier gespürt, mit jeder Faser unseres Fleisches – ihre Blicke versprachen alles, was wir suchten. Wir fühlten uns wie in einem -…“

… „Rausch“, vervollständigte Bill den Satz und sein Körper erstarrte zur Salzsäule.

Jim nickte. Ron betrachtete seinen Bruder sprachlos. Diese Kälte, die von ihm ausging, ließ ihn fast erfrieren.
„Sie hat uns doch gerufen“, krächzte Jim. Tränen erstickten die Worte in seinem Hals.

„Wer ist wir?“ Bill zerrte an Jims Arm. „Jim! Wer ist wir?“

„Ich weiß nicht“, flüsterte der Jüngere. Sein Blick heftete sich sehnsüchtig auf die kahle Wand über dem Waschbecken. Jim biss sich auf die Unterlippe als er feststellte, dass der Spiegel fehlte. „Ich glaube, ich habe Es verärgert“, kicherte er und riss schlagartig den Kopf in Bills Richtung. „Aber Es wird wieder kommen. Das hat Es mir versprochen!“ Jims Brauen schoben sich bedeutungsvoll in die Höhe, als er dem alten Jäger zunickte.

Bill sah fassungslos auf Ron. Ihn beschlich eine schreckliche Ahnung. „Mein Gott, Es hat ihn gefunden! Hätte ich nur gewusst, was damals geschehen ist!“ Der Alte griff sich ächzend an die Stirn. „Diese vielen Selbstmorde … ich hätte es ahnen müssen.“

„Ist Jim verrückt – oder besessen?“ Rons Worte waren so unsicher, dass sie beinahe auf seiner Zunge zerbrachen.
Bill schüttelte seinen Kopf. Er sah Ron zornig an: „Ihr hättest es mir sagen müssen.“ Sein Blick wechselte zu Jim, als er flüsterte: „Ich befürchte, es ist alles viel schlimmer!“

Verwirrt streiften Jims Augen über Bills Gesicht. Dann legte sich ein Lächeln auf seine Lippen: „Hab keine Angst, Bill! Es ist nicht schlimm. Bald wird alles gut“, hauchte er. „Es macht, dass die Stimmen in meinem Kopf aufhören.“ Wieder versuchte sich Jim zu erheben. Er zog an den Gurten. Schließlich riss er den Kopf in den Nacken und knirschte mit den Zähnen. Die Sehnen an seinen Gelenken spannten sich und zerrten ihm die Finger auseinander. „Ich will, dass Es bei mir bleibt“, keuchte er. Dann schlossen sich seine Lider abrupt und er verlor sich in seinen Gedanken:
Ich werde deinen Platz einnehmen, hatte Es gesagt. Jim lächelte vor sich hin, denn allmählich sah er in dieser Kreatur kein Monster mehr. Sollte Es doch an seine Stelle treten. Was machte es schon, wenn ihm das Leben gestohlen wurde. Wenn jemand anderes, oder etwas ihm derart ähnliches, in Gänze seinen Platz übernahm. So lange er denken konnte, wurde er durch ein Leben geschubst das er nicht wollte. Jeden Menschen, der ihm nahe stand, hatte er verloren und er führte einen Kampf, der aussichtslos war. Alles, was er sich jemals erträumt hatte, wofür es sich zu leben gelohnt hätte, war in Flammen aufgegangen. Nicht einmal Ron hatte seine Not bemerkt. Jim kicherte leise. Vielleicht war es schon immer so gewesen? Vielleicht war dieses Es er. Vielleicht war dieses beinahe „Ich“ der Körper – und er – Jim Barker nur der Schatten. Seine Angst wich einer Art Unbekümmertheit, seine Qual einem Vergnügen. Dieser Gedanke gefiel ihm. Endlich konnte er sich schlafen legen, mit dem Bewusstsein, jemand anderes würde jeden Morgen mit dieser Last aufstehen müssen, um sein verhasstes Leben zu führen und seine Verantwortung zu übernehmen. Unbemerkt könnte er im Nebel des Vergessens verschwinden und niemand würde ihn vermissen – fast so, als hätte er nie existiert.
---- Ein wundervoller Gedanke ----

Bill ließ das kühle Handgelenk des Jüngeren los und war mit einem Schritt bei Ron. Er packte ihn an beiden Schultern. „Ron! Jim muss sofort von den Betäubungsmitteln runter!“ Panisch sah er ihn an. „Jim muss clean werden – sonst wird er keine Chance haben. Beobachte ihn - Lass ihn nicht aus den Augen. Jim ist in großer Gefahr – wir alle sind in großer Gefahr.“ Schnaufend sank Bill auf den Stuhl. „Ich muss meine Bücher holen und dann werde diese Bar besuchen um herauszufinden, was passiert ist.“ Er sah fragend zu Jim: „Welche Bar war es denn?“

Der Jüngste betrachtete die Zimmerdecke und summte leise vor sich hin.

„Jim!“ schrie Bill. Seine Stimme ließ Ron zusammen zucken.

Jim stöhnte abwesend: „Weberei … ich glaube sie hieß: Alte Weberei“, seine Zunge wurde schwer. Brummend schloss er die Augen und sein Kopf taumelte zur Seite.

Bill beobachtete die Brüder, die ihm so sehr ans Herz gewachsen waren und wollte nicht glauben, was er in diesen letzten Minuten erfahren musste. Jim und Ron waren weiter voneinander entfernt, als sie es jemals sein durften. Beide hatten diese eine Jagd nie beendet – nie verarbeitet und waren in ihren Alpträumen gefangen. Das machte sie verwundbarer denn je. Ihr Mut und ihre Entschlossenheit waren zerschellt, an den Narben, die dieses unmenschliche Ritual auf ihren Seelen zurückgelassen hatte. Sie schienen dem Wahnsinn näher zu sein als der Realität.
Bill schnaufte: Realität – welch ein spöttisches Wort für das Leben eines Jägers. Der Alte wusste: Jim und Ron benötigten Zeit. Doch gerade die hatten sie nicht. Wenn Irgendetwas einen Weg zu den gequälten Geistern, die Jim mit sich herumtrug finden sollte, würde ihr entfesselter Zorn diese Welt in ein Tollhaus verwandeln.
Die Barker-Brüder mussten zurück finden, um weiter kämpfen zu können. Verstand und Kraft mussten sich wieder vereinen.


*** Der Versucher ***

In der überfüllten Kantine der Klinik sah sich Tasha nach einem freien Platz um. Sie ging an einen Tisch, von dem soeben einige Schwestern aufgestanden waren und dachte an Ron, Jim und den alten Mann. Sicher, sie hatte in ihrem Leben schon einige Workaholics kennengelernt und wusste, das waren meistens schwierige Patienten. Aber dieses Trio kam ihr mehr als seltsam vor. Dieser bärtige Alte schien Rons Vertrauen zu genießen. Heimlich hatte sie gehofft, er sei in der Lage, ihn zur Vernunft zu bringen. Doch ihr aufkeimender Optimismus zerfiel, denn plötzlich verwandelte dieser Bill das Krankenzimmer in eine Mischung aus antiker Bibliothek und dezentralem Organisationsbüro - und verlangte obendrein die Absetzung der beruhigenden Medikamente, die Jim so dringend benötigte.
Lustlos stocherte Tasha in ihrem Salat und entschloss sich schließlich, doch das Sandwich in Angriff zu nehmen. In ihren Gedanken vertieft, bemerkte sie die herannahende Schwester nicht. „Doktor Horn?“
Erst als Tasha angesprochen wurde, sah sie nach oben. Lächelnd verkündete die Schwester den Besuch eines Inspektor Warren, der in mehreren Mordfällen ermittelte und dringend mit Jim Barker sprechen wollte.
Tasha ließ ihr Sandwich sausen. Sie erhob sich, strich fahrig über ihren Kittel und folgte der Schwester wortlos durch den schmalen Korridor zum Aufzug. Wut stieg in ihr auf. Einem Verhör konnte sie zum jetzigen Zeitpunkt beim besten Willen nicht zustimmen. Es war seltsam. Plötzlich schien sich alles gegen sie zu wenden. Nervös nestelte sie an ihrer Haarspange und vernahm das hektische Rascheln des Schwesternkleides an ihrer Seite. Der Schall ihrer Schritte wurde von weichem Linoleum verschluckt.
Warum hatte sie nur so unbeherrscht reagiert? Gerade sie sollte verstehen, warum Menschen manchmal schwiegen. Aber trotz aller Vorsicht war ihr zweites Gespräch mit Ron gründlich danebengegangen. Dabei war ein Streit das Letzte, das Tasha wollte.

„Soll ich Sie begleiten, Frau Doktor?“ Diese Frage riss Tasha aus ihren Gedanken.
Sie lächelte und überflog das Namenschild ihrer Kollegin: „Ist okay, Schwester Berit. Ich denke, mit dem Inspektor komme ich alleine klar.“

Berit warf ihr einen besorgten Blick zu. „Sie sehen sehr müde aus.“

Tasha winkte ab. „Diese Doppelschichten bringen mich noch ins Grab!“

„Sie sind von der Notaufnahme, nicht wahr?“ Tasha nickte schweigend. Trotz zwei Schlaftabletten hatte sie in der letzten Nacht kaum ein Auge geschlossen. Aber darüber wollte sie an dieser Stelle nicht diskutieren.

„Wem sagen Sie das“, um Schwester Berits Lippen zuckte ein Lächeln, bevor sie sich abwandte, um auf ihre Station zurück zu eilen.
Tasha wartete vor dem Fahrstuhl. Sie beobachtete die nach oben springende Kontrollanzeige, bis sich die Flügel der Tür öffneten. Das Läuten der Klingel ließ sie erschrocken zusammenfahren. Verdammt … bleib ruhig, murmelte Tasha und dachte wieder an Ron. Dieser Mann war sturer als ein Rindvieh. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich seiner Entscheidung zu beugen und die Medikamente abzusetzen. Aus welchem Grund verweigerte er seinem Bruder eine vernünftige Behandlung? Warum sprach er nicht über seine Vergangenheit. Egal, welches Geheimnis die Brüder teilten, es rechtfertigte auf keinen Fall ein derart verantwortungsloses Verhalten. Trotz der bösen Worte, die zwischen ihnen gefallen waren, verspürte Tasha immer noch das Bedürfnis, ihm zu helfen.
Sie betrat den Fahrstuhl. Leise summte die Klimaanlage. Ihr Luftzug verursachte ein Kältegefühl auf ihrer Haut. Als sich die Tür geschlossen hatte, lehnte Tasha erschöpft an der Metallwand und spürte, wie der Aufzug während der Abwärtsfahrt vibrierte.
Seufzend umschlang sie mit den Armen ihren fröstelnden Körper und schloss die Augen. Warum setzte sie voraus, dass es Ron leichter als ihr fiel, über unerwünschte Erinnerungen zu reden? Tasha wusste, wie grausam manche Geheimisse waren. Wie Ungeheuer lauerten sie im Hinterhalt auf eine Chance, an die Oberfläche durchzubrechen. Von manchen Ereignissen wurde man ein Leben lang verfolgt und ständig spürte man ihren bedrohlichen Atem im Rücken.
Tasha kannte dieses Gefühl. Sie fürchtete die Dunkelheit, denn in der Nacht begann eine Erinnerung, von der sie lange geglaubt hatte, sie verdrängt zu haben, wieder in ihre Träume zu schleichen und keine verschlossene Tür vermochte sie aufzuhalten.

*** *** ***

24 Stunden später

„Jim? Bist du okay?“ Bill musterte den Jüngeren mit einem Seitenblick, als er das Zimmer betrat. Jim saß aufrecht im Bett und nickte kurz. Dann schob er den Laptop auf seine Knie. Sein Blick wechselte von Bill auf Ron. Der Ältere saß auf dem zweiten Bett und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Jimmy? Bist du es?“

„Ja, Ron – ich bin es und es geht mir gut.“

Ron sah erleichtert auf den alten Jäger. „Was hast du herausgefunden, Bill?“, flüsterte Jim mit vibrierender Stimme. Die letzten Tage waren an ihm vorbei gerauscht wie ein LSD Trip. Er war froh, nicht mehr das lähmende Kribbeln in seinen Adern zu spüren. Nur ein Stechen unter seiner Brust und dieser Verband erinnerten ihn bei jeder Bewegung daran, dass seine Erlebnisse kein Traum gewesen sein konnten.

Bill sank auf einen Besucherstuhl und lehnte sich zurück. „Du warst in dieser Bar. Der Barkeeper hat dich wiedererkannt“, begann der Alte zu berichten. Ron richtete sich auf. Sein Blick streifte Jim, als Bill weiter sprach. „Aber er beschwört, dass du die Alte Weberei allein verlassen hast.“ Bill räusperte sich.

Ungläubig starrte Jim auf den Alten. „Aber, aber … ich habe sie doch gesehen. Sie hat mich angesprochen …“ Sein Brustkorb hob und senkte sich erregt.

„Möglicherweise hast du was gesehen, Jim“, Bill stockte. „Du hast eine Zeitlang an der Bar gesessen und geistesabwesend auf die Tanzfläche gestarrt.“ Der Alte grinste: „Du scheinst viele Blicke auf dich gezogen zu haben – nicht nur von Frauen. Einer der Gründe, warum sich der Barkeeper genau erinnert.“ Kurz räusperte sich Bill: „Aber plötzlich bist du vom Hocker gestürzt und hast dich am Boden gekrümmt. Erst wollten sie den Notarzt rufen, weil sie dachten, du hättest einen Anfall oder sowas. Aber-“, Bill machte eine Pause, „jedenfalls hat dich der Sicherheitsdienst rausgeschmissen.“

„Was?“ Jims Augen weiteten sich.

„Naja, du bist ziemlich gewalttätig geworden, als man versuchte, dir zu helfen. Sie dachten, du ständest unter Drogen. Es waren mehrere Leute nötig, um dich zu überwältigen.“

„Jim!“, fiel Ron in die Rede des Alten. „Das ist eine gute Nachricht. Es erklärt deine Abwehrverletzungen!“ Er sah hoffnungsvoll auf Jim.

Jim schüttelte ungläubig den Kopf. „Was habe ich gesagt?“, wollte er wissen.

„Keine Ahnung! Wirres Zeug“, Bill schnaufte. „Irgendwelche Fantasieworte, Buchstabenreihen. Irgendwas wie MK Ultra … oder so. Jedenfalls behauptet das der Barkeeper.“

„Vielleicht war es eine Vision?“, warf Ron ein und stand auf. Er ging zu Jim hinüber und setzte sich auf sein Bett.

„Ron!“, raunte Jim, als er seinen Bruder ansah. Nach einem Moment senkte er den Kopf und flüsterte: „Ich … ich habe sie getötet … das war echt!“

„Jetzt beruhige dich, Jim – es gibt keine Leiche! Ich habe das überprüft“, erklärte der alte Jäger.

Jims Schultern bebten: „Begreift es doch! Ich bin ein Mörder!“, beschwor er und ließ seine Schultern sinken. „Ihr solltet mich wegsperren, bevor ich noch Amok laufe.“

„Hör auf damit … du verdammter Mistkerl!“ Bill war aufgesprungen. Kleine Speicheltröpfchen glitzerten in seinem Bart. Er stürmte zum Bett und packte Jim an der Schulter, rüttelte ihn durch. „Du wirst gefälligst dieses Gejaule unterlassen! Solange wir nichts Genaueres wissen, bleibt es eine Vermutung! Ist das klar?“ Bills Herz schlug bis zum Hals, als er den Jüngsten anschrie: „Du hast eine Verantwortung übernommen! Wenn du glaubst, dich wegen eines Alptraumes einfach so aus dem Leben schleichen zu können, dann sag es laut und ich schwöre dir, ich werde mir ein Messer nehmen, um dir eigenhändig dein verdammtes Herz herauszuschneiden! Verstanden?“ Hart vergruben sich Bills Finger in Jims Schulter.

Erschrocken sahen die Brüder den Alten an.

„Wir werden uns jetzt auf die Fakten konzentrieren und Schritt für Schritt entscheiden, was zu tun ist.“ Bill ließ von Jim ab, um zu verschnaufen. Er ging zum Fenster und sah hinaus auf den Parkplatz. Die Sonne brannte erbarmungslos. Unter flimmernder Luft schmolz der Teer auf den Straßen. Kein Baum spendete mehr Schatten. Jedes Blatt war verdorrt zu Boden getaumelt. Zurück blieben kahle, trockene Äste, deren einzige Bewohner Krähen waren, die stumm nebeneinander in den Zweigen hockten.
Der Alte schnaufte gegen das Glas und drehte sich abrupt um. „Ich weiß, ihr habt viel durchgemacht“, sprach er leise weiter, „aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich in Selbstmitleid zu suhlen.“ Seine zitternden Hände stützten sich auf die Fensterbank. „Also … ihr wolltet meinen Rat? Bitte hier ist er!“ Bedrohlich baute sich Bill auf. „Reißt euch verdammt noch mal zusammen und macht euren Job! Ihr seid Jäger!“

„Zu Befehl“, schoss es unweigerlich über Jims und Rons Lippen. Sie waren völlig überrumpelt.

Bill massierte seine Stirn. Es tat ihm leid, seine Jungs so anzuschreien, aber ihm war klar geworden, dass Schuldgefühle in Bethel tödlich waren. „Also, Jim, was hast du über die Opfer herausgefunden?“ Bills Stimme nahm wieder den vertraut warmen Tonfall an, als er zurück zum Stuhl ging.

Jim hatte den Laptop ergriffen. Der Computer zitterte leicht in seinen Händen, als er den Monitor hochklappte. „Diese, hmm …“, Jim räusperte sich. Eingeschüchtert beobachtete er den Alten durch seine zerzausten Haarfransen: „Mordserie beginnt im Sommer 1969 und scheint sich in heißen Jahren fortzusetzen. Die Opfer, Frauen und Männer verschiedenen Alters, stammen aus unterschiedlichen Gegenden und Gesellschaftskreisen. Ich konnte kein Schema erkennen. Einige waren zugezogen, andere wurden hier geboren. Offensichtlich haben die meisten Selbstmord begangen oder starben unter merkwürdigen Umständen.“ Jim strich sich durchs Haar. Er stöhnte leise. „Bis auf eins“, flüsterte er und sah Bill an. Der Alte hob die Brauen.
„Es ist mir gelungen, bei einigen Opfern auf Grund ihrer Sozialversicherungsnummer den Lebenslauf etwas genauer zu rekonstruieren.“ Jim lächelte triumphierend.

„Und …du Genie, was hast du herausgefunden?“, platzte es aus Ron heraus. Seine Augen hefteten sich erwartungsvoll auf Jims Lippen. Dieser griff nach der Akte, die Warren ihnen überlassen hatte. Er warf sie auf die Bettdecke. „Ethan Brown - der Mähdrescherunfall! Er musste als Kind mit ansehen, wie sein kleiner Bruder von einem Mähdrescher überrollt wurde.

Und dann dieser Pope vom Schrottplatz!“

„Der Typ in der Stahlpresse“, fiel ihm Ron ins Wort.

Jim nickte: „Er hat vor einigen Jahren Frau und Tochter verloren. Sie wurden bei einem schweren Verkehrsunfall in ihrem Wagen regelrecht zerquetscht.“
Nach einer Pause berichtete Jim weiter: „Vor drei Jahren ereigneten sich weitere Unfälle in dieser Gegend.“
Er schlug die Akte auf und tippte mit dem Finger auf einen Bericht. „Diese Frau starb bei einem Grillunfall. Die Gasflasche explodierte. Sie stand sofort in Flammen. Jahre zuvor verbrannte ihre Mutter im Bett, weil sie mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen war.“

„Ich sags doch…“, bemerkte Ron, „Rauchen ist gesundheitsschädlich!“

Jim schluckte betroffen. „Und so geht es weiter. Das Unfallopfer einer Klettertour vor drei Jahren wurde Zeuge einer der furchtbarsten Katastrophen unserer Zeit.“ Jim schob den Rechner zur Seite und legte für einen Moment das Gesicht in die Hände. Schließlich sah er Ron an: „Sein Arbeitskollege stürzte am 11. September 2001 aus dem Fenster des World Trade Centers, als die Türme Anschlagsziel der Terrororganisation Al-Qaida wurden. Sie hatten an diesem Tag die Schicht getauscht. Eigentlich hätte er unter den Opfern sein müssen.“
Jim zog den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. „Soweit ich herausfinden konnte, waren sämtliche Opfer in psychiatrischer Behandlung, weil sie ein schweres Trauma erlitten hatten. Sie wurden Zeugen von Ereignissen, an denen sie sich selbst die Schuld gaben.“

Ron sah ungläubig auf Jim. „Du meinst, der Typ sieht seinen Kollegen aus dem Fenster fliegen und stürzt sich Jahre später selbst von einer Klippe?“

Jim nickte. „Alle Opfer litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen.“

„Was soll das heißen? Ist das ein Rachegeist oder eine Art himmlische Rechtsprechung?“ Ron sah fragend auf Bill.

„Das glaube ich nicht“, bemerkte Jim. Er schien einen Moment zu überlegen. „Es sagte: Zu sehr liebst du deinen Schmerz!“

„Was?“ Ron riss seine Augen auf.

Jim musterte seinen Bruder. „Als Es zu mir sprach sagte Es: Ich brauche den Schmerz, um zu wachsen.“ Langsam wandte er sich an Bill und sah ihn fragend an.

Der Alte nickte: „Ihm hungert nach Schmerz und Angst. Es sucht nach dem, was wir vor unseren Mitmenschen verbergen - nach unseren dunkelsten Geheimnissen. Es findet unsere Alpträume – unsere schlimmsten Erinnerungen und führt sie uns wieder und wieder vor Augen, bis wir daran zerbrechen.“
Bill richtete sich auf und sah die Brüder an. „Es ist ein hungriger Geist*.“ Seine Augen formten sich zu Schlitzen, als er fragte: „Jim? Was ist dein größter Alptraum?“

Dem Jüngsten wich alle Farbe aus dem Gesicht. Ein Schweißfilm legte sich auf seine Haut. „Dass … dass … die dunkle Seite in mir siegt“, stotterte er. „Dass diese Prophezeiung eintrifft und ich ein Schlächter werde … und … und … unzählige Herzen verschlinge!“ Jim riss den Kopf in den Nacken.

„Jim …!“ Bill war aufgestanden und sprach leise weiter: „Ich glaube nicht, dass du so etwas Schreckliches getan hast. Du hast deine Angst durchlebt … wie in einem Rausch. Junge - du darfst ihr nicht nachgeben! Du musst dich von deinen Schuldgefühlen befreien und lass dir die Sinne nicht vernebeln, denn sonst wird Es dich seelisch ausweiden!“

Jim verstand. „Bis deine Seele ein blutiges Schlachthaus ist und von deinem Körper nichts mehr übrig bleibt, außer dampfendem Fleisch“, vervollständigte er den Satz und presste seinen Oberkörper gegen die aufgerichtete Betthälfte in seinem Rücken.

„Hungrige Geister? Hast du noch mehr Infos, Bill?“, fragte Ron leise.
Der Alte nahm ein Buch, blätterte darin und murmelte. „Einem von ihnen seid ihr schon einmal begegnet!“

„Echt?“ Ron stand auf und ging zu Bill. „Wann?“ Neugierig lugte er in sein Buch.

„Dieser mordende Clown, damals im Zirkus, war ein relativ harmloser Rakshasa**, den ihr erledigt habt. Und er gehörte zu dieser Kategorie.“

„Relativ harmlos? Spinnst du, Bill?“ Ron riss den Kopf in den Nacken.

„Es gibt also mehrere Kategorien hungriger Geister?“, wollte Jim wissen. Seine Finger flogen bereits über die Tastatur, auf der Suche nach mehr Informationen. „Ich wusste nicht, dass Geister Hunger haben“, murmelte er in der Recherche vertieft. „… und ich hasse Clowns!“
Ron grinste.

„Ich befürchte, diese Geister hungern sehr … und nicht nur nach Rache“, murmelte Bill. Er kniff die Augen zusammen, um besser lesen zu können. „Auf dem Lebensrad, welches in sechs Daseinsbereiche unterteilt ist, wird das Reich der hungrigen Geister im Buddhismus bildlich dargestellt. Im Dritten Kreis sieht man die hungrigen Geister der Verstorbenen mit übergroßen Bäuchen, dick und aufgebläht. Auch in China kennt man hungrige Geister. Einige Chinesen glauben, dass die Geister ihrer Vorfahren zu einer bestimmten Zeit des Jahres in ihre Häuser zurückkehren, hungrig und bereit zu essen. In Japan kennt man als menschenfressende, hungrige Geister die Gaki, Jikininki oder eben die Rakshasa. Oft leiden sie schrecklich unter ihrem Hunger, können aber mit bestimmten Ritualen besänftigt, oder recht einfach getötet werden!“

„Einfach…?“, knurrte Ron kopfschüttelnd. „Dieser Clown war ein verdammtes Miststück!“

Bill sah kurz auf und räusperte sich: „Aber manchmal sind sie geistige Wesen voller Eifersucht und Habsucht, die als Bestrafung für ihre Sünden mit einem unersättlichen Hunger für eine bestimmte Substanz verflucht worden sind.“

„Also ist der Hunger als Metapher zu betrachten?“, schlussfolgerte Jim.

Bill nickte. „Ja, das Aussehen und die Lebensweise dieser Geister ist durch die Missetaten bestimmt, die sie in vorherigen Leben begangen haben. Ihr Hunger kann sich auf alles Mögliche beziehen, wie zum Beispiel Fleisch, Drogen oder Sex. Eine Legende behauptet, dass der gefährlichste unter ihnen gar kein Geist ist. Er wird oft mit einem Dämon der Perser assoziiert, welcher gerufen wird, um einem Anderen zu schaden. Akatash***, auch der Versucher genannt, oder der, ‘Der Böses schafft‘, verführt die Menschen zu bösen Taten. Und als hungernder Deava**** kann Akatash von einem Medium gerufen werden, wenn dieses gedemütigt oder gequält wird. Einmal entfesselt, giert es Akatash nach menschlichem Leid und er wird mit jeder schrecklichen Erinnerung, die er verschlingt stärker - bis er in der Lage ist, in unsere Welt einzubrechen.“

Ron war blass geworden. Er starrte auf Bill. „Wie können wir ihn töten?“

Der alter Jäger schnaufte: „Wir müssen das Medium ausfindig machen, welches ihn beschworen hat.“ Auf Bills Stirn zeigten sich Kummerfalten. „Hier steht auch, dass Akatash nach fleischlicher Existenz strebt, indem er einen Menschen erobert und seinen Platz einnimmt. Er kann dabei sehr kreativ und verführerisch sein. Bill betrachtete Jim betrübt und flüsterte: „Könnt ihr euch vorstellen, wie mächtig Akatash wird, wenn er einen Menschen findet, der das Leid unzähliger Seelen in seinem Innersten verbirgt?“


Anmerkungen des Autors:

Quellen und Einzelnachweise zu den nachfolgenden Legenden:
Internet: wikipedia / Bücher: Thailand 1982, ISBN 0-89581-153-7 / Das alte Persien - Die Iranische Welt vor Mohammed 1978, ISBN 3-7031-0461-9

* Hungrige Geister
Hungergeister sind Geister von Verstorbenen, die in einigen Religionen, traditioneller regionaler Folklore und in der Mythologie ostasiatischen Ursprungs unmittelbar mit dem Begriff „Hunger“ verbunden sind.

** Rakshasa wohnen in einer eigenen Welt und bilden sogar ganze Staaten, doch oft brechen sie in die Menschenwelt ein und dies in verschiedensten Formen. Sie werden oft als Tiere, z. B. Geier, Hunde oder Tiger oder als besonders hässliche Menschen dargestellt. Oft haben sie in diesen Darstellungen große, blutige Fangzähne. Die weibliche Form dieser Dämonen sind die Rakshasi. Man sagt ihnen nach, dass sie starre Augen ohne Lidschlag haben und dass sie keinen Schatten werfen. Sie fressen Menschenfleisch und stellen Frauen lüsternerweise nach, die Rakshasi sollen jedoch für Schwangere gefährlich sein und Seuchen verbreiten. Den entscheidenden Querverweis zu hungrigen Geistern fand ich in der buddhistischen Religionslehre, die diese Thematik sehr gründlich behandelt.
Übrigens kann ich die weit verbreitete Annahme, dass Rakshasa auf einem Bett aus toten Insekten schlafen, nicht bestätigen. Ihre Schlafgewohnheiten waren in diesem Buch nicht beschrieben ;o)

*** Akatash auch aka Tash
Persisch: „Der Böses schafft“ ist in der persischen Mythologie einer der Daeva oder Erzdämonen. Er ist der „Versucher“ und sucht, die Menschen zu bösen Taten zu bewegen. Den Querverweis zu hungrigen Geistern fand ich in der buddhistischen Religionslehre.

**** Deava werden als beschwörbare animalische Dämonen der Dunkelheit definiert.


*** Es lauert überall ***

Hinter der verschlossenen Tür hörte Tasha den Luftzug im Fahrstuhlschacht. Es war ein leises, verträumtes Säuseln – wie das Zirpen von Insekten in der Abendluft. Vereint mit der sanften Vibration, die die Abwärtsfahrt auf ihren Körper übertrug, wirkte dieser Ton fast einschläfernd – wäre da nicht ein seltsames Pochen, als würden schmale Finger auf eine hölzerne Tür schlagen – oder auf einen Sargdeckel.
Tasha roch den kalten Asphalt einer verwaisten Gasse. Sie hielt den Atem an. Platzregen schlug auf Wellblech, rieselte über ihre Schultern. Irgendwo heulte die Sirene eines Einsatzwagens.
In Trance presste Tasha ihre Hände auf die Ohren und schloss die Augen. Sie wollte nicht hören, was jetzt folgen würde. Nie wieder wollte sie diese Laute hören müssen.
Es ist vorbei … längst vorbei, versuchte sie sich einzureden. Es ist nur eine Erinnerung. Mit zitternder Entschlossenheit hob Tasha ihr Gesicht dem keuchenden Atem schemenhafter Gestalten entgegen. Ihre Stimmen klangen wie das Geheul von Kojoten: „Was für ein hübsches Mädchen.“
Bilder kreuzten sich und wirbelten durcheinander.
Tashas Beine versagten. Plötzlich kauerte sie am Boden. Schlammiges Wasser rann zwischen ihren Knien den Rinnstein hinab und gurgelte in einen Gully.
Sie tun ihr weh … schrecklich weh!
Tasha hatte nicht den Mut, hinzusehen.
Sei still Tasha – versteck dich … du kannst sie nicht retten, du würdest ebenfalls sterben!
Feuchtkalte Luft strömte mit jedem Atemzug in ihre Lunge. Schwere Tropfen prasselten auf ihre Schultern und kantige Kieselsteine drückten in ihre Knie.
Bleib in deinem Versteck!
Als es Tasha endlich gelang, die Augen zu öffnen, sah sie in ihr Gesicht. Es flimmerte an der gegenüberliegenden Wand, als wollte es sich auflösen. Eine schwarze Haarlocke war unter ihrer Regenmütze hervor gerutscht. Nur Tashas Willenskraft war es zu verdanken, dass sie auf ihre Beine kam. „Es ist ein Alptraum. Glaub nicht was du siehst“, flüsterte sie und stemmte sich der Tür entlang nach oben.
Das silbrige Leuchten der Wände wich hellem Grau. Tränen glitten über Tashas Wangen, als sie kopfschüttelnd in ihre aufgerissenen Augen sah - und immer wieder das Gelächter dieser wilden Hunde in den Ohren hatte.

So muss es sein, dachte Tasha. Ich höre die Klagen einer toten Seele!

Das Mädchen kam aus dem Nebel. Ihr zartes Blumenkleid klebte, nass vom Regen, an ihrem Körper und wurde zu dem, was es in Wirklichkeit war: dem Leichenhemd einer Toten. Unter ihren dunklen Locken war ein knochiges Gesicht gefangen, aus dem zwei schwarze Augen starrten. Als ihr lippenloser Mund aufklaffte, schlug Tasha kalter Atem entgegen.
„Warum hast du das zugelassen?“ Wie ein Fauchen entwich ihr die Frage und wurde zu einer Salve schrillen Bellens. „Wir waren doch Freundinnen …!“
Tasha stieß einen Schrei aus, der hauptsächlich ihrer Überraschung entsprang, als sie spürte, wie sich Finger um ihren Hals legten. Das Fleisch fühlte sich grässlich an, als schien es nicht nur tot zu sein, sondern sich auf ihrer Haut zu bewegen.

„Du wälzt dich jede Nacht im Bett, bis endlich der Morgen dämmert. Du tust dein Bestes, um damit zu leben – aber niemand ist dafür geschaffen!“

Tasha konnte kaum glauben, dass das heisere Krächzen, welches sie hörte, ihrer eigenen Kehle entsprang. Allmählich hüllte schlichtes Schwarz ihren Verstand ein. Die Geräusche verschmolzen zu einer seltsam lieblichen Musik, die von der Dunkelheit verschlungen wurde.
Tasha begann zu fallen, bis ein helles Läuten ihren Sturz abrupt beendete und sie bemerkte, dass ihre eigenen Hände sie würgten.
Die Grimasse vor ihren Augen verschwand, als sich die Fahrstuhltür öffnete. Geruch von Desinfektionsmittel strömte ins Innere der Kabine. Japsend taumelte Tasha ins Freie und lehnte sich an die Wand. Im harten Licht der Leuchtstoffröhren war ihre Haut so weiß, wie die einer Leiche. Panisch beobachtete sie den menschenleeren Korridor. Aber das tote Mädchen war verschwunden.
Nur eine fremde Stimme säuselte noch in ihrem Ohr: „Ich kenne dich Tasha. Ich weiß welches Geheimnis du hierher mitbracht hast. Ich weiß von jener Nacht, von der niemand erfahren sollte!“

*** *** ***

„Jetzt beruhige dich“, mit aller Macht versuchte Ron zu verhindern, dass sein Bruder das Bett verließ. Er war erschrocken über die physische Kraft, die Jim trotz der schweren Verletzungen aufbieten konnte. Ron warf Warren einen finsteren Blick zu, während sich seine Hände gegen Jims Schultern pressten.
Der Inspektor lehnte an der Tür und beobachtete das Szenario. Niemals zuvor hatte er einen Menschen gesehen, der sich derart schnell erholt hatte. Aber die letzten Ereignisse waren ausnahmslos eine Aneinanderreihung von Merkwürdigkeiten. So wunderte sich Warren nicht wirklich über diese Situation. Es war ihm klar geworden - dabei verließ sich Stan Warren auf seinen Instinkt - dieser Fall stand in Verbindung mit den Männern in diesem Zimmer. Dass er Jim Barker mit dem Hinweis auf einen neuen Mord allerdings so in Aufregung versetzen würde und sich dieser sofort als Täter anbot, erschien ihm unglaubhaft. Zumal er selbst Zeuge von Jim Barkers Zusammenbruch wurde. „Was geht hier eigentlich vor?“ Mit gespielter Gelassenheit unterbrach Warren das Kräftemessen der jungen Männer. Er neigte den Kopf und musterte Jim. Man brauchte keinen Doktortitel, um einschätzen zu können, das die Wunden die er sich zugefügt hatte, einen Menschen für mindestens drei Wochen hilflos ans Bett fesseln sollten. Warren konnte sich nicht erklären, woher Jim die Kraft und Überzeugung nahm, derart zu rebellieren. Im Moment glich er einem Tier, das sich aus Schlingen, die es gefangen hielten, zu befreien versuchte. Jims Brustkorb schwoll unter heftigen Atemzügen rhythmisch an. Er schien keine Schmerzen zu spüren – und wenn doch, dann war er es gewohnt, damit umzugehen. Warren war sich sicher, dass es Jim nicht schwer fallen würde, sein Bett zu verlassen. Das beunruhigte ihn. Möglicherweise war der junge Mann dem Wahnsinn schon ein ganzes Stück näher, als der Rest dieser verfluchten Stadt. Einzig Jims Blick verriet, dass er sich noch unter Kontrolle hatte. Seine blaugrauen Augen schauten Warren so klar und ehrlich an, dass es ihm unmöglich erschien, einem Mörder gegenüber zu stehen.

„Warren! Was haben Sie sich nur dabei gedacht, mit so einer Horrormeldung hier herein zu platzen?“, bellte Ron. „Es muss Ihnen doch klar sein, dass eine solche Nachricht meinen Bruder völlig aus der Bahn wirft!“

„Das hätte ich auch gern gewusst!“ Verdutzt sahen die vier Männer auf die Ärztin. Dr. Horn ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Aufgewühlt strich sie eine rote Strähne aus ihrem Gesicht und trat in die Mitte des Raumes.
Gestern war es ihr noch gelungen, Jim eine Galgenfrist zu verschaffen, indem sie Inspektor Warren in die Schranken wies. Danach hatte sie sich den Rest des Tages frei genommen. Doch das Mädchen aus dem Fahrstuhl verfolgte sie. Tasha war gereizt und übernächtigt. Sie spürte Zorn, der trotz zitternder Knie in ihr aufwallte.
Die letzte Woche war verrückt gewesen. „Inspektor Warren!“ Als ihre Blicke auf seiner Dienstmarke hängenblieben, räusperte sich der Inspektor. „Ich befürchte, mein Patient ist noch nicht in der Lage, sich einem Verhör zu stellen. Auf Grund seiner Verletzungen ist Mister Barker …“, Tasha stockte. Sie folge Warrens zweifelnden Blicken zum Krankenbett.

Angespannt saß Jim im Bett. „Warum hört mir keiner zu?“, stieß er verbittert in den Raum. Seine Finger knackten, als er die Hände zu Fäusten ballte. „Ich bin nicht verrückt. Ich weiß doch, was ich gesehen hab. Verdammt! Ich habe sie gespürt, gerochen und…“ Jim schluckte: „Es war kein Alptraum“, flüsterte er mit gesenktem Kopf, „es war viel zu real!“

Ein heißer Schwall schoss durch Tashas Venen. Auch sie kannte das Gefühl, das Jim nicht zur Ruhe kommen ließ. Jede Nacht hörte sie die Stimmen der Kojoten. Tasha musterte Jim und stellte fest, dass sie in den letzten Stunden keine Zeit gehabt hatte, nochmals nach ihrem Patienten zu sehen. Sie war erstaunt über Jims klare Augen. Entschlossen ging sie zum Bett und streckte ihm die Hand entgegen. „Dr. Tasha Horn“, sagte sie, „ich glaube, ich konnte mich noch nicht vorstellen.“

Jim erwiderte ihren Händedruck. „Ich weiß“, schnaufte er, „Sie haben mich gerettet!“

„Sie erinnern sich daran?“

Jim nickte. Er ließ Tashas Hand los. „Vage“, murmelte er und hob die Schultern, um zu zeigen, wie unangenehm ihm diese Situation wirklich war.

„Jim … ich kann ihnen helfen“, flüsterte Tasha.

Beschämt neigte Jim den Blick. „Das glaube ich nicht.“ Als er Tasha erneut ansah, huschte ein gequältes Lächeln über seine Lippen. Er konnte ihre Gedanken hören: „Du dürftest nicht mehr am Leben sein.“

„Das weiß ich.“ Tasha erschauerte, als hätte ein kalter Luftzug sie gestreift. Hatte Jim gerade auf ihre unausgesprochene Feststellung geantwortet? Seine Stimme war unglücklich, aber trotz all seinem Schmerz, den sie spüren konnte, unglaublich wärmend. Zum ersten Mal sah Tasha in ihm nicht den Patienten, sondern den Mann. Er wirkte in seinem Zorn atemberaubend. Jims Wangenknochen waren hoch, das Kinn fest und kantig. Bartstoppeln ließen darauf schließen, dass er lange keine Rasierklinge in der Hand hatte und sein braunes Haar mussten dringend geschnitten werden. Breite Schultern, der flache Bauch und diese ungebändigten Haarfransen, die seinen Nacken umspielten, lenkten ihre Gedanken in überraschende Bahnen. Tasha bemerkte, dass unter ihrer erzwungenen Ruhe Hysterie lauerte und ihr wurde bei diesem Anblick klar, warum die Schwestern derart auf muskulöse Männer standen, deren Bilder die Wände des Aufenthaltsraums schmückten. Räuspernd schob Tasha ihre Fantasie beiseite und wandte sich an den Inspektor: „Um was geht es hier?“

„Um Mord …“, fiel ihr Jim ins Wort.

