Der junge Mann hinter der Anmeldung lächelte freundlich. Er nahm dem blonden
Mädchen den Zettel ab, studierte ihn gründlich und überreichte ihr dann Unterlagen. „Hier, bitte, ein Plan der Anlage, deine Startnummer und dein Pass. Deine Prüfung beginnt in vier Stunden, sonst steht alles hier drinnen.“ Er deutet auf die dünne Mappe.
Das Mädchen warf ihre langen lockigen Haare zurück und antwortete in schnellem
Franzosisch - ähnlich der Stimme eines jungen Vogels. „Vielen Dank, ich werde
mich dann mal nach den Ställen umsehen.“ Ihr Blick wanderte zu einem Transporter mit der Aufschrift Manége "Le Chevalier", wo eine langbeinige Braune festgebunden war, die aufgeregt tänzelte.
Der junge Mann folgte ihrem Blick. „Dein Pferd?“
Das Mädchen schüttelte mit einem Anflug von Wehmut den Kopf. „Leider nein. Ich reite es nur.“ Damit bedankte sie sich noch einmal und verschwand in der Menge der Reiter und Zuschauer...
"Langsam, meine Schöne." Ich hielt Caliente etwas zurück, damit sie sich nicht durch zu hastiges Austeigen verletzte. Vorsichtig lenkte ich die Stute rückwärts aus dem Transporter. Es war ein guter Tag gewesen, im A-Springen hatten wir einen dritten Platz geschafft, das Stilspringen mit einer Wertnote von 8,6 gewonnen. Ich war mehr als zufrieden, ehrlich gesagt war es mehr, als ich mir erhofft hatte. Caliente war wie ein alter Profi über die Hindernisse gegangen und hatte mir mit ihrer Ruhe und Sicherheit die Nervosität genommen.
"Und, wie lief's?" Clement, der oberste Pferdepfleger, kam aus dem Stall, um mir die Stute abzunehmen. Er war erst Mitte zwanzig, lief immer in abgetragenen Jeans und verwaschenen T-Shirts herum, doch es gab kein Pferd, das ich ihm nicht anvertraut hätte. Juliet, die Besitzerin des Hofes, schien ähnlich zu denke, sonst hätte sie ihm wohl kaum einen so verantwortungsvollen Posten übertragen, wo es im Stall wesentlich erfahrenere und ältere Pfleger gab. Es gab keinen, der die Pferde verstand wie er. Es schien, als hätte er seine eigene Geheimsprache, um mit ihnen zu kommunizieren.
Clement brachte Caliente in ihre Box und begann, ihr die Transportgamaschen abzunehmen. Von der anderen Seite des Stallgangs wieherte mir bereits Aviateur, das andere Pferd, das ich reiten durfte, entgegen. Ich trat zu ihm. "Na, mein Junge? Schade, dass du heute zu Hause bleiben musstest. Das Turnier hätte dir gefallen. Na ja, mach dir nichts draus. Beim nächsten Mal bist du wieder fit." Ich warf einen Blick auf sein Bein und stellte erfreut fest, dass die Schwellung zurückgegangen war. Vor ein paar Tagen hatte er sich auf der Koppel eine böse Zerrung geholt und musste deswegen einige Wochen pausieren.
Ich trat wieder zu Clement, der gerade Calientes Boxentür schloss. Die Stute wandte sich mit einem Brummen zu mir um. Ich seufzte. "Weisst du, mein Mädchen, wenn meine Eltern es erlauben würden, würde ich dich vom Fleck weg kaufen. Ich verstehe nicht, wieso sie dagegen sind. Ich verbringe sowieso jeden Tag hier im Stall, und die Schule hat bisher auch nicht darunter gelitten. Und gefährlicher wird es auch nicht, wenn ich ein eigenes Pferd habe." Ich klopfte ihr den Hals, dann wandte ich mich zum Gehen. Kurz warf ich noch einen Blick in den Stutenstall, um nach dem neuen Fohlen, dass vor einigen Tagen geboren worden war, zu sehen. Es war verhältnismässig spät gekommen, die meisten Stuten hatten schon im April gefohlt, Semilly jedoch erst jetzt Ende Juni.
Juni... Das bedeutete Sommer, Ferien, Faulenzen! Und natürlich reiten ohne Ende. Nur noch eine Woche bis zu den Zeugnissen, dann hatte ich ein weiteres Jahr überstanden. Wegen meinen Zensuren brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, ich stand in den meisten Fächern auf eins. Nicht, dass ich mir grosse Mühe gab, ich konnte mir einfach gut Dinge merken.
Im Stall, wo die Schulpferde standen, herrschte um diese Zeit kaum noch Betrieb. Juliet hatte beim Bau der Ställe Wert darauf gelegt, den Reitschulbetrieb streng vom Gestüt zu trennen, weshalb die Schulpferde auch ihren eigenen Stall hatten. Auf dieser Seite des Hofes lagen auch die Reithalle, die Aussenplätze und das Haupthaus. Die Wohnungen der Pfleger befanden sich über dem Stutenstall.
Ich sah rasch nach Walien, dem Pony, auf dem ich reiten gelernt hatte. Er war mir in meiner Zeit hier besonders ans Herz gewachsen, und es war mittlerweile schon fast eine Gewohnheit, zuletzt noch rasch den Kleinen zu begrüssen. Nicht mehr der Jüngste, aber gutmütig und zuverlässig, das perfekte Anfängerpferd. Er döste friedlich in seiner Box. Die Leckerlis legte ich in seinen Trog, da ich ihn nicht stören wollte, und verliess den Stall wieder.
Draussen wehte ein angenehm kühler Wind, der die Hitze, die immer noch herrschte, etwas milderte. Juliet winkte mir bereits von den Parkplätzen her zu. "Bist du soweit? Dann bring ich dich nach Hause." Sie wedelte mit den Schlüsseln ihres Fords.
So ein Angebot schlägt man natürlich nicht aus, und ich beeilte mich, zu ihr ins Auto zu kommen. Die Klimaanlage lief schon und sorgte für angenehme Kühle.
Obwohl weder meine Mutter noch mein Vater etwas mit Pferden anfangen konnten, brannte ich schon darauf, ihnen die Schleifen zu zeigen. Ich konnte immer noch nicht recht glauben, wie einfach es gewesen war. Ich war eingeritten, und im nächsten Moment hatten wir schon die Siegerrunde angeführt, so kam es mir vor.
Gerade fuhr ein schwarzer Audi Q7 an uns vorbei, eines dieser schicken, teuren Autos. Es steuerte auf die Einfahrt des Reiterhofs zu.
Juliet hatte das Auto ebenfalls bemerkt und runzelte die Stirn. "Ich dachte, Monsieur Durand wollte erst gegen sechs Uhr kommen? Der Kadertrainer kommt doch auch erst später."
Neugierig horchte ich auf. "Der Kadertrainer kommt auf den Hof? Warum das denn?"
Juliet zuckte die Schultern. "Luc wird in einem halben Jahr achtzehn und könnte dann vom Jugend-Kader in den Kader der jungen Reiter wechseln."
Der Kader der jungen Reiter war eine Art Elitetruppe. Die Mitglieder vertraten Frankreich oft auf internationalen Turnieren und waren über das ganze Land verteilt. Praktisch jeder ehrgeizige Reiter wünschte sich, dort aufgenommen zu werden.
"Ich nehme an, Monsieur Durand hat einfach mal seine Beziehungen spielen lassen, damit der Trainer zu uns auf den Hof kommt und sich seinen Sohn ansieht", fuhr Juliet fort. In ihrer Stimme lag etwas Missbilligendes, doch ich nahm an, sie wusste auch, wie wichtig ein so hoch angesehener Mann wie Henri Durand für ihr Gestüt war. Schliesslich war Luc eine Art Aushängeschild für sie, so frei nach dem Motto: "Seht her, selbst der Sohn des Unternehmers Durand reitet hier."
Meine Gedanken wanderten weiter zu Luc. Er war nicht nur ein unglaublich talentierter Reiter, sondern wohl auch der begehrteste Typ an unsere Schule. Gross, schlank, braun gebrannt, sportlich, witzig. Was wollte man mehr? Dummerweise war er mit Camille zusammen, Camille Ledoux, ihres Zeichens Oberzicke und Nachwuchsmodel in einem. Ich konnte durchaus verstehen, was Luc an ihr fand, sie war hübsch und auch nicht gerade auf den Kopf gefallen. Doch ich konnte nicht behaupten, dass wir beste Freundinnen waren. Camille hielt sich für etwas Besseres, bloss, weil ihre Familie einmal einen Adelstitel getragen hatte und sie schon ein paar Mal auf dem Laufsteg gestanden hatte.
"Träumst du? Los, raus mit dir, ich muss zurück, Monsieur Durand..." Juliet verdrehte die Augen. Ich sah auf. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass wir schon vor unserem Haus angekommen waren. Rasch packte ich meine Tasche mit dem Turnierzeug und stieg aus dem Auto. "Danke für's Heimbringen und bis morgen!" Ich winkte, als sie davon vor, bis der Ford um die Ecke bog und nicht mehr zu sehen war.
Vor unserem Haus blieb ich einen Moment stehen und betrachtete es mit schief gelegtem Kopf. Als ich meine Freunde zum ersten Mal hierher mitgenommen hatte, waren sie schon fast ehrfürchtig stehengeblieben und hatten es angestarrt - minutenlang. Auf Fremde schien es eine einschüchternde Wirkung zu haben - groß, alt und von einer hohen Hecke umgeben. Meine Mutter hatte den ehemaligen Landsitz niederen Adels, der die Revolution beinahe unbeschadet überstanden hatte, kurz vor der Hochzeit mit meinem Vater gekauft. Es war aus hellem Stein und an der Vorderseite mit zwei Erkern versehen - der Garten, das Reich meiner Mutter, lag davor, von hier aus aufgrund der Hecke jedoch nicht sichtbar.
Ich kramte meinen Hausschlüssel hervor. An der Haustür war ein Klingelschild angebracht. Cecil, Nicolas und Marielle Beauchamp. Ich benutzte gar nicht erst den Türklopfer in Form eines Löwenkopfes, sondern drückte die Tür einfach auf. „Maman! Papa!"
