*** Fieber ***
Die langsame, summende Bewegung des Deckenventilators vermochte es nicht, die heiße Luft im Raum abzukühlen. Rostige Eisenwände hatten den unerträglich schwülen Sommertag aufgesaugt und gaben nun diese Hitze gnadenlos ab. Das spärlich eingerichtete Zimmer schien sich unter dem schwachen Licht der Glühlampe im Flimmern der Luft aufzulösen.
Zwei Männer standen schweigend nebeneinander und blickten mit müden Augen auf den reglosen Körper, der auf einem riesigen, schweren Eichentisch, in der Mitte des Raumes unter einem Pentagramm, gefesselt lag. Nur ein winziges Heben und Senken des Brustkorbes verriet, dass noch Leben durch diese Adern floss.
Deutlich waren den Beiden die Anstrengungen, Verluste und Schmerzen der vergangen Stunden anzusehen. Die Gesichter waren immer noch gezeichnet vom Schrecken. Schwarzrote, krümelige Krusten von Dreck und Blut verklebten Haare und Stirn. Die verschmierten Hemden schienen mit der rostigen Umgebung eins zu werden. Nur vereinzelt verrieten dunkel glänzende Stellen, wo sich weitere Wunden unter dem Stoff verbargen.
Mit fast zittriger Stimme fragte der Jüngere: „Wird er es überleben?“ Flehende Augen, als könnten sie die Wahrheit, die er bereits kannte, verändern, sahen den Älteren an.
Bobby konnte dem Blick nicht mehr standhalten. Seufzend senkte er den Kopf - es hatte den Anschein als wollte er sein Kinn auf der Brust zur Ruhe betten. „Komm Dean, wir müssen rauf gehen, deine Wunden versorgen bevor du verblutest“, murmelte er - wohl mehr zu sich, als zu seinem Freund.
„Wird er es überleben?“ Deans Stimme wurde energischer. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und quetschten frisches Blut zwischen seine Finger.
„Bobby!“ Deans Wort zerriss die schwüle, rostige Luft.
Der alte Jäger hob den Kopf. „Dean – wir können hier nichts mehr tun – Er ist tot!“ Sein tränennasses Gesicht wandte sich in Richtung des gemarterten, schwer atmenden Körpers. „In seinen Adern wütet unvorstellbares Grauen – Dunkel und so voller Wut und Hass – schlimmer als ALLES was wir jemals gejagt haben!“
Ein harter Griff riss an ihm. Bobby spürte wie sich Deans Finger in seine Schulter bohrten und langsam verstärkte sich der Druck – als seien es Schraubstöcke. Seine Narben platzten auf. Hellrotes Blut sickerte durch sein Hemd. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er sich aus dem Griff zu befreien. „Dean!“, schrie er. Heißer nach geronnenem Blut riechender Speichel bahnte sich explosionsartig einen Weg durch die Luft.
Dean konnte Bobbys Schrei auf seiner Haut spüren. Er löste seinen Griff und wischte sich mit der Handfläche über das Gesicht. Durch seine tränennassen Augen war er kaum noch in der Lage etwas zu erkennen. Ohnmächtig vor Verzweiflung und Wut, gab er dem Wunsch seiner zitternden Knie nach und sank stumm zu Boden. Seine Hände stützten sich auf seine Schenkel als er sich dem grellen Schrei aus seinem Innersten nicht mehr erwehren konnte:
„Nein!“
Seine Stimme zerfetzte das gleichmäßige Summen des Ventilators. Keuchend atmete er wieder ein und sah auf den leblosen Körper. „Du verdammter Mistkerl – wie konntest du das tun! Wieso hast du das nicht erkannt? Warum hast du nicht ein bisschen auf dich aufgepasst!“
Bobby hatte sich zu Dean herunter gebeugt um ihm auf die Beine zu helfen. Er ließ es willenlos geschehen. Er spürte wie sich seine Kehle zuschnürte, wie sein Herz verkrampfte als wäre es mit einem Stahlband gefesselt. Kein klaffender Schnitt in seinem Fleisch, keine blutunterlaufene Prellung und keine gebrochene Rippe konnten diesen tiefsitzenden Schmerz übertreffen. Mit gequälten Augen sah er zu seinem Bruder herüber. „Das wollte ich nicht Sammy – ich wollte dir nie wehtun – ich hatte doch keine Ahnung - ich wollte dich beschützten – ich wollte dass du lebst! Sammy!!!