„Hören Sie!“ Ron mischte sich in das Gespräch. In seinen Augen flackerte blanke Verzweiflung. Er strafte Jim mit einem vernichtenden Blick, bevor er weiter sprach: „Mein Bruder ist kein Mörder!“

„Ron …!“, stöhnte Jim.

„Also eins nach dem anderen.“ Warren trat einen Schritt in den Raum, ignorierte Tasha und musterte die Männer. „Sie sind nicht vom FBI. Wer sind Sie und was suchen Sie hier?“

Ron sah zu Boden und flüsterte: „Ja, wir haben gelogen, was unsere Identität betriff!“ Doch schnell hob er das Gesicht und sah Warren an. „Bitte glauben Sie – wir sind nicht die Bösen! Wir wollen das Gleiche – den Mörder fassen.“

Warrens Brauen hoben sich erstaunt. „Warum? Sie gehören keiner Behörde an. Ich habe das überprüfen lassen.“

„Zum Glück waren ihre Nachforschungen, was uns betrifft, schlampig“, zischte Jim und erntete den nächsten zornigen Blick seines Bruders.

Ron hüstelte: „Wir wissen, dass es in Bethel seit über vierzig Jahren immer wieder zu unerklärlichen Unfällen und Selbstmorden kommt.“

Jims Finger vergruben sich in das Bettlaken. Mit holpriger Stimme übernahm er das Gespräch: „Wir suchen nach der Ursache!“

„Nach der Ursache“, brummte Warren, „das haben Sie schon beim letzten Mal angedeutet.“ Er sah Ron an. Seine Augen verengten sich. „Was meinen Sie damit?“

Der Ältere begann zu stottern. „Wir sind sozusagen freiberuflich.“ Unsicher glitt sein Blick zu Bill, der seinen Kopf in die Hände legte.

„Hören Sie zu, Warren!“ Jims Stimme wurde entschlossener. „Wir wissen vom Sektenmord auf der Shirer-Farm im August 1969. Die Frage ist doch … warum wurde dieser vertuscht?“

„Vertuscht?“ Jetzt war es Warren, der unsicher wurde.

„Ja!“ Ron ging einen Schritt auf den Inspektor zu. Mit einem Blick über die Schulter holte er sich Jims bestätigendes Nicken. „Wir haben recherchiert! Immer wieder wird betont, dass Woodstock ohne Gewalt verlief. In keinem Bericht oder Artikel vom Festival wurde je von diesen Morden berichtet.“

Warren senkte seine Stimme. Deutlich war ihm das Unwohlsein bei dieser Erinnerung anzumerken. „Sie wurden nach dem Festival gefunden“, murmelte er.

„Ja – aber ihre Leichen waren bereits in starke Verwesung übergegangen! Also geschah es während des Festivals“, stellte Jim klar.

„Es war sehr heiß“, konterte Warren. Jim rollte genervt die Augen. Diese Antwort war unakzeptabel und das wusste auch Warren. Er schnaufte. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Eigentlich wollte er das Verhör führen. „Es war ein Sektenmord. Verrückte Hippies, die den jüngsten Tag zelebrierten. Basta!“

„So ein Quatsch!“, fiel ihm Ron ins Wort. „Fakt ist, dass die seltsamen Ereignisse mit diesem Mord begannen!“

Warren nickte. „Das FBI übernahm damals den Fall!“ Er sah Ron fragend an: „Das wurde nie veröffentlicht. Woher wissen Sie das alles überhaupt?“

Ron grinste. „Jimmy hat gewisse Talente, die bei Nachforschungen sehr nützlich sein können.“
Jim schwenkte seinen Laptop in der Luft.

Tashas und Warrens ungläubige Blicke trafen ihn. „Sie haben sich doch nicht etwa in die Datenbank des FBI gehackt?“

Jim hob lächelnd die Schultern. Dann holte er tief Luft: „Die Frage ist doch, warum die Sache vertuscht wurde?“

Die Hartnäckigkeit dieser Burschen gefiel Warren und er musste sich eingestehen, ebenfalls ihrer Meinung zu sein. „Warum glauben Sie an einen Zusammenhang?“, fragte er interessiert.

„Weil das große Sterben in Bethel im Sommer 1969 begann und bis heute nicht abriss!“ Bill war aufgestanden. Er rieb sich ächzend den Rücken und schob sein Basecape zurecht. „Irgendetwas treibt die Menschen dazu, sich das Leben zu nehmen!“

Warren warf dem Alten einen eigentümlichen Blick zu. „Irgend ETWAS?“

Bill schnaufte: „Wir haben herausgefunden, dass alle Opfer schwere Schuldgefühle hatten. Sie kamen mit ihren Erinnerungen nicht mehr klar.“

Tasha biss sich auf die Lippe. Sie hatte das Gefühl, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren, als sie flüsterte: „Wollen Sie etwa andeuten, dass diese Menschen …“

„…von schrecklichen Alpträumen heimgesucht wurden – furchtbar unter ihren Erinnerungen litten und vielleicht auch von gewissen Leuten für Schizophren gehalten wurden!“ Mit einem Ruck hatte sich Ron ihr zugewandt. Seine Augen funkelten zornig.

Tasha neigte den Kopf.

„Ron!“, flötete Jim, „Es reicht!“ Mitfühlend musterte er Dr. Horn. Sie war leichenblass.

„Was?“ Mit bebender Brust sah Ron auf seinen Bruder. „Du bist nicht verrückt, Jim!“

„Ich wünschte, manchmal ich wäre es“, seufzte der Jüngste.

„Stopp, … stopp … stopp …“, Warren riss die Arme in die Höhe. „Das klingt doch ziemlich an den Haaren herbeigezogen, finden Sie nicht?“

„Wenn Sie wüssten, was wir schon alles erlebt haben“, murmelte Ron und kratzte sich am Hinterkopf.

„Ihr Brustkorb war aufgerissen! Stimmt’s?“ Erstaunt sah Warren Jim an. „Woher … wissen Sie das?“, hakte er nach, „Der letzte Mord wurde nicht publiziert!“

„Ihre Rippen waren aufgebrochen und das Herz … es war …!“ Jim schluckte. Seine Schultern bebten, als er auf die weiße Bettdecke starrte. Er vermochte es kaum auszusprechen. „…herausgerissen … stimmt doch, oder?“

Ron ging zu seinem Bruder. Er setzte sich auf das Bett und sah Jim unglücklich an. „Jimmy … es war … ein Traum. Du bist kein Mörder – ich kenne dich mein Leben lang. Jim … bitte glaub mir!“ Rons Herz schlug ihm bis zum Hals. Es zerriss ihn, seinen kleinen Bruder so verzweifelt zu sehen.

„Aber sie hat es doch gesagt … Ron“, wimmerte Jim. Als sich sein Blick auf Rons Gesicht heftete, waren seinen Wangen nass. „Frigg hat es prophezeit!“

„Wer ist Frigg?“ Warren sah ratlos auf die Brüder.

„Eine Göttin!“, antworte Ron, ohne dabei Jim aus den Augen zu lassen.

„Eine Göttin …“, wiederholte Warren ungläubig und sah kurz auf Tasha. Dann riss er schnaufend den Kopf in den Nacken.

Bill räusperte sich verlegen: „Genau genommen eine germanische Göttin“, erklärte er, während er in einem Buch blätterte. „Sie ist die Göttin des Schicksals und die Beschützerin der verloren und ungeboren Seelen. Heute ist sie unter den Namen Perchta oder auch als Frau Holle bekannt.“

„Frau Holle!“, entfuhr es Warren. Er wirbelte herum und sah Bill an. „Frau Holle? … Sie behaupten also, Frau Holle hat all diese Menschen umgebracht?“ Seine Augen wurden immer größer. Er konnte nicht fassen, was da gesprochen wurde. Diese Behauptungen waren einfach zu absurd.

„Nein, wir vermuten es war Akatash“, warf Ron ein. Und als er den völlig verwirrten Gesichtsausdruck des Inspektors bemerkte, versuchte er zu erklären: „Das ist ein hungriger Geist, vermutlich ein Deava, der sich von menschlichen Erinnerungen ernährt.“

„Ein? … Was zum …?“ Warren stöhnte laut. „Was ist ein Deava?“ Er sah entsetzt zu Tasha. Diese hob hilflos die Schultern und schüttelte den Kopf.

„Das ist eine Art Dämon – und er ist ziemlich grausam, fürchte ich.“ Jims Antwort und die Überzeugung in seiner Stimme ließ Warren erschauern. Plötzlich fragte er sich, wo er hier nur hingeraten war. Diese Typen gehörten zweifellos in Sicherheitsverwahrung.

„Und Sie sind hier, um …“, vorsichtig mischte sich Tasha ins Gespräch. Sie sah Ron an. Die Worte wollten ihr nicht recht über die Lippen.

„... ihn zu jagen“, bestätigte Ron ihre schlimmste Befürchtungen. Er sah die Ärztin an, als hätte er gerade das Normalste der Welt erzählt.

„Ihn … jagen?“, stieß Warren hervor. Fast setzte sein Herzschlag aus. Ohne die Brüder aus den Augen zu lassen, ging er langsam auf sie zu und setzte sich ihnen gegenüber aufs Bett. Seine Hände klammerten sich um den Stahlrahmen. Nur Warrens Mittelfinger gab Tasha ein verstecktes Zeichen, schleunigst Hilfe zu holen. Warren bemühte sich, ein verständnisvolles Gesicht zu machen. Er musste jetzt unbedingt Ruhe bewahren, denn möglicherweise hatte er doch etwas gefunden.

„Wir jagen … das Übernatürliche, Geister, Dämonen und all dies.“ Noch immer lag blanke Überzeugung in Rons Augen, als er weitersprach.

„ … und all dies …!“ Warren hatte die Stimme gesenkt. Er schluckte hart.

„Okay …“, rief Tasha. Sie holte tief Luft und riss ihre Arme in die Höhe. „Das reicht!“ Langsam bewegte sie sich zur Tür. „Ich rufe den Sicherheitsdienst.“

Warren ließ nicht locker: „Was hat das alles mit ihrem Bruder zu tun?“, fragte er interessiert und beobachtete Dr. Horn aus dem Augenwinkel.

„Wir vermuten, dass Akatash“, Bill räusperte sich, „ein besonderes Interesse an Jim hat. Denn er war bei Frigg und kennt die Geschichten der verloren Seelen.“

Warren musterte Bill. Seine Stirn zog sich in Falten: „Jim war also im Himmel bei einer Göttin?“

„Nein – man muss in einen Brunnen springen, um zu ihr zu gelangen. Sie lebt nämlich unter der Erde“, berichtigte ihn Ron, „allerdings wurde Jim in ihrem Auftrag von der Wilden Jagd verschleppt!“

„Wilde Jagd … ahhh …ha …!“ Warren wurde heiß und kalt! Er suchte nach den richtigen Worten, bevor er weitersprach: „Ich fasse mal zusammen. Akatash frisst schlechte Erinnerungen und nun ist er hinter Jim her, weil er diese Geschichten von verlorenen Seelen, die nur Jim kennt, auch aufessen will?“ Stöhnend vergrub Warren sein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf über so viel Unsinn.

„So ungefähr …“ antworte Bill.

„Das vermutet ihr!“, flüsterte Jim und sah zunächst zu Ron und dann zu Bill. „Dieser Dämon will viel mehr!“

„Woher wollen Sie das wissen?“ fragte Warren.

Jim sah den Inspektor an und lächelte. „Ich bin dieser Dämon!“ Seine Augen blitzen stahlblau auf.

Ein leises Geräusch erfüllte die Luft, als der Türgriff zwischen Tashas Fingern klickte.

Ron schnellte in die Höhe. Er wirbelte um das Bett und war mit einem gewaltigen Satz bei ihr. Blitzschnell packte er Tasha am Oberarm. Mit der anderen Hand hatte er seine Beretta aus dem Hosenbund gezogen und richtete sie gegen ihre Schläfen.
Als Tasha den kalten Lauf der Waffe auf ihrer Haut spürte, ließ sie den Griff los. Voller Entsetzen starrte sie auf Inspektor Warren. Dieser war aufgesprungen, wagte aber nicht, etwas zu unternehmen. Er hob beschwichtigend die Hände und flüsterte: „Okay Ron, bitte beruhigen Sie sich …! Tun Sie nichts, das Sie später bereuen würden.“
Ron keuchte. Er riss Tasha mit dem Rücken gegen seine Brust. Sie zuckte unter dem harten Griff des Jägers zusammen und stieß einen kurzen Schrei aus.
„Ron … bitte lassen Sie die Waffe fallen“, beschwor ihn Warren.

Schweißperlen glitten über Rons Schläfen. Seine Brust wurde heftig auf und abgetrieben, als er mit verzerrter Stimme schrie: „Niemand verlässt dieses Zimmer!“

Schmerzhaft spürte Tasha den Griff des Jägers. Vor Angst gelähmt starrte sie aus dem Fenster und war erstaunt über die Vielfallt an Eindrücken, die auf sie niederrauschten. Eine lose Lamelle der Jalousie quietschte in der heißen Brise des Nachmittags. Es war kein perfekter Sommertag. Zu heiß, zu schwül und angefüllt mit Wolken summender Moskitos.
Tasha drehte ihr Gesicht in Rons Richtung, sehr langsam – sich immer der Waffe an ihrer Schläfe bewusst und schaffte es mit einiger Anstrengung, ihrem Peiniger in die Augen zu sehen. Sie brauchte etwas länger, um es zu erkennen. Aber es lag in seinen Augen, auf seinen zuckenden Lippen – es lag in seiner gesamten Körperhaltung. Es war keine kurzlebige Traurigkeit nach einem missglückten Tag. Es war auch keine Wut. Es war irgendetwas dazwischen. Erschöpfung und Angst lasteten auf seinen Schultern. Ron war verzweifelt. Durch ein vorsichtiges Nicken gab sie ihm zu verstehen, dass sie nicht fliehen wollte.
Ron zögerte. Dann ließ er die Beretta sinken. Er behielt die Ärztin jedoch fest im Griff. „Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie es nicht verstehen würden“, flüsterte er heiser.

„Ron …!“, murmelte Jim. Er richtete sich im Bett auf. Der Schreck hatte ihm die Farbe aus dem Gesicht gerissenen. „Das ist doch keine Lösung!“ Mit flackernden Augen sah er seinen Bruder an.

„Verdammt - sie halten uns für Verrückte – Jimmy“, keuchte Ron.

Jim nickte. „Aber niemand wird uns zuhören, wenn wir uns wie Terroristen benehmen, verstehst du?“ Die Stimme des Jüngsten bebte. Gequält griff er sich an die Stirn.

Ron versuchte zu lächeln. Er ließ von Tasha ab und stieß sie mit einer einzigen brutalen Bewegung von der Tür. Mit verschränkten Armen versperrte er nun den Ausweg. Seine Waffe hatte er noch in der Hand.
Tasha befühlte ihren schmerzenden Oberarm und drehte sich hilfesuchend um. Warren packte sie und zog sie an sich. Seine andere Hand glitt vorsichtig hinter seinen Rücken, unter das Jackett.

„Versuchen Sie das nicht, Warren!“ Bills mahnende Stimme ließ den Inspektor erstarren. „Glauben Sie mir. Ron schießt schneller!“ Der alte Jäger seufzte leise.
Tasha hatte sich gefangen und sah noch einmal in Rons Gesicht. Sie erkannte den Grund seiner Qual. „Sie müssen mich ziemlich hassen“, flüsterte sie.
Ron sah schnaubend zu Boden.

„Alles okay, Alter?“, fragte Jim leise.

„Jimmy – ich … ich … habe“, Ron brachte kaum ein Wort über die Lippen.

Jim nickte: „Ich weiß – geht mir genauso “, flüsterte er. Sein Blick streifte Tasha und Warren und gab ihnen zu verstehen, dass die Gefahr vorüber war. Bevor er Bill zunickte, lehnte er sich erschöpft zurück. Der alte Jäger setzte sich wieder auf den Stuhl.

„Wir sollten jetzt alle mal durchatmen!“, schnaubte Inspektor Warren. Er zog sein Jackett aus und legte die Dienstwaffe, für alle sichtbar auf das zweite Bett.

Grübelnd fuhr sich Jim durch das zerzauste Haar: „Warren, glauben Sie mir – ich weiß, wie sich das alles anhört! Aber es ist die Wahrheit.“ Er holte tief Luft, als wollte er von einer hohen Klippe ins Meer springen. „Doch das ist nicht alles“, murmelte er. „Ich weiß, dass Sie uns noch einige Kleinigkeiten verheimlichen, Warren!“ Um Jims Lippen zuckte ein Lächeln, als sich erstaunte Blicke auf ihn richteten.

„Was meinen Sie?“, entfuhr es Warren.

„Ich meine den Mord …“, flüsterte Jim. Seine Stirn legte sich in Falten, als er den Inspektor fragend ansah.

„JIM!“ zischte Ron.

Jim riss abwehrend einen Arm in die Höhe. Er sah nach unten und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, da ist was seltsam – oder?“

Warren sank langsam zurück auf das Bett. Nervös nestelte er an seinem Hemdkragen und sah den jungen Jäger an. „Jim? … Wie kommen Sie darauf?“

Jim lachte laut, als er den Kopf in den Nacken riss. „Ich … habe Sie beobachtet, Stan …!“ Er biss sich auf die Lippe, schloss die Augen und stöhnte leise. Jim spürte, Es kam zurück. Schon bahnte Es sich durch seine Venen und Jim erzitterte. Doch es war nicht Angst, die den Jäger durchzuckte, sondern Freude. Ein Hauch Kälte, der sich nur für den Bruchteil einer Sekunde unter der fremden Berührung ausbreitete, wich seiner warmen Umarmung. Reine Liebe durchflutete ihn. Es versteckte sich nicht mehr in Träumen oder in den betäubenden Nebeln von Psychopharmaka. Jims Stimme wurde heiser. „Naja … Es…hat Sie beobachtet … ES … ER … - wie auch immer … WIR … haben dich immer beobachtet, Inspektor Stan Warren.“

„Jim?“

Tasha kam Ron zuvor. Besorgnis lag in ihrem Gesicht. Rasch griff sie nach Jims Arm und flüsterte: „Jim … hören Sie mir zu … “

Keuchend stieß Jims Atem in den Raum. Es begehrte ihn und bat um Einlass. Eine Welle rollte über Jim hinweg - pures Verlangen und alles, was Es wollte, war seine Hingabe.

Hastig sah Tasha über ihren Rücken in Rons erschrockenes Gesicht.

Jim verstummte abrupt und fixierte eine Weile die schmale Hand, die sich um seinen Oberarm klammerte. „Tasha“, flüsterte er, „Sie haben eine sehr kühle, feuchte Haut.“ Er lächelte sie an. „Sie fürchten sich … aber nicht vor Jim oder Ron Barker!“ Jims Augenbrauen hatten sich bedeutungsvoll nach oben geschoben. Er spannte seinen Armmuskel an. Tashas Finger lösten sich augenblicklich, als sie die Kälte spürte.
Jim ignorierte Tashas Bestürzung. Seine Aufmerksamkeit wechselte zu Warren: „Es gab keine verwertbaren Spuren, keine DNA!“

Ron war näher gekommen. Immer noch die Waffe in der Hand, beobachtete er Jim misstrauisch.

Der Inspektor schnaufte. „Das können Sie nicht wissen!“

„Jimmy? Alles okay?“ Da war sie wieder, die Angst. Sie vibrierte in Rons Stimme. Er steckte die Beretta zurück in seinen Hosenbund.

„Ist okay, Ron, ich raste nicht aus – aber ich kann seine Unsicherheit spüren“, beruhigte ihn Jim und wandte sich an Warren. „War die letzte Autopsie nicht auch …“, Jim konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, „… etwas verrückt?“

„Was meint er?“ Ron blickte fragend zu Warren. Dieser fuhr sich mit den Fingern durch das leicht ergraute Haar und räusperte sich: „Es gab in der Tat keine DNA, obwohl reichlich Genmaterial auf der Leiche war!“

„Wurde sie …“, Ron sah schnaufend zu Boden und verstummte.

Warren nickte: „Es gab keinerlei Hinweise auf eine Waffe!“

„Oder einen Täter?“, übernahm Bill das Gespräch. Er erhob sich und kam näher.

Warren hüstelte: „Es war merkwürdig – als ob …“, betroffen sah er in Tashas Augen, „als ob der Täter weder Mensch noch Tier war.“

„Aber das ist doch gut!“, platzte es aus Ron heraus, während er erleichtert auf Jim sah. „Du kannst nicht der Mörder sein!“

„Ich wüsste nicht, was daran gut sein sollte“, bellte Warren zornig. „Sie war total verstümmelt – aufgerissen wie ein Paket!“ Langsam drehte er den Kopf in Rons Richtung. „Überall klebte Blut – selbst in ihrem blonden Haar!“ Warrens Stimme klang niedergedrückt. „Kein schöner Anblick!“

„Blond?“ Jim riss die Augen auf. „Blond? Nein, nein …“ Er wusste nicht mehr, auf wessen Wahrheit er sich verlassen konnte. Auf ihre oder auf seine? Heftig schüttelte er den Kopf.

„Ja – sie war blond!“, antwortete Warren, sein Blick wechselte zu Ron. „Sie kennen die Frau“, flüsterte er unsicher.

Ron fuhr sich ratlos mit der Hand übers Gesicht. „Warum sollten wir sie kennen?“

„Bei Ihrem letzten Besuch war sie in meinem Büro!“

„Miss Pig … gi?“ Ron räusperte sich. „Diese … die fette Frau mit den Rosenbüschen. Hatte sie sich nicht über Vandalismus beschwert?“

Jims Blicke irrten entsetzt über die Gesichter, die ihn umringten: „Nein“, schrie er außer sich. „Sie war viel jünger und hatte schwarzes Haar!“ Seine Lunge verlangte nach Sauerstoff und trieb den Brustkorb auf und ab. Plötzlich färbten sich all seine Erinnerungen rot. Jim legte schützend die Arme um den Kopf, doch der Schmerz war nicht mehr aufzuhalten. „Ich hatte die Chance, Es zu töten und habe sie vertan“, wimmerte er. Er weinte um Ron, um das unbekannte Mädchen, um die Menschen in Bethel und um sich selbst.
Ron hatte sich zu Jim auf das Bett gesetzt und ergriff seine Hand. Er sah Dr. Horn herausfordernd an. Aber Tasha wollte das Zimmer nicht mehr verlassen. Zu viele Fragen drängten auf Antworten.

„Jim“, flüsterte Ron, „du musst dich beruhigen!“ Er wartete, bis seine Worte in Jims Bewusstsein angekommen waren.
Der Jüngere nickte schluchzend. Als er Ron ansah, wurden seine Augen ruhiger. Jims Finger entspannten sich und glitten suchend über die Bettdecke. Schließlich heftete sich sein Blick flehend auf Tasha. „Sie müssen mir helfen! Dr. Horn, - sagen Sie mir, wer ich bin!“

*

„Ich halte das für keine gute Idee“, brummte Warren. Er stand reglos am Fenster und ließ den Blick über die Stadt schweifen. Es war eine schöne Gegend. Nicht, dass diese Schönheit von neu erbauten Häusern herkam, sondern von liebevoll gepflegten, alten Villen, die den Parkplatz umrahmten. Warren wusste sehr wohl, dass hinter diesen hübschen Wänden auch Tränen vergossen wurden, nette Nachbarschaft hin oder her. Von Zeit zu Zeit wurden Kinder geschlagen, zerbrachen Ehen oder es gab Drogenmissbrauch, über den niemand redete.
Warren sah ungläubig zu Tasha. „Und Sie glauben, das wird funktionieren?“
Dann musterte er Jim und erkannte etwas von sich selbst. Er schien stark und sanft zugleich zu sein - kaum aus der Ruhe zu bringen, ein Mann der stets überlegte, bevor er handelte. Doch hatte er auch etwas Wildes an sich. Die Fähigkeit, sich die Hände mit dem Blut des Feindes schmutzig zu machen und Befriedigung darüber zu finden.

„Ich stimme Warren zu!“ Ron verharrte in seiner Bewegung. Er sah Jim beschwörend an: „Das ist ein Scheiß-Plan, Jimmy!“ Wieder lief er auf und ab wie ein Tiger im Käfig. „Sie haben keine Ahnung, was Sie da heraufbeschwören, Tasha!“ Ron war erneut stehen geblieben. Nervös strich er sich mit der Hand über das Gesicht und fixierte die Ärztin.

„Ron – ich will Ihnen Jim nicht wegnehmen“, flüsterte Tasha. „Aber Sie werden ihn verlieren, wenn wir nichts unternehmen!“

„Ron – bitte!“ Jims Stimme zitterte. Er lehnte erschöpft an der Rückenstütze des Bettes. “Ich muss wissen, ob Frigg recht hat!“

Ron riss den Kopf in den Nacken. Immer wenn er in Jims Augen sah, erkannte er die Wahrheit. Wie gerne hätte er diese Bitte abgelehnt, doch er wusste nicht, wie lange Jim noch gegen den Dämon ankommen würde, wie lange Jim das überhaupt noch wollte. „Verdammt, Jim! Ich will nicht, dass du dich erinnerst – ich will, dass du vergisst!“, stieß er hervor.

„Du wirst nicht zulassen, dass ich sterbe“, hauchte Jim. Unerschütterliches Vertrauen in den Augen, sah er zu Ron auf und wurde wieder der kleine Bruder. Ron wollte nicht allein zurück bleiben, um ein Dasein ohne Jim fristen zu müssen! Aber insgeheim wusste er, dass Jim und Tasha Recht hatten. Das jedoch auszusprechen, würde es endgültig machen – unwiderruflich zur Wahrheit. Es war leichter, seine Befürchtungen zu verdrängen, und zu hoffen.
Rons Tränen tropften lautlos auf Jims kalte Hände, als er sie ergriff, während er sich zu ihm aufs Bett setzte.
Ein Verband verdeckte Jims Brust, verbarg die tiefen Schnittwunden, dort, wo er versucht hatte, sich die Bestie aus seiner Seele zu schneiden. Die behandelnden Ärzte hatten prophezeit, dass Jim die darauffolgende Nacht nicht überleben würde. Aber er hatte es geschafft. Was wussten die schon?
Ron atmete tief durch und sah nickend auf Tasha. Jim war stark und er – Ron Barker, war nicht bereit, sein geliebtes Familienmitglied aufzugeben. „Es ist okay, Dr. Horn“, sagte er rau, „tun Sie es.“

Die untergehende Sonne tauchte das weiße, sterile Zimmer in ein rötliches Licht. Die Welt driftete langsam in einen ruhigen Schlaf. Tasha hatte eine Spritze aufgezogen und an Jims Armbeuge gelegt. „Es wird Sie entspannen“, flüsterte sie und versuchte zu lächeln.

„Okay“, schnaufte Jim. Er legte seinen Kopf in das Kissen und schloss die Augen. „Ich bin bereit!“
Als die Nadel in Jims Vene eindrang, pressen sich Rons Finger fester um die Handgelenke des Jüngsten: „Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst, Jimmy …“


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Dem Stich folgte nur ein Zucken, begleitet von einem stolpernden Atemzug. Dann eroberte ein wärmendes Kribbeln seinen Arm. Jim atmete hastig, als ein Sturm von ihn übereilenden Emotionen durch seinen Körper fegte und bäumte sich unter dieser Explosion unwillkürlich auf. Mit einem tiefen Stöhnen sank er zurück auf das Bett.

„Was war denn das?“, wollte Ron wissen. Er beobachtete Dr. Horn misstrauisch.

Tasha drückte einen Wattebausch auf die Einstichstelle und zog die Nadel vorsichtig aus Jims Vene. „Bewusstseinserweiternde Medikamente wirken ähnlich wie Drogen auf das zentrale Nervensystem. Einige entspannen nicht nur, sondern stimulieren unter Umständen verschiedene Neurotransmitter, wie zum Beispiel Dopamin. Infolge dessen kann es bei manchen Patienten während der Injektion zu einer heftigen Endorphin-Ausschüttung kommen, was wiederum einen spontanen zentralnervösen Vorgang auslöst“, versuchte sie zu erklären.

„Sie will damit sagen, dass Jim gerade einer abgegangen ist“, plauzte Bill grinsend in den Raum und kratzte sich am Hinterkopf.

Ron blickte erstaunt über seine Schulter. „Woher … zum!“ Er erntete vom alten Jäger ein verlegenes Schulterzucken.
Seine linke Braue schob sich nach oben, als er Tasha fragend ansah. „Hatte Jimmy etwa gerade einen …?“

„Möglicherweise …“, murmelte Tasha errötend. Sie löste das Gummiband, welches Jims Oberarm abgebunden hatte und kramte eifrig in ihrer Arzttasche, um Ron nicht ansehen zu müssen. Dieser schnaufte grinsend: „Zentralnervöser Vorgang … Okay - wenigstens hat er Spaß!“

Jim hörte weit entfernt Stimmen durcheinander flüsterten. Er hielt seine Augen geschlossen und genoss lächelnd das verebbende Prickeln in seinem Körper.

„Jim?“, Tashas Stimme drängte sich in den Vordergrund, „Wie fühlen Sie sich?“

„Gut“, raunte Jim. Mit glasigen Augen sah er Dr. Horn an.

„Ich zähle jetzt von 10 rückwärts - und wenn ich bei 1 angelangt bin, sind Sie völlig entspannt. Später, werde ich vorwärts zählen und Sie wachen bei 10 frisch und ausgeruht auf. Nichts wird Ihnen zustoßen.“

„Okay…“, Jim nickte.

Nachdem sich Tasha einen Stuhl genommen hatte, setzte sie sich und sah in Jims Augen. Seine Pupillen waren leicht geweitet und flimmerten. „Jim, hören Sie nur auf meine Stimme.“

„Ja“

„Stellen Sie sich vor, auf einer Wiese zu liegen.“ Tasha machte eine kurze Pause. „Sie sehen hinauf zum Himmel. Kleine Wolken ziehen langsam vorüber. Sie hören das Summen unzähliger Insekten und schnuppern den wunderbaren Duft von wilden Kräutern.“

Jim atmete tief ein. „Ja …“

„10 ---> Sie spüren die Wärme der Sonne auf ihrer Haut und haben das Verlangen einzutauchen, in dieses unendliche Blau am Himmel.
9 ---> Ihr Körper wird schwerer und schwerer.
8 ---> Sie atmen ganz ruhig.
7 ---> Sie werden müde. Kleine Gewichte hängen an ihren Wimpern und langsam schließen sich ihre Augen.
6 ---> Sie haben den Wunsch zu schlafen.“

Jim seufzte leise als sich seine Augen schlossen. Letzte Sorgenfältchen auf seiner Stirn glätteten sich und langsam driftete sein Kopf zur Seite.

„Sie haben nichts zu befürchten, Jim“, hauchte Tasha und begegnete für einen Moment Rons Blick. Er hatte sich, soweit es ging, zu Jim hinüber gebeugt. Schweiß glitzerte an seinen Schläfen, seine Hände fuhren nervös über seine Oberschenkel. Mit einem Lächeln versuchte Tasha, Ron zu beruhigen. Er öffnete kurz den Mund, schloss ihn wieder, schluckte und kämpfte sichtlich um Haltung. Es war für ihn furchterregend, Jims Geschicke der Kontrolle einer fremden Person überlassen zu müssen.
Dessen ungeachtet fuhr Tasha fort: „5 ---> Sie hören Ihren Atem, Jim. Sie haben keine Angst, denn Sie wissen, dass Sie nicht allein sind. Sie wissen, wenn Sie aufwachen, werden Sie ausgeruht und fit sein.“

„Ja!“ Als wollte sich Jim von dem Gesagten überzeugen, legte er die Hände auf die Bettdecke, die durch seine gleichmäßigen Atemzüge rhythmisch angehoben wurde.
Tasha ließ einige Sekunden verstreichen.
Bill und Warren beobachteten das Geschehen von der Tür aus. Es war bereits Nacht und die langen Korridore im Krankenhaus menschenleer. Aber Bill wollte sicher gehen, dass niemand diese Sitzung störte. Im Zimmer wurde es totenstill.

„4, 3, 2, und 1 …! Sie sind jetzt völlig entspannt.“
Tasha nagte an ihrer Unterlippe. Aufmerksam suchte sie in Jims Gesicht nach Anzeichen von Unwohlsein oder Angst. Aber Jim sprach hervorragend auf Hypnose an. Er atmete gleichmäßig und war entspannt. Ganz leicht flimmerten seine geschlossenen Lider.
„Wie fühlen Sie sich, Jim?“

„Gut“

„Jim, ich möchte, dass Sie jetzt zurückgehen – nicht weit - nur wenige Tage. Verstehen Sie mich?“ Tasha formulierte ihre Frage sehr langsam. Die Stimme hatte sie um eine Oktave gesenkt.

„Ja“

„Sie sind mit Ihrem Bruder Ron im Motel. Es ist der Tag an dem Sie sich verletzt haben. Erinnern Sie sich daran?“

Jim fuhr heftig zusammen. „Mir ist übel“, keuchte er. Sein Kopf zuckte: „Wir streiten.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Alter! – Musst unser sauer verdientes Geld ständig versaufen!“ Einige Male hob und senkte sich seine Brust heftig.

„Was fühlen Sie“, wollte Tasha wissen.

„Ich möchte nicht, dass er geht“, murmelte Jim. Wieder beschleunigte sich seine Atmung: „Ron - was habe ich getan? Was habe ich getan, dass du mich so hasst?“, fragte er mit bebenden Lippen.

Ron sah Tasha an. Seine Augenwinkel füllten sich mit Tränen, bis große Tropfen über seine Wangen kullerten und lautlos auf seine Schenkel tropften. Gequält riss er den Kopf in den Nacken: „Jimmy – es, es tut mir leid – ich wusste doch nicht …“ Ein tiefes Einatmen und geräuschvolles Ausatmen ließ seinen Kopf wieder nach vorn fallen. „Ich habe dich allein gelassen.“

Tasha nahm Jims Hand. Unruhig zuckte sie zwischen ihren Fingern. „Es ist okay, Jim. Es ist nur eine Erinnerung!“ Sie sah noch einmal in Rons Gesicht und nickte. „Jim, warum soll Ron nicht gehen?“, frage sie leise.

Jim erzitterte am ganzen Körper. „Ich habe Angst. Diese Stimmen … sie schreien mich ständig an…“ Hastig riss er den Kopf herum. „Ron! Geh nicht … wir müssen reden. Bitte!“ Jetzt sickerten auch durch Jims dunkle Wimpern Tränen, als er seinen Kopf zur Seite drehte.
Alles in Ron schrie. Er war aufgesprungen, wollte Jim sagen, wie leid ihm alles tat. Doch bevor er diesem Verlangen nachgeben konnte, packte ihn Bills Hand an der Schulter und der alte Jäger forderte ihn auf, Jims Trancezustand jetzt nicht zu stören. Nur widerwillig sank Ron zurück auf das zweite Bett.
Tashas Blick wechselte von Bill zu Ron. Langsam erahnte sie eine tragische Geschichte, welche diese Brüder so sorgfältig zu verbergen versuchten.
Auch Warren war herangekommen. Er setzte sich neben Ron und beobachtete den Jüngsten aufmerksam.

„Was geschieht nun, Jim?“, fragte Tasha mit zitternder Stimme.

„Ich bin allein“, quetschte Jim mühsam heraus. „Es ist alles meine Schuld – ich habe es vermasselt!“ Er trotzig zog die Nase hoch und schluckte.

„Nein, Jimmy – nein!“ Die letzten Worte katapultierten Ron wieder die Höhe. Verzweifelt mit den Armen rudernd, eilte er zum Fenster und starrte hinaus in die Nacht. „Es ist doch nicht deine Schuld!“

„Was passiert jetzt?“, fragte Tasha.

Jim wurde ruhiger und gähnte. „Ich bin müde - will schlafen.“ Er räkelte sich. Dann drehte er sich auf die Seite, zog die Knie gegen den Bauch und legte den Kopf auf seine Arme. „Ron …“, wimmerte er leise vor sich hin.
Doch plötzlich verstummte Jim und hob das Gesicht. „Wer bist du?“

Bill warf Ron einen erstaunten Blick zu, als dieser sich ruckartig umdrehte. Rasch kam er näher.

„Jim? Wer ist bei Ihnen?“, wollte Tasha wissen. Sie beugte sich über den jungen Jäger.

Jims Stimme vibrierte: „Es spricht zu mir in meinen Träumen. Es hat Hunger“, er schluckte, „genau wie ich…“ Langsam drehte er sich auf den Rücken zurück und winkelte die Beine an. „Es hört mir zu!“ Ein Anflug von Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. „Ich werde deinen Platz einnehmen.“
Jims Gesicht wurde hart, seine Tränen verebbten. „Ich habe Hunger …“, wiederholte er, zog den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund. Aber kein Laut entwich seiner Kehle. Er atmete nur tief ein.

„Jim?“

„So heiß …“, keuchte Jim, als er ins Kissen zurücksank. Schweißperlen glitzerten zwischen den braunen Strähnen auf seiner Stirn. Er warf den Kopf zur Seite. „So heiß …!“ Sein Kopf, fiebrig rot, zog sich abermals in den Nacken, seine Zähne rieben aufeinander. In den Adern hinter seinen Schläfen pulsierte es heftig, als ein mehrstimmiges, tiefes Grollen aus seiner Kehle brach.

„JIM…!“ Ron zerrte an Tashas Schulter. Sein Mund füllte sich mit Galle, als er sie anschrie: „Verdammt - es ist genug! Holen Sie ihn zurück!“

Tasha schüttelte heftig den Kopf. „Noch nicht!“, meinte sie und sah hilfesuchend zu Bill und Warren.
Bill, das Basecape hielt er mittlerweile in seinen Händen und zerknautschte es, hob die Schultern. Aber in seinen Augen konnte Ron erkennen, dass er noch nicht abbrechen wollte. Im Gegenteil, Bill trat einen Schritt näher und beobachtete Jim. Dieser schien sich allmählich zu beruhigen. Sein Atem wurde langsamer, die Krämpfe ließen nach und sein Mund schloss sich. Er schaukelte leicht mit dem Kopf.

„Was sehen Sie“, drängte Tasha.

„Haut“, entfuhr es Jim rau. Er leckte sich über die Lippen und lachte kurz auf. „Es riecht … merkwürdig!“ Knurrend zog er den Kopf zur Seite: „Diese Musik! … Sie nervt!“

Ron hatte sich wieder gesetzt. Seine Finger trommelten auf den Oberschenkeln. Ratlos sah er zu Jim, als dieser weiter sprach. „Sie starren mich an … sind …. so …gierig!“ Wieder begann er sich zu räkeln, aber es war nicht Müdigkeit, die er zu vertreiben beabsichtigte. Provozierend fuhr sich Jim mit der Hand über den Körper, durch das feuchte Haar und streckte seine Beine aus. „Sie tanzen im Nebel wie flackernde Kerzen“, keuchte er. Sein Körper wand sich wie der Leib einer Schlange, als er zischend Luft durch die Zähne zog. „Ich will sie!“ Jims sanfte Züge hatten sich in pure Berechnung gewandelt, als er mit lächelndem Mund sagte: „Ich wusste, dass du kommst!“

Rons Stirn zog sich in Falten. Verwirrt sah er zu Bill.

„Jim, wo sind Sie – in einer Bar?“, fragte Tasha.