Ich zog meine Schuhe aus und durchquerte den breiten Flur. Meine Eltern saßen im Wintergarten, ein neumodischer Anbau, der nicht recht zu dem restlichen Haus passen wollte, doch urgemütlich war.
„Marielle, ma minette!“ Mein Vater wuschelte mir liebevoll über den Kopf, er überragte meine 1,67 Meter um gut zwanzig Zentimeter. Wie meistens, wenn er nicht im Dienst war, trug er ein Poloshirt und Jeans.
Ich warf meine Tasche neben den Salon-Tisch und liess mich in einen der riesigen Korbsessel fallen. Meine Mutter sah mich etwas missbilligend an. „Und? Wie war es heute bei deinen Pferden?"
Ich überhörte den leicht gezwungenen Unterton. „Hier! Ich habe zwei Schleifen gewonnen!“
„À merveille, schön, Liebes.“ Obwohl er meine Begeisterung zu Pferden nicht teilen konnte, nahm Papa mich in den Arm.
„Bezaubernd. Ich bin stolz auf dich, Marielle.“ Ich roch den Duft ihres Armani-Parfums, als Maman sich zu mir beugte und mich auf die Wange küsste. Ich lächelte triumphierend. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt um einen neuen Versuch zum Thema eigenes Pferd zu wagen? „Ja, es war toll, aber es wäre noch besser für mich, wenn ich... Na ja... Ein eigenes Pferd würde Sinn machen, dann müsste ich nicht immer wechseln, und ich habe ja doch auch große Fortschritte gemacht...“ Ich verstummte. Meine Mutter runzelte die Stirn. „Nein, Marielle, du kennst unsere Meinung dazu doch. Ein Pferd ist nicht nur eine große Verantwortung, es ist auch teuer...“
Ich zog eine Augenbraue hoch. Geld war doch wirklich nicht das Problem. Bei dem Gehalt meines Vaters zusammen mit den großzügigen Gagen, die Mamans Klienten für ihre psychologische Beratungen bezahlten, hätte ich sicher auch drei Pferde haben können. „Und außerdem bist du noch jung, jetzt magst du zwar noch Pferde, aber wie sieht das in ein, zwei Jahren aus? Dann bist du aus dem Pferdealter raus, und wir haben einen Gaul, den niemand mehr will.“
„Aber...“
Meine Mutter strich resolut ihren Rock glatt und sah mir in die Augen. „Nein, Marielle. Ca suffit! Und jetzt, dusch dich bitte, du bist ja ganz verschwitzt.“
Ich warf meinen Eltern einen letzten wütenden Blick zu, schnappte mir meine Tasche und stieg die Treppe hoch. Die Tür zu meinem Zimmer knallte ich extra laut hinter mir zu, ich wusste, wie sehr sie das hasste. Ich liess die Tasche auf's Bett fallen, sammelte in meinem Badezimmer, wo sich allerdings nur eine kleine Dusche und ein Waschbecken befanden, mein Waschzeug zusammen und ging hinüber ins wesentlich grössere Bad meiner Eltern. Es war wie jedes andere Zimmer im Haus sorgfältig durchdacht und hingebungsvoll von meiner Mutter eingerichtet worden. Jedes Möbelstück war einzeln zusammengesucht worden, die Bilder an den Wänden waren Unikate. Aber doch wirkte es nicht einschüchternd, eher gemütlich.
Rasch schlüpfte ich aus meinen verschwitzten Klamotten, die auf den Stapel mit der schmutzigen Wäsche flogen, und stellte mich unter die Dusche. Das kühle Wasser, das auf meine Haut prasselte, war eine wahre Wohltat nach der Hitze auf dem Turnierplatz.
Als ich fertig war, schlang ich mir ein Handtuch um den Körper und tapste zurück in mein Zimmer. Mein Blick blieb an meinem Spiegelbild in dem grossen Spiegel an der Schranktür hängen. Grün-blaue Augen sahen mich an, die Haare kringelten sich wirr um mein Gesicht, noch tropfnass vom Duschen. Meine Haut war jetzt im Sommer leicht gebräunt, das Gesicht voller Sommersprossen. Alles in allem konnte ich durchaus hübsch wirken, aber meist hatte ich weder die Zeit noch Lust dazu, um mich gross mit meinem Äusseren zu beschäftigen. Im Nachhinein hätte ich das bei manchen Gelegenheiten wohl lieber doch getan, zum Beispiel, wenn ich Luc begegnete, neben ihm Camille grinsend in seinem Arm. Und sie sah natürlich, wie konnte es auch anders sein, immer perfekt aus. Sie hatte die Figur, die ich mir vergeblich gewünscht hatte: 85 D, 60, 90. Mit einem letzten, leicht niedergeschlagenen Blick zu meinem Spiegelbild öffnete ich die Schranktür und holte frische Klamotten hervor.
Etwas deprimiert kramte ich auf meinem Schreibtisch, wo das übliche Chaos aus Büchern, Schulheften, Fotos und CDs herrschte, nach dem Telefon und wählte die Nummer von Ann-Sophie Haartje. Ich brauchte dringend eine Aufmunterung.
"Hallo?", meldete sich auch gleich die vertraute Stimme meiner besten Freundin am anderen Ende.
"Hey, ich bin's."
"Marie, endlich. Ich hab das Telefon schon gar nicht mehr aus der Hand gelegt, so sehr hab ich auf deinen Bericht gewartet. Du bist schuld, dass mein Akku schon wieder leer ist."
Ich musste lächeln. Zum Glück gab es Leute wie Sophie.
"Es war unglaublich! Die Leute, die Pferde, die Atmosphäre...", schwärmte ich. Sophie am anderen Ende kicherte. "Und, wie wart ihr?"
"Gewonnen und Dritte", verkündete ich ihr stolz. Sie schrie begeistert auf. "Marie, wow, gratuliere! Ihr wart ja grossartig! Schade, dass ich nicht mitkonnte", fügte sie bedauernd hinzu. Aber sofort hatte sie sich wieder gefangen und fragte mich: "Und, war Luc auch da?"
"Natürlich. So ein Turnier lässt er sich doch nicht entgehen. Hat natürlich sämtliche gestarteten Prüfungen gewonnen. Was war anderes zu erwarten? Die vom Kader der jungen Reiter können sich glücklich schätzen, wenn sie ihn dann in der Mannschaft haben."
"Kader der jungen Reiter? Hab ich was verpasst?"
"Na ja, der Trainer kommt heute auf den Hof, um sich Luc anzusehen."
"Und wann hattest du vor, mir das zu erzählen? Ist ja 'ne sensationelle Neuigkeit", meinte Sophie, schon fast etwas beleidigt.
"Ich hab's ja auch erst heute von Juliet erfahren", beruhigte ich sie.
"Echt? Und ich dachte schon, Luc hätte es dir erzählt", meinte sie enttäuscht. Ich lachte trocken auf. "Schön wär's." Wenn ich mit Luc redete - und das kam vielleicht zwei Mal im Monat vor -, ging es bloss darum, wie hoch die Hindernisse auf dem Trainingsplatz eingestellt werden sollten oder warum jemand von uns eine Stange gerissen hatte - wobei das meistens ich war. Ausserhalb des Springplatzes wechselten wir kaum ein Wort miteinander, was eigentlich schade war. Es gab so vieles, was ich ihn hätte fragen können, doch ich war einfach zu schüchtern. Das hasste ich an mir.
"Bist du noch da?", riss mich Sophie aus meinen Gedanken.
"Ja... Sicher doch", antwortete ich hastig.
"Weisst du, wenn du nie mit Luc redest, dann wird das nie was", beschwerte sich Sophie. Sie war die einzige, die wusste, dass ich schon seit etwa zwei Jahren in Luc verknallt war. Seit er mit seinen Pferden zu Juliet auf den Hof gekommen war.
"Wird es so oder so nicht. Nicht, solange er mit Camille zusammen ist", seufzte ich. Das altbekannte Problem. Gegen Camille würde ich nie und nimmer ankommen.
Sophie meinte empört: "Wenn du nicht so blind wärst vor Liebe, wäre dir sicherlich schon lange aufgefallen, wie hübsch du bist! Das ist ja echt nicht mehr normal, wie viele Jungs dir immer nachstarren. Camille kannst du allemal das Wasser reichen."
Ich lachte kurz auf.
"Ich hoffe, ich bilde mir den ironischen Ton nur ein", kommentiere Sophie.
"Ach, komm, Soph, übertreib's nicht. Ich habe keine Chance gegen Camille!"
"Weisst du, vielleicht solltest du Luc wirklich vergessen und dir jemand anderen suchen. An unserer Schule laufen schliesslich massenhaft knuffiger Jungs rum. Zum Beispiel Maxim aus dem Jahrgang über uns."
Sophie hatte leicht reden. Ich wollte, nein, konnte Luc gar nicht vergessen. Ich zupfte gedankenverloren an meinem Oberteil herum. „Nee, Maxim ist mir zu groß, der misst ja knapp zwei Meter.“
Ein Kichern kam vom anderen Ende der Leitung. „Stell dir mal vor, du willst ihn küssen! Dann müsstest du dich ja auf einen Hocker stellen.“
„Soph, was ich brauche ist ein bisschen Aufmunterung, du sollst dir keine Cartoons mit mir als trottelige Hauptfigur ausdenken!“
„Wie ich schon gesagt habe, sprich doch einfach mal mit Luc, da kann ja nichts schief gehen, Marie, er kann dich nur weiter nicht beachten, oder - was ich glaube - er erkennt, wie toll du bist.“
Eine Stimme war im Hintergrund zu hören. Sophie klang leicht genervt. „Entschuldige, aber mein Onkel Björn ist am Telefon, ein dringendes Gespräch aus den Niederlanden.“
Ein wenig enttäuscht seufzte ich. „Okay, bis morgen um acht an der Schule.“ Ich klickte das Gespräch weg und betrachtete lustlos mein Zimmer. Am liebsten wäre mir gewesen, wenn es sofort wieder Wochenende würde und ich rund um die Uhr bei Caliente und Aviateur sein könnte, doch erst mal musste ich irgendwie diese öde Schulwoche überstehen.