Eine schwere Eisentür fiel krachend ins Schloss als die beiden Männer den Raum verließen.
Nur das monotone Summen des Ventilators begleitete den schwachen Atmen des jüngsten der Jäger im flimmerndem Licht einer sterbenden Glühlampe.
***
Mit einem tiefen Atemzug bäumte er sich auf – bis ihn Etwas Einhalt gebot.
Messer schienen seinen Körper zu zerschneiden. Jeder Atemzug der seine Lungen füllte, bereitete ihm unerträgliche Schmerzen – als würde er ertrinken. In seinem Kopf hämmerte es brutal und das Dröhnen in seinen Ohren schien von Sekunde zu Sekunde lauter zu werden, nur mit dem Zweck, seinen Schädel zu sprengen. Sein Blut pulsierte mit unglaublicher Geschwindigkeit, wie die flammenbewaffneten Rinnsale eines Vulkanes und schien jede Erinnerung in seinem Körper weg zu brennen.
Über seine geschwollen, blutigen Lippen kam ein Stöhnen, als sein Brustkorb wieder tiefer sank. Er versuchte die Augen zu öffnen. Hinter einem roten Schleier nahm er eine Bewegung wahr. Es war nur ein Schatten der sich in kurzen, rhythmischen Abständen an einem Licht vorbei schob…
Ein unersättlicher Hunger bahnte sich einen Weg durch seine Eingeweide, breitete sich im Magen aus und kroch unerbittlich seinen Hals hinauf um als Schrei heraus zu brechen! Noch bevor sein Stöhnen zum Schreien werden konnte, umarmte ihn die Dunkelheit erneut und ließ ihn gnädig in ein schmerzfreies Nichts zurück gleiten.
***
Dean wusste nicht wie lange er schon gesessen hatte. Seine Verletzungen waren versorgt und sein geschundener Körper begann die Spuren des Kampfes zu verwischen. Das frische Shirt klebte bereits wieder auf seiner Haut. Er hatte nichts bemerkt vom Sommergewitter, dass da draußen die Hitze aus der Luft gewaschen hatte und endlich wieder ein Durchatmen ermöglichte.
Hier unten in seinem eisernen Verließ schienen sich Hitze, Rost, Staub und verstreichende Stunden zu einem alles verschlingen Brei zu vermischen. Jedes Zeitgefühl verloren, starrte Dean auf Sam, der gleich einer Maschine Luft einsog und wieder aushauchte.
Er wirkte friedlich wie ein schlafendes Kind.
Einzig, die Schweißperlen, die sich auf seinem Körper bildeten, sich zwischen seinen Muskeln zu kleinen Seen versammelten um anschließend in glitzernden Rinnsalen abzufließen, ließen den Kampf ahnen, den Sam im Innersten noch nicht beendet hatte.
Was war nur passiert?
Wann hatten sie sich verloren?
In unzähligen Jagten hatten sie eine unzerstörbare Einheit gebildet, durch nichts und niemanden aufzuhalten. Sie hatten auf ihrem gemeinsamen Weg durch Schatten und Licht so viel Schreckliches erlebt und doch so vielen geholfen! Sie waren die Besten.
Stöhnend legte Dean seinen Kopf in die Handflächen. Das verfilze Knäuel von Gedanken in seinem Hirn wurde so unerträglich schwer, dass er dieses Gewicht nicht mehr tragen konnte.
Warum konnte er Sams Gedanken nicht mehr folgen?
War es seine Schuld? ---
„Du hast Schuld Dean!“,
schrie ihn sein Gewissen lautlos an. Du hast dich abgewendet wenn Sam reden wollte, hast eine abwertende Handbewegung gemacht, hast ihn gezwungen seine Ängste und Zweifel immer wieder hinunter zu würgen – bis er gelernt hatte zu schweigen.
„Halt den Mund Sammy! Ich will jetzt nicht darüber reden!“ Dabei wusstest du nur zu gut, dass seine Worte und Gedanken auch gut für dich waren. Er war dein Gegengewicht – Er hat dich geerdet DEAN!
Wolltest du ihn deshalb damals nicht gehen lassen? War es Trauer oder war es Egoismus?