Kurz zuckte Jims Kopf in Ihre Richtung. „Nein!“ Dann hob er die Brauen: „Der Tee ist fertig!“

„Jim?“ In Tashas Stimme vibrierte Erstaunen, „Jim, können Sie mich hören?“

„Du kannst gehen, wenn du möchtest“, säuselte Jim, „aber, ich weiß, du wirst bleiben – sie bleiben alle!“ Er lächelte abermals: „So ist es gut!“

Ron hatte sich zwischen Tasha und Jim geschoben. Hastig griff er nach dem Arm seines Bruders: „JIM!“ Doch er wich zurück, als ihn Tasha zur Seite schubste. Verzweifelt riss er die Hände in die Höhe und sank schnaufend auf das gegenüber stehende Bett.
Tasha sah ihn vorwurfsvoll an, schüttelte den Kopf und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Dann wandte sie sich wieder an Jim: „Wie ist dein Name?“

Jim streckte seine Arme aus. Er verschränkte sie hinter seinem Kopf und schnurrte wie ein Kater. Seine Beine bewegten sich langsam unter der Decke, als würde er durch hohes Wasser waten. „Aiden, mein Name ist Aiden, Süße!“, raunte er.

Ein tiefer Atemzug entwich Inspektor Warren. Seine Finger krallten sich in die Matratze, als er in Tashas überrascht aufgerissene Augen sah.

„Aiden?“, Tashas Stimme vibrierte, „Wo sind Sie?“

„Auf dem verkackten Festival“, knurrte Jim. Er riss den Kopf zur Seite. „Aber bald ist es vorbei! Trink doch noch einen Tee!“

„Das ist dieser Typ, dieser Agent. Wie kann Jim …?“ Verwirrt sah Warren zu Ron.

„Keine Ahnung“, entfuhr es dem Älteren. „Offensichtlich sind sie sich mehr als nur ähnlich.“ Diese Situation beunruhigte ihn.

„Aber der Kerl ist tot!“ Warrens Gedanken kreisten. Jahrelang hatte er geleugnet, was er stets geahnt - was die Indizien gesagt hatten. Er sah zu Jim. Wieder wurde ihm bewusst, wie beängstigend diese Ähnlichkeit war – und wie erdrückend es war, nun in diesen Strudel unheiliger Ereignisse hineingezogen zu werden. Der Inspektor schnellte in die Höhe. Er fuhr sich mit der Hand über den Hemdkragen, löste mit zitternden Fingern den Knoten seiner Krawatte und warf sie auf das Bett: „Verdammt, ist das heiß hier!“

„Aiden? Was haben Sie vor?“ Tasha glaubte, den eigenen Herzschlag lauter zu hören als ihre Stimme.

„Es wird funktionieren“, flüsterte Jim. „Sie, sie sehen wunderschön aus, in ihrem Rausch!“ Er lachte schallend los. „ICH …habe es begonnen! Und diesmal ist die Zielperson dabei!“

„Aiden! Was haben Sie begonnen. Wer ist dabei?“ Tasha rüttelte an Jims Arm.

Jim murrte. Er bewegte seinen Kopf langsam in ihre Richtung. Tasha hatte fast den Eindruck, er würde sie durch seine geschlossenen Augen ansehen. Auf Jims Gesicht legte sich Erstaunen: „MK – ULTRA, natürlich.“

Verständnislos schüttelte Ron den Kopf. „Das ist doch Schwachsinn. Hören wir auf damit. Das bringt doch nichts!“ Er packte Tasha am Arm und versuchte sie zu zwingen, ihn anzusehen. Sie ignorierte Ron und riss sich los. „Aiden, was ist MK – ULTRA?“ Tashas Stimme wurde fordernd.

Jim holte tief Luft. „Es ist ein …Experiment. Es soll …“, er stockte. Plötzlich schoss sein Oberkörper in die Höhe. „Da ist … oh mein Gott – wer ist da“, keuchte er. Seine Beine stemmten sich gegen das Bett, schoben ihn die Lehne hoch. „Nein … nein …“, schrie Jim und riss den Kopf zur Seite. Sein Atem hetzte.

„Verdammt, holen Sie ihn zurück“, spie Ron der Ärztin entgegen. Er hatte Jims wild rudernde Arme gepackt.

Tasha wurde lauter. „Aiden, was sehen Sie!“

„Dr. Horn …“, schrie Ron außer sich. „Verdammt, er dreht gleich durch!“ Er stieß Tasha zur Seite und warf sich auf Jim. Unter Aufbietung seiner gesamten Kräfte versuchte er, seinen Bruder zu bändigen.

„Hören Sie, Jim - es kann nichts geschehen! … Jim …!“ Obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug, versuchte es Tasha weiter. „Hören Sie mir zu, Jim! Es sind nur Erinnerungen! Aiden! Was sehen Sie! Sagen Sie es mir“, forderte sie.

„Miststück“, zischte Ron.
Jim wand sich keuchend unter ihm. Schweißnasses Haar schlug Ron ins Gesicht, als er den Kopf hin und her riss.

„Nein, nein … da läuft was schief!“, keuchte Jim.

Tasha drängte sich ans Bett.

„Verdammt, Tasha – beenden Sie das endlich“, presste Ron hervor.

„Nur noch eine Frage, Ron, nur noch eine Frage!“, schwor Tasha. „Aiden – was sehen Sie?“

Jim erstarrte. Zwischen pfeifenden Atemzügen versuchte er zu sprechen: „Ich sehe….“, er zögerte. „Ich sehe …. sie zucken, ihre Gesichter sind rot.“ Panisch riss Jim die Augen auf. Geweitete Pupillen irrten durch den Raum. „Ihre Augen quellen hervor. Ihre Zähne schlagen aufeinander … oh Gott … sie werden … zersplittern. Sie kippen um, zucken - liegen auf den Bodendielen und schreien.“ Jim stöhnte: „Scheußlich … so, so abstoßend. Sie werden starr, als ob Strom durch ihre Adern fließ. Ihre Leiber zucken und zappeln. Ich glaube … ich glaube sie … sie – Nein! Das darf nicht sein!“ Jims Gesicht, triefnass von Schweiß war voller Ekel. Er beugte sich ruckartig vornüber und würgte. Während der Würgkrampf seinen Körper erschütterte, versuchte sein Gehirn verzweifelt, irgendwie auf das Erlebte zu reagieren.
Tasha sah fassungslos zu Ron. Er hatte Jim losgelassen und bettelte: „Tasha, um Himmelswillen, pfeifen Sie ihn zurück!“

Tasha nickte hastig: „Okay!“ Sie setzte sich auf den Stuhl und griff nach Jims Handgelenk. „Jim hören Sie mir zu! 1, 2, 3 …“, ihre Stimme überschlug sich.

Jim war in Rons Arme gesunken. Sein Kopf hing über der Schulter des Bruders und ein Speichelfaden glitt über seine Lippen. Er keuchte. Aber seine Augen funkelten trotzig unter zerzausten Haarsträhnen. „Ich muss Hilfe … … wo ist das verdammte…“, stöhnte Jim und befreite sich aus Rons Armen. Unkontrolliert fiel er zurück auf das Bett.

„4, 5, 6 …“

„Halt!“ schrie Warren. Seine Hände packten Tashas Schultern. „Sehen Sie nur - er beruhigt sich.“ Stan deutete auf den jungen Barker. Jims Körper erschlaffte - nur seine Lider flatterten noch. „Ich muss wissen, was damals passiert ist“, forderte Warren und versuchte, Ron beiseite zu schieben.

„Hören Sie auf mit dem Scheiß!“ Ron zerrte Warren am Hemdkragen und drängte ihn gegen die Wand. Dass Warren gut einen Kopf größer war als er selbst, beeindruckte den Jäger nicht. Über seine Schulter rief er Tasha zu: „Dr. Horn, holen Sie Jim zurück! Sofort!“

Tashas Blicke irrten ängstlich über die aufgebrachten Männer. „ … 7, 8, 9 …“

„Bleib mir vom Hals!“, schrie Jim plötzlich mit schriller Stimme und fuchtelte wild mit seinen Armen herum. Mit seinen ausladenden Bewegungen verpasste er Tasha einen Schlag ins Gesicht. Sie taumelte und stürzte vom Stuhl. Reflexartig versuchte sie, auf die Beine zu kommen. Aber durch die Wucht des Hiebes wurde ihr schwarz vor Augen. Ihre Arme und Beine knickten ein. Stöhnend blieb Tasha liegen.

„Ich war es nicht … nein … nein … geh weg!“ Jims Stimme überschlug sich.
Im Affekt stürzte sich Bill auf Jim und versuchte, ihn zu beruhigen.
Ron ließ von Warren ab und eilte Bill zu Hilfe. Der Inspektor zerrte Tasha aus der Gefahrenzone und drehte sie auf den Rücken. Heftig tätschelte er ihre Wange. „Kommen Sie zu sich, Tasha – bitte schnell“, bettelte er mit rauer Stimme und sah entsetzt auf die Jäger.
Bill und Ron vermochten es kaum, den Jüngsten zu bändigen. Jim zog den Kopf in den Nacken. Schaum bildete sich vor seinem Mund und ließ den Atem in Blasen über seine Lippen stoßen. „Es war sie … sie hat dich gerufen! Verschwinde“, gluckste und gurgelte Jim, an Speichel und Erbrochenem fast erstickend. „Es war die Schlampe – nimm sie!“

Tasha öffnete stöhnend die Augen. Sie blinzelte in Warrens Gesicht. Blut klebte auf ihrer geplatzten Lippe. Verwirrt sah sie sich um. Das Zimmer schien sich zu drehen.

„Um Himmelswillen, kommen Sie doch zu sich!“, drängte Warren.

„Tasha - jetzt machen Sie schon! Verdammt!“, herrschte Ron sie an. Im gleichen Augenblick wurden er und Bill durch den Raum geschleudert.
Tasha versuchte, sich zu erheben. Noch völlig benebelt irrten ihre Blicke durch das Zimmer.
Mit weit aufgerissen Augen wehrte sich Jim gegen einen Unsichtbaren, dessen Kraft er körperlich nicht gewachsen war. Er wurde gegen die Matratze gepresst und schrie wie besessen. „Um Himmelswillen ….nein!“ Aber sein Bitten wurde zum Schweigen gebracht, als er brutal auf den Bauch geschleudert wurde. Schon saß Es ihm im Nacken. „Gott … bitte, bitte, hilf mir doch jemand“, wimmerte er.
Die Gebete fruchteten ebenso wenig wie seine Abwehrbemühungen. Wie ein auf Kork ausgespreizter Schmetterling wurde er gegen das Bett gepresst. Sein Gesicht versank im Laken. Tränen der Hilflosigkeit versickerten im Gewebe. Es drückte seine Schändung rigoros durch und er wollte partout nicht schreien. Der Schmerz, den er spürte, stand in keinem Vergleich zu seiner Scham und er betete darum, dass diese Erniedrigung ohne Zeugen bliebe, bis er schließlich die Besinnung verlor…

„Jim!“ Ron kam nur mühsam auf die Beine. Er torkelte zum Bett und drehte Jim behutsam um. Dann schob er einen Arm in Jims Nacken. „Jimmy – sag was“, flehte er.

„10“, stieß Tasha entsetzt hervor.


*** Der Seelenbrecher ***

Warum hatte er dieses Experiment nur zugelassen? Mit tränennassen Augen betrachtete Ron seinen jüngeren Bruder. Jim war nicht bei Bewusstsein. Verschwitze Haarsträhnen vibrierten auf seiner Stirn. Dieses Beben ging allerdings nicht von Jim aus. Es war Rons Zittern, welches sich über seinen Arm auf Jims Kopf übertrug, während er ihn behutsam stützte.

„Jimmy? Bitte sag was!“ Noch heftiger als sein Körper zitterte Rons Stimme.

„Was ist passiert?“ Tasha versuchte sich zu erheben, schaffte es jedoch nur, sich auf den Boden zu setzen. Vorsichtig betastete sie ihre geschwollene Lippe.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Warren und half ihr auf die Beine. Besorgt musterte er die Ärztin. Blut trocknete langsam auf ihrem Kinn. Tasha schüttelte den Kopf. Immer noch irritiert sah sie sich um und wagte es nicht nach der Ursache, für das, was sie soeben erlebt hatte, zu fragen. Warren verstand und flüsterte: „Ich habe es auch gesehen, Doktor Horn!“

Nebenan rauschte Wasser und gurgelte durch den Abfluss. Mit einem befeuchteten Tuch in der Hand, eilte Bill ins Zimmer zurück und reichte es Ron. Dieser ließ Jim auf das Bett sinken. Trotz schweißnasser Stirn schienen seine Gesichtszüge erfroren. Mehrere dunkle Flecken schimmerten im Gewebe seiner OP-Bekleidung und auf dem Laken.
Als Tasha tief einatmete und etwas sagen wollte, winkte Ron ab. Er schnaubte hilflos, denn er hatte nicht mehr die Kraft und den Willen, sich mit der Ärztin auseinander zu setzen. Seine Aufmerksamkeit galt Jim, der in seinen Armen zu verglühen schien.

Gefiltert durch die halbgeschlossenen Lamellen vor den Fenstern, flutete Mondlicht in das Zimmer. Obwohl eine erdrückende Stille herrschte, quollen die Straßen jenseits der Scheibe von Lärm über. Riesige Heuschreckenschwärme aus den verdorrten Maisfeldern hatten die Stadt heimgesucht. Wie winzige Monster lauerten sie im sterbenden Gras der Vorstadtgärten von Bethel.
Tasha ging auf Ron zu. Besorgt sah sie über seine Schulter zu Jim.

„Er ist bewusstlos“, flüsterte der Ältere, „Tasha, Sie hätten auf mich hören sollen!“ Nicht Zorn und Vorwürfe schwangen in seiner Stimme mit, sondern Verzweiflung und Angst.

„Das hätte nicht passieren dürfen“, antwortete Tasha. Sie prüfte Jims Puls am Handgelenk. „Ich kann mir das nicht erklären. Es war ja fast… wie eine …“

„… Besessenheit?“ Als Ron ihre Gedanken zu Ende sprach, bebte seine Stimme erneut.

Tasha senkte den Kopf. Sie schluckte betroffen. „Sein Puls rast immer noch!“

Ron sah die Ärztin an. „Wissen Sie, Jim ist etwas Besonderes. Sie werden keinen Menschen finden, mit dem Sie ihn vergleichen könnten.“ Er verstummte, denn ein leises Stöhnen entwich Jims Lippen. Sofort half ihm Ron hoch. Ächzend sank der kraftlose Körper gegen seine Brust. Jims Kopf fand Halt auf seiner Schulter.
„Jimmy“, flüsterte Ron und presste ihn noch fester an sich. Seine rechte Hand stützte Jims Nacken, während der kurze Blick auf das frei werdende Laken eisige Schauer durch Rons Nervenbahnen jagte. Ron wollte zu gern glauben, dass die Bilder, die er soeben gesehen hatte, seinen überreizten Nerven entsprungen waren. Aber der metallische Geschmack auf seiner Zunge ließ nur einen Schluss zu. „Jimmy, ich werde den Mistkerl, der dir das angetan hat, zerstückeln“, flüsterte Ron.

Tasha war kreidebleich auf das zweite Bett gesunken. Sie saß den Jägern gegenüber und weigerte sich, die zerrissenen Traumgebilde in ihrem Gedächtnis zusammenzufügen. „Es … es … war … nur … eine … Erinnerung. Es kann nicht physisch gewesen sein.“ Tränen raubten ihr die Sicht, als sie immer wieder verzweifelt ihren Kopf schüttelte.

Jims Atmung beschleunigte sich. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen Ron und stieß ihn von sich. „Fass mich nicht an!“

Der Schmerz in Rons Herz wurde von Jims eisiger Stimme jäh gestoppt. Ihm wurde kalt - furchtbar kalt und langsam wich er zurück. Jim hatte genug Kraft, um aufrecht sitzen zu können. Den Kopf zu Boden geneigt, schwankte er leicht mit dem Oberkörper. Verschwitzte Haarfransen baumelten von seiner Stirn.

„Jim – es tut mir …!“ Tasha verstummte abrupt, als Jim sie ansah. Er sagte nichts, neigte nur etwas den Kopf und starrte sie an. Seine Nasenflügel bebten. Irgendwann – es erschien Tasha wie eine Ewigkeit, wandte er sich schnaubend ab und ließ seine Blicke durch das Zimmer wandern. Auf jedem einzelnen Gesicht, das ihn beobachtete, blieben sie für wenige Sekunden liegen.

„Jim … es war nur eine …“ Tasha hob zögernd die Hand, um sie auf Jims Schulter zu legen. Aber ihre Bewegung erfror, als er den Kopf in ihre Richtung riss: „Halt die Klappe – Schlampe!“ Er stoppte abrupt und flüsterte: „Na? – Hast du gut geschlafen, Tasha?“ Ein süffisantes Grinsen zuckte um seine Mundwinkel, bevor er
lachend den Kopf in den Nacken riss: „Du musst keine Angst vor mir haben, Tasha. Du hast mich doch gerufen! - Ihr alle habt mich gerufen!“ Jim holte tief Luft: „Nun – hier bin ich!“

„Ich verstehe nicht …“, flüsterte Tasha. Unsicher sah sie zu Ron. Der konnte nichts tun - vermochte nur mit anzusehen, wie sich Jims Gesicht immer mehr veränderte.

„Oooch …“, raunte Jim. „Du verstehst schon – Süße!“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich kenne dein kleines Geheimnis! Du tust dein Bestes, um es zu vergessen. Du versucht alles, um deine Schuld zu begleichen. Du bist sogar Notärztin geworden und hast unzählige Menschenleben gerettet.“ Bei jedem Wort kondensierte Atem vor Jims Lippen. „Nur dieses Eine nicht“, keuchte er heiser. „Aber egal, wohin du fliehst – egal, wie viel Schlösser du an deiner Wohnungstür anbringen lässt und wie viel Schlaftabletten du abends schluckst – Sie wird dich immer verfolgen!“ Jims Augen formten sich zu Schlitzen. „Ich weiß es! Jede Nacht hörst du sie schreien und betteln.“ Jim nagte auf seiner Unterlippe. Seine Brauen schoben sich vorwurfsvoll nach oben: „Tasha – was hast du nur getan! Sie war deine beste Freundin und du hast sie den Hunden überlassen. Ihr Tod ist deine Schuld“, stieß er hervor.

Tasha zuckte zusammen. „Das … das kannst du nicht wissen …!“ Hilfesuchend irrten ihre Blicke durch den Raum: „Ich … ich – es war – ich … sie hätten mir … das …“

„…Gleiche angetan, wie ich Jimmy?“ Jim grinste. „Du liebst ihn – nicht wahr?“ Er zog zischend Luft durch die Zähne. „Das ist wirklich bedauerlich! Endlich – nach so vielen Jahren könntest du einen Mann wieder als Mann sehen und nicht als hechelnden Hund.“ Als Jim den Kopf wieder neigte, kräuselten sich Fältchen auf seiner Stirn. „Nun – ich werde es Jimmy bei Gelegenheit sagen.“ Er räusperte sich: „Im Moment ist er leider etwas indisponiert.“

„Es ist genug!“, fuhr Warren dazwischen.

Schlagartig traf ihn Jims Blick. „Inspektor Stan Warren“, hauchte er. „Es ist mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen! Wie geht es Frau und Kindern?“ Im gleichen Augenblick riss Jim die Augen auf. „Oh – ich vergaß“, säuselte er weiter: „Ihre Frau hat Sie ja verlassen, nachdem Sie einer Irren mehr Aufmerksamkeit schenkten als ihr. Es ist schon bitter, wenn man nicht weiß, wie es den eigenen Kindern geht!“ Jim breitete lachend seine Arme aus: „Ja meine lieben Anwesenden. Sehen Sie sich unseren Inspektor an. Den tapferen Hüter des Gesetzes. Immer bereit für Recht und Ordnung zu sorgen, setzt er sich für die Schwachen und Hilflosen ein. Aber seine eigene Familie konnte er nicht retten.“
Jim schüttelte bedauernd den Kopf. „Du hast sie verloren, Warren – für immer! Du hast deine Zukunft zerstört, mit einem Schlag ins Gesicht der Frau, die du liebst … oder waren es mehrere Schläge?“ Kurz presste Jim die Lippen zusammen. „Ja, ich weiß – es war der verdammte Job, der Tod, der ständig deinen Weg kreuzt. Du wolltest diesen Fall unbedingt lösen, wolltest immer besser sein, als der Rest der korrupten Polizei. Warren, Warren … leider bist du nicht besser als der Abschaum, den du verhaftest. Ich habe gesehen, wie du Nacht für Nacht mit Tränen in den Augen aufwachst und ihr Kopfkissen fest umklammert hältst. Aber es ist nicht der warme Körper deiner Frau“, murmelte Jim, „es ist nur ein kaltes Kissen, Warren!“

Langsam glitt Jims Blick zu Bill. „He alter Jäger. Soll ich deiner Frau einen schönen Gruß bestellen? Ich treffe sie hin und wieder … in der Hölle! Sie ist übrigens sehr erzürnt darüber, dass du ihren Körper verbrannt hast.“ Jim brummte kurz. „Gut, der Dämon, der sie besessen hatte, ist tot. Aber das macht es auch nicht besser!“ Jim stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und legte den Kopf in seine Hände. Spöttisch sah er den Alten an und seufzte: „Bill Singer, das wandelnde Lexikon des Paranormalen – immer einen Bannspruch parat, immer eine Lösung im Ärmel, schafft es nicht, einen lumpigen Dämon auszutreiben. So viele Geschöpfe der Finsternis hast du zum Teufel gejagt und so viele Menschen gerettet – aber trotzdem bleibst du der Mörder deiner Frau!“

„Wer bist du… du verdammter Mistkerl!“ Ron versuchte, Jim zu packen. Aber dieser kam ihm zuvor. Blitzschnell hatte er Rons Handgelenke gefasst und zwang ihn, sich zu setzen.

„Ron Barker“, krächzte Jim. „Die ultimative Waffe gegen das Böse. Der Pitbull der Jägerkaste! Der gehorsame Soldat!“ Jim lachte laut auf. „Du kannst so viel Whisky in deinen Hals schütten wie du willst, aber du wirst nie vergessen, was sie deinem Bruder in Friggs Hölle antaten. Du wagst es nicht zu schlafen, um Jims Schreie nicht hören zu müssen. Du warst Zeuge und vermochtest es nicht, zu helfen!“ Kurz hielt Jim inne und lauschte. Er lächelte zufrieden, als er weiter flüsterte: „Übrigens tut es dein Jimmy gerade wieder. Er krümmt sich vor Schmerzen. Er wimmert und bettelt um den Tod.“

Die plötzliche Kälte im Raum, erfasste Rons Körper und schlich seinen Nacken hinauf, stechend, wie unzählige Nadeln. Er wünschte sich die Hitze der vergangen Tage zurück. Fassungslos betrachtete er das, was von Jim übrig geblieben war, bis ihn die ruckartige Bewegung seines Kopfes aus der Starre riss.

Er blickte Ron direkt an: „ICH habe deinen kleinen Bruder gebrochen! Ich habe ihn hergenommen wie einen kleinen Stricher, der dringend Geld für den nächsten Schuss brauchte! Er hat um Zuneigung gebettelt."
Jim neigte abermals den Kopf, bevor er weiter sprach. Seine Halswirbel knackten. „Gelähmt vor Entsetzen und Scham kauert Jimmy nun im tiefsten Abgrund seiner kleinen Seele und hat nur noch einen einzigen Wunsch.“ Mit eisigen Fingern griff Jim nach Rons Handgelenken und zog ihn näher, um in sein Ohr zu flüstern: „Und … ich werde seinen Wunsch erfüllen. Ich werde Jimmy von seinem Leid, von seinem verhassten Leben erlösen.“
Er wich zurück und sonnte sich in Rons hasserfülltem Blick. „Du möchtest wissen, warum das so ist“, fragte er schließlich. „Weil dein jämmerliches Leben nur aus einem einzigen Job besteht … und du versagt hast! Niemals wirst du deinen geliebten Jimmy retten. Glaub mir, es wäre für ihn besser gelaufen ohne dich!“
Eisblaue Augen, die jedes Licht zu verschlingen schienen, hefteten sich auf Rons Gesicht. „Ich werde Jimmys Platz einnehmen. Und du kannst nichts dagegen tun!“ Jims Worte sausten wie Peitschenhiebe auf sein Herz nieder.
Überflutet von Wut und Verzweiflung schlug Ron zu. Jims Kopf wurde durch die Wucht der Hiebe von einer Seite zur anderen geschleudert. Aber er kicherte nur unter dem Fausthagel seines Bruders. Als Jim Ron wieder ansah, waren seine Lippen aufgeplatzt. Blut rann ihm aus Mund und Nase. Es fiel in schweren Tropfen lautlos von seinem Kinn. Doch immer noch schallte sein Lachen durch den Raum.

„Was willst du jetzt tun, Ron?“, gurgelte er. „Willst du mich weiter verprügeln?“ Jim wischte sich übers Gesicht und spuckte Blut vor Rons Füße. „Willst du mich einsperren, oder fesseln?“ Er packte Ron an der Schulter und spie ihn an: „Du kannst mich nicht retten - und du kannst mich nicht töten, Ron, denn ich bin endlich das, was ich immer sein sollte. Ich bin stark. Ich bin hungrig. Ich, ich bin der Dämon, den selbst die Götter fürchten. Ich bin mächtiger als alles, was die Hölle jemals hervorgebracht hat, Ron! - ... Ich bin dein Bruder!“

Tasha hielt beide Hände vor ihren Mund, darum bemüht, ihren unwillkürlich ausgestoßenen Schrei zu ersticken.
Ron erstarrte. Warren dagegen versuchte mit einem beherzten Satz um das Bett, Bill zu stoppen. Aber schon erfüllte das Knistern von altem Pergament die Luft.
Jim stöhnte auf, als ihn der Schlag im Nacken traf. Er brach zusammen und blieb bewusstlos liegen.
Das Grimoire rutschte Bill aus der Hand. Es landete mit einem dumpfen Poltern unter dem Bett. Außer Atem sah der alte Jäger auf seinen Ziehsohn. „Halt die Klappe – du bist nicht Jim!“ Rons entsetzten Blicken begegnete er schulterzuckend. „Es tut mir leid, – aber er ist gefährlich. Wir sollten ihn fesseln, bevor er wieder zu sich kommt“, erklärte Bill leise.

Tasha schluchzte. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Was passiert hier nur?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.
Wortlos erhob sich Ron und umrundete das Bett. Auf dem Weg zu einem der Spinde traf sein Blick auf Bill. Der Alte schob sein Basecape tiefer in die Stirn. Er fühlte sich elend, doch Ron`s Nicken, als er eine schwere Tasche aus dem Schrank zog, linderte seinen Schmerz.
Warrens Augen weiteten sich. Okkulte Gegenstände, Amulette und Hexenbeutel waren vergleichsweise harmlos gegen den Rest, den Ron ans Licht beförderte. Entsetzt betrachtete der Inspektor Messer und Dolche in verschiedensten Ausführungen. Ebenso etliche Handfeuerwaffen, von denen er nicht wissen wollte, woher sie stammten. Kopfschüttelnd sah er zu Tasha hinüber.
Ron warf Bill wortlos einige Seile sowie eine Packung Kabelbinder zu. Dann stand er auf: „Alle mal beiseite!“, befahl er rau und schob das unbenutzte Bett an die gegenüberliegende Wand. Während Bill sich daran machte, Jim ans Bett zu fesseln, sprühte Ron mit Farbe ein Pentagramm auf den Fußboden.

„Was wird das?“, wollte Warren wissen.

„Eine Dämonenfalle“, antwortete Ron knapp und schüttelte die Sprayflasche.

„Wird das helfen?“

Ron sah den Inspektor kurz an: „Es ist nicht optimal, aber es ist besser als nichts.“

Warren nickte verständnislos. Zu viel war in den letzten Minuten auf ihn eingestürzt. Er wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand, was er von diesem übersinnlichen Zeug halten sollte. Er eilte zu Bill und half ihm, Jim zu fesseln. Schließlich schoben sie mit vereinten Kräften Jims Bett in die Mitte des Pentagramms und Ron überprüfte akribisch, dass die Räder des Bettes seine Zeichnung nicht verschmiert oder unterbrochen hatten. Wieder ging er zur Waffentasche und kam mit einer Dose zurück. Er ließ um den äußeren Rand des Pentagramms Salz zu Boden rieseln.
Nachdem auch der zweite Kreis geschlossen war, knurrte Ron: „Keiner betritt diesen Bereich“, und fügte leise hinzu „ – außer mir!“ Er setzte sich zu Jim und musterte ihn besorgt. Vorsichtig glitten seine Finger über dessen glühheiße Stirn und betasteten die blutverkrusteten Blessuren. „Es tut mir leid, Kleiner“, murmelte er.
Seine Gesichtszüge hatten sich etwas entspannt, als er zu Bill hinüber sah. „Mann, Alter - dass man mit deinem Hexenbuch das Böse auch so direkt bekämpfen kann, finde ich doch etwas makaber!“ Wieder betrachtete er Jim, den der Schlag mit dem alten Buch niedergestreckt hatte.
Bill hob verlegen die Schultern.
Tasha beobachtete die Jäger mit weit aufgerissenen Augen. „Was wollen Sie jetzt tun?“ Ihre Stimme war nur ein Hauch. Einige Haarsträhnen, die sich durch ihren Sturz aus der Spange gelöst hatten, umringten ihr bleiches Gesicht.
Mit rauer Stimme antwortete Ron: „Das, was wir immer tun. Wir werden es jagen und töten!“
Entsetzt öffnete Tasha die Lippen, brachte jedoch beim Anblick der entschlossenen Miene des Jägers kein Wort hervor.

„Sie wollten doch wissen, was wir machen, Dr. Horn“, zischte Ron, „jetzt wissen Sie es.“ Er wandte sich von ihr ab und versiegelte auch die Tür sowie die beiden Fenster mit Salz.

„Sie können doch nicht …“, Tasha schluckte, „Sie wollen Ihren eigenen …!“ Fassungslos schlug sie die Hände vor ihr Gesicht.
Langsam drehte sich Ron um. Als er die Ärztin betrachtete, sprach er mit ungewöhnlich weicher Stimme: „Nein Tasha, ich werde dieses Ding in Jim töten!“

Tasha schien seine letzten Worte nicht mehr wahrgenommen zu haben. Sie lehnte an der Wand und schüttelte nur fassungslos den Kopf. „Es tut … mir. Mein Gott - wie … wie kann man sich nur für so ein Leben entscheiden?“

Als Ron bemerkte, wie Tasha wankte, ging er langsam auf sie zu und legte seine Hand auf ihre Schulter. Der Jäger schnaufte leise. „Es ist ein Fluch. Wir haben uns das nicht ausgesucht, Tasha – wir wurden in dieses Leben hineingeboren.“ Er zwang sie, in seine Augen zu sehen: „Aber wir haben alle unsere Geheimnisse – nicht wahr?“
Tasha zuckte zusammen. Sie widerstand Rons Blick nur einen Moment, denn plötzlich schlug eine Woge aus Emotionen über ihr zusammen. Haltsuchend fiel sie in seine Arme und ließ unzähligen Tränen freien Lauf. „Es, es tut mir so leid, Ron … ich, ich hatte doch keine Ahnung von all diesen Dingen“, schluchzte sie, „ich war so besessen darauf Jim zu heilen, dass ich …“

„Es ist okay, Tasha, ich verstehe …“, flüsterte Ron und zog sie fester an sich. Er hielt sie einfach nur fest.

Warren hatte sich auf das freie Bett gesetzt. Sein Blick wanderte zum Fenster hinaus und irrte durch die menschenleeren Straßen seiner Stadt. Im flackernden Schein der Laternen schwirrten Motten und immer lauter wurde das Rasseln der Heuschrecken.
Die Ereignisse der vergangen Stunde hatten viele seiner Fragen beantwortet. Bethel war die Stadt der Verfluchten. Warren wusste nicht, ob Erleichterung oder Wut seinen Atem beschleunigten. Hatte er doch immer geglaubt, als einziger mit seinem Schicksal zu hadern. Aber jetzt, jetzt als er über die Menschen in seiner Nähe nachdachte, fiel ihm auf, wie wenige von ihnen noch übrig waren und wie schnell Mitgefühl und Trauer für ihr Leid verblassten.
Da war Ethan Brown, der Farmer. Er hatte seinen Bruder als Kind auf die gleiche Weise verloren, wie er selbst schließlich starb.
Miss Holm war Witwe. Warren hatte sie nicht besonders gemocht. Offenbar konnte sie den tragischen Unfall ihres Mannes vor Jahren nie verwinden. Er dagegen hatte alles einfach verdrängt und fühlte sich nun mitschuldig.
Pope, den Schrottplatzwächter hatte er nicht einmal gekannt. Aber der Inspektor war davon überzeugt, auch bei ihm ein Geheimnis zu finden, wenn er nur lange genug danach suchen würde.
Viele Gesichter von Toten und ihre schrecklichen Geschichten hatte er über all die Jahre vergessen. War es nicht beschämend, wie wenig sich die Menschen füreinander interessierten, wie selbstsüchtig jeder einzelne die Augen verschloss, um ungestört in seiner eigenen kleinen Welt zu leben? Vielleicht war dieses Monster nicht zufällig hier. Vielleicht war es die Ignoranz der Menschen, ihre Blindheit und ihr Egoismus, der diesem Geschöpf das Leben schenkte.
„Wie können wir es aufhalten?“ Mit entschlossener Mine wandte sich Inspektor Stan Warren vom Fenster ab und sah fragend zu Bill.

Der alte Jäger ließ sich auf einen Stuhl fallen, ergriff ein altes Buch und blätterte stirnrunzelnd in den vergilbten Seiten. „Nun, viele Hinweise hat uns Jim selbst gegeben“, begann er zu reden und sah in Rons erstauntes Gesicht. „Sieh mich nicht so blöd an, Junge!“ Mürrisch hob Bill eine Braue, als sein Blick zu Warren wechselte. „Bin ich denn der Einzige hier, der seinen Verstand benutzt?“, brummte er kopfschüttelnd.

Warrens schockiertem Gesicht begegnete Ron mit einem Lächeln. „Glauben Sie mir, Inspektor, heute ist einer seiner besseren Tage!“

Bill kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Unsere Vermutung war richtig. Ich bin überzeugt, dass es Akatash ist.“ Dann gab er schnaufend zu: „Leider ist das auch schon die einzige gute Nachricht.“
Interessiert kam Tasha näher und beäugte das Buch. Sein grobporiger Ledereinband wurde an den Ecken durch Messingbeschläge geschützt. Der Titel war eine kunstvolle Hand-Typographie, mit vergoldeten Buchstaben und aufwendigen Zeichnungen. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, flüsterte sie.

Bill lächelte. „Bis jetzt haben Sie auch noch nie einen Dämon gesehen – schätze ich“, seine Augen überflogen Jim, um sich mit einem tiefen Seufzer wieder auf Tashas Gesicht zu heften. „Es ist das Avesta. Das heilige Buch des Zarathustra, bestehend aus einer Sammlung verschiedener Texte unterschiedlicher sprachlicher und stilistischer Art, sowie zeitlicher Abstammung.“
Behutsam schlug er die spröden Seiten um. Die Schrift war Tasha völlig unbekannt.
„Diese Religion ist viel älter als das Christentum“, erklärte Bill. Seine Augen folgten mühsam den eng beschriebenen Zeilen. „Hier heißt es, der Herr der Weisheit erschuf die Welt auf dem Fundament der Wahrhaftigkeit. Der gute Geist und der böse Geist sind sinnbildlich gesprochen Zwillinge, durch deren Zusammenwirken die Welt besteht.“
Bill stoppte seine Äußerungen, als er Rons tiefen Atemzug hörte. Seine Stimme senkte sich. „Es entspricht dem, was Frigg mit den beiden Herzen meinte. Und - es ist eine mögliche Erklärung für Jims Verbindung mit Aiden.“ Der alte Jäger lehnte sich zurück und musterte Ron, der verzweifelt den Kopf schüttelte. Dann versuchte er zu erklären: „Nach Freud ist die Vorstellung des Doppelgängers oder Zwillings ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs. Ein Beispiel dafür ist das Dichterwort von den zwei Seelen in einer Brust. Der Doppelgänger ist der verdrängte böse Anteil des Menschen. Sich nicht im Spiegel zu erkennen, heißt demnach nicht eins zu sein mit sich selbst.“ Bill biss sich auf die Lippe. „Dieses Wesen ist ein Meister darin, unsere Schattenseiten aufzuspüren, unsere Ängste und Schuldgefühle zu schüren und unsere böse Seite in Versuchung zu bringen.“ Langsam wanderten Bills Blicke über Ron, Tasha und Warren. Er murmelte: „Wir alle haben es gehört – Es kennt unsere schlimmsten Geheimnisse. Es versucht, unser böses Ich zu separieren.“ Bill massierte nachdenklich seinen Bart. „Ich glaube nicht, dass Jim eine Frau getötet hat.“

„Meinen Sie etwa, dass Jim während der Hypnose …“, platzte Tasha heraus und wurde von Bill unterbrochen … „möglicherweise schon vorher, während seiner psychotischen Anfälle, Zeuge von Akatash`s Auferstehung auf der Shire Farm wurde … vielleicht ist Jim Aidens spiritueller Zwilling!“
Der alte Jäger machte eine Pause. Er schien zu überlegen. „Zumindest sah es während der Hypnose danach aus.“ Bill sah an die Zimmerdecke. „Vielleicht war Aiden gar nicht der Schlüssel – vielleicht war dieser Aiden letztendlich auch nur ein Opfer …!“

„… seiner eigenen Dummheit“, bemerkte Ron.

Bill zog die Stirn in Falten. „Wir wissen jedenfalls, dass Akatash als Erz-Deava heraufbeschworen werden muss. Und wir haben gerade fetzenweise miterlebt, wie das damals passierte!“

„Bill“, fuhr Ron dazwischen, „Warum Jim?“

Bill stand auf und ging zu Ron hinüber. Seine Hand legte sich auf die Schulter des jüngeren Jägers. „Es gibt zwei Gründe dafür. Zum einen verbirgt Jim mehr Geheimnisse in seinem Inneren, als die gesamte Stadt, und zum anderen hat er eine sehr dunkle Seite…“ Bill schluckte und begann einen neuen Satz: „Aiden starb bei diesem Versuch. Wahrscheinlich will Es oder Er nur beenden, was damals begann und du weißt, dass Jim …“

„Nein!“, entfuhr es Ron heiser. Er riss seine Arme in die Höhe und eilte zum Fenster. Heftig atmend sah er auf die Straße. „Jim ist nicht böse“, flüsterte er gegen die Scheibe.

Bill neigte den Kopf. „Jim ist beides, Ron – und das weißt du!“ Der Alte atmete tief ein, bevor er weiter las: „Damit das Gute über das Böse siegt, muss der Mensch sich entscheiden, denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, welches die Möglichkeit bekommen hat, um zu führen und zu ändern. Der Mensch kann vergeben oder hassen, der Mensch ist ein Mensch, weil er sich nicht von seinen Instinkten leiten lässt. Jedem Menschen ist es frei überlassen, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden und somit den Kampf zwischen Gut und Böse zu beeinflussen. Der Mensch wird als vernünftiges Wesen frei geboren und kann allein durch seinen freien Willen sein Schicksal bestimmen.“

Mit Tränen in den Augen wandte sich Ron vom Fenster ab und sah zu Jim. „Bill“, flüsterte er, ohne den Blick von seinem Bruder zu nehmen. Seine Stimme vibrierte: „Du willst also damit sagen, dass sich Jim entschieden hat?“

Bill konnte Ron nicht ansehen und senkte seinen Blick ebenfalls.
Jim war immer noch bewusstlos. Allerdings hatte sich sein Atem in den letzten Minuten beschleunigt und verriet ungewollt, was sie wirklich auf dem Bett gefesselt hatten. Jeder hechelnde Luftstoß aus seiner Lunge, kristallisierte über seinen Lippen zu Eis. Irgendwann schmolzen die winzigen Kristalle und benetzten als feiner Regenstaub sein Gesicht.
Bill ging zurück zum Stuhl. „Wir müssen herausfinden, warum und wie das damals geschehen konnte – und wer Akatash wirklich beschworen hat. Es gehört verdammt viel Zorn dazu. Wir wissen, wie gefährlich das Spiel mit solchen Kreaturen ist. Da Aiden bei dem Versuch starb – kann er nicht das Medium sein. Ehrlich gesagt - kein Mensch, der wirklich über ein derart okkultes Wissen verfügt, wäre so dumm, Akatash …“

Ron stöhnte: „Offensichtlich doch … die Geister die ich rief …“

„Ich befürchte nur, wer auch immer das tat, hat das wahre Ausmaß nicht erkannt“, murmelte Bill kopfschüttelnd.