Mein Wecker klingelte mich um sieben Uhr unerbittlich aus dem Schlaf. Müde stand ich auf, noch ziemlich verschlafen, und tapste in Richtung Bad. Diesmal benutzte ich das kleinere, das nur für mich gebaut worden war. Denn ich wollte der unerträglich guten Laune meiner Mutter so lange wie möglich ausweichen. Nachdem ich mir eine Ladung Wasser ins müde Gesicht gespritzt hatte, sah ich schon klarer. Heute Nachmittag war Reiten angesagt, ich hatte eine Stunde bei Juliet. Dieser Gedanke hob meine Stimmung ein wenig.
Ich beeilte mich, mein T-Shirt und eine frische Jeans anzuziehen und stapfte die Treppe hinunter. In der Küche stieß ich fast mit Papa zusammen, der es wie fast jeden Morgen wieder furchtbar eilig hatte, in seine Praxis zu kommen. „Bonjour, ma fillette!“ Er würde mich höchst wahrscheinlich auch noch wenn ich dreißig war "mein kleines Mädchen" nennen.
„Morgen.“ Ich war morgens nicht besonders gesprächig, jedenfalls nicht vor meinem ersten oder zweiten Kaffee.
Kaum hatte ich mich an den Tisch gesetzt, kam Maman auch schon herein, wie üblich von einer Parfumwolke umgeben und im schicken Kostüm. Leise summend setzte sie sich neben mich. „Marielle, iss was, minot, sonst fällst du mir noch vom Fleisch." Sie wirkte ganz wie eine perfekte Hausfrau, als sie mir ein Croissant unter die Nase hielt. Aber nur, wenn man nicht es nicht zählte, dass sie sich selten und wenn, dann nur ungern in die Küche stellte und das gesamte Essen von unserem Hausmädchen zubereitet wurde. Wieder einmal ärgerte ich mich über die Sturheit meiner Eltern, die sich ein Hausmädchen leisten konnte, aber mir, ihrer einzigen Tochter, kein Pferd kaufen wollten. Einzig die dampfende Tasse Kaffee vor mir schien verlockend.
„Nein, Ma, ich muss dann auch gleich weg!“ Die Tasse in der einen Hand balancierend stand ich auf und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Vor der Schule wartete Ann-Sophie schon auf mich. Sie stach mit ihrem strohblonden, fast durchsichtigem Haar und der Porzellanpuppenhaut deutlich zwischen den Anderen hervor.
„Soph!“ Grinsend beschleunigte ich meine Schritte. Das Koffein begann langsam zu wirken.
Nachdem ich sie umarmt hatte, meinte sie: „Und? Hast du dir gestern Abend noch Gedanken gemacht?“
Wir setzten uns in Bewegung, quer durch das Schulhaus.
„Gedanken? Worüber?“
Sophie runzelte angesichts meines fragenden Blicks die Stirn. Sie senkte die Stimme leicht. „Wegen Luc, du weißt schon...“
Wir betraten unser Klassenzimmer, als uns auch gleich drei Mädchen entgegentraten.
„Ach, hey, Marielle.“ Camille, rechts und links gesäumt von zwei ihrer Freundinnen. Sie streifte mich mit dem üblichen, verachtenden Blick. „Ich hab gehört, du hast bei dem letzten Turnier gar nicht so schlecht abgeschnitten.“ Sie trat noch ein bisschen näher. „Wie viele Preisrichter musstest du denn bestechen, um das zu schaffen? Zehn? Ist schon ganz schön deprimierend, wenn man so aussieht wie du und dann nicht mal in irgendetwas Anderem erfolgreich ist, oder?“ Sie machte eine kurze Pause, um dann noch einmal aus zu holen. „Tja, wie Luc eben meinte, es kann ja nicht jeder erfolgreich oder hübsch sein, nicht?“ Damit warf sie ihrer Haare zurück und stolzierte an mir und Sophie vorbei.
„Die spinnt doch vollkommen! Das sagt doch gerade die Richtige, sie ist weder hübsch noch erfolgreich", empörte sich Soph.
„Hmm...“
„Marielle, du glaubst ja hoffentlich nicht, was diese doofe Nuss von sich gibt, oder?“
Ich sah Camille, die inzwischen den Gang schon fast ganz durchquert hatte, nach. Bei jedem Schritt klirrte das halbe Dutzend Armreifen an ihrem Handgelenk, und ihr topmodisches, schickes Minikleid zog nicht nur die Blicke einiger Jungen auf sich.
„Nein, natürlich nicht.“ Ich bemühte mich, meiner Stimme einen möglichst festen Klang zu geben. Ich war derartige Sticheleien ihrerseits schon gewohnt und scherte mich nicht weiter darum, nur in einem Punkt hatte Sophie unrecht gehabt. Camille war erfolgreicher als ich, was Jungen anging. Sie hatte sich schließlich Luc geangelt, etwas, was mir nie gelungen war und es auch nicht werden würde. Oder?
Ich war grenzenlos erleichtert, als endlich die Glocke über die Gänge schrillte. Ich war wie immer eine der ersten auf dem Gang. Ich winkte Soph zum Abschied, dann eilte ich zum Fahrradständer und öffnete das Schloss. Im Schnelltempo fuhr ich nach Hause, zog mich um und ass im Stehen ein Butterbrot. Dann steckte ich rasch zwei Äpfel für meine beiden ein und verliess das Haus wieder.
Bis zum Stall hatte ich mit dem Fahrrad gute zwanzig Minuten. Wenn ich kräftig in die Pedale trat, schaffte ich die Strecke sogar in siebzehn. Heute war so ein Tag. Mein Fahrrad stellte ich an den Zaun, dann eilte ich hinüber zum Stall.
Caliente wieherte mir bereits entgegen, und auch Aviateur schnaubte zur Begrüssung. Rasch holte ich meinen Putzkasten, stellte ihn dann jedoch wieder weg und fuhr nur rasch mit einem Lappen über die Sattellage, bevor ich sie sattelte und auftrenste.
"Komm, meine Schöne, Putzen erledigen wir heute im Eilverfahren. Vielleicht treffe ich ja Luc noch auf dem Springplatz", flüsterte ich ihr zu und zupfte ihren Schopf zurecht.
Vor dem Stall sass ich auf und ritt am langen Zügel zum Springplatz hinüber. Mein Herz klopfte etwas schneller, als ich dort tatsächlich einen Braunen im Parcours sah. An dem besonderen weissen Abzeichen auf seiner Stirn in der Form eines Blitzes erkannte ich eindeutig Bellamie, Lucs Pferd. Aber auch sonst hätte ich ihn erkannt. Sein Stil war einzigartig. Jedem, der ihn sah, wurde sofort bewusst, dass Luc eine grossartige Zukunft als Springreiter haben würde. Ich sah gebannt zu, wie er spielerisch den letzten Oxer nahm und seinen Ritt ohne Fehler beendete.
Er ließ Bellamie die Zügel lang und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Erst als Caliente mit einem Schnauben seine Stute begrüßte, bemerkte er mich. Er lächelte gut gelaunt. „Salut, Marielle.“ Er ritt etwas näher zu mir, während ich, bemüht lässig, versuchte, Caliente auf den zweiten Hufschlag zu lenken. „Hey, Luc.“ Mein Mund war seltsam trocken, und ich spürte, dass sich meine Nervosität auf mein Pferd übertrug und Caliente anfing, unter dem Sattel zu zappeln.
Luc parierte seine Stute neben mir durch und fuhr fort: „Ich habe von deinen Ergebnissen beim Turnier in Paris gehört. Echt super. Herzlichen Glückwunsch, du bist echt talentiert.“ Dazu lächelte er wieder auf dieses unwiderstehliche Weise.
„Na ja, es war... ganz okay...“ Mein Gesicht war sicher inzwischen so rot wie sein Polo-Shirt.
„Es war mehr als okay, weißt du...“
„Luc!“ Eine hohe, flötende Stimme unterbrach ihn. Ich drehte mich im Sattel um und erkannte Camille, die mit langsamen Schritten, bedacht mit ihrem Stöckelschuhen in keinen Dreck zu treten, auf uns zu kam. Ich konnte einen Seufzer nur schwer unterdrücken. Camille musste auch wirklich immer in den unpassendsten Momenten auftauchen.
„Camille!“ Luc wendete Bellamie sofort ab und ritt zum Tor. Er saß leichtfüßig ab. Camille war jetzt ans Gatter getreten und lächelte ihn an, sodass jeder einzelne ihrer strahlend weißen Zähne im Sonnenlicht leuchtete.
„Mon Chéri!“ Ihre Stimme rutschte nach oben, und sie betonte jede Silbe so deutlich, als ständen wir mitten in Romeo und Julia und die beiden wären nicht wenige Stunden, sondern Monate getrennt gewesen. Lucs Augen schienen zu funkeln als er sich über sie beugte und ihr einen so innigen Kuss auf die Lippen gab, dass mir übel wurde. Camille schob die große Sonnenbrille in die makellos frisierten Haare und erwiderte seinen Kuss. Nein, mehr sogar, ihre Lippen schienen an seinen fest zu kleben. Sie schlang die Arme um seine Hüften und presste ihren Körper an seinen. Die beiden waren wie zusammengeschweißt, und es war nicht mehr klar erkennbar, welcher Arm wem gehörte. Ich konnte Luc nicht verdenken, dass er sich das gefallen liess, obwohl es mich schon ziemlich wurmte.
Ich wendete die inzwischen leicht genervte Caliente ab und begann, mich warm zu reiten. Kaum sagte Luc einmal ein nettes Wort zu mir, holte mich seine Freundin ehe ich mich versah wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Ich versuchte, mich auf mein Pferd zu konzentrieren und sie für die Reitstunde bei Juliet aufzuwärmen. Zu meiner Freude ging Caliente geschmeidig und weich, wenigstens eine, die mich nicht bekämpfte.