Ja, - du hast die Einsamkeit gefürchtet. Du wolltest die Wahrheit nicht sehen! Du wolltest diese Schmerzen nicht fühlen müssen! Jede blutende Wunde ist für dich leichter zu ertragen als solche Gefühle! Lieber hast du all das auf den Schultern deines Bruders abgeladen! Eine Lüge als Vorwand um nichts fühlen zu müssen! Hatte er nicht schon genug zu schleppen? Du hättest ihn damals sterben lassen sollen. --- Manchmal ist der Tod besser! DEAN!
Ein Knarren riss ihn aus seinen Gedanken. Die Eisentür öffnete sich schwerfällig einen Spalt weit und Bobby zwängte sich in den Raum. „Ich hab dir was zu Essen gebracht“, sagte er verlegen und stellte eine braune Papiertüte und eine Flasche Cola auf einen kleinen Tisch.
„Danke Bobby – aber ich bin versorgt“, antwortete Dean, griff neben seinen Stuhl, nahm eine angetrunkene Flasche Jonny Walker um sie seinem Freund zu reichen.
Bobby schüttelte unmerklich den Kopf. „Nein Danke“ Geräuschvoll atmete er ein. „Gibt es eine Veränderung?“
Dean hob den Kopf und sah müde auf Sam. „Nein“ seufzte er. „Bist du dir sicher dass wir das Richtige tun?“
„Nein bin ich mir nicht“, zischte Bobby. „Aber es ist das Einzige was wir tun können!“
Dean nickte. „Wie lange wird es dauern?“, fragte er leise.
Der alte Jäger zuckte mit seinen Schultern. „Drei oder vier Tage vielleicht?“
Dean sah zu Boden und schnaufte: „Na dann – wie Sammy immer gesagt hat: Du musst das nicht allein durchstehen - Bruder!“
Bobby trat einen beherzten Schritt auf Dean zu. Mit beiden Händen griff er Deans Schultern: „Hör zu, Dean. Wir sollten gehen bevor er erwacht.“
„Ich bleibe!“
Diese Antwort hatte Bobby erwartet. Sein flehendes Gesicht konnte Dean nicht erreichen. „Dean – dieser Raum ist aus massivem, reinem Eisen – ummantelt von einer zentimeterstarken Steinsalzhülle, das Pentagramm wird ihn daran hindern seine Kräfte anzuwenden. Wir haben alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Er wird weder fliehen, noch jemanden verletzten können! Du solltest gehen, denn du kannst hier nicht helfen! --- Es ist sein Kampf!“
„Ich bleibe!“, widersprach Dean.
Als Bobby in die entschlossenen Augen seines Freundes sah, wusste er, dass jeder Ratschlag sinnlos war. Er ging zur Tür und flüsterte bevor er sie hinter sich schloss: „Dean! – Er wird deine Seele in Stücke reißen!“
„Ich habe es verdient“, murmelte Dean.
***
„Denkst du immer noch, du könntest mich retten mein Bruder?“ Boshafte Worte schreckten Dean auf.
War er eingeschlafen? Wie viel Zeit war vergangen? Verwirrt wischte er sich die Augen. Ein Gefühl warnte ihn davor nach Sam zu sehen. Doch er zwang sich auf die Beine und ging zögernd auf Sam zu. Nach wenigen Sekunden gewöhnten sich seine Augen an das dürftige Licht.
Sam lag bewegungslos auf dem Tisch. Sein Kopf war nach hinten durchgestreckt. Sein Adamsapfel bebte. Durch den halb geöffneten Mund atmete er geräuschvoll ein und aus, dabei hob und senkte sich sein Brustkorb schnell und heftig. Sein gesamter Körper, jeder einzelne Muskel, schien bis zum Zerbersten gespannt. Die Lederfesseln schnitten in sein Fleisch und dunkelrote Rinnsale glitten unaufhaltsam auf die Tischplatte. Eisiger Atem ließ die Luft über ihn gefrieren.
Dean trieb es die Tränen in die Augen, er hielt sich die Hände vor den Mund. Der Gestank von Verwesung und Schwefel klebte im Raum. Dean verharrte regungslos, in sicherer Entfernung, vor dem Geschöpf das einmal sein Bruder war.