„Von was reden wir hier eigentlich?“, wollte Tasha wissen.

Bill sah die Ärztin erstaunt an. „Verstehen Sie es nicht, Tasha? Oder wollen Sie es nicht verstehen?“
Er schnaubte: „Laut dieser Aufzeichnungen wird dem guten Geist Ahura Mazdā der böse Geist Akatash, der ihm in Gedanken, Worten und Werken entgegen wirkt, gegenübergestellt. Sie beide zusammen werden als die „Zwillinge“ dargestellt, welche Gut und Böse erschaffen haben und sich ewig bekämpfen.“
Bill machte eine kurze Pause. Er wusste nicht, wo er beginnen sollte: „Kennen Sie sich mit Engeln aus?“
Tasha sah ihn ungläubig an. „Ich bin noch nie einem begegnet“, knirschte sie durch die Zähne.

„Seien Sie froh darüber“, erwiderte der Alte prompt. Er legt das Avesta auf den Boden und kramte ein weiteres Buch aus einem turmhohen Stapel antiker Schriften neben seinem Stuhl. Das beeindruckende Nachschlagewerk war kunstvoll verziert und offensichtlich sehr schwer. „Diese Ausgabe der Bibel werden sie nirgends kaufen können, Tasha“, murmelte Bill zynisch. Er unterließ den Versuch, das Buch anzuheben und öffnete es gleich auf dem Boden. „Heute bekommen Sie allenfalls noch die, von der Kirche zensurierte Ausgabe.“ Bill schob die Bibel neben das Buch Avesta und deutete auf die Abbildungen in beiden Schriften. Erstaunt verglich Tasha die Bilder. „Sind das etwa Engel?“, wollte sie wissen. „Sie … sie sehen so bedrohlich aus.“

Bill nickte. „Die wenigsten Engel sind freundlich. Im Grunde genommen sind sie Krieger. Sie sind brutal und unbarmherzig. Sie besitzen nicht mal eine Seele.“ Der alte Jäger tippte auf die Zeichnung in der Bibel. „Ich wette, den kennen Sie.“

Tasha schüttelte den Kopf. „Solche Engel habe ich noch nie gesehen!“

Bill grinste: „Es ist ein Seraph. Die Seraphim sind sechsflügelige Engel. Sie besitzen drei Paar Flügel und stehen – so die Überlieferung – an der Spitze der Hierarchie. Dieser heißt übrigens Michael! Sie kennen doch Michaels Geschichte?“

„Ja … aber …“, Tasha war verwundert. „Dieser sieht ganz anders aus.“

Bill lachte laut: „Das kommt von der Kirchen-Zensur … Engel sollen schließlich hübsch und nett sein – nicht wahr?“ Sein Gesicht verfinsterte sich sogleich. Er zeigte auf das Bild von Akatash im Buch Avesta. „Und, fällt Ihnen was auf?“

Tasha wurde blass. „Er sieht genauso aus!“

Bill nickte. „Weil er die gleiche Art von Geschöpf verkörpert – nur in einer anderen Religion lange vor dem Christentum. Sie sind Brüder, die sich bekämpfen …eigentlich sogar Zwillinge!“ Eindringlich sah Bill in Tashas Augen: „Tasha - Namen ändern sich im Laufe von Jahrtausenden, aber nicht die Geschöpfe dahinter.“ Bill tippte auf den alten Text: „Das hier ist die Offenbarung des Johannes, in Stein gemeißelt und niedergeschrieben, lange bevor es das Christentum und die Bibel gab.“

Tasha schüttelte den Kopf. „Reden Sie etwa vom …“, bestürzt sah sie auf Jim.

„…Satan, Luzifer, Beelzebub, Samiel, Akatash … oder Herr der Fliegen, nennen Sie ihn wie Sie wollen! Der Fürst der Dunkelheit hat tausend Namen! Er ist der grausamste aller Engel und wird die Welt in Finsternis stoßen“, murmelte Ron und schloss die Lider.

Bill wandte sich zum Fenster und lauschte dem Gesang der Heuschrecken: „Er klopft bereits an“, flüsterte er.

„Die erste Plage – Heuschrecken … und Dürre!“ Pfeifend stieß Warrens Atem in die Luft.

Bill nickte. Müde sank er auf die Sitzfläche zurück und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Wenn wir doch nur genauer wüssten, was damals geschah. Wie er gerufen wurde, dann könnten wir es vielleicht verhindern.“

Ein Adrenalinstoß katapultierte Warren in die Höhe. „Aber wir haben doch eine Zeugin!“ Mit weit aufgerissen Augen sah er in die erstaunten Gesichter der Anwesenden.


*** Erwachen ***

„Was? Es gibt eine Zeugin?“ Ron wollte seinen Ohren nicht trauen. Irritiert sah er zu Bill, dessen Augen sich verengt hatten. Dann wirbelte er herum und musterte den Inspektor.
Warren hob die Hände und brummte: „Der erste Fall. Damals, während des Woodstock-Festivals!“

„Ich denke, es hat niemand überlebt“, warf Ron ein.

Warren sah zu Boden. „Es gab eine Überlebende“, flüsterte er und senkte die Stimme, „aber das wurde von der CIA geheim gehalten - genauso wie der Sektenmord selbst.“ Schnaufend sprach er weiter: „Wie alle Morde seit August 1969.“

Tasha trat auf den Inspektor zu. „Die Ereignisse, die Jim eben durchleben musste, können bezeugt werden?“ Es lief ihr eiskalt über den Rücken, denn diese Tatsache bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Das, was sie gesehen hatte, war real. Erschüttert sah sie Warren an.
Dieser räusperte sich: „Naja – so einfach ist das nicht. Sie hat seit dem Tag nie wieder gesprochen…“

„Wer ist Sie?“, Bills Stimme bebte, „Wir müssen Sie befragen.“

„Selbst wenn wir sie zum Reden bewegen könnten - es wird komplizierter als vermutet. Mia lebt in einer geschlossenen Anstalt. Niemand darf sie besuchen“, beichtete Warren und räumte murmelnd ein, „selbst meine Besuche waren vorschriftswidrig!“

„Wen interessieren schon Dienstvorschriften!“ Rons Blick traf grinsend auf Tasha. „Sie sind doch Ärztin, oder?“

Tasha riss ihre Augen auf. „Wollen Sie etwa …? Ron, das kann ich nicht tun. Ich riskiere meine Zulassung!“

„Kommen Sie schon, Tasha!“, flüsterte Ron und trat an Dr. Horn heran. Mit beiden Händen umgriff er sanft ihre Oberarme. Sie wollen Jim doch helfen?“ Nickend sah er in ihre Augen. „Tasha, wir brauchen Antworten – und wer ist qualifizierter als eine Ärztin?“

„Aber …“, Tasha stotterte, „die … die … CIA – warum haben die sich nicht?“

„Komm schon, Tasha …“, Rons Stimme wurde samtweich. Dr. Horn war verwundert und berührt zugleich, als er sie plötzlich duzte und senkte den Blick.
Kurz sah Ron über ihre Schulter zu Warren hinüber und bellte: „Diese CIA-Typen erkennen einen Zusammenhang selbst dann nicht, wenn er sie zwischen die Beine beißt!“
Langsam folgte Tasha dem Blick des Jägers und drehte sich um. Der Inspektor nickte lächelnd: „Ich bin überzeugt, diese Typen haben Dreck am Stecken. Die sind nicht blöd - Ron. Aiden war Agent der CIA und …“, Warren überlegte kurz, bevor er feststellte, „sagte Jim unter Hypnose nicht irgendetwas wie: Es wird funktionieren?“
Tasha zuckte zusammen. Sie wandte sich um und betrachtete den Jüngsten der Jäger. Sie fühlte sich elend und hilflos. „Ich … ich habe schon viele Hypnosen durchgeführt – aber nie war eine so vernichtend wie diese“, murmelte sie.

Im Zimmer wurde es still, als sich vier Augenpaare auf Jim richteten. Der junge Jäger lag auf dem Rücken und hechelte mit geöffnetem Mund. Sein leicht in den Nacken gezogener Kopf ermöglichte heißem Atem den Weg durch die Kehle. Unter einem Schweißfilm schimmerte seine Haut wie Pergament, zuckende Augen hinter geschlossenen Lidern deuteten auf einen Kampf weit jenseits des menschlichen Bewusstseins hin.

Er hatte jede Menge Beschäftigung. Obwohl sein Körper noch empfindungslos war und sein Kopf benebelt, fühlte er sich geistig so klar wie nie zuvor. Er entdeckte die Geheimnisse des Lebens, Anleitungen, wie man Liebe und Vertrauen gewinnt und wie man sich einen gesellschaftlichen Rang sichert. Es waren Anleitungen, um Seelen zu verbinden oder zu trennen, Anleitungen für die Erzeugung von Reichtum und Kindern – und für den Untergang der Welt. Voller Gier fieberte er der Pilgerschaft entgegen, die vor ihm lag. Aus weiter Ferne hörte er das Flehen der Seite, die er verstoßen hatte. Es gipfelte in einem letzten verzweifelten Schrei. Danach kam Schweigen. Jim kehrte nicht zurück, wofür er, trotz seiner tiefen Liebe zu ihm, dankbar war.

Fragend sah Tasha zu Ron: „Ist …“, sie schluckte, „ist … das normal bei Besessenheit?“ Sie konnte nicht glauben, was da gerade für ein Unsinn über ihre Lippen kam.

„Ich fürchte, nein …“, brummte Bill und schnitt Ron das Wort ab. Dafür erntete er einen vernichtenden Blick. Seufzend sah der alte Jäger zu Boden und zertrat eine Heuschrecke.

„Dieses Experiment war ein Fehler“, gestand Tasha. Sie sah erneut zu Jim. „Du meine Güte!“, stieß sie plötzlich hervor, „Ein Experiment!“ Unter verwunderten Blicken eilte sie zum Spind und hob Jims Laptop vom Boden. Ihrer Deckung jäh beraubt, stieben einige Zikaden auseinander. „Verdammt“, fauchte Tasha, „die werden langsam lästig!“ Mit ausholenden Tritten versuchte sie, die Plagegeister zu erledigen. Dann schüttelte sie sich angewidert und ging zielstrebig auf den Tisch zu. Während der Computer hochfuhr, murmelte sie: „Warum habe ich da nicht dran gedacht.“

„Woran gedacht“, wollte Ron wissen. Er war der Ärztin gefolgt und lugte neugierig über ihre Schulter auf den Monitor. Tashas Finger sausten über die Tastatur. „Jim … ähm … Aiden erwähnte MK – Ultra*“, murmelte sie und gab die Buchstaben in die Google-Suchleiste ein. Sofort öffneten sich mehrere Fenster. „Ich habe während meines Studiums davon gehört. Es war irgend so ein Psycho-Mist“, erklärte sie und sah hinauf in Rons Gesicht. Der ältere Barker hatte sich über sie gebeugt. „Sie würden ihm gefallen“, flüsterte er an ihr Ohr und lächelte.

„Wem“, fragte Tasha, bereits in einen Artikel vertieft.

„Jim“, antworte Ron.

Schlagartig ruhten Tashas Finger. Sie drehte sich um und sah Ron verwirrt an.
„Ja – ehrlich, Tasha … Sie sind ihm sehr ähnlich. Sie sind genauso … stur … wie er … und …“, Ron deutete auf die Tastatur. „Sie beherrschen seinen Laptop …!“
Ein Rotschimmer legte sich auf Tashas Wangen, als sie sich räuspernd ihrer Recherche widmete und auf die Entertaste schlug. „Hier steht es“, rief sie und strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. „MK ULTRA war ein umfangreiches, geheimes Forschungsprogramm der CIA über Möglichkeiten der Bewusstseinskontrolle. Es lief von 1953 bis in die 1970er Jahre während des Kalten Krieges. Ziel des Projekts war, ein perfektes Wahrheitsserum für die Verwendung im Verhör von Sowjetspionen zu entwickeln, sowie die Möglichkeiten der Gedankenkontrolle mit Hilfe von Bewusstseinsspaltung zu erforschen. Das Programm umfasste tausende von Menschenversuchen, bei denen ahnungslose Testpersonen unter halluzinogene Drogen gesetzt wurden. MK ULTRA umfasste nach Angaben eines damaligen CIA-Direktors 149 Unterprojekte, wovon mindestens 14 sicher Menschenversuche, weitere 6 Projekte Versuche an unwissenden Menschen sowie 19 Projekte eventuell Menschenversuche waren. Erforscht wurden die Wirkungen von LSD und Mescalin, Giften, Chemikalien, Hypnose, Psychotherapie, Elektroschocks, Gas, Krankheitserregern und …und …und.“
Tasha schluckte und las weiter: „Die Experimente liefen an 44 Universitäten, 12 Krankenhäusern, 3 Gefängnissen und 15 nicht näher bezeichneten Forschungseinrichtungen. Es gilt als erwiesen, dass zahlreiche Versuchspersonen bei den Experimenten schwerste körperliche und psychische Schäden bis hin zum Tod davontrugen.“

„Das ist doch nicht wahr!“, stieß Ron heraus. Er sah Tasha entsetzt an. „15 nicht näher bezeichnete Forschungseinrichtungen“, murmelte er kopfschüttelnd und sah Warren an. „Denken Sie, was ich denke?“

„Ein über 200 Hektar großes Gelände, eine halbe Millionen Menschen, offener Verkauf und Konsum von LSD und Mescalin.“ Warren sank stöhnend auf das freie Bett. „Kein Wunder, dass die CIA so erpicht darauf ist, die Ereignisse unter den Tisch zu kehren.“

„Eine perfekte Spielwiese für einen Feldversuch!“ Ron hatte sich aufgerichtet und starrte an die Zimmerdecke. Schlagartig wandte er sich an Tasha. „Besteht die Möglichkeit, dass diese Selbstmorde Spätfolgen unter Zivilisten sind?“

Tasha klammerte sich an den Tisch. „Ich … ich kann das nicht beurteilen. Es … ist … schon möglich …“, stotterte sie.

„Menschen“, knurrte Ron, „ich sag es ja ungern – aber Menschen sind einfach nur verrückt und bösartig. Da ist mir jedes Monster lieber!“

„Womit wir wieder beim Thema sind“, warf Bill ein. „Sollten man echte Magie ins Spiel gebracht haben und unter den Testpersonen war auch nur ein fähiges Medium, dann haben sie hier einen Tempel erschaffen. Egal, was da heraufbeschworen wurde. Es hat sich durch die Besucher des Festivals wie ein Virus im ganzen Land ...“

„Sch …sch… sch …“, Ron hob warnend den Zeigefinger. Blitzschnell drehte er sich um die eigene Achse und inspizierte das Zimmer. „Hört ihr das?“ Langsam glitt seine Hand zum Hosenbund und zog die Beretta.
Bill war aufgesprungen und beobachtete Jim. Dann warf er Ron einen Blick zu und flüsterte: „Er ist völlig ruhig!“

Tasha und Warren sahen sich verständnislos an. Nach einer Weile bemerkten auch sie den Unterschied. Das Zirpen der Insekten war zu einem Rascheln und Flüstern geworden. Ron eilte zum Fenster. Hinter der Scheibe war es tiefschwarz. Er suchte vergebens nach dem Mond oder einem Stern – selbst die Laternen schienen erloschen! „Verschwunden“, murmelte er. Es gab keine Straßengeräusche und keine Bewegung da draußen – aber Etwas war da. Die winzigen Härchen in seinem Nacken hatten sich aufgerichtet. Mit beängstigender Deutlichkeit spürte Ron die Vibration, erkannte plötzlich die Ursache und wich zurück. Noch bevor er seine Warnung hinausschreien konnte, barsten die Fensterscheiben und der Schwarm flutete das Zimmer. Es war eine Armee. Sie wirbelten durch die Luft, verfingen sich in den Haaren der Anwesenden, vergruben die wenigen Möbel unter der Masse ihrer Leiber und bedeckten den Boden wie ein lebender Teppich. Winzige Widerhaken an unzähligen Beinen krabbelten, schabten und ritzten emsig über dem Pentagramm, dass Jims Bett umschloss. Mit ungebremster Gier verschlangen tausende Mäuler Salzkristalle und gelöste Farbpigmente. Dieser Übermacht vermochte sich niemand entgegenzustellen. Die Arme schützend über ihre Köpfe gelegt, warfen sich die Jäger auf den Boden und das Gewicht der Krabbeltiere auf ihren Körpern raubte ihnen die Sicht und die Luft.
Dann war der Spuk vorbei. Sie verschwanden so schnell wie sie gekommen waren. Nur wenige Hundert schwirrten noch ziellos durch den Raum. Aber sie verglühten in der Hitze des Geschöpfes, das sie befreit hatten, zu Asche.
Immer noch um sich schlagend, richteten sich die Jäger auf. Angst und Schmerz entstellte ihre Gesichter. Ihre Haare waren zerzaust. Unter der zerrissenen Kleidung brannte ihre Haut wie Feuer. Aber sie lebten, - jedoch nicht, weil Er unfähig war, sie zu töten, sondern weil er sie wie Verlierer zurücklassen wollte, nachdem sie zu ihm aufgesehen hatten.

Und genau das taten sie – Inspektor Stan Warren, Dr. Tasha Horn, Bill Singer und Ron Barker sahen ihn an.
Aufrecht stand er vor ihnen. Er war riesig. Jeder Muskel spannte sich unter seiner Haut. Sein Brustkorb hob und senkte sich inbrünstig, endlich konnte er atmen. Endlich spürte er den Hauch des Windes in seinem Gesicht. Endlich war er am Leben. Im Schatten seines Körpers kristallisierte die Luft. Er war in diese Welt zurückgekehrt. Es war wie das Erwachen aus einem tiefen Schlaf. Und seine Rückkehr glich einem Aufstieg. Langsam neigte er den Kopf, blinzelte durch langes braunes Haar und sprach. „Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könntet mich aufhalten?“

Ron erstarrte. Die Stimme war ihm so vertraut wie jeder Zentimeter Haut des Mannes, der ihm gegenüberstand. Er kannte jede seiner Narben, denn er hatte sie versorgt. Er kannte das Pentagramm-Tattoo über seiner Brust, denn er hatte es ihm eigenhändig gestochen. Jede seiner Gesten weckte Erinnerungen in ihm. Und doch spürte Ron mit jedem Herzschlag Abneigung. „Wo ist Jim“, fauchte er.
Sein Gegenüber zog den Kopf in den Nacken. Zischend entwich Luft durch seine Zähne. Dann sah er den Jäger an: „Jim – ist gegangen … jetzt bin ich!“

Ron sah schmerzerfüllt in kalte blaue Augen. Er wollte in sie eintauchen, etwas Wärme in ihnen entdecken, die sie von all den Morden und den schmutzigen, brutalen Geschichten distanzierte. Nur für ein Weilchen wünschte sich Ron, dass sein Bruder ebenso Zuflucht in ihm suchte und wartete darauf, dass er diese Wand durchbrechen und zurückkehren würde. Seine Tränen kamen langsam. Sie brauchten Zeit, wie sein Verstand, der nur allmählich begriff. „Warum“, fragte Ron mit zerbrechender Stimme.

Akatash hob den Kopf. Seine Augen leuchteten wach und intelligent. „Ich bin seit Anbeginn Teil jedes Menschen. Man nennt mich Wut, Hass oder Zorn.“ Er lächelte: „Ich spaziere als Albtraum in euren Schlaf. Ich lasse euch schreiend aufwachen.“ Langsam ging er vor Ron in die Hocke und flüsterte: „Und - ich breche hervor, wenn Angst euch verzehrt, wenn der Tod nach eurem Leben greift.“ Er holte tief Luft: „Wenn ihr keinen Ausweg mehr findet, dann ruft ihr nach mir.“ Kurz streifte sein Blick Tasha. „Aber ihr wolltet mich kontrollieren. Ihr musstet in eurer Arroganz die menschliche Seele sezieren wie einen Frosch, wart gierig danach, das Bewusstsein zu spalten, um das Böse zu fesseln und für eure Zwecke zu missbrauchen.“
Langsam erhob er sich. Die Eiskristalle vor seinen Lippen reflektierten im Licht. Seine Muskeln schienen zu enormer Größe anzuschwellen und seine Haut auszudehnen. „Ich bin das Monster, das in jedem von euch lauert und ihr habt mich befreit.“ Er sah an die Zimmerdecke und schnaubte. „Ihr habt mich herausgerissen aus Tausenden von Seelen. Ihr habt mich meiner Heimat beraubt, mich in eure Welt gezerrt! Ohne Anleitung, ohne Hilfe und ohne Körper habt ihr mich zurückgelassen. Ich erwachte in diesem … elenden Farmhaus!“
Voller Zorn entwich ihm ein Atemzug, dann sprach er weiter. „Ich habe versucht, es zu verstehen. Ich bin euren Rufen gefolgt – wie immer. Aber…“, Akatash schloss die Augen und murmelte: „Niemand hielt mehr Stand. Unter meiner Berührung zerriss eurer Verstand wie Papier und ich musste hungern.“

Bitteres Schweigen legte sich zwischen Jäger und Gejagten. Schließlich war es Akatash, der versöhnlich lächelte: „Bis ich ihn traf“, flüsterte er.

„Warum er?“, fragte Ron mit bebender Stimme, „Warum Jim?“

„Was immer es war, Jäger“, flüsterte Akatash. „Als Jim aus Anderswelt zurückkehrte, hat er es mitgebracht. Etwas Uraltes, Böses – das Herz eines Dämons, das die Kraft besitzt, meiner Berührung zu widerstehen.“ Er riss den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. „Weißt du - ich vermochte seine Seele nicht zu zerreißen, denn sie war bereits zerrissen. Ich habe nur seinen Wunsch erfüllt und befreite ihn von Schuld. Ich ließ den Teil, der ihn quälte, ausbluten und er überließ mir bereitwillig seinen Körper.“

„Was hast du vor, Dämon?“ Rons Stimme bebte vor Zorn.

„Oh …“, flötete Akatash in einem Ton, der Ron neue Tränen in die Augen trieb, „jetzt werde ich euch die Seele aus dem Körper reißen. Weißt du – ich will einfach nur Rache!“

Ron war aufgestanden. Er zog seine Beretta und richtete sie auf Akatash: „Ich werde dich töten, du Miststück!“

Akatash lugte in den Waffenlauf. Er räusperte sich kurz. „Das wirst du nicht!“ Mit einem Schritt trat er auf Ron zu und presste seine Brust gegen die Waffe.

„Was macht dich da so sicher“, erwiderte der Jäger.

„Weil ich dich kenne - Ron!“ Um Akatashs Mundwinkel zuckte ein Lächeln, als er weitersprach: „Weiß du was? Ich mache dir ein Angebot! Lass uns ein Spiel spielen.“ Er setzte sich auf das Bett und strich sich einige Strähnen aus der Stirn. „Wenn du nur 10 Sekunden still bist, werde ich deinen Bruder freigeben. Das ist doch fair – oder?“ Seine eisblauen Augen blitzen auf.

Ron zögerte. Er ließ die Waffe sinken. „Okay“, antwortete er leise und trat einen Schritt zurück. Misstrauisch beobachtete er den Dämon.
Akatash neigte den Kopf. Seine Halswirbel knackten. „Ich werde bis 10 zählen“, flüsterte er und hob seine linke Hand. Die Finger hatte er gespreizt. Mit Zeigefinger und Daumen seiner rechten Hand erfasste er wie eine Pinzette den Zeigefinger der Linken. Er grinste und begann zu zählen: „Eins!“ Im gleichen Augenblick erfüllte ein Knirschen den Raum. Sehnen zerrissen und ein Gelenk zersplitterte. Akatash riss den Kopf in den Nacken. Ein markerschütternder Schrei stieß aus seiner Kehle. Als er Ron wieder ansah, stöhnte er leise.
Ron gefror das Blut in den Adern. „Jim“, schrie er im Gedanken.
Ein kaltes Grinsen legte sich wieder auf Akatash`s Gesicht: „Zwei“, raunte er provozierend. Jims schriller Schrei folgte sofort und hallte in doppelter Lautstärke von den Wänden wider, als er sich den zweiten Finger brach. Wie ein Streichholz hatte er ihn umgeknickt und rutschte nun mit schmerzverzerrtem Gesicht vom Bett. Gekrümmt blieb er vor Rons Füßen liegen.
Ron wandte sich keuchend ab. Er brachte keinen Ton hervor. Tasha presste sich die Hände auf den Mund. Warren hatte sich weggedreht. Er verschloss die Augen vor dem, was er sah und schlug seine Stirn gegen die Wand. Bill starrte Ron an. Die Lippen des alten Jägers bebten.
Ron wich auch seinem Blick aus und sah schnaufend an die Zimmerdecke. Er versuchte, gerade zu stehen, doch spürte er, wie der Boden unter ihm wankte. „Drei“, dröhnte die Stimme hinter seinem Rücken. Jims gurgelnder Schrei ließ ihn zusammenfahren. Ron wirbelte herum. Akatash kauerte am Boden und sah mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihm auf. „Bitte, bitte Ron“, wimmerte er mit Jims Stimme. Er hielt sich die abstehenden Finger. Blut tropfte auf seine Oberschenkel. Knochenfragmente hatten die Haut durchstoßen. „Bitte …“, winselte er und beobachtete mit angstgeweiteten Augen seine ungehorsame Hand, die erneut zugreifen wollte.
„Vie …“
„Stopp!“, brüllte Ron. Hör auf du verdammter Mistkerl.“ Er taumelte und fiel auf die Knie. „Du sollst aufhören … bitte …“, bettelte er und sah den Dämon an.
Akatash senkte seine Arme und erhob sich. Lächelnd blickte er auf den Jäger herab. „Du hast verloren, Ron. Dein geliebter Jimmy gehört mir!“ Schulterzuckend warf er den bleichen Zeugen einen Blick zu: „Wisst ihr, Ron war noch nie stark genug, um seinen Jimmy zu retten!“ Mit einer Bewegung strich er sich die Finger glatt. „Was solls! Ich muss euch jetzt leider verlassen.“
Mit einem tiefen Atemzug riss er seinen Kopf in den Nacken. Er breitete die Arme aus. Wie eine gekreuzigte Kreatur schwebte Akatash im Zimmer und ein Schrei, erzeugt von unzähligen Stimmbändern entwich seiner Kehle. Seine Bauchmuskeln verhärteten sich zu Stahl. Die Luft um ihn begann zu flimmern. Züngelnde Flammen fraßen sich über die Haut seiner Arme. Aus ihnen erwuchsen Flughäute. Als er sie spannte pulsierten blutrote Venen darin.
Einen weiteren Schrei ausstoßend schob er seine Schulterblätter zusammen. Durch die ruckartige Bewegung zerbarsten sie und ungebremste Wucht trieb seinen Brustkorb nach vorn. Es knisterte wie altes Pergament, als sich im Licht des Mondes zwei weitere Paar Flügel entfalteten. Sie waren aus seinem Rücken gestoßen und kreisten nun summend, wie die Flügel einer Libelle, über seinen Schultern. Ihr Windzug riss an seinem braunen Haar und letzte Salzkristalle wirbelten, zusammen mit der Asche verbrannter Zikaden, über den Boden. Wortlos kehrte er seinen Widersachern den Rücken, stieß sich vom Boden ab, und verschwand wie ein Geschoss aus dem Fenster.
Für einige Sekunden sahen die Jäger noch seinen gewaltigen Schatten, hoch über den Dächern von Bethel. Doch dann schoben sich schwarze Schwaden vor den Mond. Schwärme von Heuschrecken erhoben sich aus den Gemäuern der alten Villen, aus Vorgärten, Mülltonnen und Gullys. Das ohrenbetäubende Rauschen ihrer Flügel glich einer sturmgepeitschten Brandung und erstickte auch den letzten Hilfeschrei in den finsteren Straßenschluchten.

Nur langsam löste sich das verstörende Summen auf. Was Tasha jedoch zutiefst beunruhigte, war die einsetzende unheimliche Stille. Niemand sprach ein Wort. Stan Warren half ihr auf die Beine. Sie sah sich um. Bill sammelte hastig seine Bücher ein. Jim war verschwunden und Ron stand reglos am Fenster. Er starrte in die Nacht.
Mitten in einem Alptraum schien Tasha gefangen zu sein. Der Kopf tat ihr weh und fühlte sich schwer an, als hätte sie einen Schlag abbekommen. Sie stöhnte auf. Es war ein hoher, seltsamer Ton ohne Echo. Ihre Füße waren kalt und ihre Hände warm. Erst, als sich Tränen zwischen ihren Lippen sammelten, bemerkte sie, dass sie weinte. „Was ist da passiert“, ihre eigene Stimme war ihr fremd, „wo ist Jim?“

„Gegangen“, stieß Ron hervor.

Sie zögerte, lies einen einzigen noch unversehrten Gedanken Hoffnung schöpfen. Langsam näherte sie sich dem Jäger, fest entschlossen, dieses Mal nicht nur Zeugin zu sein. Dieses Mal würde sie ihrem Schicksal die Stirn bieten. Sie wusste, das menschliche Gehirn war in der Lage, die unumstößliche Wahrheit zu verdrängen: Alter, Krankheit, Verfall und Tod. Aber diesmal wollte sie die Karten mit mischen. Denn wie sollte sie den Weg des Lebens weiter gehen, wenn es keine Hoffnung gäbe?

Als Tasha ihre Hand auf Rons Schultern legte, zuckte er nicht einmal zusammen. Versteinert sah er aus dem Fenster. Sein Vater hatte immer gesagt, das Töten würde einfacher werden, je öfter man es tat. Es war falsch.
Töten war schwierig, hässlich und schmerzvoll - selbst bei einem Geschöpf der Dunkelheit. Bis zum heutigen Tag hatte er dem Leben von unzähligen Kreaturen ein Ende gesetzt. Und immer war ihm speiübel, wenn alles vorbei war.
Aber jetzt, bei dem Gedanken, den letzten Atem seines Bruders auslöschen zu müssen, schrie Ron innerlich vor Schmerzen.


*** Splitter ***

„Was um Himmelswillen ist das?“ Warren fand als Erster seine Stimme wieder. Fragend sah er zu, Bill. Der alte Jäger erhob sich, nachdem er seine Bücher sortiert hatte. Zorn funkelte in seinen Augen. „Ich denke, das ist der größte Haufen Scheiße, in dem wir jemals gesteckt haben“, blaffte er und drehte sich suchend um. Er griff nach einem Stuhl und setzte sich. Sein Blick streifte Tasha. Sie hatte sich von Ron abgewandt und kam auf ihn zu. „Erklären Sie es mir“, forderte sie den Alten auf.

Mitfühlend eilten Bills Blicke über Rons Rücken. Dann begann er leise zu reden: „So wie es aussieht“, dabei warf er Warren einen vernichtenden Blick zu, „haben Ihre Kollegen vom CIA das Ziel damals erreicht!“

Tasha hatte sich zu Warren aufs Bett gesetzt. „Inwiefern?“

„Verdammt Tasha – wir haben es doch gehört. Die haben es tatsächlich geschafft, das Bewusstsein der ahnungslosen Besucher von Woodstock in Gut und Böse zu spalten.“ Bill schloss verbittert die Augen. „Könnt ihr euch vorstellen, wie viel negative Energie da frei wurde? Alle unheiligen Gedanken, Wünsche und Emotionen dieser Menschen, zusammengeballt als Konzentrat des Bösen! Es war damals die Zeit der Rebellion.“ Er schnaufte und zerrte sein Basecape vom Kopf: „Und diese Dumpfnasen haben es nicht mal bemerkt!“ Wütend warf er die Mütze in das Zimmer.

Warren erhob sich und schritt auf und ab: „Wie sollten sie auch – sie glaubten an Wissenschaft und nicht an Hexerei!“ Entmutig ließ er sich wieder neben Tasha auf das Bett fallen und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Kein Wunder, dass niemand der Berührung dieses …Wesens“, er richtete seine Augen fragend auf den alten Jäger, „wie nennt man sowas eigentlich? Ist das ein Geist, oder was?“

„Keine Ahnung“, murmelte Bill. „Akatash ist alles – er ist das Pendant zum Guten. Eigentlich sollten beide Seiten Eins sein“, stellte er klar.

Tasha neigte den Kopf. „Das verstehe ich nicht! Können Sie es nicht einfach vernichten?“

Betrübt erwiderte Bill Tashas Blick und fragte: „Tasha – sagen Sie mir. Wie wollen Sie das Böse vernichten, ohne dabei das Gute zu zerstören? Das Böse ist Bestandteil unseres Seins. In gewisser Weise brauchen wir es. Die dunkle Seite verleiht uns die Fähigkeit, den Feind zu töten, unsere Familien zu beschützen, uns gegen Unrecht zu wehren oder Entscheidungen zu treffen, die nicht immer gut - oder sehr schmerzlich – aber manchmal notwendig sind. Ohne unsere Wut im Bauch hätten wir keine Überlebenschance.“ Bill sah zu Boden, als er weiter sprach: „Von all diesen Emotionen zehrt Akatsah und wandert weiter zum Nächsten, wenn seine Dienste nicht mehr gebraucht werden. Er steckt gewissermaßen in jedem von uns.“

„Na, jetzt wohl nicht mehr“, knurrte Warren. Er richtete sich auf und holte tief Luft: „Ich bin stinksauer – also bin ich noch im Gleichgewicht?“

Bill grinste bitter: „Es ist nur eine Frage der Zeit, Stan. Irgendwann kommt er auch zu dir und du musst dich nicht nur deinem eigenen Zorn stellen, sondern jetzt auch dem von unzähligen anderen Menschen. Glaub mir, daran wirst du zerbrechen!“

Tasha strich sich nervös über ihre Oberschenkel: „Ihr meint also, dass Akatash ohne seinen Gegenspieler das natürliche Gleichgewicht aus den Fugen reißt.“ Sie machte eine kurze Pause und sah über ihre Schulter zu Ron. Unbeteiligt stand er am Fenster und starrte auf die Straße.
Tasha flüsterte: „Warum konnte Jim ihm widerstehen ohne zu zerbrechen, wie all die anderen Menschen?“
„Anderswelt“, antwortete Ron mit rauer Stimme und drehte sich abrupt um. Seine Augen waren leer.
„Das absolut Böse hat Jim bereits dort berührt. Er musste so schreckliche Dinge sehen, hören und erdulden, dass es seine Seele zerriss. Als er zurückkam, brachte er all diese finsteren Geschichten mit und Akatash konnte ihn ihm lesen, wie in einem Buch. Er nahm sich alles, was er benötigte, um zu leben - die dunkelsten Geheimisse unzähliger Menschen, und er bekam obendrein noch einen Körper geschenkt, in dem Dämonenblut fließ.“ Ron klappte den Mund zu, als wollte er sich die Zunge abbeißen. Dann murmelte er weiter: „Frigg hatte Recht! Jim wird diese Welt in Finsternis stoßen.“

Tashas Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Dämonenblut? Jim ist …?“ Sie spürte Stan Warren an ihrer Seite zusammenzucken.
Der Inspektor schnaubte wie ein altes Ross. Auch aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen. „Ihr Bruder ist eins … von diesen Dingern, die Sie jagen?“ Jetzt wurde ihm so einiges klar. Kein Mensch hätte derartige Verletzungen überleben können.
„Zum Teil, ja …“, gab Ron leise zu. Es sah weder Dr. Horn noch Inspektor Warren an und verstummte.
„Jim ist gewissermaßen der fleischliche Beweis für den ewig währenden Kampf zwischen Gut und Böse“, erklärte Bill weiter. „Seit Jim denken kann, hadert er mit diesem Schicksal und sich selbst.“ Bill sah hilfesuchend zu Ron. Er hatte keine Ahnung, wie er das erklären konnte. „Wissen Sie“, seufzte er schließlich, „es ist nicht nur Jim`s Seele. Selbst sein Körper ist zerrissen.“

Ron unterbrach Bill: „Ein braves Herz – am Leben erhalten von bösem Blut.“ Schmerzhafte Resignation nahm seinen Körper ein, sein Gehirn war eine Welt undurchdringlichen Nebels. Mit seinen Fingern suchte er Halt an der Fensterbank und schloss die Augen. Es war seine Schuld. Er war verantwortlich dafür, dass er nun hier stand, und um ein Wunder betete. Er hätte zuhören müssen, als Jim ihn darum gebeten hatte. Der Gedanke an den Tod war auf einmal sehr verlockend. Es wäre besser, als dieser Schmerz. Ron hörte sein Herz laut pochen, als ob es Angst hätte, dass seine letzten Schläge bereits gezählt wurden.

Tasha schüttelte heftig den Kopf. Ungläubig starrten ihre Augen Ron an, in ihnen glänzten noch die wenigen Tränen, die er nicht geweint hatte. „Das kann ich nicht akzeptieren! Da muss doch noch ein Funke …“ Warren nahm behutsam ihre Hand. Er flüsterte: „Das war nicht mehr Jim.“

Bill nickte: „Was wir sahen, war Jims dunkle Seite, genauer gesagt, sein Zwilling.“ Er zog den Kopf in den Nacken. Seine Stimme zitterte, als er weitersprach: „Selbst wenn der gute Jim da draußen noch irgendwo umherirrt, wird er sterben. Ohne seine dunkle Seite fehlt ihm die Kraft, sich für das Leben zu entscheiden. Er wird vergehen – wie eine Erinnerung.“

„Nein!“ Tasha schüttelte den Kopf. Sie sprang auf und sah Ron an. „Wenn Akatash existiert, dann muss Jim dort sein, wo Akatash herkam. Ron - wir müssen ihn finden! Wir müssen zu dieser Mia, denn sie war dabei!“

„Tasha! Wir müssen dieses Ding töten“, konterte Ron mit Eisesstimme und deutete nickend in Richtung Fenster. „Kommt her, seht euch das an!“

Entsetztes Schweigen breitete sich unter den Jägern aus, als sie am Fenster standen und auf das Chaos blickten. Der Schatten Akatash`s tödlicher Schwingen hatte Armageddon entfesselt – nicht wie die Bibel es prophezeite … es war schneller, böser und heimtückischer. Sterben setzte ein, als hätte die Erde nie einen Sonnenstrahl gesehen. Und was nicht starb, erlebte einen Wandel. Das Land modellierte eine Hölle, in der man Wut atmete und Hass speiste. Emotionslos beobachte Ron den Wahnsinn, der in Bethel seinen Anfang nahm. Schüsse, Schreie und Flammen fegten wie ein Sturm über die Stadt. Er konnte nicht glauben, dass noch vor einem Tag eine Unmenge von Menschen hier lachten und arbeiteten, dass sie alle - ob Tellerwäscher oder Herzchirurg nebeneinander gelebt hatten, ohne nur den Hauch einer Ahnung gespürt zu haben, das ihre düstersten Geheimnisse zu Fleisch geworden waren.
Ron atmete tief ein, als hätte er einen Entschluss gefasst. Er sah zu Tasha. „Okay“, flüsterte er. Sein Blick steifte Inspektor Warren. Dann sprach er weiter. „Wir werden uns trennen. Warren …“, noch einmal musterte er den Inspektor und registrierte sein leichtes Nicken, „und ich verfolgen den Zwilling. Ich kann mir denken, wo Akatash ist und was er als Nächstes vorhat.“
Tasha wollte Widerspruch erheben. Aber Ron winkte ab. „Sie besuchen zusammen mit Bill diese Mia. Als Ärztin dürften Sie keine Schwierigkeiten haben, kurzfristig einen Termin zu bekommen. Lassen Sie sich was einfallen.“

Tasha nickte, obwohl sie die Lüge des Jägers als Vorwand enttarnt hatte. Vielleicht war die Welt im Stande, sich auch ohne Jim weiter zu drehen, doch Ron war nicht in der Lage, ohne seinen Bruder zu leben. Er konnte ihn nicht gehen lassen - lieber wollte er im Kampf gegen sein eigenes Fleisch und Blut sterben. Wenn Tasha diese Brüder retten wollte, dann musste sie schnell handeln. Ihre letzte Hoffnung lag im Wissen einer verrückten alten Frau.