„Dann war Marielle auf diesem Turnier also erfolgreich?“ Camille hatte sich endlich von Luc gelöst und stand jetzt mit seinem Arm um ihre Hüfte da. Obwohl sie mit ihm sprach, galt ihr Blick dabei mir, ihre Stimme war laut genug, sodass ich es auch am anderen Ende des Platzes verstehen konnte.
„Das Stilspringen hat sie sogar gewonnen.“
Ein kleines, triumphierendes Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, verschwand aber gleich wieder.
„Luc, du warst ja auch gar nicht auf diesem Turnier, da war doch gar keine richtige Konkurrenz. Wer reitet denn sonst so gut wie du?“ Schleimen war eigentlich gar nicht Camilles Art. Brauchte sie bei ihrem Aussehen ja auch nicht. Luc zuckte mit den Schultern, ihm schien die eigentliche, zusammen mit einem giftigen Blick an mich gerichtete Beleidigung gar nicht aufgefallen zu sein.
„Wollen wir nicht ins Reiterstübchen gehen?“, meinte er zu ihr und die beiden verschwanden zusammen mit Bellamie und ließen mich mit meiner kochenden Wut auf Camille und meiner Enttäuschung über Lucs Verhalten zurück.
Zum Glück versprach Juliet, die gerade den Reitplatz betrat, Ablenkung. Sie fackelte nicht lang, veränderte die Sprungfolge, die Luc geritten hatte, ein wenig, dann ging sie mit mir den Ablauf durch und liess mich erst mal die Hindernisse reiten.
Caliente ging ruhig und konzentriert, sie sprang sauber, reagierte gut auf die Hilfen und lief schön am Zügel. Ich war richtig stolz auf sie, als ich meine Runde beendete.
"Sehr schön", lobte Juliet, "bald bin ich arbeitslos. Gut reagiert vor dem letzten Steilsprung, da hat sie etwas gezögert. Aber die Kleine hat sich toll gemacht, muss man sagen. Du hast das richtige Händchen für sie."
Ich wurde rot vor Freude über das Lob und klopfte der Stute begeistert den Hals.
"Wenn ihr so weiter macht, dann kann ich euch Ende des Monats beruhigt nach Cherbourg schicken. Da findet ein Jubiläumsturnier statt, an dem ihr starten könntet. Warum gehst du mit ihr diesmal nicht das L-Springen? Ich denke, ihr seid langsam so weit, dass ihr einen ersten Versuch wagen könnt."
"Wirklich? Das wäre wunderbar!" Ich wurde nur schon ganz kribbelig bei dem Gedanken.
"So, bitte sehr, stimmt alles, hier sind die Startnummern und ein Programmheft. Deine Prüfung beginnt um halb zwölf." Die Frau hinter der Anmeldung lächelte mich freundlich an und reichte mir die Unterlagen über den Tisch. Ich bedankte mich und ging zurück zu Juliet, die inzwischen Caliente ausgeladen und neben Bellamie am Transporter angebunden hatte.
"Wo ist denn Luc?", fragte ich Juliet, die gerade das Heunetz zwischen den Pferden aufhängte.
"Ach, der hat irgendwelche Bekannten getroffen und ist mit denen verschwunden", antwortete Juliet. "Zut, kannst du mir mal helfen?", schimpfte sie, als ihr das Netz wieder abrutschte. Ich hielt es ihr fest, während sie den Knoten festzog, dann machte ich mich daran, Caliente die Transportgamaschen abzunehmen.
Luc tauchte eine halbe Stunde später wieder auf, als ich es mir gerade mit einem Buch gemütlich gemacht hatte. Meine Prüfung begann erst in vier Stunden, so konnte ich mir Zeit lassen.
"Hey", begrüsste er mich. "Hast du Juliet gesehen?"
"Die ist gerade auf Einkaufstour", antwortete ich, ohne meinen Blick von den Zeilen abzuwenden.
"Dumm", murmelte er, mehr zu sich selbst. Ich sah auf. "Kann ich helfen?"
"Na ja, Bellamie müsste eingeflochten werden, aber ich kann das nicht besonders gut..." Er zuckte peinlich berührt die Schultern. Ich sah ihn einen Moment verblüfft an, dann begann ich zu lachen. Luc, wohl einer der begabtesten Nachwuchsreiter unseres Landes, konnte sein Pferd nicht selber einflechten!
"Ja, lach nur!"
"Schon gut, ich helf dir ja." Ich stand auf und erntete einen dankbaren Blick von ihm. Mit geschickten Fingern flocht ich Bellamies seidige schwarze Mähne zu Zöpfen und steckte sie hoch. Einen Moment lang lag mir die Frage, warum ihm Camille das nicht beigebracht hatte, auf der Zunge, so etwas konnte sie schließlich auch. Sollte man meinen. Stattdessen schwieg ich und konzentrierte mich auf meine Hände. Vielleicht hatte er mich auch ganz absichtlich gefragt? Doch die Chancen standen eher schlecht, er stand ganz gelassen gegen die Wand eines Transporters gelehnt da und beachtete mich nicht groß. Mit einem leisen Seufzer beendete ich meine Arbeit und betrachtete mein Werk. Im Einflechten hatte ich mittlerweile Übung, bevor ich selbst Turniere gegangen war, hatte ich oft Juliet begleitet und ihr mit ihren Pferden geholfen. Luc musterte die Mähne seines Pferdes ebenfalls wohlwollend. Er lächelte schief, das Lächeln, in das ich mich gleich verliebt hatte, und klopfte mir auf die Schulter.
"Danke! Du kannst das super. Es sieht perfekt aus", meinte er bewundernd. "Musst du mir mal beibringen!"
"Gern", antwortete ich und hoffte, dass er die Aufregung in meiner Stimme nicht bemerkte. Seine Berührung hatte einen Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch losgelassen, ein warmes Kribbeln breitete sich von dieser Stelle in meinem ganzen Körper aus. Ich wollte noch etwas erwidern, aber in diesem Moment kam Monsieur Durand zwischen zwei Autos in Sicht und deutete auf seine Uhr.
„Oh, meine Prüfung beginnt gleich, ich muss abreiten!“
„Okay, dann bonne chance !“
Er nickte. „Dir auch!“ Und dann war Luc zusammen mit seinem Vater, Bellamie am Zügel, zwischen den vielen Reitern und ihren Pferden verschwunden.
Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Sophie ruft an.
„Hey, Soph!“ Abwechslung konnte ich mal wieder ganz gut gebrauchen.
„Marie! Ich wollte mich nur kurz melden, weil du doch jemanden brauchst, der dir die Daumen drückt, ich meine, nicht, dass du das nötig hättest aber...“ Sophie redete munter drauf los und war nicht mehr zu bremsen. Ich konnte nicht verhindern, dass meine Gedanken wieder zu dem Moment, in dem Luc mich berührt hatte, schweiften. Was hatte er dabei gefühlt? Wahrscheinlich nichts.
„... also dachte ich, das wäre eine gute Idee, findest du nicht?“ Der Nachdruck in der Stimme meiner besten Freundin schreckte mich auf, sie musste diese Frage schon einmal gestellt haben.
„Was? Äh, ja, toll...“
„Och, Marie, warum hörst du mir nicht zu? Was ist denn los mit dir? So aufgeregt?“
„Ja... Keine Ahnung. Wahrscheinlich.“
Aber so leicht konnte man Sophie nicht abwürgen. „Ach, ist Luc nicht auch auf diesem Turnier?“
Das Schweigen meinerseits war für sie ein eindeutiges Ja.
„Ach so, deswegen. Was war denn? Ist Camille da?“
Ich drehte eine Strähne meiner Locken um den Finger.
„Nein, ist sie nicht, Luc hat mich nur gebeten, Bellamie einzuflechten, sonst nichts.“
Sophie am anderen Ende der Leitung lachte. „Echt? Das kann er nicht selber?“
„Nein, er hat es eben nicht gelernt, ich soll es ihm mal zeigen, aber, ja, er musste es eben nie machen und...“ Aus irgendeinem Grund hatte ich das Bedürfnis, ihn zu verteidigen. Aber das interessierte Soph gar nicht, sie quietschte entzückt. „Was? Er hat dich eingeladen? Nur ihr beide?!“
Jetzt war ich es, die lachte. „Mann, Sophie, ich soll ihm irgendwann nur das Einflechten zeigen, mehr nicht! Nicht das, was du denkst, er und Camille sind noch ein Paar, und was für eins!“ Auch heute Morgen vor unserer Abfahrt hatte Camille wieder an Lucs Lippen geklebt. Sie war zwar nicht zum Turnier mitgekommen, wegen eines ultrawichtigen Maniküretermins, aber hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn zu verabschieden, als ginge er auf eine Weltreise. Eigentlich, fand ich, machte sie um alles ein riesiges Drama.
„Wer weiß...“
So gerne ich Sophie auch mochte, manchmal ging ihre Fantasie mit ihr durch. Juliet, die jetzt zu mir kam, ersparte mir eine lange Diskussion darüber.
„Ich muss auflegen, Sophie, bis morgen.“
„Okay, tschüss und viel Glück!“
Ich beendete das Gespräch. Juliet winkte mich zu sich herüber. „Ich habe mir gerade schon einmal den Parcours angesehen, ein paar ziemlich knifflige Sachen sind dabei.“ Sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und fuhr fort: „Als Mitglied der Jury, auch wenn ich heute nicht richte, durfte ich schon alles ablaufen, und mir scheint es, als hätten sie absichtlich stets verschiedene Abstände zwischen den Hindernissen gewählt...“
Ich lächelte, im Abschätzen von Abständen war ich ganz gut, ich konnte die Anzahl der zu benötigten Galoppsprünge ziemlich sicher abschätzen, falls ich Juliets Anweisungen vergessen sollte. „Du solltest schon mal damit beginnen, Caliente warm zu reiten, sie sollte heute wirklich rittig und wendig sein, es gibt viele Ecken und Handwechsel.“
Ich nickte und machte mich daran, die Stute zu satteln.