Die Kälte im Raum erfasste seinen Körper und schlich stechend, wie unzählige Nadeln seinen Nacken hinauf. Jetzt wünschte er sich die Hitze der vergangen Stunden zurück. Die Wände ächzten und vibrierten unter dem plötzlichen Temperaturabfall. Glitzernde Eiskristalle bildeten sich langsam auf geflecktem Eisen. Das Licht flackerte und drohte Dean in Finsternis zurück zu lassen – allein mit diesem grauenvollen Wissen, tief unter der Erde in einem rostigen, schalldichten Verlies…
Fassungslos starrte er auf das was von Sam übrig war.
Abgrundtiefe, tote Augen, die jedes Licht zu verschlingen schienen, hefteten sich auf sein Gesicht. „Was willst du tun – geliebter Bruder? Willst du mich hier verrecken lassen?“ Sams Worte erreichten krächzend seinen Verstand.
„Nein“ antwortete Dean, „ich werde MEINEN Bruder retten – aber DICH werde ich verrecken lassen.“
Schallend erfüllte ein spöttisches Lachen den Raum. „Das kannst du nicht Dean – du kannst mich nicht einfach austreiben denn ich bin nicht besessen. Du kannst mich nicht töten. Diese Chance hast du verschenkt. Ich bin endlich das was ich immer sein sollte. Ich bin stark. Ich bin hungrig. Ich bin mächtiger als alles was die Hölle jemals hervorgebracht hat.
Ich ---- bin dein Bruder!“
Keuchend fiel Sams Kopf zurück auf die Tischplatte. Er starrte an die Decke und beobachtet die Blätter des Ventilators die sich in gleichmäßigen Abständen vor die Glühlampe schoben. Er hatte das Gefühl in Flammen zu stehen. Erneut walzte sich unersättliche Gier durch seinen Körper. Diese Gier musste befriedigt werden sonst drohte sie, ihn selbst zu verschlingen.
Abermals blickte Sam zu seinem großen Bruder. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Du könntest an meiner Seite kämpfen Dean. Es wäre zu deinem Vorteil. Du musst mir nur helfen hier raus zu kommen. Niemand würde es wagen sich zwischen uns zu stellen! Nie wieder Angst oder Schmerzen.“
Sam rang nach Luft, keuchend sah er weg. Schmerzen wühlten sich durch seine Gedärme, entflammten sein Innerstes und ließen sein Herz erstarren. Ein schneidender Husten explodierte in seiner Lunge. Blut spritzte durch die Luft. „Ich töte keine Menschen um zu überleben Dean“, röchelte Sam.
„Nein fuhr ihn Dean an. „Ich weiß was du tötest. Aber ich weiß auch warum.“ Diese Erkenntnis raubte Dean fast den Verstand. Zitternd drehte er sich zur Wand. Nach ein paar Schritten hatte er sie erreicht und presse seine Stirn gegen die Kälte. Seine geballten Fäuste schlugen über seinem Kopf auf das Eisen ein. „Von mir wirst du den Stoff nicht bekommen – ich werde es verhindern – und wenn es meinen Tod bedeutet.“
„DEINEN TOD – na da hast du ja schon Übung drin.“ Gluckste Sam aus dem Hintergrund. Aus seinem Mund zurückfließendes Blut blockierte seine Luftröhre. „Du bist doch so unschlüssig und schwach – du hast ja nicht mal den Mumm tot zu bleiben, selbst wenn du es schon bist. Deinen Willen zu brechen ist so einfach.“
Wie eine Lawine rollte die schmerzende Gier nun endgültig durch Sams Hals um sich als gurgelnder Schrei Luft zu machen. Er wusste, dass es sein Ende bedeutete, wenn er nicht bald einen dieser Dämonen zu fassen bekam – diesen Hunger zu kontrollieren war nicht mehr möglich. Krämpfe rissen seinen Körper in alle Richtungen. Seine Sehnen zerrten an seinen Muskeln.
Sam stemmte sich stöhnend gegen seine Lederfesseln, und ein bedrohliches Knirschen verriet das einige Knochen dem Druck nicht standhielten.
„Du hast deine Probleme doch immer nur auf mich abgewälzt“, keuchte er. „Angst vorm Allein sein. Angst Entscheidungen zu fällen. Angst der Wahrheit gegenüber zu treten. Angst vor Verantwortung!