*** *** ***

Mit einem lauten Krachen verschloss der Metallriegel ihre Zellentür. In der Mitte des Raumes hockte sie zitternd und sah sich um. Ihre ergrauten Haare lagen wirr und zerzaust, verdecken jedoch kaum ihren ängstlichen Blick. Die dürren Beine hatte sie angewinkelt. Kratzer überzogen nicht nur die Wände ihres Zimmers, in dem sich nichts weiter befand als ein Bett, sondern auch ihre aschfahle Haut. Sie war einmal ein hübsches Mädchen mit langen dunklen Haaren gewesen. Braune Augen und ein mitreißendes Lächeln hatten ihr Gesicht verzaubert. Nun war sie alt. Die Träume ihres Lebens hatte sie vergessen. Sie erinnerte sich nicht mehr an das Licht der Sonne oder an die Farbe des Himmels. Nur ein Bild brannte noch in ihren Gedanken: Seine Augen! Nicht Jene, die eisblau blitzen, sondern Jene auf deren warmen Glanz sie immer noch hoffte. Das Einzige, was sie von ihm hatte, waren ihre Zeichnungen und Skulpturen.
Sie wusste, es war verboten, die Handarbeiten mit auf das Zimmer zu nehmen. Behutsam griff sie unter ihr Leinenhemd und holte eine Skizze hervor. Als sie das Blatt auseinanderfaltete, knisterte es. Mit zitternden Lippen betrachtete sie ihn. Er war der Letzte seiner Art. Die letzte Seele eines einst mächtigen Volkes. Manche glaubten, er sei Legende. Andere hielten ihn für den Auserwählten, der eine Welt des Chaos ins Gleichgewicht bringen würde und Einige schreckten vor Nichts zurück, um ihn zu vernichten.
Beinahe hätte sie aufhören können, zu zittern. Beinahe hätte der Tränenfluss versiegen können. Beinahe…
Der nächste Morgen kam viel zu früh. Die Sonne kämpfte diesmal einen aussichtslosen Kampf gegen die Nacht.
Langsam zerriss sie das Gesicht in zwei Hälften und ließ die Blätter zu Boden taumeln.

*** *** ***

Warren sah auf die bürgersteiglose Straße. Lautlos vorbeifliegende Häuserwände wirkten wie Aufbauten einer alternden Filmkulisse. Aus vielen zerbrochen Fenstern stießen Flammen. Niemanden schien es zu interessieren. Weder den Obdachlosen, der die Abfalleimer nach weggeworfenen Essensresten durchsuchte, noch die Gruppe Teenager, die unbemerkt gerade seinen Einkaufswagen umwarfen. Unvorstellbar, dass hinter den schmutzigen Fassaden noch Menschen lebten.
Warren dachte an Bills Worte über Akatash und ihm wurde speiübel. Er hatte sein Leben lang versucht, die Bösen dingfest zu machen. Allerdings konnte er die Wahrheit nicht leugnen. Aus ihren Opfern wurden nicht selten die neuen Bösen, weil ihnen niemand Beachtung schenkte. Nach jüngsten Statistiken wurde jedes vierte Kind missbraucht, jede dritte Frau einmal in ihrem Leben sexuell genötigt oder vergewaltigt. Überhaupt gab es kaum einen Menschen auf der Erde, der nicht mindestens einmal zum Opfer einer Straftat wurde. Die Hälfte von ihnen musste danach psychologisch betreut werden – nur wenn sie Glück hatten, bekamen sie auch Hilfe. Warren wollte sich gar nicht ausmalen, wie viel Gewalt, Schmerz und Tränen allein in dieser Stadt existierten.
Schnaufend schloss der Inspektor die Augen.
Es gab allerdings auch die andere Seite. Diese Stadt war sein Zuhause. Nachbarskinder hatten im Sommer auf den Straßen gespielt. Ihre farbenfrohen Kreideblumen und Hüpfkästchen leuchteten noch immer auf dem Asphalt. Viele Familien gingen Samstags gemeinsam ins Kino, um über eine Komödie zu lachen und ihre Haustiere schliefen in lauen Nächten auf den gemähten Rasenflächen der Vorgärten. Niemand hatte hier mit der Ankunft des Bösen gerechnet.

„Was wissen Sie über diesen Aiden?“ Warren zuckte zusammen, Rons Frage hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen. Schnaufend zog Warren den Kopf in den Nacken. Als er den Entschluss gefasst hatte, Ron zu begleiten, hatte sich die Gruppe sehr schnell getrennt. Nach zwei Stunden Hektik, um neue Bekleidung zu besorgen und einer Lagebesprechung, die keinen Plan hervorbrachte, fand er sich plötzlich neben einem gejagten Jäger in einem schaukelnden Oldtimer wieder. Er hörte Enter Sandmann von Metallica aus einem Radio, für das seit Jahren keine Tonträger mehr hergestellt wurden, während die Welt im Chaos unterging. „Viel konnten wir damals nicht herausfinden“, antworte der Inspektor, ohne den Blick auf Ron zu richten. „Aiden war ein glänzender Analytiker. Seine Denkmuster passten nicht unbedingt in die üblichen Normen. Er war außerordentlich kreativ, vorausschauend, aber auch provozierend. Ein harter, schlauer Kämpfer, der sehr viel einstecken konnte. Er war unsichtbar, wenn er nicht gefunden werden wollte und er war extrem durchtrainiert. Eben ein rebellischer Geist in einem Gladiatorenkörper.“ Kurz unterbrach Warren. Er musterte Ron.

Der Jäger nickte leicht und murmelte: „Ein wirklich seltenes Talent!“

„Wollen Sie ihn wirklich töten, Ron?“, flüsterte Warren.

Der Jäger schwieg. Seine Finger klammerten sich fester um das Lenkrad. Als er das Gaspedal durchtrat, jaulte der Ford Mustang auf. Hinter ihm verschwamm die brennende Stadt im Schleier tanzender Staubkörnchen und blauer Benzinwolken.

„Ron? Wollen Sie Ihren Bruder wirklich töten?“, bohrte Warren nach.

„Er ist nicht Jim“, stieß Ron hervor.

Warren schüttelte den Kopf: „Er ist ein Teil von Jim. Sie werden auch das Gute mit ihm vernichten. Das sagte doch Bill!“ Leise zischend atmete Warren ein und flüsterte. „Aber darum geht es hier gar nicht, oder?“ Er hatte im Laufe seines Lebens viele Gesichter gesehen. Intuitiv enttarnte er das Lächeln von Lügnern oder Mördern – und erkannte auch die Augen von Selbstmördern – selbst wenn sie zuversichtlich strahlten. „Es ist ein Kamikaze-Job. Habe ich recht?“

Ron schnaubte: „Es ist allein meine Schuld. Ich hätte es bemerken müssen.“ Seine Stimme war rau. Er spürte seine Stimmbänder flattern. Aber es war ihm egal, dass seine Worte zitterten und Warren ihn durchschaut hatte.

„Das konnten Sie nicht ahnen!“ Warren suchte nach den richtigen Worten.

Kurz riss Ron seinen Kopf herum. In seinen Augen flackerte Selbsthass. „Nein, ich habe es nicht geahnt! Ich habe es gewusst und verleugnet. Ich wollte seine dunkle Seite nie akzeptieren, bis sie wie ein vernichtender Schatten über diese Stadt gezogen ist. Wissen Sie, Warren, ich habe zugelassen, dass dieses Ding aus Jim geworden ist und ich werde dafür geradestehen!“

„Ron!“ Warrens Stimme war tief. „Jeder Mensch sucht sich sein Schicksal selbst aus!“

„Hören Sie mit Ihren Weisheiten auf“, bellte Ron. „Vor einigen Stunden hielten Sie uns noch für verrückt und jetzt erzählen Sie mir was von Schicksal!“ Ron schnaufte leise: „Jim ist mein Schicksal und ich werde mit ihm untergehen.“

„Warum haben Sie mich dann überhaupt mitgenommen“, wollte Warren wissen.

„Hören Sie, Warren“, sprach Ron. „Ich will nicht, dass Sie verletzt werden. Sie scheinen okay zu sein – selbst für einen Bullen!“ Er räusperte sich. „Also halten Sie sich im Hintergrund. Ich weiß, was ich tue.“ Seine linke Hand löste sich vom Lenkrad. „Wenn das hier vorbei ist, bringen Sie mein Baby zu Bill. Der Alte hat einen Autofriedhof. Seine Finger strichen zärtlich über das Armaturenbrett seines schwarzen 1967er Ford Mustang. Mit weicher Stimme erklärte Ron: Ich will nicht, dass ‚Sie‘ an irgend so einen Idioten verschachert wird.“

Fassungslos starrte Warren den Jäger an. „Das ist alles?“

„Naja … vielleicht schaffen wir es ja.“ Rons Grinsen stand im krassen Gegensatz zu seinen Worten. „Wer bitte, außer Ihnen, soll denn sonst in dieser Stadt für Ordnung sorgen“, murmelte er und neigte den Kopf.
Kurz trafen sich ihre Blicke.

Warren lächelte bitter. „Klar, die Drecksarbeit bleibt wieder an mir hängen.“ Er schnaubte: „Sagen Sie, Ron, hinterlassen Sie immer so ein Chaos, wenn Sie verschwinden?“

„Meistens …“, gab Ron zu. Er hob die Schultern, sah zurück auf die Fahrbahn und entlockte mit einem heftigen Tritt aufs Gas seiner nachtschwarzen Schönheit ein tiefes Grollen.

*** *** ***

Er war nicht mehr der Selbe. In seinem Gedächtnis brannte der Anblick einer zerstörten Stadt. Er hatte geglaubt, es wäre befriedigend, als ein immer gegenwärtig, körperloser Beobachter den Anblick genießen zu dürfen. Aber in seinem Herzen keimte eine unbestimmbare Erinnerung, dessen Wesen immer lauter nach ihm rief. Dann wurde es so dunkel, dass er annahm, noch immer bewusstlos zu sein. Aber er hatte das Gefühl, sich zu bewegen. Und er spürte seinen Körper schmerzen - vom Scheitel bis zu seinen Fersen. „Ich bin nicht bewusstlos“, dachte er, „diese Empfindung ist zu real, um ein Traum zu sein“
Er schrie, aber der Schrei erklang nur in seinem Kopf. Die Lippen bewegten sich nicht und seine Zunge lag schwer auf dem Grund seines Mundes. Ein schrecklicher Gedanke packte ihn. Was, wenn er schon tot war? Atmete er überhaupt noch? Aber wenn er tot war, wie konnte er dann Stimmen hören und warum war er nicht gefühlslos oder von weißem Licht umgeben? „HELFT MIR!“, flehte Jim. Doch seine Lippen zitterten nicht einmal.


*** *** ***

„Sind Sie ihre behandelnde Ärztin?“, fragte der Pfleger. Sein üppiges blondes Haar staute sich unter einer respektlos aufgesetzten Chirurgenmütze. Kobaltblaue Augen streiften Tashas Gesicht, als er es mit einem Lächeln versuchte.
Sie musterte ihn – nur eine Sekunde. Seine Wangenknochen schienen mit kleinen Sommersprossen überstäubt. Tasha lächelte zurück. „Ja - ich übernehme den Fall“, antworte sie schnell und beschleunigte ihre Schritte. Erstaunt über die unverschämte Lüge, die gerade über ihre Lippen gekommen war, neigte sie den Kopf. Er hatte den Brocken geschluckt und Tasha musste innerlich grinsen.

„Unterschreiben Sie bitte hier, Doktor Horn?“ Er hielt ihr ein Schreibbrett entgegen. Im Gehen unterschrieb sie.
„Mia ist eine unserer dauerhaften Bewohner“, baggerte er ungeniert weiter, obwohl er kaum mit ihr Schritt halten konnte. „Sie hat noch nie geredet.“

„Sind Sie schon lange hier?“ Tasha versuchte durch Konversation ihre Aufregung in Grenzen zu halten.

Er murmelte: „ Nicht lang genug - Zivildienst.“ Dann zeigte er auf eine verschlossene Tür. Durch ein winziges Fenster fiel Licht auf den Korridor. „Ihr Zimmer!“

„Warum ist Mia nicht im Gemeinschaftsraum?“, fragte Tasha erstaunt, „Man hat uns gesagt sie sei ungefährlich.“

Der junge Mann stotterte. „Eigentlich ist sie das auch. Aber gestern Nacht ist Mia völlig ausgerastet. Wir mussten ihr ein Beruhigungsmittel geben.“
Mittlerweile waren sie an der Tür angelangt. Tasha spähte durch das Gitter vor der schalldichten Scheibe. Der Raum dahinter war hell erleuchtet und fensterlos.
Der Pfleger beugte sich an Tashas Ohr. „Die Frau hat alle ihre Arbeiten zerstört. Jedes Bild hat sie in zwei Hälften zerrissen. Auch ein Großteil ihrer Skulpturen fiel dem Wutausbruch zum Opfer.“ Er zog einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und öffnete die Tür. „Ich warte hier draußen.“
Tasha nickte Bill zu und griff nach der Klinke.

Weiches Licht fiel in Streifen auf den Flur als Tasha die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte. Es roch trotz Desinfektionsmitteln nach abgestandener Luft. Staubkörnchen tanzten im Schein einer vergitterten Neonröhre.
Tasha drängte sich an die Wand, als Bill, dicht gefolgt vom Pfleger, das Zimmer betrat.

„Sie ist nicht ansprechbar“, sagte der Junge, nachdem er einem kurzen Blick auf die Frau geworfen hatte. Er ließ eine Kaugummiblase vor seinen Lippen zerplatzen und hob bedauernd die Schultern. „Sie dürfen aber gern Ihr Glück versuchen“, murmelte er schließlich und verließ das Zimmer. Die schwere Tür schnappte leise ins Schloss. Im gleichen Augenblick fühlte Tasha die Hoffnungslosigkeit von Jahrzehnten in diesem winzigen, fensterlosen Zimmer über sich hereinbrechen. Zerfurchte Wände erinnerten sie an Jims Verzweiflung und an sein Krankenzimmer, kurz nachdem der Zikadenschwarm Akatash befreit hatte.
Seufzend schloss sie für einen Moment die Augen. Auch ihr Weltbild hatte sich in den letzten Stunden radikal verändert. Und dieses Wissen würde ihr ein einsames Leben in einer solchen Zelle bescheren, sollte sie jemals mit der falschen Person über das Erlebte sprechen. Sie fragte sich, wie viele Schizophrene nie gelogen hatten. Möglicherweise berichteten die vermeintlich Irren von Dingen, vor denen Andere die Augen verschlossen. Vielleicht waren die Irren nicht krank, sondern sahen die Welt nur mit andern Augen – vielleicht entsprach ja ihre Wahrheit der Wirklichkeit.
Auf dem einzigen Bett kauerte Mia in der hintersten Ecke. Mit ihren dürren Ärmchen umklammerte sie ihre noch dürreren Beine, die sie verzweifelt an ihren Körper presste. Mias Haut war zerkratzt wie die Wände ihres trostlosen Domizils und umspannte einen Körper, der nur noch aus Knochen zu bestehen schien. Geweitete Pupillen flackerten nervös hinter staubig verfilztem Haar.
Bill schnaufte leise bei ihrem Anblick. Nicht nur Geister waren manchmal gequälte Seelen. Wüsste er nicht, dass auf der blanken Matratze vor ihm ein Mensch zitterte, hätte er seine Waffe gezogen.

„Mia“, flüsterte Tasha, als sie vorsichtig auf das Bett zuging und versuchte, nach den klammen Fingern zu greifen, die unablässig über Mias Schienbeine schabten. Die Frau zuckte zusammen, als jemand sie behutsam streichelte. Aber ihre zitternden Finger beruhigten sich in Tashas Hand. Die Ärztin hatte sich auf den Bettrand gesetzt und versuchte, einen Blick in das Gesicht der Patientin zu werfen. Tasha erkannte hinter dem ergrauten Haar eine Frau, die trotz ihrer schweren seelischen Krankheit die sanftmütigen Züge ihres früheren Lebens nicht gänzlich verloren hatte.

„Ich weiß, manche Erinnerungen sind schmerzlich“, flüsterte Tasha und sammelte mit einem tiefen Atemzug Mut. „Wahrscheinlich aber ist es noch viel schmerzlicher, darüber zu reden.“ Sie machte eine Pause und beobachtete die Frau. „Mia, Sie sind der einzige Mensch, der damals überlebt hat.“
Mia hielt den Kopf gesenkt. Sie atmete leise und schien in Gedanken an einem anderen Ort zu sein.
Tasha senkte die Stimme. Ihre Finger umschlossen mit sanftem Druck das feuchtkalte Handgelenk. „Wir brauchen Ihre Hilfe“, flüsterte sie.

Mia begann mit dem Oberkörper zu wippen. Über ihre Lippen summte With a Little Help from My Friends ein Lied der Beatles, welches Joe Cocker zum Woodstock-Festival gesungen hatte. Aber das wusste Tasha nicht.
Ratlos sah Bill Tasha an, nachdem er eine zerrissene Zeichnung unter dem Bett aufgehoben hatte. Er hielt beide Hälften aneinander. Tasha war erstaunt. Mia hatte Jim`s Gesicht skizziert – und das Blatt in zwei Hälften zerrissen.
„Sagte der Pfleger nicht, sie hat alle ihre Arbeiten zerstört“, flüsterte Bill.
Tasha nickte. Sie betrachtete das Bild. Es war ein wahres Kunstwerk. Jeder Bleistiftstrich saß und schien der Zeichnung Leben einzuhauchen. „Ich wette, die anderen Skizzen sind auch Abbildungen von Jim“, flüsterte sie.
Langsam hob Mia den Kopf. Ihre Augen, glasig von Beruhigungsmitteln und Tränen blinzelten gegen das grelle Licht der Neonröhre auf ihre Zeichnung in Bills Hand. Sie schüttelte leicht den Kopf und summte weiter:

What would you think if I sang out of tune,
Would you stand up and walk out on me.
Lend me your ears and I'll sing you a song,
And I'll try not to sing out of key

Tasha hörte den Text des Liedes – kaum verständlich, ängstlich und unsicher. Sie sah beschwörend in Mias Augen. „Mia, ein Freund von uns ist verschwunden. Bitte …“
Bill kramte in seiner Hosentasche. Er holte die Brieftasche hervor und suchte darin fieberhaft. Endlich reichte er Tasha eine Fotografie. Sie wirkte alt und abgenutzt. Obwohl sie sich erst seit wenigen Jahren in seinem Besitz befand, waren die Kanten eingerissen und unzählige Fingerabdrücke ließen die lachenden Gesichter darauf verblassen.
Verwundert ergriff Tasha das Foto. Dann lächelte sie bitter. Jim und Ron waren darauf jünger. Aber es waren nur wenige Jahre, wie ihr das handgekritzelte Datum auf der Rückseite verriet. Sie erschrak zutiefst darüber, dass sich in dieser kurzen Zeit so viel Schmerz in ihre Gesichter gebrannt hatte.
Fragend sah sie auf den Alten. Nach kurzem Zögern beugte sie sich zu Mia hinüber, zeigte ihr das Foto und tippte auf den lächelnden Studenten: „Jim – ist verschwunden. Wir müssen ihn finden. Bitte Mia, es geschehen schreckliche Dinge.“

Mia`s Summen verstummte, als sie auf das Bild sah. Dann hob sie langsam den Kopf: „Jim ist sein Name?“
Erstaunen bebte in ihrer Stimme. Aber sie war nicht zu vergleichen mit dem Erstaunen der beiden Besucher, als Mia diese Frage stellte.
Bill hielt den Atem an, während Tasha weiter flüsterte: „Mia, Jim hat überlebt, wie Sie. Wir wissen nicht warum. Aber etwas Böses hat von ihm …“

„Besitz ergriffen?“, hauchte Mia.

Tasha nickte heftig. Sie traute ihren Ohren kaum. Mias Worte flatterten ihr entgegen wie ein taumelnder Schmetterling in der kühlen Frühlingssonne. Noch starr vor Kälte, aber entschlossen zu fliegen.
Mias Finger glitt behutsam über das vergilbte Papier. “Seine Augen“, flüsterte sie und sah kurz zu Bill. „So warm!“ Sie schloss ihre müden Lider und murmelte: „Alle werden sterben - Alle!“

Tasha berührte ihre Schulter: „Mia! Was ist damals auf der Shire Farm passiert?“ Mia wich zurück und sah an die Zimmerdecke. „Ihr könnt ihn nicht aufhalten.“ Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel. „Es ist meine Schuld. Ich habe ihn gerufen!“

„Wen“, wollte Tasha wissen.

Mia überflog ihr Gesicht. Dann neigte sie den Kopf. „Den Anderen“, hauchte sie. „Aber er hat nicht nur den bösen Mann bestraft. Er hat einfach alle getötet.“ Mia schluckte. „Ich, ich wollte das nicht, aber ich hatte solche Angst. Dieser Mann … er hieß …“

„Aiden?“, fragte Tasha.

Mia nickte. „Er hat uns betäubt.“ Starkes Zittern erfasste ihren gesamten Leib. Ängstliche Blicke zuckten auf Bill und dann auf Tasha. Ganz plötzlich kamen ihre Tränen. Es dauerte eine Sekunde, bis sich Mias Augen gefüllt hatten und große Tropfen über ihre Wangen kullerten, um schließlich auf ihren nackten Oberschenkeln zu zerplatzen. Sie ließ ihren Kopf nach vorne fallen, so dass ihr Haar wieder ihr Gesicht verdeckte. „Er hat sie … oh … Gott … Emily – sie war doch meine Freundin. Er war brutal. Als ich zu mir kam, sah ich sie liegen. Ihre Hände waren über ihrem Kopf gefesselt. Ihr Körper war mit Flecken übersät.“ Mia sah Tasha mit klaren Augen an. „Die meisten waren Hämatome und andere wohl Brandflecken oder Bisswunden.“ Ihre Lippen zitterten. „Dieser perverse …“, presste sie hervor. Als sie aufsteigenden Zorn spürte, begann sie erneut zu pendeln. „Ich darf nicht …“, keuchte sie, „nicht wütend werden.“ Mit wiegenden Bewegungen versuchte sie, sich zu beruhigen. Er gelang ihr. Aber ihre Worte sollten Tasha aus der Fassung reißen. Mit stockendem Atem hörte sie, was Mia berichtete.
„Zwischen ihren gespreizten Beinen breitete sich ein Blutfleck aus. Blut klebte auch an ihren Schenkeln. Emily wimmerte leise.“ Mia riss den Kopf in die Höhe. Ihre Augen heftenden sich gequält auf die summende Neonlampe. „Er war … ein Tier.“ Tasha erschauerte so heftig, dass sie glaubte, das Metallbett, auf dem sie saß, klappern zu hören. Spontan riss sie Mia in ihre Arme. „Sch … sch …!“ Jetzt füllten sich auch ihre Augen. „Mia. Ich weiß … er ist … ein … hechelnder … Hund.“ Für einige Minuten presste sie Mia so fest an sich, dass Bill befürchtete, Mias magerer Körper würde zerbrechen. „Du konntest es nicht verhindern, du konntest sie nicht retten“ flüsterte Tasha und würgte die ätzende Übelkeit zurück in ihren Magen, aus dem sie immer wieder empor kriechen wollte. Ihre Wangen glänzen nass, als sie behutsam eine Haarsträhne aus Mias Stirn strich. Nachdem sie ihre Umarmung gelöst hatte, sprach Mia leise weiter. Sie schien gefasster zu sein. „Ich hatte nicht viel Tee getrunken. Er ahnte nicht, dass ich noch etwas wahrnahm. Ich sah all die zuckenden Leiber am Boden liegen. Sie erbrachen sich und stöhnten gequält. Aiden spazierte zwischen ihnen herum. Er trug nichts weiter als ein Pentagramm auf seiner Brust. Gelegentlich stieß er mit den Füßen nach ihren fiebernden Körpern um zu sehen, ob sie bei Bewusstsein waren. Als er auf mich zukam, war er immer noch erregt. Er hatte völlig die Kontrolle über sich verloren. Emilys Blut klebte an seinem … erigierten Geschlecht. Ich schloss die Augen - habe gebetet und gebettelt. Niemals im Leben habe ich solche Angst und gleichzeitig solch einen Hass verspürt.“ Mias Augen verfinsterten sich, als sie mit kalter Stimme zugab: „Ich habe mir gewünscht, dass ihm das Gleiche widerfährt. Ich wollte, dass er blutet wie Emily!“ Wieder neigte sie den Kopf. Ihre Stimme wurde leise. „Heute weiß ich, dass es ein Fehler war. Aber der Hass war so überwältigend. Und plötzlich war er da!“

„Wer“, fragte Tasha und wischte sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel.

„Der Seelenbrecher“, antworte Mia schluchzend.

Bills und Tashas Augen trafen sich.
Mia hielt sich die Hände vors Gesicht. „Er hat mein Rufen erhört – aber ich konnte ihn nicht kontrollieren. Er machte keinen Unterschied zwischen Recht und Unrecht - er zerstörte einfach jeden Körper, wie ein Raubtier. Ich glaube, es war mein Hass, der ihn beflügelte …“ Langsam sanken ihre Arme und sie sah hilfesuchend zu Tasha. „Ich weiß, er ist nie wieder gegangen. Und ich habe nicht über ihn geredet, aus Angst, er bricht hervor, nur weil ich an ihn denke.“
Mias Brauen hoben sich: „Er hat mich verschont, weil ich ihn gerufen hatte und er flüstert mir Nacht für Nacht zu, dass er eines Tages eine Seele finden wird, die noch viel größere Angst vor dem eigenen Hass hat, als ich.“ Mia machte eine lange Pause, bevor sie sagte: „Ich habe ihn all die Jahre gespürt – bis heute Nacht, als die Zikaden schwärmten.“

Bill forderte Tasha auf, zu ihm zu kommen. Er sprach so leise es möglich war. „Sie ist das Medium.“
Tasha zweifelte: „Aber sie weiß nicht einmal, wie es geschehen konnte. So eine Beschwörung macht sich doch nicht von allein!“
Bill hob die Schultern. „Eine Verkettung unglücklicher Zufälle. Es wäre nicht das erste Mal, dass machtgierige Menschen Wissenschaft und Okkultismus mischen. Ein paar Kräuter hier und ein paar Drogen da. Das richtige Amulett und ein zufällig echter Spruch … schon erzittert das Tor zur Hölle. Aiden sagte doch diesmal ist die Zielperson dabei“. Der Alte schnaufte: „Ich bin mir sicher, dass Mia nicht zufällig da war. Nur hat Aiden nicht geahnt, wie stark Mias mentale Fähigkeiten wirklich sind. Wahrscheinlich wusste sie es nicht einmal selbst.“
„Ich kann nicht glauben, dass vernunftbegabte Menschen so verrückt sein können und diesen …“, Tasha verstummte, als sie bemerkte, was sie gerade sagen wollte.
„… und diesen Quatsch glauben?“ Beendete Bill ihren Satz und lächelte bitter, als Tasha errötend den Kopf neigte.
„Jeder weiß, dass auch Hitler eine Leidenschaft für Okkultismus hatte. Er war geradezu besessen von der germanischen Mystik und beschäftige einen ganzen Stab Religionsforscher mit der Aufgabe, okkultes Wissen zu sammeln und auf seine Wirksamkeit zu prüfen.“ Bill schnaufte: „Hört sich irre an – ist aber wahr.“

„Klasse …“ murmelte Tasha kopfschüttelnd. „Da sind wir schon einmal an der Apokalypse vorbeigeschliddert. Aber was machen wir jetzt? Sie kennt nicht mal seinen Namen – nennt ihn Seelenbrecher.“ Verzweifelt schüttelte Tasha ihren Kopf.

Bill räusperte sich: „Aber Jims Halluzinationen ergeben langsam Sinn. Er hat sowohl durch Mias als auch durch Aidens Augen gesehen.“

„Aber warum“, wollte Tasha wissen.

„Was zerbrochen wurde, muss zusammengefügt werden“, flüsterte Mia. Sie sah ihre verdutzten Besucher mit wacher Miene an.“ Ihren Fingern entglitt die Fotografie der Barker-Brüder.

„Scheiße, was?“, platzte es aus Bill heraus. Dann betrachtete er stirnrunzelnd die zerrissene Zeichnung in seiner Hand. Er zog den Kopf in den Nacken. „Da draußen überschwemmt das Böse die Stadt Bethel und wir führen hier eine Bastelstunde ein?“

„Es wird sich über das ganze Land ausbreiten wie ein Virus“, flüsterte Mia und hob die Fotografie vom Bettlaken, um sie Bill entgegenzustrecken. „Ich kann ihn rufen …“

Tasha wirbelte herum. Ungläubig sah sie auf Mia.
Die Frau nickte. „Wenn Akatash, wie ihr ihn nennt, Jim nicht töten konnte, hat er ihn zerrissen wie ein Blatt.“ Mia winkte Bill an ihr Bett. Sie wollte ihre Zeichnung wieder haben. Zögernd überließ er ihr das Papier und beobachtete, wie Mia mit zitternden Händen die Blätter aneinander legte. „Er muss wieder Eins werden.“

„Das Buch Avesta“, keuchte Bill plötzlich auf. „Der gute Geist und der böse Geist sind nur sinnbildlich Zwillinge, durch deren Zusammenwirken die Welt besteht. Aber damit das Gute über das Böse siegt, muss der Mensch sich entscheiden …“

Tasha nickte: „Auch die Wissenschaft hat Recht: Der Doppelgängers oder Zwilling ist eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs.“ Mit Herzflimmern sah sie Bill an. „Aber das kann nur bedeuten, dass Jim nicht aufgegeben hat, denn dann wäre er in dem Motel gestorben. Er wollte seinen bösen Anteil bekämpfen. Darum sah er in seinem Spiegelbild eine Bedrohung.“

„Verdammt, Tasha, was reden Sie denn da?“ stieß Bill hervor. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Soll Jim etwa gegen sich selbst kämpfen? Meine Güte … wie soll das gehen?“

„Darüber machen wir uns Gedanken wenn wir Jim gefunden haben“, stellte Tasha fest. Sie sah Mia an. „Mia, wo ist Jim? … Und was meinen Sie damit, sie können ihn rufen?“


*** Genesis ***

Undurchdringliche Dunkelheit war gewesen, bevor sein Körper mit Schmerzen überschwemmt wurde. Seine Erinnerungen flatterten hilflos wie ein Blatt im Wind und formten nur einen einzigen Wunsch: „Hört auf! Bitte hört auf!“ Er wollte nicht ins Leben zurückgerissen werden.

„Atmen Sie! Um Himmelswillen, atmen Sie doch“, schrie eine Stimme. Trotz seines Widerwillens pressten sich fremde Lippen auf Seine. Wind blies in seinen Mund, blähte seine Wangen auf. Er wollte die Luft ungenutzt entweichen lassen, aber fremde Finger drückten ihm die Nase zu. Sein Brustkorb wölbte sich. Untrügliches Wissen, dass er nicht im Stande war, zu atmen, hatte ihn getröstet. Es sollte so bleiben.
Als sich seine Brust wieder entspannt hatte, knirschten seine Rippen, die ihn nun rhythmisch erbeben ließen. „Eins, zwei, drei, vier, fünf … Atmen Sie … bitte!“ Fremde Hände stemmten sich unerbittlich gegen sein Brustbein.

„Mein Herz!“ Ihn überkam Panik: „Hört auf! Bitte hört doch auf!“ Aber sein treuloses Herz verbündete sich mit den fremden Händen und ein Schlag erdröhnte: Baboom
„NEIN - Bleib stehen!“ Seine Schmerzen summten intensiver hinter aufsteigender Angst. Die Stille wurde zerrissen vom Takt eines kräftigen Muskels, der in seiner Brust ansprang wie ein Motor, um ihm das Blut wieder durch die Adern zu zwingen. Baboom, Baboom, Baboom
Lippen stülpten sich erneut über seinen Mund. Feuchter Atem preschte seinen Hals hinab und füllte seine Lunge. Als die Lippen diesmal verschwanden, ließ sein Körper den Atem nicht nur entweichen, sondern stieß ihn aktiv aus, um gierig nach Luft zu schnappen.
Er wollte schreien: „NEIN!“ Doch seine Stimme ertrank im Wasser, das durch seine Kehle gurgelte. Tränen zwängten sich durch dunkle Wimpern: „Lasst mich doch gehen!“

„Gott sei Dank, er lebt“, hörte er wie durch einen Nebel. Niemals zuvor hatten ihm Worte mehr Angst eingejagt. Er blinzelte gegen das Licht einer Neonlampe. Schatten über ihm bekamen Gesichter und ließen Erinnerungen hinter seiner Stirn wüten, vor denen er geflohen war.
Er konnte bestimmt eine Menge Schmerzen ertragen – aber es war genug.

*** *** ***

Eine Stunde zuvor …
„Es war mein Zorn, der ihn erschuf“, flüsterte Mia. „Und mein Gewissen hat ihn entzweit.“ Sie hob das Gesicht. Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln, als sie die Lider schloss und murmelte „Ihr müsst euch beeilen, denn wenn ich ihn gerufen habe, bleibt nicht viel Zeit.“ Das Wippen ihres Körpers hatte sie eingestellt und ihre Finger umklammerten fest die Zeichnung. Trotz der unerträglichen Hitze im Zimmer zitterte sie.

Tashas Stimme überschlug sich, als sie nach Mia griff: „Wo finden wir Jim?“

„Hinter einem Bollwerk, das Licht reflektiert“, antwortete sie. „Sucht nach dem Element in dem alles Leben beginnt. Im Zentrum, wo weder Gut noch Böse existieren, beginnt die Schöpfung. Dort werdet ihr ihn finden“, hauchte sie und sah mit glasigen Augen durch ihre Besucher hindurch. Fliegender Atem sprudelte wie winzige Tröpfchen über ihre Lippen.

Tasha rüttelte an ihrer Schulter und fauchte gleichzeitig den alten Jäger an, als Mia zur Seite kippte: „Hilf mir, Bill!“

Mias ausgemergelter Körper zog sich auf der Matratze zusammen. „Findet ihn … bitte!“, keuchte sie, denn schon spürte sie die Gegenwart der zwei Seelen, die unterschiedlicher nicht sein konnten und sie erkannte: Es war das letzte Mal. Es ist nicht leicht – so viele Jahre zu schweigen, dachte Mia. Ein Lächeln zuckte über ihre Lippen: Endlich war sie frei.

Die Leuchtstoffröhre flackerte.
Tasha bemerkte, dass ihr Top schweißnass war und ihre Migräne zurückkehrte. Sie zuckte zusammen, als ein Schrei wie ein Bolzen durch ihren Kopf schoss. Die Tür flog auf und der Pfleger stolperte herein. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine kobaltblauen Augen pechschwarz, ihn ihnen blitzte die zügelloseste Wut, die Tasha jemals gesehen hatte. Er interessierte sich nicht für Tasha oder Bill, sondern taumelte an ihnen vorbei auf Mia zu: „Du Schlampe…!“ Speichel stieß bei jedem Wort über seine Lippen. „Warum wendest du dich nach so vielen Jahren gegen mich? Warum verführst du mich mit der Aussicht auf Leben, verweigerst mir gleichzeitig das Fleisch, um es auszukosten? Hat dich etwa der Mut verlassen?“ Unter der dünnen Haut seiner Schläfen pulsierten Zornesadern, als er weiter schrie: „Ich werde dich Stücke reißen, du heuchlerisches Weib.“

Mia hob ihre schweren Lider - nur ein wenig, denn sie brauchte ihre Kraft für den Anderen. Die Arme hatte sie fest um ihren Körper geschlungen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zischte sie zurück. „Nicht der Mut hat mich verlassen, sondern die Angst, du Dummkopf.“

Der Junge riss seinen Kopf in den Nacken und taumelte, einen Schrei ausstoßend, mit dem Rücken gegen die Wand. Stöhnend ging er zu Boden. Jeder Atemzug schien ihm einen Fetzen aus seiner Seele zu reißen.
Im gleichen Augenblick ertönte ein Scheppern auf dem Flur, dem ein metallisches Klingeln folgte. Offenbar wurde ein Tisch umgestoßen. Scheiben zerbarsten und Schritte polterten an der Zellentür vorbei. Es folgten schnelle Schatten und Schreie im Nebenzimmer.
Jedoch nicht der Wahnsinn, der ihnen so schnell gefolgt war, ängstigte Tasha, sondern dieses leise Raspeln. Sie hatte es vor wenigen Stunden das erste Mal gehört, als die Zikaden Akatash befreiten. Aber hier wirkte das Geräusch fremdartig. Es klang falsch – fast wie eingesperrt.

„Verdammt! Das ging aber schnell“, fluchte Bill. Mit einem beherzten Satz war er an der Tür und zog sie zu. Keine Sekunde zu spät, wie er feststellte. Ein blutüberströmtes Gesicht tauchte hinter dem vergitterten Fenster auf. Ihm folgte ein Zweites und ein Drittes. Unter diabolischen Augen verzogen sich ihre Lippen zu hämischem Grinsen. Schon zerrte jemand an der Klinke. Die Tür ruckte und rumpelte in den Händen des alten Jägers, begleitet von schallendem Gelächter.
Plötzlich wurde es still. Bill lauschte einige Sekunden atemlos. „Tasha, wir müssen hier weg“, keuchte er und drehte sich um, „Tasha!“

Sie stand wie erstarrt und beobachtete den Pfleger. Irgendetwas veränderte sich an ihm. Fast schien es so, als ob sie es ahnen konnte, doch sie wusste ja nicht einmal, wer oder was sich vor ihr so am Boden quälte. Dunkle Beulen wirbelten unter der Haut auf seinem Gesicht und an seinem Hals. Er röchelte verzweifelt, schien kaum atmen zu können und flehte Tasha mit angstgeweiteten Augen an. Gerade als sie sich zu ihm hinunter beugen wollte, begann er zu Würgen.
Ein Schwall Zikaden ergoss sich aus seiner Kehle auf den Boden und stieb auseinander. Einige der Insekten schwirrten orientierungslos gegen die Leuchtstoffröhre. Aber der größte Teil von ihnen verschwand, einem unsichtbaren Ruf folgend, durch den Belüftungsschacht.
Krächzend schlug der Junge um sich, warf sich auf den Rücken und wieder auf den Bauch. Immer mehr Krabbeltiere wimmelten über seine Lippen, zwängten sich aus seinen Ohren und seiner Nase. Sogar unter den Lidern krochen sie hervor um über seine Wangen zu kullern und wie reife Nüsse zu Boden zu fallen.

„Tasha, wir müssen hier weg“, drängte Bill.

„Aber …“, entsetzt begegnete sie dem Blick des Jägers, „was wird aus ihnen?“

Bill sah auf Mia, dann auf den Pfleger. „Vergiss sie, es ist vorbei“, stieß er hervor und packte Tasha am Arm.

Tasha schüttelte den Kopf: „Wir können doch nicht …!“

„Tasha – Haben Sie es vergessen?“ Speichel stieß ihr ins Gesicht als Bill sie anschrie. „Wir müssen Jim finden!“

Tasha war fassungslos. Alles in ihr rebellierte. Sie hatte als Ärztin den Eid geschworen, zu helfen. Hin und hergerissen hetzten ihre Blicke über die krampfenden Körper. Jetzt begann der Junge zu kreischen. Er versuchte aufzustehen und stürzte wieder zu Boden. Seine Beine zuckten spastisch, wie bei einem erlegten Tier. Unzählige Zikaden in seiner Kehle verwandelten seine Hilferufe in trockenes Knarzen. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen.
Als er verstummte, zerriss sein Shirt. Sein Brustkorb sprang auf, wie ein Schnappmesser. Gleich zersplitterter Baumstämme nach einer Feuersbrunst, ragten seine Rippen in den Raum und entblößten einen pulsierenden Abgrund, aus dem sich die Eingeweide des Jungen auf den Boden ergossen. Ein schwarzes Meer erhob sich. Zikaden breiteten ihre Flügel aus und schüttelten sich die Reste ihres Mahls von den Leibern.