Auf dem Abreitplatz herrschte schon ziemlich Betrieb. Ich erkannte Bellamies kastanienbraunes Fell sofort. Luc war ganz in die Arbeit mit seinem Pferd vertieft, konzentriert ritt er den Probesprung an. Problemlos setzte die Stute darüber. Ich winkte ihm zu, war aber nicht sicher, ob er mich überhaupt gesehen hatte. Ich konzentrierte mich auf Caliente und begann, sie am langen Zügel Schritt zu reiten.
"Und wir sehen im Parcours das letzte Paar dieses A-Stilspringens: Caliente, geritten von Marielle Beauchamp, im Besitz von Juliet Carbonne."
Ich hob kurz grüssend die Hand an die Reitkappe, dann legte ich sie wieder an die Zügel. Aus dem Schritt galoppierte ich die braune Stute an. Sie ging weich und geschmeidig, ein Ohr aufmerksam zu mir, das andere nach vorne gerichtet. Den ersten Oxer nahmen wir ohne Probleme, dann ging es in einer geraden Linie auf den rot-gelben Steilsprung zu. Auch mit diesem hatte Caliente keine Problem. In einer weiten Dreiviertel-Volte nach links ging es auf das dritte Hindernis zu, wiederum einen Oxer. Caliente sprang weich ab und flog darüber, verschenkte aber keinen Zentimeter, denn Überspringen galt im Stilspringen als Fehler. Ich liess mir Zeit, im Stilspringen zählte das nicht, stattdessen bemühte ich mich, die Stute möglichst korrekt an den Hilfen zu reiten und den optimalsten Weg zu finden.
Wie schon zuvor war das nächste Hindernis ein Steilsprung, nicht besonders hoch, aber durch die Farben für die Pferde schwer zu taxieren. Ich schnalzte auffordernd mit der Zunge, um Caliente etwas Unterstützung zu geben.
Nach dem Steilsprung ging es in einer Rechtskurve auf einen überbauten Wassergraben zu. Ich holte weit aus, um möglichst gerade auf das Hindernis zu kommen. Caliente spitzte aufmerksam die Ohren, als ich sie etwas antrieb. Willig verlängerte sie die Galoppsprünge und setzte perfekt über das Hindernis. Es folgte die zweifache Kombination. Caliente kam perfekt auf den ersten Sprung. Ich sah, dass die Distanz etwas zu weit wurde, nahm Caliente leicht zurück und baute einen zweiten Galoppsprung ein. Kraftvoll stiess sich die Stute vom Boden ab und ging über den Sprung.
In einer langen Linkskurve ritt ich den nächsten Oxer an. Caliente zögerte einen Moment, verwirrt durch die Büsche mit den grossen, pinken Blüten zu beiden Seiten, doch als ich entschlossen die Schenkel anlegte und beruhigend mit ihr redete, galoppierte sie willig weiter und sprang über das Hindernis. Der Weg führte jetzt um den überbauten Wassergraben auf das zweitletzte Hindernis zu, eine kleine Mauer. Auch diese stellte für Caliente kein Problem dar. Ich richtete meine Aufmerksamkeit schon auf das letzte Hindernis. Komm schon, jetzt nicht nachlassen. Wie erwartete nahm Caliente auch dieses fehlerfrei. Der Applaus brandete auf. Ich klopfte ihr begeistert den Hals und parierte sie zum Schritt durch. Am langen Zügel liess ich sie Richtung Ausgang gehen, während ich gespannt auf ihre Wertnote wartete. Das beste Ergebnis war bisher 7,9, was schon relativ gut war. Ich war überzeugt, dass auch ich heute gut geritten war, doch ob es reichte?
"Und die Wertnote für Marielle Beauchamp...", der Ansager machte eine Spannung erzeugende Pause, "8,2. Damit gewinnt Marielle mit Caliente diese Prüfung. Herzliche Gratulation. Die restlichen Platzierten werden zur Siegerehrung auf den Platz gebeten. Das sind Startnummer..."
Ich hörte gar nicht weiter zu. Begeistert umarmte ich meine Stute. "Mein gutes Mädchen. Du warst toll. Wir haben gewonnen!" Ich gesellte sich zu den anderen, die sich in der Mitte des Platzes aufreihten.
"Gut geritten", gratulierte das Mädchen auf der zierlichen Fuchsstute neben mir.
"Danke." Ich lächelte. Ich konnte es immer noch nicht richtig fassen. Mein erstes A-Springen, und ich hatte es gleich gewonnen!
Als die Ehrendame Caliente die goldene Schleife ans Zaumzeug steckte und ich die Ehrenrunde anführte, kam mir alles noch unwirklicher vor. Überglücklich liess ich die Stute im Galopp um den riesigen Rasenplatz gehen, was sich auf das Pferd übertrug. Caliente buckelte übermütig und schnaubte begeistert.
Kurz vor dem Tor parierte ich zum Schritt durch und lenkte Caliente aus dem Parcours, während ich im Reiten den Gurt etwas lockerte.
Sofort kam Juliet angelaufen. "Marie, ihr wart fantastisch. Eine so schöne und harmonische Runde. War die richtige Entscheidung, euch starten zu lassen", meinte sie begeistert. Ich lächelte stolz und tätschelte den eleganten Hals der braunen Stute. "Ach, das liegt an Caliente. Sie ging so toll heute."
"Versuch nicht, deine eigene Leistung zu schmälern", entgegnete Juliet mit einem Schmunzeln. "Caliente ist zwar toll, aber nicht jeder hätte sie so durch den Parcours gebracht. Da braucht es schon eine ordentliche Portion Einfühlungsvermögen und reiterliches Können. Und im Stilspringen sowieso."
Wir gingen zurück in Richtung Hänger, als uns plötzlich eine Frau einholte. Sie war schlank, mit kurzen, dunkelbraunen Haaren, in denen man erste graue Strähnen erkannte. Sie mochte etwa Ende vierzig sein und machte einen resoluten Eindruck, strahlte aber ebenso viel Wärme aus. "Marielle Beauchamp?", fragte sie. Ich nickte. "Das bin ich."
"Chloe Le Brelle", stellte sie sich vor. "Ich bin die Verantwortliche des Junioren-Kaders."
Ich glaubte, mich verhört zu haben. "Des... Junioren-Kaders?", wiederholte ich fassungslos.
"Genau", bestätigte Madame Le Brelle. "Nun, sehen Sie, uns ist kürzlich eine Reiterin ausgefallen. Zertrümmerte Kniescheibe, die Ärmste. Wurde von einem Pferd getreten. Jedenfalls sind wir nun auf der Suche nach einem passenden Ersatz. Da dachte ich an Sie. Sie sind mir bereits auf dem Turnier vor drei Wochen in Paris aufgefallen. Ich erkenne ein Talent, wenn ich es sehe. Und Ihre Leistung hier war ebenfalls sehr überzeugend. Ich würde Sie sehr gerne zum Training nächstes Wochenende nach Beauvais einladen."
Ich starrte sie an, unfähig, etwas zu sagen, bis Juliet mich mit dem Ellbogen anstiess.
"Äh, natürlich, sehr gern, das wäre fantastisch", rang ich hilflos nach Worten. Chloe nickte erfreut. "Ich werde Ihnen dann alle nötigen Unterlagen zukommen lassen, ja? Tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit habe, ich muss leider schon wieder weiter. Wenn noch Fragen bestehen sollten, rufen Sie mich an. A merveille. Dann bis in einer Woche." Sie lächelte noch einmal kurz, dann verschwand sie auch schon wieder in der Menge. Ich sah ihr nach, ohne recht zu begreifen, was gerade passiert war. Ich schaute Juliet an, die begeistert in die Hände klatschte und mich umarmte. "Marie, das ist fantastisch! Einfach génial. Du reitest im Kader." Dann verfinsterte sich plötzlich ihr Gesicht. "Aber da gibt es eine Problem."
"Du meinst meine Eltern? Ach, die sind schon irgendwie zu überzeugen", meinte ich leichthin. Ich bemerkte, dass meine Hände von all der Aufregung zitterten.
"Mais non." Juliet schüttelte den Kopf. "Deine Eltern sind wohl noch das kleinste Problem. Aber was das Pferd betrifft..."
"Wieso, was ist mit Caliente?", fragte ich verwirrt.
"Der Kader", antwortete Juliet mit bedeutungsschwerer Stimme, "hat ein viel höheres Niveau als das, was ihr bisher geritten seid. Caliente ist noch nicht so weit, um da mithalten zu können. Und Aviateur fällt aufgrund seiner Verletzung vorerst auch aus."
Ich erschrak. Juliet hatte recht. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Caliente war zwar ein unglaublich talentiertes Springpferd und für ihr Alter auch schon unglaublich fortgeschritten, aber so gut war sie noch lange nicht. Mit einem Anflug von Verzweiflung sah ich Juliet an. War mein Traum schon zerplatzt? "Gibt es denn keine andere Möglichkeit?"
Juliet dachte angestrengt nach. "Im Moment fällt mir keins ein, das gut genug wäre. Aber lass nicht den Kopf hängen! Irgendein Pferd wird es schon geben."
Ich seufzte. Ich teilte ihre Zuversicht nicht ansatzweise. Die Freude über den Sieg und das Treffen mit Chloe verblasste schon wieder unter den Sorgen, die das sogleich mit sich brachte.
Am Hänger trafen wir auf Luc, der Bellamie am Anhänger angebungen hatte und gerade aus einer Flasche trank. An seinem Zaumzeug, das am Sattelbock neben dem Auto hing, flatterte ebenfalls eine goldene Schleife.
"Sieh an, du warst also auch erfolgreich", empfing er mich. Dann stutzte er, als sein Blick auf meine verdrossene Miene fiel. "Aber was macht ihr denn für Gesichter?"
Während ich Caliente absattelte erzählte Juliet ihm von meinem Zusammentreffen mit Chloe und meinem "Pferdeproblem". Luc hörte aufmerksam zu und nickte verständnisvoll. Dann dachte er kurz nach und wandte sich an mich. "Marie? Wenn du möchtest, dann könntest du Bellamie reiten. Ich bin sicher, du würdest problemlos mit ihr zurechtkommen. Ich hatte sowieso vor, diese Saison vermehrt mit Everest an den grossen Turnieren teilzunehmen, aber Belle ist in so guter Form, dass es schade wäre, sie zu Hause zu lassen. Das wäre die perfekte Gelegenheit für euch beide."