Sieh - was du aus mir gemacht hast – Bruder!“
Sams Augen funkelten animalisch in der Dunkelheit. Dickflüssiges Blut sickerte aus seiner Nase und seine Atmung war pfeifend.
„Die ganze Welt willst du retten – aber deinen einzigen Bruder lässt du im Stich!“
Sams Worte schwappten heiser zu Dean herüber und schlugen wie Peitschenhiebe auf sein Herz ein. Überflutet von Wut und Verzweiflung schlug er mit dem Kopf gegen das Eisen. Er vermochte Sam nicht mehr anzusehen. Seine Fäuste hämmerten ungebremst gegen die Wand. Dean bemerkte nicht wie sich sein Blut mit dem Rost vermischte, wie die Haut über seinen Fingerknöcheln durch die Wucht der Schläge aufplatzte und auf der eisernen Fläche blutige Rutschbahnen hinterließ. Blut rannte ihm von Stirn und Nase. Erst als er den salzigen Geschmack in seinem Mund war nahm, riss er seinen Körper von der Wand. Dean hatte das Gefühl einen eisigen Klumpen eingeatmet zu haben.
Wutentbrannt schrie er Sam an: „Du arroganter, selbstgefälliger Mistkerl! Es hat dich doch nie interessiert wie es mir und Dad ging. DU bist abgehauen und hast uns im Stich gelassen. Du mit deinen klugen Sprüchen von Recht und Unrecht – von Menschlichkeit oder Gewissen. Du hast mir doch die Wahrheit verschwiegen! Was weist du schon von Verantwortung!“
Außer sich vor Zorn, spie Dean seinem Bruder die Worte entgegen. „Ich habe dich groß gezogen, ich habe auf dich aufgepasst – dich beschützt! Ich habe meine Kindheit geopfert damit du länger Kind bleiben durftest! Und Du? --- Du bist einfach gegangen. Du! … du … seelenloses …“
Die Worte erstarben in Deans Hals. Mit drei gewaltigen Sätzen war er an seiner Tasche in einer Ecke des Raumes angelangt. Er kramte hastig, bis er einen Dolch in der Hand hielt.
„Ich werde dich töten“, fuhr es aus ihm heraus. Entschlossen ging er auf seinen Bruder zu und erhob die scharfe Waffe zum Schlag.
„Halt!“ Bobby war in den Raum gestürzt.
In seiner rasenden Wut hatte ihn Dean gar nicht bemerkt. „Wenn du ihn jetzt tötest – wird er für ewig in der Hölle brennen! Dean! Wir sind so weit gekommen“, schrie er verzweifelt.
„Das ist mir egal“ donnerte es aus Dean heraus. Mit dem Dolch zeigte er auf Sam. „Das ist nicht Sam – Sam ist tot. Du hattest Recht Bobby! Ich werde das jetzt beenden!“
„Warte!“, flüsterte Bobby. „Es wird bald vorbei sein!“ Er versuchte Dean an der Schulter zurück zu ziehen. Aber Dean war jünger, stark und durchtrainiert. Voller Wut richtete er sich auf und erwartete Bobbys Fausthieb. Der alte Jäger konnte ihm nichts entgegensetzten und wandte sich kopfschüttelnd ab.
Emotionslos sah Dean auf Sam herab, der ihn provozierend anstarrte.
„Ich wollte dich retten Sammy! – Und jetzt muss ich dich töten!“
Pfeifend sauste die blanke Klinge durch die Luft…
Ein Schlag – die Welt versank in Dunkelheit.
***
Das unerträgliche Dröhnen in seinem Schädel zwang Dean aus der Ohnmacht. Er schmeckte Staub und Rost in seinem Mund. Als er die Augen öffnete sah er auf feuchten Boden. Er kniff sie wieder zu und zog seine Beine an. Die Gelenke waren durch steif und knackten bei jeder Bewegung. Stöhnend richtete sich der Jäger auf und griff sich auf die brennende Stelle an seinem Hinterkopf. Sein Blick irrte suchend durch den Raum.
„Tut es noch weh“, eine Stimme ließ Dean zusammenzucken. Ruckartig drehte er sich um und sah Bobby erstaunt an. „Du hast mich niedergeschlagen!“
Bobby hob die Schultern. „Ich musste irgendwie verhindern dass du deinen Bruder erschlägst“, rechtfertigte er sich.