***

„Wo sind die nur alle hin?“, flüsterte Tasha und drängte sich dicht an Bills Körper. Sie war erstaunt über das Tempo, das dieser alte Jäger vorlegen konnte.

„Keine Ahnung“, schnaufte Bill. Er hatte seinen Lauf durch den endlosen Korridor gestoppt, um die Kammer hinter einer angelehnten Tür zu inspizieren. „Ist mir auch egal – Hauptsache, sie sind nicht hier“, bemerkte er, packte Tasha am Arm und zerrte sie in das winzige Zimmer. Dann schlug er die Tür zu. Schnaufend lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand.
Tasha beugte sich nach vorn. Mit ihren Händen stützte sie sich auf den Oberschenkeln ab und atmete durch. Sie stellte keine Fragen über die aufgebrochen Körper in den verwaisten Zimmern. „Ein Bollwerk, welches das Licht reflektiert“, überlegte sie laut.

„Verdammt, Tasha“, keuchte Bill immer noch atemlos. „Was hat die Irre nur für verrücktes Zeug erzählt. Wo sollen wir denn noch suchen?“ Als ihn Tasha ansah, zog ein Hauch Wärme über sein Gesicht. Er runzelte besorgt die Stirn. Vor ihm stand eine junge Frau, die gerade erkannt hatte, dass die Fundamente ihres Lebens auf Lügen erbaut waren. Innerhalb weniger Stunden wurde sie mit einer Wahrheit konfrontiert, vor der die meisten Menschen ihre Augen verschlossen. Aber trotz schlotternder Knie und purer Angst in den Pupillen blieb sie an seiner Seite. Bill schnaufte: Welcher verhängnisvolle Antrieb war es - und warum gab es Menschen, die nicht wegliefen? „Geht es Ihnen gut?“, fragte er leise.

Die Platzwunde auf ihrer Lippe war getrocknet. Irgendwann während der Flucht durch das Labyrinth endloser Gänge hatte sie ihre Haarspange verloren und schulterlanges Haar umringte nun in wirren Strähnen ihr Gesicht. Tashas Atmung beruhigte sich nur langsam und Adrenalin ließ fiebrige Flecken auf ihren Wangen schimmern. „Gut“, presste sie hervor und versuchte zu Lächeln.

„Sie müssen das nicht tun“, murmelte Bill und strich ihr väterlich eine Strähne von der Stirn.

Mit funkelnden Augen sah ihn Tasha an. „Ich lass mir keinen Patienten abspenstig machen.“ Kurz holte sie Luft und fügte knurrend hinzu: „Schon gar nicht von so einem scheißverdammten …“, noch immer bereitete ihr das Wort Schwierigkeiten. „…Dämon!“

Bill lachte: „Dr. Horn, Sie fluchen ja schon so perfekt wie ein echter Jäger!“

Ein Grinsen zuckte um Tashas Lippen, als sie ihre Hände in die Hüften stemmte und den Alten mit angriffslustiger Miene fragte: „Wie sieht es aus? Suchen wir weiter?“

„Klar doch“, keuchte Bill gequält und zog seinen Kopf in den Nacken. Dann drückte er die Türklinke vorsichtig nach unten.

***

„Wo sind wir hier“, fragte Bill, als sie eine Halle im Kellergeschoss des Gebäudes betraten. Sonnenlicht fiel in Streifen durch vergitterte Fensterschächte und wurde von der Wasseroberfläche eines kleinen Schwimmbeckens in den Raum gestreut. Medizinbälle lagen zusammen mit Hula-Hoop Reifen und bunten Plastikbändern auf verschiedenen Turnmatten.

„Ein Therapie- und Gymnastikraum“, flüsterte Tasha, während sie an der Wand entlangschlich und einen prüfenden Blick in einen der angrenzenden Duschräume warf. Obwohl sie sehr leise sprach, hallte ihr Echo von den Wänden wider.
Bill war vor einem der zahlreichen Spiegel stehen geblieben und betrachtete sich. „Warum die Spiegel“, wollte er wissen. Tasha ging auf ihn zu. „Auf diese Weise können sich die Patienten beobachten und ihre eigenen Verhaltensweisen und Bewegungsabläufe studieren“, erklärte sie.

„Hilft das bei der Selbstfindung?“ Skeptisch sah er Tasha an.

„Manchmal schon“, erwiderte sie.

„Tasha …!“ Plötzlich weiteten sich Bills Augen. „Ein Bollwerk, das Licht reflektiert …!“ Er sah sich um. Licht reflektierte hier überall: Auf dem weiß gefliesten Boden, in den riesigen Spiegeln und auf der Wasseroberfläche des Beckens. Selbst auf der polierten Oberfläche der Aluminiumschächte vor den Fenstern brachen sich die Sonnenstrahlen.

„Das muss es sein“, flüsterte Tasha und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

„Was ist in diesen Räumen?“ Bill nickte auf einige geschlossene Türen zu ihrer Rechten.

„Keine Ahnung. Bäder, Massageräume – eine Sauna vielleicht?“ Tasha hob ihre Schultern. „Lass es uns herausfinden!“

Sie hat Recht, stellte Bill fest nachdem er die Tür geöffnet hatte und den Massageraum betrat. In einer Reihe aufgestellte Liegen und das nüchterne Ambiente erinnerten ihn an ein Leichenschauhaus. Für eine Sekunde suchte er irritiert nach den Kühlschränken.
Tashas spitzer Schrei ließ ihn zusammenzucken. Bill stürmte aus dem Zimmer und wurde beinahe von ihr umgerannt. Mit nassen Wangen fiel sie in seine Arme. „Es ist zu spät … es ist zu spät – er ist tot!“ Bill verstand ihre Worte nicht. „Tasha?“, fragte er leise.

Sie sah ihn an, schluckte bitter und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann ergriff sie seinen Arm und führte ihn in den benachbarten Raum. Es war ein Schlaflabor. Neben einigen Patientenbetten, an deren Seite sich EKG- und CPAP-Geräte befanden, thronte in der Mitte des Labors auf einem Sockel ein gläserner Wassertank für Hypnotherapie. Auf dem Kontrollpult vor ihm blinkten einige Dioden in grün und rot.
Ein ungutes Gefühl überkam den alten Jäger. Nur widerwillig löste sich sein Blick von der flackernden Anzeige um sich auf den Inhalt des Tanks zu konzentrieren. Bill spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Sein Herz verkrampfte, als er in der klaren Flüssigkeit einen Körper schweben sah.
Tasha brach wieder in Tränen aus und presste ihre Stirn gegen Bills Brust: „Er zerfällt – wir sind zu spät“, schluchzte sie und schüttelte ununterbrochen den Kopf.

„Oh, mein Gott“, entfuhr es dem alten Jäger. Fassungslos starrte er auf die Überreste eines Menschen. Seine enorme Größe und das fast vollständig freigelegte Skelett ließen auf einen Mann schließen. Bills Augen füllten sich mit Tränen. „Es tut mir so leid“, stotterte er mit zerbrechender Stimme. Er zitterte, wie er niemals zuvor gezittert hatte: So sah es also aus – das grausame Ende eines Jägers! Verzweifelt schlug Bill die Hände vors Gesicht. „Es tut mir so leid … Jimmy!“

Wie lange sie gestanden hatten, konnte Bill nicht einschätzen. Auch nicht, ob er nun Tasha festgehalten oder selbst Halt gesucht hatte. Es war ihm unmöglich, den schrecklichen Anblick zu ertragen und so verschloss er, wie auch Tasha, die Augen davor. „Wir sollten gehen, Dr. Horn“, flüsterte er in ihr Ohr. Noch einmal zwang er seinen Blick auf den Tank, um sich von Jim Barker zu verabschieden.
Sein Herz stockte …
„Tasha …“, stieß es über seine Lippen. „Sehen Sie!“ Er rüttelte an ihrer Schulter. Aber Tasha wollte Bills Aufforderung nicht folgen. Sie presste ihr Gesicht noch fester gegen seine Brust. Nie wieder wollte sie dieses Bild sehen müssen.
„Tasha, sehen Sie nur“, Bills Stimme bebte. Sein Herz stolperte ihm fast aus der Kehle: „Wir liegen völlig falsch! Er zerfällt nicht! … Er entsteht!“

Tashas Schluchzen verstummte abrupt. Ungläubig öffnete sie die Augen und blinzelte gegen das reflektierende Glas. Und tatsächlich: Über den blanken Knochen hatten sich Muskeln gebildet. Wie von Geisterhand geführt, zeichnete ein unsichtbarer Stift Arterien und Venen. Sie wuchsen von seinen Gliedmaßen aus zur Körpermitte und verzweigten sich zu unzähligen lebenspendenden Flüssen, die wie ein feines Netz sein Fleisch durchzogen. Blaugraue, sanfte Augen lagen in lidlosen Höhlen.
Tasha taumelte auf den Tank zu. Überwältigt presste sie ihre Hände gegen das Glas. Es strahlte Wärme aus. „Finde das Element, in dem jedes Leben entsteht“, flüsterte sie.
Langsam begann sich der Körper im Wasser zu bewegen, als würde er seine Funktionstüchtigkeit testen. Zunächst war es nur ein Zittern. Dann spannte sich hier und da ein Muskel an und seine Hände formten Fäuste. Neue Haut breitete sich aus, wie Eisblumen auf einer Fensterscheibe.
Tasha brachte bei diesem Anblick kein Wort heraus. Wer auch immer dieses Werk vollbrachte – er war ein Künstler. Vor ihren aufgerissenen Augen entstand auf dem Reißbrett der Evolution ein Mensch.
Als Haut seinen Körper komplett umschlossen hatte, schlug sein rechter Arm aus und seine Hand berührte das Glas.
„Bill“, hauchte Tasha. Sie zeigte auf die Handfläche. Nicht eine einzige Furche durchzog das zarte Gewebe.
Bill nickte lächelnd: „Keine Fingerabrücke. – Noch nicht“, stellte er fest.

Tasha fuhr zusammen. „Was,- wenn es der Andere ist?“

Der Alte legte beruhigend seine Hand auf ihre Schulter. „Nein, es ist Jim. Sieh hin, Tasha!“
Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie sich eine mächtige Narbe auf seinem rechten Brustmuskel bildete und atmete erleichtert aus. „Bill“, fragte sie, ohne ihre Augen abwenden zu können. „Wer hat ihm das angetan?“

Bill schnaufte. Eine Träne glitzerte in seinem Augenwinkel, als er antwortete. „Es war ein Werwolf, ein sogenannter Stüpp - letzten Sommer.“

„Mein Gott“, hauchte Tasha gegen die Scheibe, als in atemberaubender Geschwindigkeit seine Körperbehaarung wuchs. Schmale Brauen bildeten sich über Augen, die mittlerweile von geschlossen Lidern vor dem Licht geschützt wurden. Die dunklen Wimpern an ihnen flimmerten leicht, als würde er träumen. Braunes Haar wallte, vom Wasser getragen, in langen Strähnen um sein Gesicht. Eine hauchdünne Linie Schamhaar wanderte in Richtung seines Bauchnabels und einige Härchen kringelten sich auf seiner Brust. Seine Lippen zuckten.

„Verdammt, Mia hatte recht“, raunte Bill, „das hier ist die Schöpfung!“

„Das ist ein Wunder“, antwortete Tasha ganz leise, als hätte sie Angst, ihn zu wecken. Federleicht schwebte er im salzigen Wasser und alles, was sie sah, war ein Körper, der einem Engel gehören mochte – oder dem attraktivsten Teufel, den die Hölle jemals hervorgebracht hatte. „Er ist wunderschön“, hauchte Tasha mit zitternder Stimme und presste fasziniert ihre Stirn gegen das Glas.

Bills Brauen schoben sich grübelnd zusammen. Er zog den Kopf etwas zurück und räusperte sich: „Frau Doktor! Ich muss doch bitten. Wo gucken Sie denn hin?“

Bills Grinsen verschwand, als Jim plötzlich seinen Kopf in den Nacken zog und den Mund öffnete. Sein Brustkorb weitete sich. Aber statt Sauerstoff überflutete Wasser seine Lunge. Sein Körper zuckte, seine Augen rollten und er begann sich zu winden. Wild ruderte er mit seinen Armen. Immer mehr Luftbläschen glitten über seine Lippen, als er mit aufgerissenen Augen nach außen starrte.

„Um Himmelswillen!“, schrie Tasha auf, „Er ertrinkt!“ Mit den Handflächen schlug sie gegen das Glas. „Wir müssen ihn da herausholen!“

Bill umkreiste schon den Tank auf der Suche nach dem Schloss. „Verdammt – ich kann dieses Ding nicht öffnen“, keuchte er und sah sich verzweifelt um.

„Jetzt beeilen Sie sich doch“, flehte Tasha. Mit angstgeweiteten Augen wurde sie Zeuge des Todeskampfes ihres Engels. „Um Himmelswillen, unternehmen sie doch was!“

Kopflos krempelte der Alte das Labor um, auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem er die Scheibe einschlagen konnte. Tasha hatte mittlerweile den nächstbesten Stuhl ergriffen und hämmerte mit aller Kraft auf das Glas ein. „Es ist Sicherheitsglas“, schrie sie.

„Gehen Sie zur Seite!“, fauchte Bill. Tasha drehte sich um und hechtete auf den Boden, als sie erkannte, dass der Alte mit einer Magnum auf den Tank zielte.
Die Schüsse donnerten ohrenbetäubend und knirschend bildeten sich Risse im Glas. Am Boden liegend beobachtete Tasha mit rasendem Herzen, wie Jims Bewegungen erschlafften. Sein Kopf sank nach hinten und sein Körper neigte sich um 45 Grad. Die Krämpfe hörten auf. „Bill … bitte“, wimmerte sie und hielt sich die Ohren zu, als der alte Jäger nachgeladen hatte und eine weitere Salve abfeuerte. Es knirschte. Die Risse fraßen sich wie Blitze durch das Glas und ließen es zersplittern. In den Raum stürzende Fluten rissen Bill von den Beinen und trieben Tasha einige Meter weiter an die nächste Wand. Vergraben unter einem Tisch und einigen Ordnern hob sie stöhnend den Kopf und konnte gerade noch erkennen, wie Jim aus dem Tank gespült wurde. Reglos blieb er zwischen den Scherben liegen.
In heller Aufruhr wühlte sich Tasha unter dem Tisch hervor und stolperte ihm entgegen. Fieberhaft suchte sie nach seinem Puls und schrie ihn an: „Atmen Sie! Um Himmelswillen, atmen Sie doch!“ Sie presste ihre Lippen auf seinen Mund, hielt seine Nase zu und stieß ihr gesamtes Luftvolumen aus. Ängstlich beobachtete sie seinen Brustkorb.
Bill war herangekommen und fiel neben ihr auf die Knie.
Tasha zitterte am ganzen Körper. Sie wischte sich hektisch eine Strähne aus der Stirn und begann mit der Herzdruckmassage. „Eins, zwei, drei, vier, fünf … Atmen Sie … bitte!“ Nachdem sie ihn eine Sekunde lang beobachtet hatte, presste sie abermals ihre Lippen auf seinen Mund. Jims Brustkorb wölbte sich, als sie ihm Atem spendete. Wieder wich sie zurück.
Mit einem Stoß trieb Jims Lunge das Wasser aus seinem Körper. Es schwappte über seine bleichen Lippen und er atmete reflexartig ein.

„Gott sei Dank, er lebt“, flüsterte Bill.

Erleichtert sah Tasha in Jims Gesicht. Sein nasses Haar klebte ihm auf der Stirn und Wasser perlte über seine Wangen … -
… dass sich Tränen darunter mischten, wusste nur Jim. Stöhnend öffnete er die Augen und blinzelte in das Licht einer Neonlampe …


*** Die Büchse der Pandora ***

Alles, was auf Jim einstürzte war beängstigend. Die Gesichter über ihm verschwammen immer noch im Schleier seiner Tränen und es roch nach Fleisch, Blut und Schweiß. Salz brannte auf seinen Lippen. Er wusste nicht, ob es der Gestank von Leben war, den er verabscheute, oder die bohrenden Blicke – aber ihm würde übel.
Er wollte wieder vergehen, doch brachte er es nicht über sein Herz das Atmen einzustellen. Eigentlich sollte es einem Körper leicht fallen nichts zu tun – dachte er. Trotzdem stieß lautes Keuchen über seine Lippen, als seine Lunge gierig die Luft einsog und ein unbekannter Instinkt ihm befahl, sich zu bewegen. Jim rollte sich zur Seite, zitterte vor Kälte und Anstrengung und würgte Salzwasser aus seinen Lungen. Als er sich endlich den Gesichtern zuwandte, schlug ihm das Herz bis zum Hals.
Bill war vor ihm in die Hocke gegangen. Behutsam strich er einige braune Strähnen aus seinem Gesicht. „Mein Junge“, flüsterte er, „du lebst!“
Bill bemerkte, wie sehr Jim fror und stützte seinen Kopf. Seine Brust hob mit jedem Atemzug einen winzigen See über seinem Brustbein an. Die Oberfläche vibrierte sanft und ließ hier und da einen Wassertropfen über seine Haut perlen.

„Tasha“, drängte Bill, „er friert.“ Sofort sah er sich im Labor um. Aber der Inhalt des Bassins hatte alles verwüstet. Also zog er seufzend seinen Arm unter Jims Nacken hervor und erhob sich, um nach einer Decke zu suchen. Er ließ Jim nur ungern allein.
Tasha hatte nun ihren Arm unter Jims Nacken gelegt. Sein nasses Haar kitzelte auf ihrer Haut. „Jim? Sind Sie es wirklich“, flüsterte sie, unfähig den Blick von seinen Augen abzuwenden. Tiefdunkle Pupillen sahen sie an. Sie flimmerten in glänzendem Blaugrau seiner Iriden. Fast schien es, als hätte Jim Angst vor ihr, denn er wich ihrer Hand aus, als sie seine Wange streicheln wollte. „Bitte, sagen Sie doch was“, flehte Tasha und seufzte leise. Eigentlich sollte sie ihn mit dem professionellen Blick eines Arztes ansehen, aber es fiel ihr unglaublich schwer. Es kribbelte in ihren Fingern. Wie eine Geliebte wollte sie ihn berühren, nicht wie eine Ärztin. Während er in ihren Armen lag, wurde ihr bewusst, dass böses Blut nicht zwangsläufig böse machen musste. Manchmal war es einfach nur besonders überwältigend.
Ein Räuspern riss sie aus ihrem Tagtraum. Bill stand mit einer Decke unter dem Arm hinter ihr.

*

Mit vereinten Kräften hatten es Tasha und Bill geschafft, Jim auf einen Stuhl zu setzen.
„Was ist nur mit ihm?“ fragte Tasha und betrachtete Jim. Er war vollkommen gesund und schien sich auch zu erinnern. Trotzdem wich er jedem Blick genauso beharrlich aus, wie er es vermied, zu sprechen. Mit verkrampften Händen zog er die Decke so fest um seinen Körper, als wollte er sich darin verstecken. Zwar schenkte er Bill gelegentlich einen kurzen Blick, der verriet, dass er die gesprochenen Worte verstand. Aber weder Zorn über ihre missliche Lage, noch Freude über seine Rettung war ihm anzusehen.
Widerstandlos hatte sich Jim in ein anderes Zimmer führen lassen und Tashas kurze Visitation erduldet. Die Verletzung über seinem Herzen war verheilt und eine abgetrennte Rippe schien er nie besessen zu haben. Nichts deutete auf seinen Selbstmordversuch hin. Nur die Narbe des Wolfes auf seinem rechten Brustmuskel war geblieben. Allerdings schien es Jim nicht zu interessieren, dass er in bester körperlicher Verfassung war. Wie ein geschlagener Hund hockte er auf seinem Stuhl.

Als Tasha Bill ansah, platzte es aus ihr heraus: „Meine Güte, Bill! Was fehlt ihm denn?“

Der Alte musste nicht lange überlegen: „Seine dunkle Seite“, antwortete er und zog den Kopf in den Nacken. „Jim fehlt die Fähigkeit, zu rebellieren, sich zur Wehr zu setzen, zu hassen. Ihm fehlt der nötige Biss, um Entscheidungen zu treffen, - kurz: Die Wut, um zu kämpfen.“ Schnaufend sprach er weiter. „Es ist, wie wir befürchtet haben, Tasha. Jims Seele wurde zerrissen und dieser Jim hier ist das Gegenstück von Akatash. Wir sollten froh darüber sein, dass er überhaupt den Mut besitzt, zu atmen.“

„Soll das heißen, wir werden ihn wieder verlieren?“ Tasha wusste nicht, ob sie entsetzt oder zornig sein sollte.
Bill nickte. Behutsam fasste er nach Jims Kinn und sah in sein Gesicht. Seine Augen hielten dem Blick nur mit größter Anstrengung stand. „In diesem Zustand wird er nicht leben, geschweige denn kämpfen können. Es wird Ron das Herz zerreißen, ihn so zu sehen“, murmelte Bill traurig.
Plötzlich zuckte Jim zusammen. Seine Lippen bebten, als er den Alten fragend ansah. „Ron …“, flüsterte er. Der Gedanke an seinen Bruder brachte das Blut in seinen Adern in Wallung. Er durfte ihn nicht diesem … nein – seinem Dämon überlassen.

Bill nickte. „Ja, dein Bruder wird gegen Akatash kämpfen.“

Jim schüttelte den Kopf und flüsterte: „Er wird sterben – er kann mein dunkles Ich nicht besiegen! Das kann niemand.“

„Aber wenn es niemand kann, dann hatte Frigg Recht“, widersprach Bill. „Deine dunkle Seite wird die Welt in Finsternis stoßen – es war alles umsonst, Jim. All deine Opfer, deine Qualen … dein ganzes verfluchtes Leben!“

Tränen überfluteten Jims Augen. „Ron …“, wimmerte er.

Tasha stöhnte auf. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal in solchen Dimensionen denken würde: „Verdammt, Jim. Akzeptiere doch einfach deine Böse Seite. Sie ist ein Teil von dir.“

„Aber sie gehört mir nicht mehr“, antworte Jim leise und ließ die Schultern sinken.

„Verdammt!“ Bill schnellte in die Höhe. Er riss sich das Basecape vom Kopf und schleuderte es zu Boden. „Ein Leben lang hast du dich selbst bekämpft, nur um jetzt festzustellen, dass es falsch war?“ Er rüttelte kräftig an Jims Schulter.

Tasha beobachte Bills verzweifelten Versuch und lächelte bitter: „Du kannst niemanden wütend machen, der nicht die Fähigkeit dazu besitzt.“ Trotzig zog sie die Nase hoch und war auf einmal glücklich über jede ihrer unbeliebten Eigenschaften. Wie oft hatte sie sich für ihr aufbrausendes Temperament geschämt. Jetzt wurde ihr klar, dass Gut und Böse die zwei entscheidenden Seiten des Lebens waren und sie erinnerte sich an Mias Worte. „Sie sollten Eins sein! Das Gleichgewicht muss hergestellt werden“.
Diese Frau hatte Jim nicht umsonst zurückgerufen. „Wir müssen sie gegenüberstellen“, überlegte Tasha laut und zog Bills Zorn auf sich. „Akatash wird Jim in der Luft zerreißen“, fauchte er. „Dieser Dämon hat all seine dunklen Erinnerungen, alles Böse, das ihn jemals berührt hat und zu dem werden ließ, was er heute ist, in sich aufgenommen. Mit welchem Gefühl, wenn nicht Wut, soll ihm Jim denn gegenübertreten? Soll er Akatash zu Tode knuddeln? Jim braucht verdammt viel Hass, um seine dunkle Seite zu kontrollieren!“

Zögernd hob Jim den Kopf. „Dann werde ich mir Hass holen!“ Er sah Bill an und begann mit zerbrechlicher Stimme zu reden. „Eine Erinnerung hat Akatash nicht bekommen. Denn sie blieb nicht in meinem Blut zurück, weil wir sie gebannt haben. Dieser Zorn aber ist nicht nur uralt, sondern unermesslich groß. Und ich weiß, dass Er noch immer auf mich – auf seine Chance wartet.“
Bill hob verwirrt die Brauen.
Jim lächelte, als er flüsterte: „Das waren deine Worte, Bill.“ Vor Angst fühlte er sich taub. Trotzdem zog er den alten Jäger zu sich heran, um ihm ins Ohr zu flüstern.

Ein eisiger Hauch streifte Bills Nacken und richtete jedes einzelne Härchen auf. Er hatte das Gefühl, ein Stahlband würde sich um sein Herz legen. Mühsam richtete er sich auf, denn seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Als er Jim anschrie, war sein Gesicht rot vor Wut: „Bist du wahnsinnig, Jim Barker?“ Außer sich über diese Offenbarung suchte Bill nach Worten: „Das ist doch keine Lösung. Da kann ich dich auch gleich erschießen!“ Keuchend sah der Alte an die Zimmerdecke: „Er wird nichts von dir übrig lassen, außer dampfendem Fleisch.“

Jim neigte den Kopf. „Nun, dieses Nichts ist ohnehin nicht mehr viel und es gibt keinen anderen Weg. Er hat all die Eigenschaften, die Akatash mir raubte. Nur mit ihm kann ich meinem Zwilling gegenübertreten.“

„Das kannst du eben nicht, Jim“, fiel ihm Bill heiser ins Wort, „du wirst dich dabei verlieren.“

„Ich sterbe so oder so“, murmelte Jim, „denn Akatash hat einen Teil von mir genommen, ohne den ich nicht überleben kann. Das fühle ich mit jeder Sekunde, die verstreicht. Er wird meinen Platz einnehmen und in meinem Namen weiter morden. Also muss ich Feuer mit Feuer bekämpfen, denn nur so hat die Welt eine Chance.“ Jim zog den Kopf in den Nacken und lächelte, obwohl Tränen über sein Gesicht rannen: „Bill … Bitte! Es geht um meine Familie – Es geht um Ron!“

Bill fingerte nervös in seiner Hosentasche: „Ich muss Ron anrufen.“

„Das wirst du nicht tun“, entgegnete Jim und das erste Mal, seit er wieder atmete, war er sich sicher. Er neigte den Kopf und flüsterte: „Er wird es nicht zulassen.“

„Womit dein Bruder auch Recht hat“, polterte der alte Jäger heraus. Das Handy lag in seiner Hand. Er starrte es an und fauchte: „Denn im Gegensatz zu dir ist Ron noch bei Verstand!“

„Wovon, zur Hölle, redet ihr da“, mischte sich Tasha in den Streit ein. Bills Reaktion machte ihr Angst. Er sah ihr ins Gesicht. Seine Hautfarbe war mittlerweile leichenblass.

„Bill …“, bettelte Jim, „Ron hätte das Gleiche für mich getan!“

Der alte Jäger wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er hatte keine Ahnung, wie die Barker-Brüder mit ihrer Sturheit so lange in diesem Geschäft überleben konnten. Aber vielleicht waren es gerade Eigenschaften wie Liebe, Vertrauen und Aufopferung, die Akatash nicht stehlen konnte und die ihnen bisher das Leben gerettet hatten. Schnaufend verstaute der alte Jäger das Handy wieder und sah kopfschüttelnd zu Jim. „Du weißt schon, dass dir dein Bruder dafür den Arsch versohlen wird?“, murmelte er.

Jim nickte. „Das nehme ich in Kauf!“

„Verdammt, Bill“, zischte Tasha, „was habt ihr vor?“

Der Alte sah sie an. „Das ist ein wahrhaft beschissener Plan.“ Er suchte nach seinem Basecape und stülpte es auf seinen Kopf. Dann knurrte er: „Tasha, wir müssen los. In meinem Besitzt befindet sich etwas, das Jim braucht.“

„Was“, wollte Tasha wissen.

„Ist ne alte Geschichte!“

***

Nervös trommelten Tashas Finger auf ihren Oberschenkeln. Nach einer sechsstündigen Fahrt befand sie sich in einem anderen Bundesstaat und wartete auf die beiden Jäger. Warum Bill darauf bestanden hatte, dass nur Jim ihn in die alte Lagerhalle begleiten durfte, sie aber im Van bleiben sollte, konnte sie nicht nachvollziehen. Zumal es Jim von Stunde zu Stunde schlechter ging. Er stellte als Jäger keine Hilfe dar. Gesprochen hatte er nicht mehr, seit sie im Auto saßen. Obwohl sein Körper bei seiner Wiedergeburt vor Gesundheit strotzte, schien ihm mit jedem Atemzug ein Stück Leben entrissen zu werden. Offensichtlich waren weder seine Seele noch sein Körper in der Lage, sich gegen die biologischen oder emotionalen Angriffe, die jedes Lebewesen ganz selbstverständlich täglich bezwang, zu wehren. So war Jims Haut im Laufe der Fahrt immer blasser geworden. Bakterien und Viren fraßen sich durch seinen Körper. Sie ließen ihn Husten und zerstörten mit bösartigen Tumoren seine Organe. Flechten und Pusteln breiteten sich nicht nur auf seinen Armen aus. Jims Lippen wurden spröde, eisgraue Strähnen und tiefe Falten in seinem Gesicht verwandelten seine Jugend in Alter, aus seinen trüben Augen gaffte bereits der Tod.

Tasha schnaufte leise. Wie unzerstörbar musste dagegen Akatash`s Körper sein?
Ungeduldig beobachtete sie das Eisentor des Backsteingebäudes, durch das Bill Jim geschleppt hatte. Es stand einen Spalt weit offen. Wie eine Diebin inspizierte sie die verwaiste Gasse. Nachdem sie sich überzeugt hatte, allein zu sein, verließ sie den Wagen. Loser Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie sich vorsichtig auf das Gebäude zubewegte.
Plötzlich hörte sie hastige Schritte. Mit einem gewaltigen Stoß wurde das Tor aufgerissen und Bill stolperte ihr geradewegs entgegen.
„Laufen Sie“, schrie er und packte ihren Arm, um sie zum Wagen zu zerren.

„Wo ist Jim?“, keuchte Tasha überrascht.

„Verdammt, laufen Sie schon!“ Bill gab ihr einen Stoß, so dass sie gegen den Wagen knallte. Er riss die Tür auf und schob sie hinein.

„Was ist mit Jim?“ Tasha ließ nicht locker. Als Bill hinter dem Steuer saß, riss sie die Wagentür wieder auf. Bill griff nach ihr, aber sie schüttelte den Alten ab und wollte den Van wieder verlassen.
Beim Aussteigen erstarrte sie. Menschliche Schreie drangen aus dem Gemäuer. Es waren entsetzliche, gequälte Schreie. Es waren Jims Schreie, die ihr entgegen hallten. Bill war wieder um den Wagen geeilt und versuchte, sie auf den Sitz zu zwingen. „Er hat es so gewollt, ich … ich … habe … er hat es gewollt“, murmelte er verstört und blickte immer wieder ängstlich über seine Schulter. Dann hielt er inne und schüttelte Tasha heftig. Er schrie aus purer Verzweiflung: „Wenn Sie leben wollen, dann steigen Sie jetzt in den verdammten Wagen!“

„Was haben Sie da drin gemacht? Wo ist Jim?“ Tasha erkannte Bill gar nicht wieder. Er schlotterte am ganzen Körper.
In der Lagerhalle wurde es still – jedoch nur eine Sekunde lang. Dann hörte Tasha einen weiteren Schrei. Ihr Herz drohte auszusetzen. Sie fiel auf ihren Sitz und beobachtete gelähmt, wie Bill die Tür zuschmiss. Der Alte hetzte um die Motorhaube, riss die Fahrertür auf und hechtete hinter das Lenkrad. Mit zitternder Hand startete er den Wagen und trat das Gaspedal durch. Staub wirbelte auf, als der Van mit kreischendem Motor den Parkstreifen verließ und über die Straße donnerte.
Tasha drehte sich noch einmal um und sah auf das geöffnete Tor. Niemals in ihrem Leben hatte sie einen derartigen Schrei gehört. Sie wagte es nicht, Bill zu fragen, was oder wer das war, denn sie fürchtete seine Antwort …

*

Zehn Minuten zuvor…

Eine alte Neonlampe summte hinter ihrem Gitter. Das Licht, das sie in den Raum warf flackerte unruhig. Rost und Staub klebten in abgestandener Luft, die verriet, dass schon lange niemand mehr diesen Raum betreten hatte.

„Jim!“ flüsterte Bill rau. „Ich … das … bitte … ich kann das nicht tun!“ Er sah verzweifelt auf den jungen Barker. Jim lag am Boden. Seine Beine vermochten ihn nicht mehr zu tragen. „Junge, das kannst du nicht von mir verlangen“, flehte Bill und zitterte am ganzen Leib.

Langsam hob Jim sein Gesicht. Er sah den Alten flehend an. „Ich sterbe, Bill“, brachte er mühsam hervor. Über seine blaugrauen Augen hatte sich ein milchiger Film gelegt. Jim konnte kaum noch etwas erkennen. „Bitte!“ Er streckte dem alten Jäger seine Hände entgegen: „Gib sie mir!“

Bill ging vor Jim in die Hocke. Sein Herz schmerzte bei dem was er sah und hörte.
Jim versuchte, ihn anzulächeln. Es blieb bei einem kläglichen Versuch. „Es wird funktionieren“, flüsterte er und griff nach der Schatulle, den ihm Bill zögernd reichte. Der Alte fing an zu schluchzen: „Was soll ich nur Ron erzählen?“

Jims Lippen zuckten, als er über die Oberfläche der Kiste strich. „Sag ihm, ich werde leben!“ Dann neigte er den Kopf. Weiße Haarfransen verdeckten seine Stirn: „Und jetzt verschwinde!“

Schweigend stand Bill auf. Der Weg zur Tür erschien ihm unendlich lang. Seine Füße schlurften über ein Pentagramm auf dem Betonboden. Noch einmal sah er auf den sterbenden Jäger. Jim lag inmitten von Regalen und Stahlschränken, die vollgestopft waren mit Amuletten, Dolchen, automatischen Gewehren und Tretminen. Aber auch viele persönliche Sachen ihres Vaters hatten in diesem Versteck ein Zuhause gefunden. Andere Gegenstände, sollten der Welt für immer entzogen werden in der Hoffnung, dass sie in Vergessenheit gerieten. Es waren Objekte, wie die kleine Fluch-Kiste, die Jim nun in seinen Händen hielt. Sie war mit Farbe besprüht worden, als hätte sich jemand an einem Graffiti geübt aber nur merkwürde Kritzeleien zustande gebracht. Behutsam strichen seine Finger über das Eichenholz und erfassten den eisernen Schlüssel, der noch immer steckte.
Erst als sich Bills schwere Schritte im Gang entfernten, drehte Jim den Schlüssel um. Mit einem leisen Klacken sprang die Schatulle auf.
„Verzeih mir, Ron“, flüsterte Jim und schloss seine Augen …

*** *** ***

Er rannte blind durch die Wälder. In seinem Kopf rauschte Stille, durch sein Herz strömte fremdes Blut. Zweige rissen an seiner Kleidung und zerkratzten seine Haut. Blutige Wunden überzogen sein Fleisch. Doch sie schlossen sich, noch ehe er weitere hundert Meter gerannt war. Er spürte keinen Schmerz. Er spürte nur, wie sich sein Verstand auflöste. Jim wusste nicht, wie weit er gerannt war, ehe er wieder zu sich kam. Atemlos stand er im Schatten einiger alter Kiefern und blickte auf einen See, der schläfrig im Licht des Mondes lag. Weit entfernt roch er Menschen.
Seine einzige Hoffnung bestand darin, ein Versteck zu finden. Eine verlassene Hütte, irgendwo in den Wäldern, in der er gegen den Hunger und die Gewalt in seinen Adern ankämpfen konnte. Wenn der anbrechende Tag zur Neige ging, würde er weiter ziehen. Nicht jetzt, wo die Gefahr bestand, dass er jemanden umbringen könnte. Jim konzentrierte sich und glitt in ein anderes Bewusstsein. Einen Zustand, den auch Menschen in Extremsituationen entwickeln - wenn der Tod zur einzigen Alternative wird. Sein Verstand wurde klarer. Die Ränder seines Sichtfeldes verschwammen. Aber mit ungewohnter Schärfe filterten seine Augen die wenigen Informationen aus der Flut von Eindrücken heraus, die er benötigte, um zu handeln.
Er fand sein Versteck. Moderne Stofffetzen, Gestank von verrottenden Möbeln, von Waschbär-Exkrementen und anderem Getier verrieten ihm den Weg durch das Dickicht. Zwischen all dem Geruch nach Verfall mischte sich nichts menschliches, das seine Gier zum Überschäumen bringen würde. Diese Hütte war ideal.
Die Haustür brach fast aus den Angeln, als er dagegen trat. Er wusste, dass sie ihn nie zurückhalten würde. Der gewaltige Stoß war rein psychologisch, denn Jim nutzte jedes Mittel um die Bestie in sich zu beschäftigen. Halb benommen vor Hunger stolperte er in den Raum, an einigen Kisten vorbei. Hinter ihnen wollte er sich verstecken und abwarten, bis die Macht der Sonne der Macht des Mondes wich.
Zu spät bemerkte er, dass er nicht allein war. Er hob die Nase in den Wind und atmete ein. Irgendwo da draußen am Seeufer war ein Mensch zu nahe, als dass er ihn ignorieren konnte. Der süße Schweiß trug ihm eine Vielfalt an Botschaften zu. Er witterte Trauer, Selbsthass und Todessehnsucht. Das Monster in ihm lauerte, kratzte und schlug mit seinen Pranken um sich. Es kämpfte darum, herausgelassen zu werden. Ein leises Knurren stieß über seine Lippen, als er wieder ausatmete und lächelte. Er wollte so schnell zuschlagen, dass sie es nicht einmal bemerken würde.
Jim verließ seinen Unterschlupf. Sorgfältig wich er den Lichtkreisen der Sonne aus und stahl sich von Schatten zu Schatten. Die Geräusche des Waldes waren für seine Ohren gedämpft, nur der Schweißspur folgte Jim, bis er dicht hinter ihr stand. Sie zitterte, schluchzte, murmelte ein letztes Gebet. Er hörte ihr Herz. Mit einem einzigen Schlag hätte er ihr das Genick brechen - ihre Todessehnsucht erfüllen und seinen Hunger stillen können. Langsam senkte er den Kopf und entblößte seine Zähne. Ein schneller Biss würde sie betäuben. Ein weiterer ihr das Leben entreißen. Aber er verharrte, blockiert durch etwas, das er nicht benennen konnte. Es war wie ein Versprechen gegen den Untergang, eine Chance zu Überleben. Es war der Duft einer empfängnisbereiten Frau. Und Jim wusste instinktiv, die Bestie in ihm würde schweigen, solange er nur in ihrer Nähe blieb. Als sie in den Silver-Lake sprang und trübe Wellen über ihr zusammenschlugen, packte er ihren Arm …

*** *** ***

12 Stunden später, Shire-Farm …

Das Licht der untergehenden Sonne flimmerte in der aufsteigenden Hitze am Horizont und ergoss sich als blutroter See auf die verwilderten Wiesen.
Längst war alles emporstrebende Leben unter der anhaltenden Dürre verdurstet. Wie der vernichtende Atem eines Drachens glitt Abendwind über das Gelände, um auch die letzten der Hitze trotzenden Halme in Staub zu verwandeln.
Kein Vogel sang, kein Hund bellte, kein Lebewesen zeigte sich. Und doch war die Luft erfüllt vom anschwellenden Gesang riesiger Heuschreckenschwärme.