Ich sah ihn an. "Du würdest mir Bellamie anvertrauen?"
"Natürlich." Er nickte. Ohne gross nachzudenken fiel ich ihm um den Hals. "Danke, Luc", murmelte ich. Ich hätte noch stundenlang so in seinen Armen dastehen können, doch als er sich leise räusperte, trat ich verlegen einen Schritt zurück. Zu meiner Erleichterung lachte er. "Na dann, was hältst du gleich von morgen nach der Schule? Wir können uns so um vier am Stall treffen."
"Alles klar. Vier Uhr am Stall."
Er lächelte wieder sein herrliches, schiefes Lächeln, das mir so an ihm gefiel, dann wandte er sich ab und suchte in dem grossen Picknick-Korb, den Juliet vorsorglich mitgenommen hatte, nach einem Sandwich, während ich mich Caliente zuwandte, um sie abzusatteln. Ich fühlte mich fast wie auf Wolke Sieben.
"Wer als Letzter bei dem Baumstumpf ist!", rief Luc mir übermütig zu, und bevor ich antworten konnte, hatte er bereits die Zügel aufgenommen und Everest die Galopphilfen gegeben.
"Na warte", murmelte ich und trieb Andrejana an. Die Stute streckte sich und flog hinter dem Rapphengst her. Im Nu hatte sie ihn eingeholt. Schliesslich war sie ein ehemaliges Rennpferd. Rasch liessen wir die beiden hinter uns. Andrejana wurde immer schneller. Ihre lange, weisse Mähne flatterte im Takt ihrer Galoppsprünge. Ich lachte ausgelassen und liess sie laufen.
Erst, als der Weg zu Ende war, bremste die Stute ab und fiel in den Schritt. Sie schnaubte begeistert. Offenbar hatte sie an dem schnellen Ritt ebensolche Freude empfunden wie ich.
Ich strich ihr über den grauen Hals und sah mich um. Weit hinten kam Luc auf Everest angeprescht.
"Die beiden haben wir schön abgehängt, was?"
Die Stute schnaubte zustimmend. Juliet hatte Andrejana vor zwei Jahren gekauft, nachdem sie nach einem Unfall von der Rennbahn Abschied nehmen musste. Davor war sie ziemlich erfolgreich Hürdenrennen gelaufen. Charakterlich war sie das genaue Gegenteil davon, was man so über Ex-Rennpferde hörte: meist ruhig, zuverlässig, verschmust. Zwar konnte sie recht temperamentvoll sein, war aber klar im Kopf und angenehm zu reiten. Juliet setzte sie meistens in den Fortgeschrittenen-Stunden ein. Heute war der Unterricht allerdings ausgefallen, weshalb Juliet mich gebeten hatte, die Stute mit auf den Ausritt zu nehmen.
Inzwischen war auch Luc bei uns angekommen. Er parierte den schwer atmenden Everest neben mir durch. "Mann, hattet ihr ein Tempo drauf."
Ich lachte. "Du wolltest ja unbedingt ein Rennen machen."
Wir ritten im ruhigen Schritt weiter und schlugen den Weg zurück zum Gestüt ein. Ich war erstaunt, wie leicht es mir plötzlich fiel, mich mit Luc zu unterhalten und zu witzeln. Seit dem Turnier gestern.
"Nachher kannst du Bellamie reiten, ich denke, bis wir zurück sind, es ist nicht mehr so heiss", meinte Luc. Das war der Grund, weshalb wir das Training auf später verschoben hatten und stattdessen ins Gelände gegangen waren. Obwohl es erst Ende Mai war, brannte die Sonne bereits jeden Tag unbarmherzig vom Himmel. Selbst in der klimatisierten Reithalle war es kaum zum Aushalten.
"In Ordnung", meinte ich. Ein freudiges Kribbeln breitete sich in meinem Magen aus.
"Na los, traben wir ein wenig", schlug Luc vor. Wir ritten im Trab den breiten Waldweg entlang. Die Pferde schnaubten begeistert im Takt ihrer Schritte. Der weiche Boden dämpfte das Geräusch ihrer Schritte, sodass das einzige andere Geräusch das Zwitschern der Vögel war. Daran könnte ich mich direkt gewöhnen, dachte ich. Den unguten Gedanken von Camille in meinem Hinterkopf verdrängte ich schnell wieder und genoss den Moment.
"Nimm sie etwas zurück. Ja, so ist's viel besser. Jetzt der Steilsprung", wies mich Luc an. Ich gab Bellamie eine halbe Parade. Die Stute verkürzte willig die Galoppsprünge. Ich schnalzte auffordernd mit der Zunge. Sie schnellte vom Boden ab wie eine Stahlfeder. Ich ging in der Bewegung mit und gab ihr den Kopf etwas mehr frei. Weich landete Bellamie auf der anderen Seite.
"Schön. Nimm noch einmal den Oxer, dann machen wir Schluss", meinte Luc und beobachtete mich aufmerksam. Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte und trieb die Stute wieder etwas an. Sie streckte sich unter mir, während sie mit gespitzten Ohren den Sprung fokussierte. Ich brauchte nur etwas mit der Hand nachzugeben und in den leichten Sitz zu gehen, schon flog die Stute praktisch von selbst über das Hindernis. Ich liess sie locker auslaufen, bevor ich sie zum Schritt durch parierte und ihr den Hals klopfte.
"Sehr schön", lobte Luc. "Ihr zwei seht toll zusammen aus. Das Kadertraining sollte kein Problem für euch werden."
Ich lächelte zögernd. So ganz teilte ich seinen Optimismus nicht, aber ich wusste, dass Bellamie mich nicht im Stich lassen würde.
„So, da wären wir.“ Clement stellte den Motor des Transporters ab und sah mich aufmunternd an. „Das schaffst du schon. Jetzt kannst du den Anderen einmal zeigen, was Springreiten eigentlich bedeutet.“
Mir entfuhr ein kleines, ironisches Lachen, während ich aus dem Wagen stieg. Ausser Luc waren, so wie ich Chloe verstanden hatte, noch drei andere mindestens genauso talentierte Reiter. Und jeder davon hatte bestimmt an die tausend Einzelstunde und ein eigenes Pferd. Bei dem Gedanken, dass ich ohne Lucs Angebot, Bellamie zu reiten, Chloe hätte absagen müssen, kochte meine Wut über die Sturheit meiner Eltern wieder auf.
„Marielle, träum nicht rum, hilf mir lieber."
Ich wandte mich zu Clement, der bereits ausgestiegen war und jetzt die Klappe des Transporters herunterließ. Ich nickte und kletterte zu Bellamie in den Anhänger, die mit geblähten Nüstern interessiert den Kopf nach mir umdrehte.
„Hej, du Süße. Bitte lass mich nicht im Stich, ja? Heute kommt's drauf an.“ Ich knotete den Führstrick los und führte sie langsam rückwärts aus dem Transporter. Der weiße Kies knirschte unter ihren Hufen. Bellamie streckte den Hals und begutachtete neugierig das Gelände, entspannt wie ein Profi, sie schien nicht einmal halb so aufgeregt wie ich zu sein.
In der großen Einfahrt stand noch kein anderes Auto außer Chloes Ford, der neben den vornehmen Gebäuden fast winzig wirkte. Seitlich des Parkplatzes befand sich eine Art Putzplatz im Schatten einiger hoher, uralter Eichen. Clement hatte Bellamies Sattelzeug, Putzkasten, Gamaschen und meine Ausrüstung schon hingestellt und winkte mir noch einmal zu. „Dann bis nachher, Marielle, ich hol dich wieder ab, wenn nicht, kommt Juliet.“ Er streckte den Daumen nach oben. Ich wollte protestieren, wie konnte er mich einfach so allein auf dem riesigen Gelände lassen? Aber in diesem Moment bemerkte ich die Frau in Reithose und Stiefeletten, die mich freundlich anlächelte. Chloe Le Brelle. „Salut Marielle."
Angesichts ihrer freundschaftlichen Aura fand ich es unpassend, sie mit Madame anzureden. „Salut.“
Sie betrachtete Bellamie. „Nanu, ist das nicht eins von Luc Durands Pferden?"
Ich nickte. "Ja, er hat sie mir für die Trainings angeboten, weil ich ja kein eigenes Pferd besitze."
"Ah ja, er erwähnte so etwas. Du kannst sie erst mal aufsatteln, die anderen kommen erst in einer halben Stunde, dann kannst du dich schon mal in aller Ruhe aufwärmen.“
Ich nickte erleichtert und machte mich daran, die Stute fertig zu machen. Dann nahm ich Reithelm und Gerte und führte Bellamie in die große Halle, die hinter dem Stallkomplex lag. Bellamie schnaubte begeistert, als sie den weichen Hallenboden unter den Füssen spürte und wieherte.
Ich hielt ich sie in der Mitte an um aufzusteigen und setzte einen Fuß in den Steigbügel. Chloe lächelte und bezog am Rand Stellung, während ich Bellamie auf den Hufschlag lenkte und begann, einfache Übungen zu reiten, um sie zu lockern.
Als sie aufgewärmt war, probierte lenkte ich sie ein paar Mal über das kleine Kreuz, das einzige bereits aufgebaute Hindernis. Ich spürte, wie meine Anspannung allmählich verflog.
„Gut so, sitz aber noch ein wenig tiefer in den Sattel und bemühe dich um gleichbleibenden Kontakt zum Pferdemaul, auch wenn sie gerade ganz brav ist.“ Chloe beobachtete uns kritisch. "Ja, genau so, siehst du, wie sie gleich viel schöner untertritt?" Sie liess mich noch ein paar Runden reiten, dann winkte sie mich zu sich.
Unterdessen begannen drei Pfleger, die richtigen Trainingshindernisse aufzubauen. Ich versuchte, die erschreckenden Ausmaße der Hindernisse nicht zu beachten und konzentrierte mich auf Chloes Worte.