SAM – schoss es Dean durch den Kopf. „Wie geht es ihm?“ Besorgt musterte er Sam der regungslos auf dem Tisch lag. Offensichtlich war er nicht mehr bei Bewusstsein.
Dean gönnte ihm die Ruhe, wusste er doch, dass es noch nicht vorbei war.
Bobby trat neben ihn. „Es wird schwächer.“ Beruhigend legte er seine Hand auf Deans Schulter. „Er kämpft wie ein Wahnsinniger – glaub mir!“
Dean sah den Alten fragend an „Wird er es schaffen?“
Bobby zog seinen Kopf in den Nacken. „Dean …!“
Dean duldete nicht dass Bobby seinen Satz beendete. „Wir werden warten“ sagte er. Dann atmete er durch und fasste sich abermals an den schmerzenden Hinterkopf. Mit einem leichten Knurren in der Stimme fragte er. „Mit was um Gotteswillen hast du nur zugeschlagen?“
Der Alte ließ seine Augen durch den Raum wandern.
„Ein Feuerlöscher? – Du schlägst deine Freunde mit einem Feuerlöscher? Nicht zu fassen.“ sagte Dean und schüttelte den Kopf. „Das hätte mich umbringen können weißt du das?“
„Hör auf zu jammern wie ein altes Waschweib! Du lebst doch noch!“ konterte dieser.
„Wieso hast du mich einfach liegen gelassen?“, wollte Dean wissen.
Bobby öffnete Hilfe suchend seine Arme. „Sollte ich dich noch durch die Gegend schleifen? Ich bin nicht mehr der Jüngste.“
Dean nickte zustimmend, ging zum Tisch und setzte sich wieder auf seinen Stuhl um auszuharren.
***
Das Eis an den Wänden war längst wieder geschmolzen und bildete glitschige Pfützen auf dem Boden. Die Feuchtigkeit in der Luft schien den unaufhaltsamen Verfall des eisernen Gefängnisses nur noch zu beschleunigen und der Rost fraß an allen Ecken und Enden. Dean saß immer noch an seinem Platz. Er hatte versucht Bobbys Ratschlag zu folgen und etwas zu essen. Aber sein Körper weigerte sich erfolgreich gegen jeden Versuch einer Nahrungsaufnahme. Die Flasche Whisky kullerte irgendwo leer durch den Raum. Die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, das Gesicht in seinen Händen vergraben, ließ Dean den Fluss der Zeit an sich vorbei gleiten. Ob es Minuten, Stunden oder Tage waren konnte er nicht mehr einschätzen. Dean war schon dankbar und froh wenn Sam schweigend im Delirium lag. Denn wenn er zu sich kam und mit seinen verzweifelten, Hilfe suchenden Schreien den Raum erfüllte, kam Dean jede Folter in der Hölle vor wie ein Erholungsurlaub. Er hatte jedes Mal Angst seinen Verstand zu verlieren. Schon ein kurzes Zusammenzucken von Sam ließen Dean in Hilflosigkeit erstarren. Mit anzusehen wie sein Bruder von dieser Sucht so maßlos gepeinigt wurde, ohne die Möglichkeit irgendetwas tun zu können, war unerträglich.
Kein einziges Wort war mehr über Sams Lippen gekommen. Nur diese gequälten Laute, diese wahnsinnigen Schreie, das verzweifelte Aufbäumen eines Körpers der sich wünschte endlich erlöst zu werden.
„Gott lass es vorbei sein“, presste Dean hervor, als er sich erhob um nach seinem Bruder zu sehen. „Ich ertrage das alles nicht mehr!“
Er ging die paar Schritte zu ihm herüber und beobachtete ihn erschöpft. Er wollte nicht glauben was er sah.
Sam hatte nichts mehr zu geben. Er war restlos ausgebrannt. Fieberwellen peitschten durch seinen Körper und ließen kalten Schweiß auf der dünnen fast durchsichtigen Haut zurück. Seine Hände und Füße waren durch die Fesseln geschwollen. Zwischen klebrigem Blut zeigten sich dunkle Abdrücke an seinen Gelenken. Sams Körper war eingefallen, die Wangenknochen traten deutlich hervor. Unter den verschlossenen Lidern zuckten seine Augen ruhelos in tiefen dunklen Höhlen. Die Schlüsselbeine, die Rippen und Beckenknochen traten deutlich unter der grauen Haut hervor – als wollten sie jeden Augenblick diese letzte hauchdünne Barriere durchbrechen. Sein Atmen war nur noch ein leises Röcheln das sich immer mühevoller den Weg durch seinen geöffneten Mund bahnte.