Die morschen Pfeiler des Weidegatters standen in alle Richtungen geneigt. Hier und da schaukelten Reste einiger Zaunfelder im Wind haltlos an rostigen Nägeln. Noch hatte der Zahn der Zeit nicht alle abgenagt und am Boden verrotten lassen.
Auch die alten, verfallenen Gebäude einer Farm am Rande der Wiese verrieten, dass sich schon lange niemand mehr um das riesige Anwesen kümmerte.
Die Tore der Scheunen und Stallungen waren aus den Angeln gerissen und lagen zerborsten im Dreck. Fahles Licht fiel durch die teils zerstörten Dächer in ihr Inneres und schemenhaft konnte man vor sich hin rostende Maschinen erkennen. Heulend verfing sich die aufsteigende Abendluft unter den leeren Giebeln und zerrte an den letzten verbleibenden Ziegeln.
Das mächtige Haupthaus schien nur noch von abblätternder Farbe gehalten zu werden. Die Holzspäne unzähliger Termitengenerationen, die sich auf der Terrasse angesammelt hatten, wurden vom Wind zu kleinen Tornados aufgewirbelt, die wie Geister über die morschen Dielen kreiselten. Graue Fetzen von Gardinen flatterten hilflos hinter den zerborstenen Fenstern.

Niemand schien sich für die verlassene Farm mitten in dieser Einöde zu interessieren …
… wäre vor dem Hauptgebäude, in der flimmernden Luft, nicht die Silhouette eines nachtschwarzen 1967er Ford Mustang zu erkennen, in dessen verchromten Felgen sich die blutrote Scheibe der untergehenden Sonne spiegelte.

Nachdem Ron die von Holzwürmern durchlöcherte Tür mit einem beherzten Ruck aus dem Weg geräumt hatte, setzte er vorsichtig einen Fuß in das Innere des Hauses. Allein das Betreten der unheilvoll knackenden Holzdielen ließ ihn erschauern.
Kurz hielt er inne, um seinen Augen die Chance zu geben, sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Seltsamerweise schlug sein Herz vollkommen ruhig, als er kaum wahrnehmbar einatmete und nach seiner Beretta griff, die unter seinem verschwitzen Hemd im Hosenbund steckte.
Ron wusste, dass er die verhasste Kreatur hier antreffen würde. Denn er kannte sie gut. Immer wieder zog es sie zurück an den Ort, an dem alles begann. Der Ort, an dem dieses dunkle Wesen erschaffen wurde. Genau hier wollte sich der Jäger der Bestie stellen – überzeugt davon, dass nur einer von ihnen heute Nacht das Gebäude wieder verlassen würde.

Angespannt beobachtete er das Zimmer. Auf der vergilbten Tapete, die nur noch in Fetzen an den Wänden hing, zeichneten sich schwarze Flecken und Spritzer ab. Möbel waren umgeworfen und die Vorratsschränke in der Küche von Waschbärenbanden geplündert. Mit äußerster Sorgfalt suchten Ron´s Füße Lücken zwischen unzähligen Glasscherben am Boden, um sich nicht durch verräterisches Knirschen vorzeitig zu verraten.
Trotz seiner Vorsicht konnte er jedoch nicht vermeiden, dass die morschen Dielen unter ihm bei jedem seiner Schritte gequält ächzten. Mit dem Rücken zur Wand schlich der Jäger, einem Schatten gleich, zu einer Treppe, welche ins Obergeschoss führte. Unablässig beobachte er die Umgebung, jederzeit auf einen Überfall gefasst. Prüfend blieben seine Blicke an herabhängen Spinnweben haften, um sich zu vergewissern, dass es lediglich der Luftzug seiner Bewegungen war, der sie vibrieren ließ.

Ein umgekippter Tisch in der Mitte des Raumes lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen alten Teppich. Die dunklen Flecken in seinem Gewebe ließen den Jäger hart schlucken. Auch wenn die Konturen mittlerweile durch den Staub von Jahrzehnten verblasst und die Farben verfälscht waren, wusste er doch, dass es sich um Blut handelte. Menschliches Blut, das eine Bestie vergossen hatte - und das nicht nur hier an diesem einsamen Ort ihrer unheiligen Geburt.
Unzählige Menschenleben hatte diese Kreatur über die Jahre hinweg in ihrer unstillbaren Gier und Mordlust ausgelöscht.

Tiefer Hass verdrängte für einen Moment die gefühllose Kälte im Herzen des Jägers. Ron´s Hände ballten sich entschlossen zu Fäusten, seine Kiefer zuckten angespannt.
Diese Kreatur würde er vernichten … und wenn es das Letzte war, das er tat.
Langsam griff er nach dem Treppengeländer und hob den Fuß, um die alten Stufen zu erklimmen.
Das leise Knacken hinter seinem Rücken ließ ihn blitzartig herumwirbeln. Seine Finger pressten sich fester um den kalten Schaft der Waffe. Im fahlen Licht blitzte der polierte Lauf. Ron erstarrte in voller Konzentration und richtete seine Augen auf die vagen Umrisse einer lauernden Gestalt, die er schemenhaft in der Dunkelheit ausmachen konnte.

„Zeig dich, Bastard“, zischte er durch die Zähne. Seine Augen formten sich zu Schlitzen, um besser sehen zu können.
Der plötzliche Windstoß, der sich in den geöffneten Schränken verfing, als die Kreatur aus dem Schatten trat, beeindruckte ihn nicht.
Ein stählerner Körper richtete sich vor ihm zu voller Größe auf. Das Spiel seiner Muskeln war deutlich unter seiner verschwitzten Haut zu erkennen. Jedes Mal, wenn er Luft in seine Lungen sog, war sein keuchender Atem zu hören und sein Brustkorb weitete sich rhythmisch. Das Gesicht zu Boden geneigt, verharrte das Wesen bewegungslos. Nur boshafte Augen fixierten Ron unter einer wilden Mähne. Es war ein Blick, funkelnd vor Kälte, wie der stahlblaue Himmel über der Arktis und ein arrogantes Grinsen umspielte seine Lippen. Auch die Kreatur hatte den Jäger erwartet, war bereit, sich dem Kampf zu stellen.

Ron sah Akatash unbeeindruckt an. Es existierte nichts mehr, was ihn noch erschüttern oder aus der Fassung bringen konnte. Der Jäger fürchtete seinen Tod nicht, denn er besaß kein Leben mehr. Seine Seele war aufgefressen von grausamen Erinnerungen und Bildern, die jede menschliche Empfindung in ihm vernichtet hatten. Emotionslos nahm er die Gestalt ins Visier und als er die Bewegung seines Gegenübers registrierte, schoss er ohne zu zögern.

*

Warren wartete seit fünf Minuten im Wagen. Seine Finger trommelten unablässig auf dem Lenkrad, während sein Blick auf die Tür des Hauses gerichtet war. Fünf Minuten – und er hörte keinen verdammten Laut. Schnaufend atmete er aus. Es war nicht seine Art, tatenlos zuzusehen. Allerdings musste er sich eingestehen, in diesem speziellen Fall nicht über die nötigen Qualifikationen zu verfügen. Wobei ihm auffiel, dass auch Ron nicht wirklich wusste, was er tun sollte. Die ganze Sache erschien ihm zu simpel.
Einige rasch aufeinanderfolgende Schüsse rissen den Inspektor vom Sitz. Er öffnete die Tür des Wagens und beobachtete mit gezogener Waffe das Haus.
So etwas wie Zeit schien nicht mehr zu existieren. Warrens Anspannung verpuffte in dem Moment, als Ron, zwar kopfschüttelnd, aber gelassen ins Freie trat. Mit schnellen Schritten bewegte er sich auf den Wagen zu. „Lass uns verschwinden“, rief er und war schon im Begriff, sich hinter das Steuer zu setzen, als Balken splitterten.
„Verdammt“, stieß Ron hervor und suchte Deckung hinter dem Ford Mustang. Überrascht sahen die Männer nach oben. Ziegel wurden auseinandergerissen und ihre Bruchstücke rutschen nach unten. Wie ein Geschoss stieß Akatash durch das Dach des Gebäudes. Mit nur zwei Flügelschlägen landete er hinter dem Rücken der Jäger auf dem Boden und wischte roten Tonstaub von seinen Schultern.
Warren riss es die Farbe aus dem Gesicht. Er blickte gegen die blutverschmierte Stirn des Dämons – nein … er blickte durch die blutverschmierte Stirn des Dämons wie durch ein Fernglas auf die Wiese. Ein riesiges Loch klaffte oberhalb seiner Augenbrauen. Es dehnte sich trichterförmig aus, so dass der hintere Schädel nur noch in Form von Knochenfragmenten auf den Halswirbeln hing. Allerdings schien dieser Umstand dem Dämon nicht die Laune zu verderben.
„Ihr wollt schon gehen?“, säuselte er mit Jims Stimme. Fleischfarbene Fäden wanden sich wie Würmer im Einschuss. Sie verwoben sich zu einer dichten Masse, bis sich die Wunde schloss. „Hat jemand mal ne Aspirin? Ich habe etwas Kopfschmerzen“, sang Akatash und griff sich grinsend an die Stirn. Dann fixierte er Ron. „Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich töten?“ Seine Brauen schoben sich vorwurfsvoll nach oben und Ron hatte das Gefühl, er müsse sich die Seele aus dem Leib schreien, als er in Jims Gesicht sah.
„Der einzige Mensch, der MICH töten kann, stirbt gerade an Angst vor dem eigenen Schatten“, säuselte Akatash und lachte auf. Er sah zum Himmel: „Jimmy, Jimmy, Jimmy – du hast so viel Hass in deinem Herzen gesammelt und wirfst diese wunderbare Macht einfach weg. Wie willst du nun kämpfen?“
Er wandte sich wieder an Ron. „Ehrlich, ich wollte dich nicht töten!“ Seufzend atmete er ein. „Wir sind schließlich Brüder! Ich wollte dich teilhaben lassen an meinem Siegeszug!“ Seine Augen verfinsterten sich. „Und was machst du?“ Mit wehleidigem Gesicht griff sich Akatash an die Schläfen. „Du schießt mir in den Kopf! Man schießt seinem Bruder nicht in den Kopf … Ron!“
Lächelnd kam der Dämon näher. „Weißt du – ich habe sie gerufen und sie werden alle kommen!“

„Wen“, fragte Ron knapp.

„All die Kinder und Kindeskinder, jener, die dabei waren, als ich in eure Welt gezerrt wurde.“ Akatash kräuselte die Stirn: „Blumenkinder, nannten sie sich. Dass ich nicht lache. Frieden und Liebe … es ging um Drogen und Sex! Na ja, lügen konntet ihr Menschen schon immer gut, nicht wahr, Ron?“ Akatash breitete die Arme aus. Sein Blick streifte verträumt über riesige Weideflächen, an die in der Ferne alte Kiefernwälder angrenzten.
„Bald wird es ein neues Festival geben. Und diesmal werde ich den Ton bestimmen.“ Die Augen des Dämons blitzten auf. „Ihr wolltet MICH kontrollieren. Nun werdet ihr MEIN Wort empfangen und es über den Kontinent hinaustragen. Jetzt, wo ich lebe und atme wie einer von euch, werdet ihr mir die Welt erschaffen, der ich entrissen wurde. Eine Welt aus Angst, Misstrauen und Hass! All eure Alpträume werden real sein.“ Akatash lächelte Ron an. „Ihr hättet mich dort lassen sollen, wo ich zuhause war! Auf euren boshaften, kleinen Seelen!“
Ruckartig riss er den Kopf in den Nacken und als er die Jäger erneut ansah, erkannten sie sein wahres Gesicht. Alles, was danach kam, waren verschwommene Bewegungen. Sie hörten Schreie, Grunzen und Schnaufen. Knochen brachen und Fleisch zerriss wie Papier. Es waren Momentaufnahmen seiner Schreckensherrschaft, einer Zukunft, bestehend aus Kriegen und Naturkatastrophen. Nicht wohltuende Abendluft erfüllte ihre Lungen, sondern das ätzende Zeug, das Akatash auf die Wiese spie.
Ron zog seine Beretta und schoss, als er um den Ford Mustang hechtete. Noch im Flug griff er nach Warren und riss ihn aus dem giftigen Atem, der wie eine Schwefelwolke über den Boden waberte. Als das Mündungsfeuer erlosch, hörte er Akatash auf der anderen Seite des Wagens kichern. „Was soll die übertriebene Flucht, Jungs – ich habe doch nur gehustet!“

Besorgt musterte Ron den Inspektor. „Warren? Alles okay? Hat er Sie erwischt?“ Der Inspektor schüttelte den Kopf. Antworten konnte er im Augenblick nicht. Vielmehr rang er keuchend nach Sauerstoff – wenn er nicht kotzte! - Und er kotzte Blut und Galle. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Die letzte Mahlzeit schäumte auf wie vergorenes Obst.

Rons Kopf erschien über dem Dach des Ford Mustang, hinter dem sie sich verschanzt hatten. Für Sekunden nahm er den Dämon nun mit dem Colt ins Visier und feuerte ohne Unterbrechung. Er war bereit, seinen Tod in Kauf zu nehmen. Aber auf keinen Fall sollte noch ein einziger Zivilist diesem geflügelten Miststück zum Opfer fallen. Mehrere Geschosse trafen auf Akatash`s Schwingen, die er wie ein Schutzschild vor seinen Körper hielt. Sie prallten funkenschlagend ab, als schlugen sie auf Stahl. Nachdem sich der Pulverrauch verzogen hatte, breitete Akatash die Flügel aus und präsentierte Ron bereitwillig seine Kehle. Ein Grinsen zuckte um seine Lippen. „Versuchs mal mit dem Dämonen-Dolch“, schlug er vor.

„Verdammt“, keuchte Ron. Er zog den Kopf ein und lehnte sich an den Wagen, um zu überlegen. Sein Handy schellte. „Nicht jetzt, Bill“, zischte Ron, als er auf das Display sah. Er hielt sich das Telefon an sein Ohr und fauchte nach einigen Sekunden: „Ja, das habe ich bemerkt, Bill.“ Ron schnellte wutentbrannt in die Höhe und schleuderte dem Dämon seinen Colt entgegen. „Der Mistkerl krepiert nicht, obwohl ich ihm das Gehirn weggeblasen habe.“ Ron riskierte immer nur für Sekundenbruchteile einen Blick über das Wagendach, während er versuchte, zu verstehen, was Bill am anderen Ende in die Leitung schrie.
„Verdammt, Bill, ich werde hier nicht verschwinden, solange dieses Ding lebt“, stieß Ron hervor. Wie ein Schauer überrannten ihn die nächsten Worte. „Was? Ihr habt Jim …?“ Seine Augen blitzten auf. „Wo ist er? Geht es ihm gut? Was heißt, er ist weg? Verdammt, was für eine Kiste?“ Ron verstand nicht ein Wort. „Was hat er verlangt?“ Bill schien außer sich vor Sorge zu sein. „Alter … ich verschwinde hier nicht kampflos - basta“, konterte Ron und beendete das Gespräch.

Akatash war unterdessen stehen geblieben. Etwas in den Wäldern hinter den Weidegattern schien ihn abzulenken. Warren hatte es bemerkt. Seine blutunterlaufenen Augen folgten dem Blick des Dämons über sanfte Hügel zu einer kleinen Gruppe von Ahornbäumen. Eine neue Welle von Panik schwappte durch seinen Körper. Diesmal war es nicht die Anwesenheit des Dämons oder seine wahre Fratze, sondern das, was er glaubte zu sehen. „Was zur Hölle …?“, flüsterte er und rüttelte Ron an der Schulter.

„Scheiße, Warren, was ist denn los?“ Rons Worte überschlugen sich, als er nach der Hand des Inspektors griff. „Ich muss überlegen!“

„Ich … ich glaube, wir bekommen Besuch …“, stotterte Warren.

Ron stöhnte auf. Er war wirklich nicht in der Lage, einen Erzdämon zu bekämpfen, nebenbei mit Bill über irgendwelche Kisten zu diskutieren und obendrein noch Babysitter für einen völlig übergeschnappten Inspektor zu spielen. Fluchend drehte er sich um.

Warrens Gesicht hatte mittlerweile die Farbe eines Leichentuches angenommen. „Ron“, stammelte er, „jetzt erzählen Sie mir bitte nicht, das da am Waldrand ist ein…!“
Der Inspektor brachte den Satz nicht zu Ende, denn die Reaktion des Jägers auf das Wesen unter den Ahornbäumen ließ ihn verstummen.

Eiswasser schien anstelle von Blut durch Rons Adern zu fließen. Er fror und schwitzte zugleich. Fassungslos musste er feststellen, dass jedes irre Wort von Bill plötzlich Sinn machte. „Scheiße - ja … das ist ein Werwolf“, brachte er mühsam hervor und strich sich mit der Hand über das Gesicht. Es war eine Geste der Verzweiflung.

Fauchend wich Akatash einige Schritte zurück. In der lederartigen, dunklen Haut seiner ausgebreiteten Flügel pulsierten plötzlich weithin sichtbar rote und gelbe Muster als Warnung. Immer größer wurde der Schatten seiner Schwingen auf dem Boden. Nachdem er alle drei Paar Flügel zu voller Größe entfaltet hatte, begannen sie zu zittern. Hunderte winziger Schüppchen auf ihrer Oberfläche rieben aneinander und erzeugten das Rasseln einer drohenden Klapperschlange.
Aber Ron interessierte sich nicht für die Drohgebärden des Dämons. Sein Herz stand still, weil er den Werwolf am Rande der Wiese kannte. Er versuchte sich einzureden, einer Sinnestäuschung zu erliegen. Aber er war da, stand reglos im Schatten sterbender Ahornbäume und – ja, er hatte sich verändert. Er schien noch riesiger als damals in der Höhle zu sein. Sein schwarzes Stockhaar, war langem Fell gewichen. Es schimmerte seidig-braun im Zwielicht der untergehenden Sonne. Langsam hob er seinen gewaltigen Schädel, schien kurz Witterung aufzunehmen und setzte sich in Bewegung. Mit gesenkter Stirn donnerte er wie ein übelgelaunter Stier über das trockene Land. Staubwolken und Grasbüschel wirbelten unter seinen Pranken auf.

Ron packte Warren am Arm: „Nicht bewegen“, presste er durch seine Zähne und hielt den Atem an. Einen Wimpernschlag später schlugen zwei, mit dolchartigen Reißzähnen bewaffnete Kiefer, nur Millimeter von seinem Gesicht entfernt, mehrmals aufeinander. Ihr Krachen hallte meilenweit über die Weideflächen und schreckte Scharen von Krähen auf.
Blinzelnd atmete Ron aus. Geifer tropfte von seinen Wimpern. Vor ihm stand der Wolf mit gesenktem Kopf. Seine einst gelben Augen blitzten blaugrau. Das Spiel seiner aufgepeitschten Muskeln nach dem kurzen Sprint ließ sein Fell beben.
Warrens Panik wollte endgültig in Wahnsinn umschlagen, als der Wolf knurrend seine Lefzen kräuselte und noch näher kam. Geruch von rohem Fleisch stieß aus seinem Rachen, während er mit vibrierenden Nasenflügeln ihren Schweiß aufsog. Hin und wieder schien der Atem in seinen Nüstern zu explodieren, denn er schlug wie ein Geschoss gegen die Kleidung der Männer oder verwirbelte ihre Haare.

Jäger und Kreatur erstarrten gleichermaßen. Es war der Wolf, der schließlich seinen Kopf in den Nacken riss und aufheulte. Tränen glitzerten im Mondlicht auf seinem mächtigen Fang und wenig später auch auf Rons Lippen. Als er seine Hand ausstreckte um den mähnenartigen Behang des Wolfes zu berühren. Einige verirrte Fransen vibrierten sogar vor seinen Augen.
Der Wolf wich zurück, stellte sich zähnefletschend auf die Hinterbeine. Er war gigantisch. Langsam neigte er den Schädel und lauschte, als Ron flüsterte: „Jimmy – was hast du nur getan?“

Ein Prankenhieb auf Jim`s rechtem Brustmuskel war zu dem geworden, was Ron immer gefürchtet hatte: Dem Brandmahl des Stüpp`s, der ihm nun in einer perfekten Verbindung von Anmut und Bedrohung gegenüber stand.
Ein grimmiges Schnaufen ließ noch einmal seine Lefzen flattern. Dann sprang er mit einem Satz über die Jäger hinweg auf das Dach des Ford Mustang. Der alte Wagen ächzte und schaukelte unter dem Gewicht. Messerscharfe Klauen ritzten tiefe Furchen in den schwarzen Lack. Als sich der Stüpp aufrichtete, spielte Abendwind mit seinem seidigen Fell und im rostigen Licht des Vollmondes schien er in Flammen aufzugehen. Seinem tiefem Grollen folgte ein entschlossener Sprung auf die Seite des Erzfeindes.
Sofort streckte Akatash den Kopf in seine Richtung, sein Hals wurde so lang wie der eines Schwanes. Er riss den Mund so weit auf, dass sein Gesicht verschwand. Nur hasserfüllte Augen funkelten über einem dunklen Schlund, der gespickt war mit unzähligen nadelartigen Zähnen. Seine gespaltene Zunge schnellte hervor und beantwortete die Aufforderung des Wolfes mit einem Zischen.

Langsam schritten sie aufeinander zu, umkreisten sich, belauerten sich und versuchten, die Kraft des Gegenübers einzuschätzen...


*** Was übrig bleibt ***

In der Wüste sah ich ein Geschöpf, nackt und bestialisch,
welches, am Boden kauernd,
sein Herz in den Händen hielt und davon aß.
Ich fragte: „Ist es gut mein Freund?“
„Es ist bitter“, antwortete er, „aber ich mag es,
weil es bitter ist – und weil es mein Herz ist.“

Zitat: Stephen Crane


Der Wolf in Jim wuchs zu enormer Größe heran. Er schien sich über seine Grenzen hinaus auszudehnen und überflutete jede seiner Erinnerungen. Alles Menschliche im Jäger starb. Alles, bis auf die Lust zu töten. Nach über 400 Jahren Gefängnis war der Stüpp nicht bereit, seinen Auserwählten mit einer anderen Kreatur zu teilen. Sei es nun Mensch oder Bestie.
Langsam umschritt er den Rivalen, sorgfältig darauf bedacht, außer Reichweite seines mit Giftzähnen bestückten Rachens zu bleiben, welcher ihm auf dem beweglichen Hals gefährlich nahe kam. Als Antwort auf das hinterhältige Zischen Akatashs kräuselte der Wolf seine Lefzen und entblößte eine Batterie von Schlachtwerkzeugen. Jeder seiner vier Reißzähne war ein Meisterwerk der Evolution, messerscharf und einzig dafür geschaffen, dem Feind tödliche Wunden zuzufügen. Hinter ihnen reihten sich Mahlzähne auf, deren scharfe Kanten Fleisch zerschneiden konnten wie Papier und die in der Lage waren, jeden Knochen zu zermalmen. Mit lautem Krachen schlug der Wolf seine Kiefer zusammen. Sein Fell sträubte sich und ließ ihn noch mächtiger erscheinen.
Von grässlichem Rasseln begleitet, präsentierte Akatash die schillernden Farben auf seinen Flügeln, eine letzte Warnung für den Wolf - und nur den giftigsten Geschöpfen dieser Erde vorbehalten. Am Saum seiner schuppigen Flughäute entfalteten sich dornenartige Stacheln.

Der Wolf sprang und schlug blitzschnell seine Zähne in Akatashs Schulter. Augenblicklich spürte er, wie das Fleisch seines Gegners nachgab, hörte sein Stöhnen und schmeckte Blut. Nicht das süße, nahrhafte Blut eines Menschen, sondern das widerliche Gift, welches durch die Adern dieses Dämons floss. Seine Schnauze füllte sich mit Säure. Er presste die Hinterläufe gegen den Körper des Dämons, um sich abzustoßen. Aber Akatash schlang seine Flügel um ihn – umarmte ihn wie der Tod. Als seine Stacheln ihr Gift in den Wolf pumpten, versenkte dieser seine Zähne noch tiefer in die Schulter seines Feindes. Knochen brachen und Fleisch zerriss.
Wie zwei Ringer hatten sie sich gepackt und drehten sich im Kreis. Staub wirbelte unter ihren Pranken auf, als sie ihre Körper gegeneinander stemmten. Im Mondschein wirkten sie wie zwei Liebende, eng umschlungen im letzten Tanz. Es war ein trauriger Walzer ohne Melodie, denn unter ihrem keuchenden Atem schwieg die Welt in Erwartung von Licht oder Finsternis. Der Wind über den ausgetrockneten Weiden hatte sich gelegt. Der ohrenbetäubende, seit Tagen anhaltende Gesang der Zikaden war verstummt. Nirgends war auch nur das leiseste Zirpen zu hören. Selbst der Mond schien außer Stande, einen Schatten zu werfen. Sein rötliches Licht verwandelte die vertrocknete Wiese in einen flimmernden See aus Blut.

Ron lehnte im Schutz seines Ford Mustang an der Fahrertür. Er hatte die Augen geschlossen. Nur seine Lippen formten unsichtbare Worte. Erstarrt von der Erkenntnis, dass – egal, wer diese Schlacht gewann, Jim der Verlierer sein würde, resignierte er vollends. Hätte Warren nicht gewusst, welcher Tätigkeit Ron nachging, müsste er annehmen, einen betenden Mönch vor sich zu haben. Zu behaupten, Ron wäre nicht länger der Mann, der er früher gewesen war, erschien Warren wie eine Untertreibung.
Ein langgezogenes Heulen schreckte ihn aus seinen Gedanken. Warren riskierte einen Blick über das Wagendach.
Akatash war es gelungen, sich in den rechten Oberarm des Wolfes zu verbeißen. Das Gift aus unzähligen nadelförmigen Zähnen begann sofort, seinen Muskel zu zersetzten. Es zischte und brodelte. Blut schäumte auf und tropfte in niedergestampftes Gras. Der Wolf riss seinen Schädel in den Nacken. Ein schmerzlich, langgezogenes Heulen stieß aus seinem Rachen und hallte über die Weidefläche. War es Hass oder Liebe – war es das Tier oder der Jäger? Warren konnte es nicht erkennen. Gebannt beobachtete er die Kreaturen.
Mehrmals schlug der Wolf mit der linken Pranke gegen den Kopf des Dämons. Seine Klauen hinterließen tiefe Furchen, bis es ihm endlich gelang, sich loszureißen. Grollend stieben die Rivalen auseinander.
Eine Hälfte von Akatashs rechtem Flügelpaar lag zwischen herausgerissenen Grasbüscheln im Dreck und zuckte wie ein ausgerissenes Spinnenbein. In seiner Schulter klaffte eine riesige Wunde. Das Ende eines zertrümmerten Schlüsselbeins ragte heraus. Warren konnte die fehlenden Fleischfetzen und Knochen nirgends entdecken. Wahrscheinlich hatte sie der Wolf gefressen. Mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres umschlich er Akatash. Vorsichtig suchten seine Pfoten sicheren Stand in der aufgewühlten Erde. Aus mehreren Stichwunden in seinem Rücken pulsierte schaumiges Blut. Sein rechter Arm baumelte kraftlos an seiner Seite. Die Säure hatte Fell, Fleisch und Muskeln stellenweise bis auf den Oberarmknochen zersetzt.

Erstaunlicherweise schienen ihre Selbstheilungskräfte zu versagen. Warren vermutete als Ursache die gemeinsame Seele, um die sie verbissen kämpften. Für beide Geschöpfe gab es entweder Sieg oder Tod. Zwischen zerstampftem Gras, umgepflügten Erdballen und ausgerissenen Fellbüscheln spiegelten sich ihre Körper in blutigen Pfützen. Sie keuchten schwerfällig, als sie sich gegenseitig belauerten und ihre Kräfte sammelten.

Plötzlich spürte Warren Rons Atem neben seiner Wange. Das Geheul hatte den Jäger auf die Beine katapultiert. Kopf an Kopf spähten sie nun über das Wagendach und wurden Zeuge, wie der Flügelschlag des Dämons eine mächtige Furche in das Gesicht des Wolfes riss. Über seinem rechten Auge klaffte die Haut auseinander. Einen weiteren Hieb wehrte der Wolf mit seiner Pranke ab und griff an.
Als die muskelbepackten Körper erneut aufeinanderprallten, zuckte Ron zusammen. Er sprach aus, was Warren dachte: „Verdammt – welcher Bestie sollen wir diese Welt über….?“ Er kam nicht weiter mit seinen Gedanken, denn sie mussten sich mit einem beherzten Sprung zur Seite retten, als der Wolf den Dämon gegen das Auto schleuderte. Die Beifahrertür wurde durch die Wucht des Aufpralls eingedrückt. Der Wagen ächzte und kippte schließlich. Schaukelnd blieb er auf der Seite liegen. Sein Auspuff sprang aus den Halterungen und durchstieß Akatashs zweites Flügelpaar wie eine Lanze. Angeschlagen kreischte der Dämon auf.

Ron, unsanft im Gras gelandet, hob ruckartig den Kopf. Um seine Lippen zuckte ein Grinsen: „Gut gemacht, Baby“, murmelte er und zog seinen Kopf wieder ein.
Ein warmes Flimmern schlich sich in die graublauen Augen des Wolfes und entlockte ihm ein leises Brummen, als er erkannte, dass Ron den Trümmern seines Wagens ausweichen konnte. Doch der suchende Blick über die Wiese hatte ihn entscheidende Sekunden gekostet. Blitzschnell ließ Akatash seinen biegsamen Hals vorschnellen. Seine Giftzähne vergruben sich tief in den Brustmuskel über dem Herzen des Wolfes. Heiser schrie dieser auf, taumelte einige Schritte zurück und stürzte angeschlagen zu Boden. Wie ein Reiter schwang sich der Dämon auf den Wolf und biss erneut zu. Diesmal in seine Kehle.
Gurgeln und Röcheln vermischte sich mit Schmatzen von blutig aufgewühltem Schlamm, in dem sich der Wolf unter seinem Peiniger krümmte.

Rons Augen weiteten sich vor Schreck: „Verdammte Scheiße!“ Kurz streifte sein Blick über Warren: „Ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht, Warren – Aber ich bin für den Wolf“, entschied Ron kurzerhand. Bevor der Inspektor reagieren konnte, hechtete er auf die Bestien zu. In seiner rechten Hand blitzte der Dämonen-Dolch. Die kämpfenden Kreaturen beachteten den winzig erscheinenden Menschen nicht. Und Ron war darauf bedacht, nicht zwischen die Fronten zu geraten oder zertrampelt zu werden. Geschickt wich er den Schwingen des Dämons aus, indem er sich zu Boden warf. Langsam robbte er näher. Als er seine Chance witterte, stach er zu.
Überrascht spreizte Akatash seine Flügel. Sie erstarrten für einen Moment, als die zweischneidige Klinge seine Lunge durchbohrte. Er löste den Biss von der Kehle des Wolfes und drehte seinen Kopf um 180 Grad. Mit einem Faustschlag schleuderte er Ron über die Wiese und erhob sich, rotglühend vor Zorn. Das schwerfällige Keuchen des Wolfes hinter sich ignorierend, schritt er langsam auf den Jäger zu.
Ron lag auf dem Rücken. Er spuckte angewidert ins Gras und stellte fluchend fest, dass zwei seiner Zähne locker saßen. Verärgert schrie er den Dämon an: „Langhaarige Werwölfe stehen unter Artenschutz, du Arschloch!“

Ein Grinsen zuckte um Akatash Lippen, als sich sein kalter Schatten über Ron schob. Voller Verachtung sah er auf den Jäger hinab und säuselte: „Zuerst werde ich dich töten und dann deinen kläffenden Bruder!“ Akatash zog triumphierend seinen Kopf in den Nacken – aber sein lautes Lachen erstickte, als die Zähne des Wolfes in seine Kehle schlugen. Halswirbel knirschten. Akatashs gurgelnde Geräusche wurden von tiefem Grollen des Wolfes übertönt. Er vergrub seine Pranken in die Schultern des Dämons und riss ihn heran. Seine Kiefer umspannten die Kehle des Dämons wie die Wangen eines Schraubstocks. Er schüttelte heftig den Kopf. Wie Skalpelle zertrennten seine Zähne Fleischfasern, Sehnen und zermalmten Knochen.

Ron robbte in Sicherheit. Er wollte nicht unter einem dieser Muskelberge begraben werden.

Mit einem Ruck drehte sich der Wolf herum. In seinem Fang klemmte der Gurgelstock des Dämons. Kalte Augen streiften Ron nur eine Sekunde lang. Dann riss der Wolf seinen Schädel in den Nacken und würgte, wie eine Schlange Knorpel, Fleischfetzten und Sehnen hinunter.
Vor Rons entsetzten Augen schleuderte er anschließend den Kadaver des Dämons hinter den Ford Mustang und sprang ihm nach.

Ron stand auf, taumelte zum Inspektor und sank neben ihm auf die Knie. Er starrte unentwegt auf sein Auto, hinter dem der Wolf verschwunden war. Übelkeit brannte in seiner Kehle. Ron schluckte sie hinunter. Vielleicht war es Zufall, vielleicht aber wollte der Wolf auch nicht, dass Ron Augenzeuge von dem wurde, was er gerade tat. Doch das Reißen von Fleisch, das Knacken des geöffneten Brustkorbes, das Zerbersten von Gebeinen und das saitenartige Summen zerreißender Sehnen - gepaart mit dem wohlig schmatzenden Grunzen des Wolfes verrieten, was ungesehen blieb.

Irgendwann wurde es still.
Ron spürte eine Träne auf seiner Wange und sah hinauf zum Himmel. Eine weitere Träne platschte auf sein Gesicht. Wolken hatten sich, wie aus dem Nichts aufgetürmt, verdunkelten den Himmel und entließen schwere Regentropfen auf das dürstende Land. Zuerst nur vereinzelt, vereinigten sie sich zu niederrauschenden Bächen und befreiten die Luft vom metallischen Geschmack getrockneten Blutes, die Gräser vom Staub und das Land von der Zikadenplage. Nur Rons Schmerz vermochten sie nicht wegzuspülen. Aus seinem Augenwinkel sah er den Wolf mit gesenktem Kopf näher kommen. Regentropfen perlten durch sein verfilztes Fell. Mit jedem Atemzug stieß ein leises Röcheln über seine Lefzen. Er war verletzt, das erkannte Ron und er entdeckte noch mehr: Die erste Mahlzeit hatte ihn verändert. Unter seiner wilden Mähne blitzten noch immer blaugraue Augen. Allerdings war es jetzt Gier, die dieses Leuchten verursachte.
Instinktiv griff Ron nach seiner Beretta und zielte. Der Wolf blieb vor ihm stehen und schmiegte, leise brummend, seine Stirn gegen den Waffenlauf.
Ron verschloss die Augen. Sein Finger drückte sich gegen den Abzug. Er spürte heißen Atem in seinem Gesicht und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der Wolf schneller sein möge, als er. Ihn gehen zu lassen, bedeutete den Tod von unschuldigen Menschen. Ihn zu töten, bedeutete Verrat an seinem eigenen Fleisch. „Ich finde einen Weg, Jimmy! Glaub mir, ich finde einen Weg …“, flüsterte Ron und ließ die Waffe sinken.
Zähnefletschend richtete sich der Wolf auf und erhob seine Pranke zum Schlag. Ron rührte sich nicht. Lieber wollte er jetzt und hier sterben, als diesen Wolf jagen zu müssen. Ein Luftzug streifte sein Gesicht und dämonisches Geheul zerfetzte ihm beinahe die Trommelfelle. Nachdem das Rauschen in seinen Ohren verstummte, spürte Ron den Boden unter seinen Füßen vibrieren und hörte Gräser knacken. Er öffnete die Augen und sah den Wolf in Richtung Wald flüchten. Mit jedem seiner gewaltigen Sätze verändert er sich mehr. Schließlich war es sein Bruder Jim, der nackt durch den Regen über die Wiese rannte. Im Mondlicht offenbarten sich auf seiner blanken Haut die Wunden, die der Wolfspelz verborgen hatte.
Ron rief ihm nach. Er schrie sich die Lunge aus dem Hals. Aber das Rauschen der Regenwand, hinter der Jim verschwand, verschluckte sein Rufen.
Noch lange Zeit starrte Ron auf die dunkle Silhouette des Waldes. Seine Knie zitterten - und, als weit entfernt ein Wolf am Silver-Lake heulte, brach er weinend zusammen.

*** *** ***

Er konnte kaum noch atmen. Seine Augen waren zugeschwollen, mehrere seiner Zähne saßen locker und sein rechter Arm, sowie mindestens zwei seiner Rippen waren gebrochen. Trotzdem rannte er ununterbrochen. Überall in dieser Gegend gab es Menschen und der Duft ihres Blutes versprach Heilung. Aber ein Fragment Erinnerung tauchte aus den entfernten Tiefen seines Geistes auf und trieb ihn immer tiefer in die Wälder – weit weg von jeder Zivilisation und weit weg von Ron.
Irgendwann, nachdem er einen Fluss überquert hatte, fand er in einer Schlucht eine verlassene Mine. Er zwängte sich durch den mit Farn überwucherten Eingang und entfloh so dem Ruf der Nacht – und seinem mörderischem Instinkt.
Verzweifelt schlug er auf Stützbalken, Holzwände und Kisten ein. Aber die Bestie in ihm lachte nur. Er zertrümmerte jeden Felsen mit bloßen Fäusten, bis seine Fingerknöchel weiß unter all dem Blut auf seiner Haut schimmerten. Erst als seine Brust von eingeatmetem Staub brannte und er alles in seiner Nähe zerstört hatte, brach er kraftlos zusammen.

Sonnenlicht fiel durch einen Spalt in die Höhle, als er die Augen wieder öffnete. In schweren Tropfen sickerte Regenwasser durch das Gestein. Er schluckte den fauligen Geschmack in seinem Mund hinunter und betrachtete sein Gesicht in einer kleinen Wasserpfütze. Die Gier nach Fleisch war verschwunden. In seinen Wunden tummelte sich die Brut der Fliegen. Schwärme von Moskitos bedeckten seine Haut und labten sich an seinem Blut. Am Rande des Verhungerns angekommen, war sein Körper ausgemergelt und spröde. Aber sein Gesicht in der Pfütze erstrahlte, als er sich erinnerte. Die Details erschienen ihm verschwommen, als beständen sie aus unzähligen Scherben. Und all diese Splitter waren wunderschön. Er erinnerte sich an einen warmen Frühlingstag, erfüllt mit dem Duft von Kirschblüten und gebrannten Mandeln. Er hörte jubelnde Kinderstimmen und spürte das Kribbeln in seinem Bauch, als die Achterbahn über die höchste Klippe in die Tiefe donnerte. Er erinnerte sich an grüne Augen - strahlend vor Freude über diese gelungene Überraschung. Er erinnerte sich an den Geschmack von Himbeereis an seinem 5. Geburtstag und daran, dass Ron diesen Tag für ihn zu einem unvergesslichen Ereignis gemacht hatte.
Lächelnd sank er in eine Halbwelt aus Visionen und Träumen zurück. Er wusste, dass ihm diese Erinnerung niemand würde wegnehmen können.

Noch einmal wachte er auf und sah am Höhleneingang einen Falken, kurz bevor sich dieser von einem Felsen in die Lüfte erhob. Warmer Wind trug den Ruf des gefiederten Jägers weit über die Schlucht hinaus. Nachdem auch sein Echo verstummt war, schloss Jim die Augen. Er spürte keine Schmerzen mehr - auch nicht das gierige Wühlen und Schmatzen in seinem Fleisch. Bald würde sein Körper verrotten – und mit ihm auch die Bestie …


*** Ort des blauen Nebels ***



Drei Monate später



Ron hatte Tashas Angebot, bei ihr als Gast zu wohnen, abgelehnt. Er starrte auf die mit Zeitungsartikeln und Kartenauszügen zugepflasterte Wand. Vor ihm türmten sich, neben einer leeren Flasche Jim Beam, türmten sich alte Bücher, Zeitungen und Akten auf einem kleinen Tisch. Als sich die Tür öffnete, erzitterte Ron. Es war nicht weil kalter Novemberregen gegen die Fensterscheiben peitschte, sondern weil ihn die Hoffnung wie jeden Tag, wieder verließ. Nicht die vertraute Stimme seines Bruders begrüßte ihn, sondern Bill.
Ron schnaufte. Wie oft hatte er Jim nach einem Streit allein im Zimmer zurückgelassen, weil es ihm zu eng wurde. Jetzt, als er die wenigen Quadratmeter Privatsphäre nicht mehr mit ihm teilte, war jedes Zimmer viel zu groß und viel zu kalt. Ron interessierte es nicht, in welchem Motel oder an welchem Ort er sich aufhielt. Es war ihm egal, denn ohne Jim war selbst ein Palast nur ein Grab.
„Hast du was rausgefunden, Bill“, fragte er, ohne den Blick von der USA-Landkarte zwischen all den Zeitungsfetzen zu wenden. Unzählige Fähnchen steckten in ihr. Sie alle waren durch Schnürbänder mit Bethel verbunden. Die meisten Namen unter ihnen waren bereits durchgestrichen.