„Ganz gut soweit, du sitzt noch etwas verspannt im Sattel, aber das kommt schon noch. Das ist die Nervosität, keine Sorge, das legt sich. Ansonsten sah es bisher ganz ordentlich aus. Dafür, dass du sie noch nicht so gut kennst.“
Ich nickte, bereit etwas zu erwidern, als Stimmen und Hufgeklapper die Luft erfüllten. Dann erklang eine hohe, fröhliche Stimme: „Tür frei?“
„Ah, da sind ja auch schon die anderen.“
Der Kopf eines Fuchses erschien und daneben ein Brauner, auf dem schon ein schwarzhaariges Mädchen saß, dessen langer Zopf bei jedem Schritt des Tieres gegen ihren Rücken wippte. Jetzt erkannte ich auch eine zweiten Person, die den Fuchs führte, sie war so klein und schmal, dass ich sie erst nicht gesehen hatte. Da sie noch keinen Reithelm trug, standen ihre kurzen, tiefroten Haare in alle Richtungen ab, mal gelockt, mal nicht. Sie grinste mir zu. Hinter den beiden Mädchen kam ein drittes Pferd mit Reiter in die Halle. Ein großer Schimmelwallach mit einem nicht minder kleinerem Jungen, oder besser, jungen Mann, auf dem Rücken.
Chloe nickte mir zu. „Darf ich vorstellen, deine Mannschaftskameraden, Pauline Laval mit Maronne“, sie deutete auf das Mädchen mit dem schwarzen Zopf, „Lea Chirac mit Fandango“, der Fuchswallach neben der Rothaarigen tänzelte schon ungeduldig herum, „und Romain Dupont mit seinem Dior.“ Jetzt zeigte sie auf mich. „Und das ist Marielle Beauchamp, das neue Teammitglied.“
„Ah, Vorstellungsrunde, oder was? Bin ich zu spät?“ Zwei weitere Reiter hatten die Halle betreten, einer, dass erkannte ich sofort, war Luc mit seinem Everest. Er war gestern schon angereist. Neben ihm ritt ein gutaussehender Junge mit dunkelblondem Haar, das ihm leicht ins Gesicht fiel. Um seinen Mund spielte ein leicht ironisches Lächeln, unter seinem T-Shirt zeichneten sich die Muskeln ab. „Luc kennst du ja schon.“ Chloe nickte überflüssigerweise zu ihm hinüber. "Und das ist Derec Nemours mit Drageur.“
Der Junge lächelte jetzt breiter und hob kurz die Hand. „Willkommen bei den Superstrebern im Reiten, Marielle.“ Seine Stimme klang etwas rau, aber es passte zu ihm, alles in Allem war Derec, der jetzt Stellung neben Pauline nahm, attraktiv, und zwar sehr attraktiv.
Luc dagegen sah leicht säuerlich aus. Er wandte sich demonstrativ zur anderen Seite der Halle und reihte sich hinter dem schweigsamen Romain auf den Hufschlag ein. Ich lenkte Bellamie hinter Lea an die Bande.
Zuerst liess Chloe uns ein paar Hufschlagfiguren reiten und gab uns einige einfache Dressurübungen vor. Dann begannen wir mit dem Springen.
"Gut, wir haben letztes Mal an den einfachen Sprüngen gearbeitet, heute möchte ich mich mit den Kombinationen befassen, am Nachmittag werden wir dann noch einen oder zwei Parcours reiten", erklärte Chloe. Mir wurde etwas mulmig zu Mute. Bellamie schaffte die Sprünge, ohne Zweifel, aber ob ich es ebenfalls konnte?
"Alors, Lea, du fängst an. Den grün-weissen Steilsprung und dann die Kombination."
Lea wendete Fandango ab und galoppierte den Fuchs an. Es war erstaunlich, wie gut der kräftige Fuchs mit dem zierlichen Mädchen harmonierte. Die beiden überwanden die Sprünge ohne grosse Probleme, nur beim letzten Sprung touchierte Fandango die Stange mit den Vorderhufen, doch sie blieb liegen.
"Nicht schlecht, nur solltest du ihn in der Kombination etwas zurück nehmen. Er hat eine sehr grosse Galoppade, daher musst du bei ihm immer daran denken, die Galoppsprünge auf jeden Fall zu verkürzen. Romain!"
Der Aufgerufene trieb seinen Schimmel an. Es war offensichtlich, dass Dior wohl ziemlich faul war und nicht gerne mehr tat, als unbedingt nötig war. Doch über die Hindernisse kam der Wallach perfekt, wenn auch immer sehr knapp.
"Das leidige Thema", seufzte Chloe. "Du weisst ja, dass du ihn etwas aufwecken solltest. Es sieht aus, als würde er über dem Hindernis einschlafen."
Pauline neben mir kicherte.
"Ansonsten schön, gute Linie. Luc, du bist der nächste!"
Everest tänzelte aufgeregt und wollte sogleich losstürmen, als Luc die Zügel aufnahm und den Hengst auf das erste Hindernis zu lenkte. Luc ritt geduldig Volten mit ihm, bis er sich etwas beruhigt hatte und nahm dann den ersten Sprung. Mit einem riesigen Satz flog der Rappe über das Hindernis. Luc gab ihm eine halbe Parade, als er auf die Kombination hin anzog. Die beiden kamen perfekt auf den ersten Sprung, und auch der zweite klappte.
Chloe nickte anerkennend. "Er hat sich gemacht, der Bursche, sehr schön. Jetzt musst du noch sein Temperament etwas besser in den Griff kriegen, dann habt ihr beiden eine grossartige Zukunft vor euch. Derec!"
Mir entging nicht, dass Derec und Luc einen feindseligen Blick austauschten, als sie aneinander vorbei kamen. Die Spannung zwischen ihnen war praktisch mit Händen greifbar.
Derec liess seinen temperamentvollen Dunkelfuchs angaloppieren und nahm das erste Hindernis. Man spürte, dass die beiden ein eingespieltes Team waren. Sie erledigten die Übung, als handle es sich nicht um mehr als lästige Cavaletti-Arbeit. Drageur nahm die Sprünge wie aus dem Lehrbuch. Chloe sah sehr zufrieden aus. "Sehr schön, Derec, daran gibt es wirklich nichts auszusetzen", lobte sie. Derec warf Luc einen triumphierenden Blick zu, als er sein Pferd wieder neben ihm in die Reihe stellte.
"Gut, jetzt Pauline."
Man sah Pauline an, dass sie mindestens genauso nervös war wie ich, was mich ungemein erleichterte. Immerhin war ich nicht die einzige.
Pauline liess ihre Braune angaloppieren. Maronne warf unruhig den Kopf hoch. Die Nervosität ihrer Reiterin schien sich auf sie zu übertragen. Schon beim ersten Hindernis zögerte die Stute. Pauline schnalzte auffordernd, und das Pferd stiess sich auf dieses Zeichen hin vom Boden ab und flog über den Sprung. Pauline lenkte sie auf die Kombination zu. Maronne spielte unsicher mit den Ohren und schlug mit dem Schweif.
Pauline gab ihr einen Klaps mit der Gerte, worauf die Stute etwas anzog und gerade so über den ersten Sprung kam, doch dann kam sie zu dicht an das zweite Hindernis. Die Stange fiel klappernd zu Boden.
"Kein Problem", meinte Chloe aufmunternd. "Ihr zwei wart einfach zu unsicher. Versuch, beim nächsten Mal etwas ruhiger an die Sache ran zu gehen. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein, keiner nimmt dir Fehler übel! So, und zum Schluss Marielle, bitte."
Ich nickte und atmete tief durch. Bitte, hilf mir, Süsse, flehte ich in Gedanken, während ich Bellamie die Galopphilfen gab. Weich sprang die Stute in den Galopp. Ich liess ihr Zeit, ihren Rhythmus zu finden, bevor ich den Steilsprung anritt. Sicher sprang Bellamie über das Hindernis. Ich versuchte nur noch, sie möglichst nicht zu behindern und sie selbst machen zu lassen. Die Stute nahm die Kombination wie ein alter Profi. Erleichtert klopfte ich ihr den Hals.
"Chloe hatte recht, du reitest wirklich gut", lobte Derec. "Ich habe Bellamie noch unter niemanden so gut gehen sehen!" Er warf Luc einen herausfordernden Blick zu.
"Derec!", rief Chloe in warnendem Ton. Dann wandte sie sich an mich. "Marielle, das war wirklich ausgezeichnet. Es war die richtige Entscheidung, dich ins Team zu holen!"
Ich lächelte und strich Bellamie über die schwarze Mähne.
Chloe liess uns noch einige weitere Kombinationen üben, jedes Mal mit veränderten Abständen oder Stangen, die für die Pferde schwer zu taxieren waren. Doch auf Bellamie war Verlass, während des ganzen Trainings fiel keine einzige Stange, und ich wurde zunehmend sicherer.
Danach waren für die Pferde fünf helle, grosszügige Gästeboxen vorbereitet. Die Frau des Gestütsbesitzers, Madame Chirac, Leas Mutter, hatte uns bereits ein herrliches Mittagessen vorbereitet. Die kleine, aber energische Frau gebot uns mit einem Lächeln, an dem gemütlichen Bauerntisch im Esszimmer Platz zu nehmen, während sie verführerisch duftende Platten auftrug.
Mir war etwas beklommen zu Mute, als ich mich mit den anderen an den Tisch setzte. Ich hasste es, die Neue zu sein, die niemanden kannte und nirgends mitreden konnte. Doch ich machte mir unbegründet Sorgen.