Dean wünschte sich er wäre blind und taub um dies nicht mit ansehen zu müssen. Er schleppte sich zurück zum Tisch um hoffnungslos auf seinem Stuhl nieder zu sinken.
***
„Dean?“ Ein Hauch, so leise wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, flüsterte und ließ Adrenalin blitzartig durch Deans Körper schießen. Im Bruchteil einer Sekunde war er bei Sam.
„Sammy – bist du es?“, behutsam strich er ihm die schweißnassen Haarsträhnen von der Stirn. „Sam – sag doch was!“
Über die trocknen Lippen seines Bruders kam ein Stöhnen. Er schluckte, dabei wanderte sein Kehlkopf im Hals deutlich auf und ab.
Ganz vorsichtig ergriff Dean mit seinen Händen Sams Kopf um ihn zu stützen. Mit tränenüberflutetem Gesicht sah Dean in Sams Augen. Sie waren müde und leer aber von einem wunderschönen blaugrauen, weichen Glanz. - Dies waren die Augen seines Bruders.
Sam versuchte seinen Kopf etwas zu heben, aber sein gebrochener Körper schrie lautlos bei jeder noch so winzigen Bewegung.
„Warte, warte Sammy!“, hastig hatte Dean sein Shirt ausgezogen um es vorsichtig unter den Kopf seines kleinen Bruders zu legen. „Ich werde dafür sorgen dass es dir wieder besser geht!“ Mit zittrigen Fingern öffnete er fieberhaft die Fesseln.
Dankbar huschte ein Lächeln über Sams Gesicht.
„Diesem Mistkerl haben wir aber gehörig die Hölle heiß gemacht!“ Das Sprechen fiel Sam so unendlich schwer. Fragend sah er Dean an. „Wir haben es doch geschafft? - Oder?“
Dean hatte seine Hände um Sams Schläfen gelegt. Mit einem bitteren Lächeln nickte er. „Ja- wir haben es geschafft! - DU hast es geschafft – kleiner Bruder!“
Ein Lächeln zuckte um Sams Lippen. Sein Kopf wollte sich zur Seite neigen.
Dean folgte vorsichtig dieser Bewegung.
Ein brennender Husten versuchte heraus zu brechen, aber Sams Lunge hatte nicht mehr die Kraft. Gurgelnd erstickte der Anfall in seinem Hals. Mit zusammengepressten Lippen verwandelte er den nach außen drängenden Schrei in ein Stöhnen.
„Schhh .. Schhh .. Schhh … – Sammy du darfst jetzt nicht reden“, flüsterte Dean beruhigend. „Dieser Mistkerl wird sich für die nächsten 1000 Jahre nicht mehr blicken lassen.“
„Das ist gut“, flüsterte Sam mit bebenden Lippen. Sein kurzer Atem rasselte.
„Warum hast du das nur getan Sammy? Warum hast du nicht mit mir gesprochen?“ Unzählige Tränen ergossen sich über Deans Gesicht. „Wir hätten einen anderen Weg gefunden! Dieses Opfer war einfach zu groß!“
Sams Augen wanderten durch den Raum. „Ich hatte keine andere Wahl.“ Seine Worte waren kaum noch hörbar. „Verzeih mir - Bruder!“
„Sam? Sammy!! … Wir kriegen das wieder hin. Bobby wird dich wieder zusammenflicken! Komm schon bleib bei mir!“ Verzweifelt rüttelte Dean seinen Bruder. „Komm schon! Bitch!“
Sams Kopf fiel kraftlos zur Seite: „Jerk“, hauchte er.
Mit beiden Händen zog Dean ihn wieder in seine Richtung. Als er in Sams Gesicht sah, konnte er in den erstarrten Pupillen seiner sanften Augen das Spiegelbild eines Ventilators sehen, dessen Blätter sich in rhythmischen Abständen vor eine Glühlampe schoben …
– wie ein fliehender Schatten vor einem aufgehenden Stern…
*** Ende ***
Texte: Banner, Wallpaper und Skizze by Shadow1a
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2010
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