Ron zwang sich auf die Beine. Er ging zur Wand und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Markierung: „Was ist mit den 6 Toten in der Umgebung von Blaine, Minnesota“, fragte er seufzend.

„Ein Vampirnest“, antwortete Bill. „Eine Gruppe von Jägern hat es gestern Nacht ausgehoben!“

Ron nickte. Er nahm einen Rotstift und strich den Namen durch. Mit traurigem Blick sah er Bill an. „Die mehrfachen Bigfootsichtungen in den Rocky Mountains haben sich als gewöhnlicher Grizzly entpuppt“, berichtete er leise und senkte den Kopf. „Zwar ziemlich groß und zottelig, aber doch nur ein verdammter Grizzly.“ Fluchend schleuderte er den Stift auf den Boden, bevor er sich wieder an Bill wandte. „Was ist mit den verstümmelten Hirschen im Yellowstone Nationalpark?“ Rons Worte bebten erwartungsvoll.

Bill schnaufte: „Wahrscheinlich ein Chupacabra. Ein Freund von mir ist an der Sache dran. Er ist ein guter Jäger und hat das Biest schon einmal zu Gesicht bekommen. Laut seiner Information ist es definitiv zu klein, als das es Jim gewesen … sein … “, Bill hielt inne.

Ron holte tief Luft: „Verdammt“, stieß er hervor, „er kann doch nicht verschwunden sein. Irgendwann muss er doch …“

„… töten?“, beendete Bill leise den Satz und zog sich das Basecape vom Kopf. Er sah Ron an: „Ron…! Wir haben in den letzten drei Monaten alle verstümmelten Leichen und Vermissten im Land überprüft. Einige Jäger werden schon misstrauisch wegen meiner Fragerei.“

„Und genau denen müssen wir zuvor kommen, Bill“, fiel ihm Ron heiser ins Wort.

Bill nickte: „Okay. Der Vollmond wird nächste Woche wieder aufgehen. Vielleicht haben wir dann ...“

Betrübt sah Ron den Alten an. „Wir jag…“, er räusperte sich, „… suchen einen Stüpp, Bill! Der braucht keinen Vollmond.“

Bill knetete sein Basecape und dachte laut nach: „Du sagtest, er war nach dem Kampf schwer verletzt.“ Kurz machte er eine Pause: „Vielleicht ist er …“

„Auf keinen Fall!“, schrie Ron, „Jimmy lebt … irgendwo da draußen. Wir müssen ihn finden, bevor es die anderen Jäger tun.“

„Ron“, versuchte Bill auf ihn einzureden, „Er ist viel gefährlicher als ein Werwolf. Die meisten Jäger haben nicht einmal eine Ahnung, auf was sie sich da einlassen.“

„Eben, darum müssen wir alle ungewöhnlichen Meldungen im Auge behalten und ihn zuerst finden“, mahnte Ron.

Bill lehnte sich etwas zurück. Er sah Ron eindringlich an: „Was wirst du tun, wenn wir ihn gefunden haben?“
Bills Frage jagte eisige Schauer über Rons Rücken. „Ich meine“, fuhr der Alte leise fort, „es ist ja nicht nur Jims zweites Ich, das der Stüpp nun hat. Es sind auch die Geschichten, die Jim aus Anderswelt mitgebracht hat. Seine dunkle Seite, den Hass, das dämonische Blut…“ Bill schluckte. „Er muss doch all das in sich aufgenommen haben, als … er … er Akatash gefressen hat?“ Bill sah zu Boden: „Macht ihn das nicht …zum …“

„Zum Staatsfeind Nummer Eins“, fiel ihm Ron ins Wort und lächelte bitter. „Zunächst einmal hat er damit der Welt einen Gefallen getan!“

Bill schüttelte resigniert den Kopf. „Ich weiß. Es ist nur …“

„… Nichts ist Bill. Er ist mein Bruder!“

Das Klingeln seines Handys hielt ihn von einem Anfall blanker Zerstörungswut ab. Nervös fingerte Ron in seiner Tasche. Die Nummer sagte ihm nichts.
Mister Barker? Ron Barker?

„Ja … was ist“, bellte Ron ins Telefon.

Mein Name ist Black, Vincent Black.

„Woher haben Sie diese Nummer“, wollte Ron wissen. Am anderen Ende wurde es eine Sekunde lang still.

Ist Jim Barker Ihr Bruder, fragte die raue Stimme.

Ron riss die Augen auf. Sofort stellte er das Handy auf laut und legte es auf den Tisch: „Woher kennen Sie Jim?“

Die Stimme am anderen Ende geriet ins Stocken. Wissen Sie, ich … ich wollte nicht die Polizei … es ist … ich wollte nicht … ich will kein Aufsehen! Wieder wurde es still. Sie sollten lieber herkommen. Ich… ich kann das am Telefon nicht erklären…, stammelte Black.

„Wo sind Sie, was meinen Sie“, schrie Ron und griff wieder zum Telefon. Wie ein Tiger lief er im Zimmer auf und ab.
Ihr Bruder hat ein Tattoo – oder, fragte der Anrufer. … über seiner rechten Brust … und er hat eine besondere Narbe.
Es war, als würde der Novemberwind unter Rons Shirt gleiten. Unmerklich zitterte er und antwortete leise: „Ja, das ist richtig.“

Blacks Stimme wurde dringlicher: Ich … ich habe sie gefunden.

„Sie …?“, fragte Ron und sah verwirrt zu Bill.

Der Anrufer ließ sich nicht beirren. Fahren Sie auf dem Blue Ridge Parkway bis zum Great Smoky Mountains National Park, … er machte eine kurze Pause. Wissen Sie, wo das ist?

Ron sprach nickend. „Ja. In den Blue Ridge Mountains, das ist ein Naturschutzgebiet bei Vienna, West Virginia.“ Er sah Bill an und formulierte stumm: „Nur zwei Bundesstaaten weiter.“

Gut, murmelte der Anrufer. Der Parkway führt in weiten Teilen entlang der Appalachen und schließt dort an den Skyline Drive. Dort werde ich Sie erwarten.

„Warten Sie …wie, wie kann ich … wie erkenne ich Sie? Sind Sie vom Parkservice?“

In zwei Tagen am Skyline Drive. Seien Sie pünktlich und bringen Sie einen Arzt mit oder einen Veterinär – am besten Beides, murmelte Black und legte auf.

*

Nachdem der Ford Mustang die Interstate 40 hinter sich gelassen hatte, schlängelte er sich über den Blue Ridge Parkway, einer eigens für den Freizeitverkehr erbauten Straße. Zu ihrer Rechten erhoben sich die mächtigen Appalachen mit ihren nebelverhangenen Tälern. Fichten- und Kieferwälder lösten allmählich urwüchsige, trockene Eichenhaine ab. Die Straße verlief am Rande des Gebirgszuges, so dass sich zu ihrer Linken, getrennt durch einen Steinwall, eine Schlucht auftat. In ihrer Tiefe vereinigten sich Wildbäche zu reißenden Strömen, die zwischen mächtigen Ahorn und Kastanienbäumen dem weit entfernten Ozean entgegen donnerten.
Ron hatte das Radio auf den Empfang eines regionalen Senders eingestellt. Take me Home, Country Roads von John Denver, zwang ein bitteres Lächeln auf das Gesicht des Jägers.

„Abseits der üblichen Touristenwege ist die Natur hier ziemlich unberührt“, versuchte Tasha das Schweigen zu brechen.

„Und verdammt gefährlich“, stellte Bill fest. Er sah nach draußen. „Das ist kein Spielzeugwald mit gemähten Rasenflächen, eleganten Pfaden und Hinweisschildern. Dieser Urwald gehört zu den ältesten der Erde. Wer hier verschwindet, taucht niemals wieder auf.“

„Was hat Black nur gemeint“, dachte Ron laut. Tasha sah Bill hilflos an. Sie klammerte sich an ihre Arzttasche.

Bill schnaufte. „Schon möglich, dass Jim hier untergetaucht ist. Es passt zu ihm. Es ist so gut wie unmöglich, ihn hier zu finden.“

Ron hob die Brauen: „Aber es gibt auch sehr wenig Menschen hier. Vielleicht will er niemanden verletzen.“

Bill lächelte bitter. „Vergiss nicht, was er ist, Ron!“

Tasha schüttelte den Kopf. Die Geschichte mit dem Stüpp war derart unglaublich, dass sie es nicht wahrhaben wollte. Allerdings erinnerte sie sich an den Schrei hinter den Mauern der Lagerhalle. Dieser war alles andere als menschlich gewesen und ließ sie immer noch erschauern.

„Seht!“ Bill zeigte auf ein vorbeirauschendes Hinweisschild. Skyline Drive 5 Meilen. Rons Finger legten sich fester um das Lenkrad. „Na dann“, schnaufte er und trat auf das Gas.

Am Skyline Drive fiel das Licht der Morgensonne auf einen Pickup, versteckt unter alten Kiefern. Nagender Rost hatte seine Oberfläche in eine Kraterlandschaft verwandelt, die langsam zerbröselte. Ron ließ seine Mitfahrer im Ford Mustang zurück und ging auf den Transporter zu.
Die Tür öffnete sich und ein Mann mit sonnengegerbter, dunkler Haut und schwarzem Hut eilte ihm entgegen. Er trug ein Jeanshemd, eine Jeanshose sowie hohe Cowboystiefel. Pechschwarzes, langes Haar wurde in seinem Nacken von einer mit Stachelschweinborsten und Federn geschmückten Spange zusammengehalten. Seine tiefdunklen Augen leuchteten warm. Als er sich als Vincent Black vorstellte, ergriff Ron seine Hand.
„Es ist besser, wenn ich ab jetzt fahre“, sagte Black und betrachtete schmunzelnd den Ford Mustang.

Nachdem alle eingestiegen waren, musterte Black Dr. Horn. „Ist sie die Medizinfrau“, fragte er.

Rons Geduld war am Ende. „Warum konnten Sie am Telefon nichts erzählen“, platzte es aus ihm heraus, noch bevor Tasha antworten konnte. Blacks Blick streifte einen am Innenspiegel baumelnden Traumfänger. In seinen Glasperlen glitzerte Sonnenlicht und jede seiner Federn vibrierte leicht, als hätte sie jemand angepustet. Ein leises Schnaufen stieß unter seiner großen, kantigen Nase hervor, als er seinen Pickup geschickt über den Pfad manövrierte. „Im Herzen eines Mannes kämpfen zwei Tiere“, antwortete er unvermittelt. Als seine Fahrgäste schweigend ihre Schultern hoben, sprach er weiter: „Ich dachte mir, dass Sie das ohne Behörden regeln möchten. Manche Dinge versteht eure Welt nicht. Aber ich glaube, Sie sind anders. Sie wissen mehr.“ Er sah Ron tief in die Augen und erklärte: „Ich werde Sie zu Ihrem Bruder bringen. Ich habe Sie gerufen, weil er mich darum gebeten hat und weil ich glaube, dass Sie sein Geheimnis schützen werden.“

Ron rutschte auf seinem Sitz hin und her. Die feuchten Hände vergrub er in seinen Hosentaschen. Tausend Fragen brannten auf seinen Lippen. Black schien diese Gedanken zu erraten und lächelte. „Es geht ihm gut – aber er muss noch etwas zu Ende bringen. Verstehen Sie das?“
Dornengestrüpp, hohes Gras und Schösslinge hatten den Pfad fast zuwachsen lassen. Selbst Ron als geübter Fährtenleser war kaum noch in der Lage auch nur den Hauch einer Richtung zu erahnen. Angespannt sah er nach draußen. „Welchem Stamm gehören Sie an, Black?“, fragte er schließlich.

„Ich bin ein Cherokee“, antworte der Indianer. Er schloss für einen Moment seine Augen. „Dieses Land war die Heimat meiner Vorfahren. Die Cherokee nannten diese Berge Shalonage, Ort des blauen Nebels.“
Black schwieg wieder einen Moment. „Als der weiße Mann kam, versteckten sich einige der Cherokees in dieser Region. Ihre Nachfahren leben heute im Indianerreservat Qualla.“ Er hielt den Atem an. Seine Finger umklammerten das Lenkrad. „Ich habe mich für die Freiheit entschieden und nicht für Almosen“, sagte er voller Stolz. Seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen musterten Ron. „Wie ihr Bruder. Auch er besitzt den Mut, das zu ändern, was er ändern kann.“ Black sprach unbeirrt weiter: „Sie haben Glück. Ich kenne diese Wälder besser als jeder andere. Ich verstehe das Flüstern des Windes.“

„Wo haben sie Jim gefunden“, drängte Ron. Seine Stimme stolperte ihm über die Lippen. Mittlerweile wurde der Pickup kräftig durchgeschüttelt und seine Insassen schaukelten auf den durchgesessenen Ledersitzen. Riesige Farnwedel erstreckten sich über den moosigen Boden.

„Ich habe ihn nicht gefunden. Ich wurde zu ihm gerufen“, antwortete Black. Er sah Ron an: „Manchmal, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, wenn eine besondere Seele wiedergeboren wird, verändern sich die Dinge. Das Wetter verhält sich anders. Die Tiere verhalten sich anders. Manche von ihnen fliehen – andere versammeln sich.“ Black sah kurz in den Wald. „Tagelang kreiste ein Falke über meinem Feuer. Die Hirsche flohen aus der Gegend und Wölfe sammelten sich zu ungewöhnlichen Tageszeiten. Ich wusste, dass etwas in diesen Wäldern war – etwas Uraltes, und der Falke wies mir den Weg. Verstehen sie Ron, ich durfte sie nicht dem Tod oder den Behörden überlassen.“ Er presste kurz die Lippen zusammen und flüsterte: „Und nicht den Jägern eurer Welt.“ Mit diesen Worten stoppte Black den Wagen. „Ab hier geht es zu Fuß weiter“.

Erstaunt zogen Tasha, Bill und Ron ihre Köpfe tiefer in die aufgerichteten Kragen ihrer Jacken. Rauer Wind pfiff zwischen knorrigen Bäumen hindurch und sorgte für fast winterliche Temperaturen.
Nachdem sich die Gruppe eine Meile durch dichtes Unterholz gekämpft hatte, erreichten sie einen Felsquell. Aussprudelndes Wasser hatte die Fundamente einer alten Brücke ausgehöhlt. Nur nacheinander wagten sie sich über die roh behauenen Hölzer.
Im Schatten uralten Erlen, wo Moos auf umgestürzten Stämmen wuchs, tauchte eine windschiefe Hütte mit einem Dach aus Teerpappe auf. Glasscherben klirrten in ihren Fensterkreuzen. An der Außenwand klebten die Überreste eines Schornsteins. Hinter der trostlosen Baracke verteilten sich mehrere solcher Ruinen auf einer kleinen Lichtung. Dornenranken krochen aus ihrem Inneren. Bei den meisten Gebäuden waren die Dächer eingestürzt. Raben hockten auf den blanken, gen Himmel ragenden Sparren. Das eiserne Skelett eines Sofas lehnte aufrecht neben einer ausgehebelten Tür an der Mauer einer Baracke. Eichhörnchen hatten sämtliche Holzwolle aus Federn geraubt. Zwischen verrottenden Brennesselbüschen war der Boden bedeckt mit Tonscherben.
Black kickte die Überreste einer Klobrille zur Seite. „Hier haben die Letzten aus meinem Stamm ihr Leben gefristet“, murmelte er bitter, als sie den traurigen Ort durchquerten. Er sah Ron fragend an. „Nennt man das Zivilisation? Oder Kultur? Wissen Sie“, erklärte Black, „das Volk der Cherokee ist sehr naturverbunden. Für uns sind Gestaltwandler nichts Böses. Jedem Menschen wird bei seiner Geburt ein Tier zugeordnet. Meine Vorfahren konnten sich in Trance versetzten und so mit ihren Bären, Adlern oder Wölfen sprechen. Die würdigsten Krieger unter ihnen vermochten sogar, die Gestalt ihres Tieres und somit seine Stärke anzunehmen.“ Kurz schien Black zu überlegen. „Es ist eine Ehre und eine Art Symbiose. Ich kann es mir nicht anders erklären – aber er wollte, dass ich sie finde.“

„Wer?“ entwich es Ron.

„Der Falke …“

Nach einer weiteren halben Meile Brennnesseln und Steinen schob Vincent Black riesige Baumfarnwedel auseinander. Er zwängte sich über einen kaum erkennbaren Pfad durch Dornengestrüpp. Nickend wies er seine Begleiter an, ihm zu folgen. Vereinzelte Spuren einer Axt in den Baumstämmen verrieten geübten Augen, dass der Trampelpfad nur gelegentlich benutzt wurde. Nachdem sie eine sumpfige Wiese überquert hatten, erblickten sie im Schutz von Riesenzedern ein Tipi.
Bisonfelle waren über ein Gestell aus Nadelholz gelegt, an der Vorderseite überlappt und mit kleinen Holzstäben zusammengesteckt. Sie waren kunstfertig mit Verzierungen bemalt, die auf den hohen Rang seiner Bewohner hinwiesen. Über dem Eingang befand sich eine Rauchöffnung mit zwei Klappen, die von zwei Stangen gehalten wurden. Sanft kräuselte sich der weiße Rauch eines Holzfeuers aus einer der Öffnungen.

„Nur Mut“, flüsterte Black, am Tipi angelangt. Er hatte Rons Zögern bemerkt. Der Ledersaum zitterte in seinen Händen. „Gehen Sie zu ihm!“

Ron nickte. Durch seine erhobene Hand hielt er Tasha und Bill davon ab, ihm zu folgen. Langsam schob er sich durch den kleinen Eingang.
Die Luft drinnen war warm, aber nicht abgestanden. Vielmehr empfing ihn würziger Duft von Kiefernadeln und Tabak. Ein kleines Feuer tauchte die Umgebung in warmes Licht.
Mit einem Durchmesser von 6 Metern war diese Behausung viel größer als Ron erwartet hatte. Schnitzereien, kunstfertige Waffen, mehrere Friedenspfeifen und Elfenbeinschmuck verzierten ihre porigen Wände.
Neugierig wanderten Rons Blicke in die Mitte des Raumes. Dort befand sich ein großes Lager aus Tierfellen.
Unvermittelt erfüllte ein leises Keuchen, gefolgt von einem Schrei, der dem Tod näher als dem Leben war, seine Ohren. Suchend nach dem Ursprung der Geräusche entdeckte Ron schließlich den reglosen Mann am anderen Ende des Tipis. Er hatte ihm den Rücken zugedreht. Sein freier Oberkörper war über und über mit indianischen Schriftzeichen bemalt. Wie ein riesiges Tattoo bedeckten ganze Jagdszenen seine feucht schimmernde Haut. Im lebhaften Flackern des Lagerfeuers schienen sich die Figuren mit dem Spiel seiner Muskeln zu bewegen.
Ron zögerte. Aber die ungewöhnliche Größe des Mannes, das wellige braune Haar über seinen Schultern und die Art wie er sich langsam umdrehte um ihn anzusehen, ließen alle Zweifel schwinden.

„Jim …“, flüsterte Ron und spürte, wie seine Beine nachgaben …

„Woah, woah, woah …Ron!“ Mit einem mächtigen Satz hechtete Jim über das Schlaflager und packte zu.
Ron spürte verschwommen, wie sich Jims Finger in seinen Schultern verkrallten. Eine vertraute, wenn auch aufgeregte Stimme quälte sich durch undurchdringlichen Nebel: „Alter, geht es dir gut?“

Mit besorgtem Gesicht kniete Jim am Boden und schüttelte Ron. „Hey – alles okay“, versuchte er es noch einmal und hielt den Atem an. Endlich regte sich Ron. Einem ersten Impuls folgend, ballte er die Hand zur Faust und knirschte mit den Zähnen.
Jim lächelte. Er ahnte Rons Gedanken – und erinnerte sich an Bills Drohung. Ja - in seinen Augen hatte er einen kräftigen Faustschlag verdient. Aber die Freude des Wiedersehens ließ ihre beiden Herzen schneller schlagen. Ron wischte sich mit dem Handrücken Staub von den Lippen und blinzelte. Die Zeichnungen auf Jims Haut irritierten ihn. „Jimmy - geht es dir gut? Warum …hast du …nichts“, flüsterte er und versuchte aufzustehen, fiel jedoch zurück. Hüstelnd wühlte er im braunen Haar seines Bruders und zog mit zwei Fingern einen kleinen geflochtenen Zopf hervor. Er hatte sich in der zerzausten Mähne des Jüngeren gut versteckt und war nicht der einzige. Glasperlen und Falkenfedern schmückten die filigran verwobenen Haarsträhnen über seinen Schläfen. „Was soll das, Jim?“ Ron schob die Brauen zusammen: „Sag mal, machst du jetzt einen auf Der mit dem Wolf tanzt“, brummte er, immer noch benommen.

Jim schloss seufzend die Augen. „Ich … ich … es tut mir leid … Ron.“

„Er war bis vor zwei Tagen noch bewusstlos“, verteidigte ihn Black. „Und … diese Zeichnungen, sowie der Schmuck sind von mir. Sie erleichtern die Trennung!“ Der Cherokee war Ron in das Tipi gefolgt und verwehrte Bill und auch Tasha den Eintritt. „Ehrlich gesagt, hatte ich bis vor zwei Tagen noch damit gerechnet, dass er stirbt“, murmelte Black. Mit einem tiefen Atemzug wanderte sein Blick auf einen Korb aus geflochtenen Weidenruten an der gegenüberliegenden Wand. „Nun sieht es so aus, als ob er stirbt…“

„Er stirbt“, entwich es auch Jim. Sein Brustkorb weitete sich, als warme Luft seine Lunge ausfüllte. „Ich weiß nicht, ob es an den …“, etwas ungläubig sah er an sich herab, „Zeichnungen liegt – oder …!“ Mit einem kräftigen Ruck zerrte er Ron auf die Beine.

Ron stutzte: „Er?“ Seine Beine zitterten immer noch.
Ein Windstoß ließ die Wände des Tipis flattern, fuhr ins Lagerfeuer und trieb winzige Funken in die Höhe. Alles flackerte in rostigem Licht.
Ron war sich allerdings sicher, dass die Schatten in Blacks und Jims Gesichtern nicht vom Schein des Lagerfeuers kamen. Er erkannte Trauer in ihren Augen. Da er keine Antwort erhielt schob er die Hand in seinen Stiefelschaft und zog ein Schnappmesser heraus. Eine Waffe, die Ron seit dem zarten Alter von 8 Jahren immer bei sich trug. Misstrauisch fixierte er den Korb.
Jim seufzte und schüttelte seinen Kopf.
Jetzt hörte Ron das Geräusch wieder. Diesmal war es kein einzelnes Stöhnen, sondern eine ganze Serie von Lauten, dünn und zerbrechlich wie Glas, die zu seiner Erleichterung, tatsächlich nicht von Jim stammten. Ungläubig sah er auf die Quelle. Dieser Korb erinnerte ihn an eine Wiege und etwas lag darin. – Etwas, das Jim ihm zeigen wollte, denn er ging zielstrebig darauf zu. Am Ziel angelangt blieb Jim stehen und sah kurz über seine Schulter. „Du brauchst das Messer nicht, Ron“, raunte er, als er sich bückte und ein Bündel Schafsfell so behutsam in die Arme nahm, als sei darin sein eigenes Kind eingewickelt. „Ich weiß nicht, warum. Aber er hat mich nicht ausgezehrt. Dabei hätte er mich töten – oder zum Töten zwingen können. Aber er tat es nicht. Stattdessen hat er sein Leben geopfert, um meins zu erhalten“, murmelte Jim während er auf Ron zuging. Mit feuchten Augen schlug er das Fell zurück: „Er wollte nur eins … er wollte leben!“

„Scheiße … Verdammt!“ Entsetzt wich Ron einen Schritt zurück und hielt sich die Hand vor den Mund. Er musste würgen. Ein Schemen dampfenden Fleisches blitzte vor seinen Augen auf. Fauliger Atem, der ihm entgegen strömte, flimmernde Hitze, die der blanke Körper abstrahlte und das plötzliche Gefühl vertrauter Nähe ließen Ron wanken. Er brauchte drei bis vier Sekunden, bevor er wieder einen festen Stand hatte. Aus einiger Entfernung betrachtete er das bedauernswerte Geschöpf, dessen Last er auch einmal geschleppt hatte. Es streckte ihm seine rohen Ärmchen entgegen. Mit jeder Bewegung entwichen seinem Rachen, es war nur ein zahnloser Tunnel, klägliche Laute. Als es den Schädel nach hinten zog, kämpfte sein magerer Brustkorb um Sauerstoff. Mühsam hob und senkte er sich und jedes Mal schimmerten Rippen und Beckenknochen unter ausgezehrtem Fleisch.

Nur wenige Herzschläge verstrichen, dann schob sich Bill, gefolgt von Tasha in das Tipi. Auch sie erstarrten. Die abgebalgte, heftig pulsierende Gestalt hatte etwas Hundeartiges, aber nur grob ausgebildet, so als sei sie zu früh geboren. Sie öffnete den Mund, um einen weiteren Schrei auszustoßen. Ihre trüben Augen rollten in lidlosen Höhlen unter einer blutig-glänzenden Stirn. Aber nur noch ein Röcheln brachte sie hervor. Dann sanken ihre abgeschälten Gliedmaßen in das Schafsfell zurück, ihr Kopf fiel zur Seite. Sie verstummte.

„Ist …“, eigenartigerweise zitterte Rons Stimme, obwohl er den Stüpp doch hasste, „ist … er tot?“

Jim sagte nichts, aber sein Gesicht war schmerzerfüllt. Schnell bedeckte er die Kreatur und trug sie zurück. Mit langsamen Schritten folgte ihm Black. Er legte seine Hand tröstend auf Jims Schulter: „Wir werden für ihn tanzen“, flüsterte der Indianer: „… der rote Staub wird sich unter unseren Füßen in die Lüfte erheben. Unser Gesang wird gleich einem Falken über die Täler gleiten.“
Als Jim sich wortlos zu ihm umdrehte, glitzerten Tränen auf seinen Wangen. Black nickte ermutigend. „Du musst nur die Augen schließen, Junge - um es richtig hören zu können. Das Stampfen der Mokassins, in dem sich tausend, dann zehntausend meiner Brüder und Schwestern wiederfinden. Ihre Füße werden wie die donnernden Hufe der Büffel sein, wenn sie wiederkehren. Wir werden eine Stimme senden. Zu den Himmeln des Universums werden wir gemeinsam eine Stimme senden, die seine Seele begleitet!“

***

Als der Mond im Zenit stand und das Tipi in seinem weißem Licht erstrahlte, war alles für die Feuerbestattung aufgebaut. Vincent Black tanzte den Geistertanz seiner Ahnen, bis in den letzten Stunden der Nacht aufkommender Wind graue Rauchschwaden über die Lichtung trieb. Der Mond verschwand für einen Moment, um gleich darauf erneut zwischen rasch vorbeiziehenden Wolken aufzutauchen. Morgentau legte sich auf die Farne, ließ das moosige Erdreich aufquellen und verstärkte den wilden Geruch des Waldbodens. Durch die flimmernde Hitze des Totenfeuers raschelte das Laub in den Zweigen der Bäume. Erst im Licht der Morgensonne, das in silbernen Streifen durch ihre Kronen brach, ermüdeten die Flammen. Schweigend beobachteten Vincent, Tasha, Bill und die Brüder Jim und Ron die allmählich schrumpfenden Feuersäulen.
„Vincent, was ist hier passiert“, fragte Ron leise. „Welchen Hokuspokus haben wir hier veranstaltet?“ Ron hatte Jims Wunsch zugestimmt, die Überreste der Kreatur zu bestatten und nicht erneut zu versuchen, sie in einer Kiste zu bannen. Denn, obwohl er den Stüpp hasste, für das was er ihnen Beiden angetan hatte, spürte er tief im Herzen auch Dankbarkeit. Jim hatte durch ihn überlebt und nur das war von Bedeutung.

„Es war vorherbestimmt“, erklärte Black, „Ich bin nur dem Falken gefolgt.“ Er schnaufte. Sein Blick weilte für einen Moment auf der erkaltenden Glut. „Weißt du, Ron, der Falke bringt unsere Gebete zu Wakan Tanka**. Und mit dem Geistertanz begleiten wir die Seelen unserer Toten auf dem Weg dorthin.“ Seine dunklen Augen streiften kurz über Jim, der tief in seinen Gedanken versunken war.
Black fuhr fort: „Ein Teil deines Bruders ist heute gestorben, denn als ich ihn vor 12 Wochen fand, wusste ich sofort, dass er nicht allein war. Welcher Wakan* mit ihm die Seele teilte, konnte ich nicht erkennen. Aber er hat für ihn gesorgt. Er gab ihm die Kraft, das Fieber zu überstehen. All die Wochen, in denen Jim mit seinen inneren Dämonen rang, wich er nicht von seiner Seite.“

Ron grinste bitter. „Naja, mit einem EMF-Messer hättest du ihn zumindest gehört“, flüsterte er.

Black räusperte sich irritiert, dann sprach er weiter. „Es ist zwei Tage her, seit Jim aufgewacht ist. Seine Wunden sind narbenlos verheilt, bis auf den Hieb eines Raubtieres auf seiner Brust.“ Er machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick über den Horizont wandern. „Und in dem Augenblick, als Jim die Augen aufschlug, fiel er von ihm“, murmelte Black. Er packte Ron an den Schultern. „Versteh – er hat ihn freiwillig verlassen!“

Ron zog den Kopf in den Nacken und zischte: „Dieses Ding …“

„… Es war ein Wolf“, berichtigte ihn Black. Ron hob erstaunt die Brauen. Black wusste nichts von den Geschöpfen, die sie jagten. Doch die mystischen Interpretationen seiner Beobachtungen kamen der Wahrheit auf beängstigende Weise nahe. Ron nickte: „Dieser Wolf …ist sehr gefährlich. Er hat viele Menschenleben auf dem Gewissen.“

„Ich weiß“, erwiderte Black, „aber irgendetwas hat ihn verändert!“

Ron senkte den Kopf. „Vielleicht das Leben“, murmelte er.

Plötzlich starrte Jim Ron an, als hätte er einen Geist gesehen und wiederholte. „Leben!“ Als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen, atmete er ein. „Es ist vorbei, Ron, er kommt nicht wieder zurück“, stieß er mit einer Überzeugung hinaus, die Erstaunen auf die Gesichter der Anwesenden legte. Um seine Mundwinkel zuckte ein Lächeln.

„Was macht dich da so sicher, Jim?“, fragte Bill. Der alte Jäger wusste immer noch nicht, ob sie das Richtige getan hatten.

Jim legte die Hand auf seine Brust. Der Muskel zuckte unter seinen Fingern, als er zärtlich über die Narbe strich. „Er wollte nur leben“, überlegte Jim laut, „er wurde ja nie geboren.“ Dann seufzte er: „Aber nun ist er zuhause!“
Ron kniff ratlos die Augen zusammen. Auch Bill hob resigniert die Schultern.
„Versteht ihr es denn nicht“, erklärte Jim mit großen Augen. „Seit wir den Stüpp gejagt haben, seit er mich gezeichnet hatte, war der Weg vorherbestimmt!“ Jim sah auf das erloschene Feuer, als er weiter sprach. „Sie konnte ihn nicht zu sich holen, denn er hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen … wir alle hatten eine Aufgabe.“

„JIM!“, stieß Ron hervor. „Könntest du mal etwas deutlicher werden?“

„Nichts war jemals Zufall“, murmelte Jim.

„Was“, schrie Ron.

Ein Schatten legte sich über Jims Gesicht. „Alles!“ Mit Tränen in den Augen sah er Ron an. „Lillys Tod – Ihre Seele war der Grund dafür …“, Jim schloss die Augen und verstummte.

„Dass du diese Geschichten ertragen hast…“, flüsterte Ron und spann den Gedanken weiter. „Der Dämon, der die Welt in Finsternis stürzen wollte …Akatash…“

„Er… hatte mein Gesicht!“ Jetzt war es Jim der Ron ins Wort fiel. „Die zwei Herzen, von denen ich eins aus meiner Brust …“

„Jim, hör auf“, stieß Ron hervor. Sein Atem setzte für einen Moment aus, als die Offenbarung wie ein Blitz hinter seinen Schläfen einschlug. „Die Beschützerin der ungeboren Seelen!“

Jim nickte: „Frigg kennt das Schicksal aller Wesen und wusste, dass ich nur mit der Hilfe des Stüpps Akatash besiegen würde.“ Er packte Ron an der Schulter und schüttelte ihn kräftig. „Wir konnten ihn damals nicht töten, weil sie nicht bereit war, seine ungeborene Seele zu sich holen … Noch nicht!“

Ein Schrei zwang ihre Blicke zum Horizont. Hoch über den Tälern der Blue Ridge Mountains zog ein Falke seine Kreise. Er schien auf den Strahlen der Sonne zu reiten, als er plötzlich vom Himmel stieß. Mit sanften Flügelschlägen schwebte er einige Sekunden über der erkaltenden Asche des Totenfeuers, bevor er sich wieder in die Lüfte erhob und in der verblassenden Morgenröte verschwand.

< Nur die Seele, die absolute Finsternis ertrug, wird für das Licht kämpfen – Danke Krieger>
Sie alle hörten die Worte und ihre Blicke folgten dem Flug des Falken.

Black fand als erster seine Stimme wieder: „Also, bei uns heißt sie Wakan Tanka“, brummte er mürrisch.

Ron zog lachend den Kopf in den Nacken und schlug dem Indianer auf die Schulter: „Glaub mir, Alter, sie hat viele Namen!“ Er zwinkerte dem verblüfften Black zu: „Und sie sieht verdammt heiß aus, wenn sie die Federn abwirft!“

*

„Mann, Alter“, raunte Ron und zog genüsslich an der Friedenspfeife. „Das Zeug haut aber rein. Bist du sicher, dass ich jetzt noch Auto fahren kann?“
Black lächelte. „Es bringt dich den Göttern näher! Außerdem haben wir noch einen ordentlichen Fußmarsch bis zum Skyline Drive.“
Ron reichte die Pfeife an Bill weiter und rieb sich die Hände über dem kleinen Lagerfeuer. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das mit den Göttern überhaupt will“, antwortete er kopfschüttelnd. Dann wandte er sich wieder an Black: „Ist ziemlich frisch hier draußen.“ Mit einem verschmitzten Grinsen beobachtete er, wie Jim, gefolgt von Tasha aus dem Tipi kam. „He Jimmy, du siehst ja wieder aus wie ein Bleichgesicht!“

„Halt die Klappe, Ron“, zischte Jim und schloss den obersten Knopf seines Hemdes.

„Und?“ Ron sah Tasha fragend an, „Ist er wieder fit?“

„Keine Anzeichen von irgendwelchen Verletzungen“, bestätigte Dr. Horn Rons ersten Eindruck.

Bill grinste: „Sag mal, Tasha, das hat ja ziemlich gedauert. Haben Sie, verehrte Frau Doktor, etwa Jims physische Leistungsfähigkeit auch noch getestet?“
Schallendes Gelächter erfüllte die kleine Lichtung.

*

Ron schlug mit den Händen auf seine Oberschenkel. Er betrachtete den staubigen 1967 Ford Mustang am Rande des Parkplatzes und seufzte. Die eingedrückte Tür und den Auspuff hatte er bereits repariert. Aber noch immer wartete das zerkratzte Dach auf eine neue Lackierung. Langsam bildete sich Rost in den tiefen Furchen. „Ich denke, wir sollten aufbrechen, sonst müssen wir noch eine Nacht hier draußen verbringen und ehrlich gesagt, ich könnte dringend ein Bett gebrauchen“, sprach er leise und lächelte Tasha an. „Grüß Inspektor Warren von uns!“

„Na, der wird sich freuen“, griente Tasha. „Stan ist gerade damit beschäftigt, wieder Ordnung in seine Stadt zu bringen!“ Fragend sah sie Jim an: „Warum bleibt ihr nicht noch ein Weilchen. Ihr habt eine Auszeit verdient“, flüsterte sie.

Jim zog den Kopf in den Nacken und pfiff durch die Zähne: „Ich glaube nicht, dass Warren uns sehen will. Wir haben genug Schaden in Bethel angerichtet.“

„….und ganz nebenbei die Welt gerettet“, beendete Tasha seinen Satz.

„Tasha“, Jim ergriff ihre Handgelenke. Mit warmen Augen sah er sie an. „Ein Freund von uns braucht dringend Hilfe!“

„Hört das denn nie auf“, seufzte Tasha.

„Wahrscheinlich nicht“, murmelte Jim und senkte den Kopf. „Also - ich ruf an. Danke, Tasha … für alles!“ Mit diesen Worten machte er kehrt, um Ron, der bereits zum Wagen ging, mit großen Schritten einzuholen.
„Ich hasse Verabschiedungen“, murmelte Jim, als die Brüder auf gleicher Höhe waren.

„Ich auch“, erwiderte Ron. Abrupt blieb er vor dem Ford Mustang stehen und verpasste Jim mit einer unerwartet schnellen Bewegung eine Kopfnuss.

„Autsch…! Alter, wofür war das denn“, jammerte Jim und rieb sich den Hinterkopf.

Ron sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Er hob drohend den Zeigefinger. „Jimmy! Wenn du noch einmal mein Baby zerlegst – egal, ob du besessen bist oder nicht, dann bring ich dich um. Das schwöre ich dir!“ Entschlossen kramte er den Schlüssel aus seiner Jeanstasche und eilte zur Wagentür. „Auf nach Massachusetts. Ich fahre!“


*** Epilog ***

LEBEN war alles, was er ersehnt hatte. Über 400 Jahre gebannt, träumte er davon, frei zu sein. Schon einmal war er diesem Traum so nah, dass er atmen konnte. Aber er wurde besiegt.
Nun, unverhofft und in größter Not, willigte der Jäger ein. Er gab nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Erinnerungen her.
LEBEN war alles, was er erhofft hatte. Warme Haut, ein schlagendes Herz, fließendes Blut in den Adern und ein vollkommener Körper waren endlich sein. Doch tausende Geschichten aus Anderswelt überfluteten ihn mit Trauer, Schmerz, Hass und Sehnsucht. Sie marterten seinen Verstand mit Bildern – schrecklicher, als er sie je hätte zustande bringen können. Tiefe Wunden quälten seinen Körper und unvorstellbare Angst raubte ihm den Atem.
LEBEN war alles, was er geschenkt bekam. Denn er hatte nie eins besessen. Aber wenn LEBEN bedeutete, jeden Tag mit dieser Last zu erwachen, dieses Leid zu erdulden und diese Erinnerungen zu schleppen, wenn LEBEN bedeutete, auf ewig gegen sich selbst zu kämpfen und nie ein Zuhause zu finden, dann lehnte er dieses Geschenk ab, denn der Stüpp hatte sich geirrt. Das Leben war nicht wunderbar oder zärtlich und schon gar nicht frei. Es war schmerzhaft, brutal und ungerecht - und es würde eines Tages so blutig und grausam enden, wie es immer begann … aber nicht heute – nicht jetzt … und nicht durch seine Schuld!




*** ENDE ***


Impressum

Texte: alle Rechte beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
... Gewidmet meinen Lieblingsautoren S. King, C. Barker und H.P. Lovecraft - die mir das Fürchten lehrten ...

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