"Darf ich?" Derec deutete auf den Stuhl neben mir. Ich machte eine einladende Handbewegung, und er setzte sich mit einem Lächeln. Dankbar lächelte ich zurück, meine letzten Sorgen verflogen, denn Pauline auf meiner anderen Seite begann sofort, mich in ihr Gespräch mit ein zu binden. „Für deinen ersten Ritt war das wirklich gut, Marie.“
Lea, die bisher wie ein Scheunendrescher gegessen hatte, schluckte den letzten Bissen hinunter und betrachtete mich ebenfalls voller Interesse. „Und du reitest im gleichen Stall wie Luc, ja?“
Ich nickte, aber bevor ich etwas erwidern konnte, kam es von der anderen Seite des Tisches: „Ja, Marie reitet schon ewig dort. Unsere Reitlehrerin Juliet nennt sie immer die gute Seele des Hofes. Juliet ist übrigens eine hervorragende Reitlehrerin und hat nur ausgewählte Schüler.“ Obwohl Luc mich dabei ansah, was mich leicht erröten ließ, waren die letzten Worte ganz eindeutig an Derec gerichtet. Der schnaubte nur. Die beiden benahmen sich wirklich lächerlich, aber aus Paulines und Leas Blicken sprach eine gewisse Bewunderung.
Madame Chirac kam mit dem Nachtisch. Die Crème brûlée schmeckte einfach nur himmlisch und beendete den aufkeimenden Streit der Jungen. Romain hatte sich schon verabschiedet. Ich lehnte mich zurück. Es konnte sein, dass Luc und Camille sich nie trennen würden, aber jetzt, in diesem Moment war ich einfach nur glücklich. Bellamie war herrlich gegangen heute, ich saß hier, und alle waren so unglaublich freundlich, kein bisschen eingebildet, wie ich insgeheim erwartet hatte.
„Marie? Träumst du?“ Eine warme Hand hatte sich auf meine Schulter gelegt. Ich blinzelte, es war Derecs, der sich leicht nach vorne gebeugt hatte und mit der anderen Hand vor meinem Gesicht herumwedelte. Ich fuhr mir nervös durch die Haare. „Was? Ach, ja. Sorry.“
„Von wem träumst du denn?“ Da war es wieder, dieses feine, ironische Lächeln. Lea lachte. „Von Pferden, von was denn sonst?!“
Ich nickte und beugte mich wieder über den Nachtisch. War das gerade eben eine Flirtversuch gewesen? Ich verwarf den Gedanken sofort wieder, denn ich hatte ein ähnliches Verhalten bei ihm gegenüber den Anderen bemerkt, es schien einfach Derecs Art zu sein. Freundlich und nett. Und schon süß, dass musste ich zugeben.
„Und, wie war es?“
Ich ließ mich neben Clement auf den Beifahrersitz des Transportes plumpsen. Nach dem Essen war dann die zweite Runde des Trainings angestanden. Chloe hatte uns zwei Parcours springen lassen und sie hinterher ausführlich analysiert. Wie schon am Morgen hatte Bellamie die Hindernisse wie ein Profi gemeistert.
Danach hatte sich die Runde langsam aufgelöst, und ich hatte Clement angerufen. Jetzt war Bellamie, schon wieder ausgeruht und voller Tatendrang einer Hochleistungsstute, im Transporter verladen, und wir waren auf dem Weg zurück nach Saint‐Brieuc.
„Klasse. Total spitze.“ Ich drehte das Radio lauter. C’est la vie von Coralie Clément. Ich summte leise mit.
Aber Clement gab sich so einfach nicht zufrieden. „Erzähl doch mal.“
„Naja, das sind alles ganz nette Leute, dort im Kader und Chloe LeBrelle ist auch echt sympathisch. Und Bellamie hat ihr Bestes gegeben. Zuerst war ich nervös, aber sie ist ganz ruhig geblieben und dann haben wir beide einen guten Ritt hingelegt.“
„Klingt wirklich schön, Marie.“ Er lächelte. Ich seufzte bedauernd. Wenn nur meine Eltern wenigstens halb so viel Begeisterung empfinden würden wie Clement.
Mit einem Quietschen rollte der Transporter in die Einfahrt von LeChevalier ein.
„Da wären wir. Ich muss gleich noch einmal los, ein paar jüngere Mädchen sind heute auf einem E-Dressurwettbewerb, und ich darf den Fahrer spielen.“
Ich beeilte mich, Bellamie aus dem Hänger zu führen und dankte Clement kurz, bevor ich die Stute in ihre Box brachte. Sie stand in der Regel am Ende des Privatstalls, in einer der großen, luftigen Boxen, für die Lucs Vater ordentlich Geld bezahlte.
Obwohl das Training fruchtbar anstrengend gewesen war und ich mich eigentlich lieber erst mal zu Hause unter die Dusche gestellt hätte, holte ich das Putzzeug noch einmal hervor. Vorhin hatte ich nur kurz die Hufe gereinigt und das schweißnasse Fell mit Heu trockengerieben, denn trotz Decke war Bellamie extrem empfindlich.
Die Sonne schien, und die meisten anderen Reiter waren ausgeritten oder auf den Außenplätzen mit dem Training beschäftigt. Ich konnte mich also in vollkommener Ruhe Bellamie widmen, die es sichtlich genoss, so ausgiebig versorgt zu werden. Ich klopfte ihr den Hals. „Du warst einfach traumhaft, meine Süße.“
Sie schnaubte und streckte dann den Hals, um das Leckerli auf meiner Hand behutsam zu nehmen. Genüsslich zermalmte sie es.
Ich griff noch einmal nach der Kardätsche und fuhr über das inzwischen makellos glänzende Fell, während ich leise das Lied von vorhin vor mich hin summte.
Draussen fuhr ein Transporter auf den Hof. Ich dachte erst, es wäre Clement, der von dem Dressurturnier zurückkam, doch dann ging die Stalltür auf, und Luc führte Everest herein. "Merci, ich seh dich dann nachher. Nein, du musst mich nicht abholen, ist schon gut. Ich will noch kurz bei Nicolas vorbei!", rief er jemandem auf dem Hof noch zu, dann drehte er sich um und sah mich. "Ah, Marie." Er lächelte, und ich bekam weiche Knie.
"Weisst du, beim nächsten Mal können wir zusammen fahren", schlug er vor, während er Everest in die Box nebenan führte. "Ist ja blöd, wenn Clement auch noch fahren muss. Und die beiden kennen sich ja sowieso."
"Äh, ja, wieso nicht, das wär toll", antwortete ich und verfluchte mich dafür, dass mir keine intelligentere Antwort eingefallen war.
"Gut." Er nahm sich einen Striegel aus seiner Putzkiste und begann, das Fell seines Rappen zu bearbeiten. "Und, wie fandest du das Training heute?"
"Ich fand's super. Ich war überrascht, wie nett alle sind. So gar nicht eingebildet."
Bei diesen Worten lachte Luc trocken auf, doch er sagte nichts. Ich nahm an, dass sich das auf Derec bezog. "Und Belle war toll", fuhr ich fort. "Ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass wir das packen."
Jetzt lächelte er wieder. "Ja, auf Belle ist echt Verlass." Er sah die Stute liebevoll an. "Ich bin froh, dass du sie jetzt an den Trainings reitest, ich hatte fast ein bisschen ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, weil ich ja jetzt hauptsächlich Everest reite, verstehst du?"
Ich nickte. "Ja, die Lösung scheint für uns beide optimal."
"Ach ja, Juliet hat gesagt, in ein paar Wochen ist wieder ein Turnier in der Nähe von Paris. Ich dachte daran, mit Everest teilzunehmen. Das wäre auch für dich eine gute Gelegenheit, mit Bellamie zu starten."
Ich sah überrascht auf. "Ich soll mit Bellamie starten?"
Er lachte. "Ja, was dachtest du denn? Du musst noch ein bisschen Turniererfahrung mit ihr sammeln, bevor wir mit dem Kader wieder auf die grossen Turniere fahren."
"Ich weiss ja noch gar nicht, ob Chloe mich überhaupt definitiv nimmt", bemerkte ich und bückte mich, um noch einmal Bellamies Hufe auszukratzen.
"Soll das ein Witz sein? Nach deiner heutigen Leistung?", fragte Luc überrascht.
"Na ja, das war ja hauptsächlich Belles Verdienst", wich ich aus.
"Du unterschätzt dich. So gut geht sie auch nicht bei jedem. Man muss schon
Ich war froh, dass er nicht sehen konnte, wie ich rot wurde. "Hm..."
Er legte sein Putzzeug weg und deutete auf mein Zaumzeug. "Soll ich das gleich mit in die Sattelkammer nehmen?", bot er an.
"Das wäre nett."
Er verschwand nach nebenan. Ich trat aus Bellamies Box und setzte mich auf die Putzkiste, um meine Reitstiefel gegen die alten, ausgelatschten Turnschuhe einzutauschen, die ich im Stall immer trug.
"Gehst du jetzt nach Hause?", fragte Luc und trat zu mir.
"Ja. Ich muss noch Hausaufgaben machen." Ich verzog das Gesicht. Er lachte. "Ich begleite dich ein Stück. Ich muss auch in diese Richtung."
"Das... wär toll", stotterte ich und versuchte, das Flattern in der Magengegend zu ignorieren. Mach dich nicht lächerlich, Marie, er hat eine Freundin!
Er hielt mir die Stalltür auf. "Gehen wir."
Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis er unvermittelt fragte: "Kommst du eigentlich auf die Schulparty?"
"Ich weiss nicht. Eigentlich mag ich keine Parties", antwortete ich. "Zu laut, zu hektisch." Und zu sehr Camilles Gebiet, was ich jedoch nicht laut aussprach.
"Ich eigentlich auch nicht. Ich geh bloss Camille zuliebe hin."
Was sonst?
Es folgte wieder eine Pause. Ich hing meinen Gedanken nach. Es war eigentlich erstaunlich, dass ich nie so richtig mit Luc geredet hatte, bevor er mir angeboten hatte, Bellamie zu reiten. Halt mal ab und an eine Korrektur beim Training oder eine Erkundigung über das nächste Turnier. Und jetzt...
"Wie sieht es aus? Wollen wir uns morgen wieder zum Training treffen?", fragte Luc unvermittelt.
"Ja, das wär toll. Ich muss allerdings noch Caliente bewegen. Die darf ich trotz allem nicht vernachlässigen. Und der Tierarzt kommt noch für Aviateur."
"Kein Problem. Was meinst du, so um sechs? Dann ist es auch nicht mehr so warm."
Ich nickte. "Alles klar."
Wir waren inzwischen vor unserem Haus angekommen. "So, hier wohne ich. Danke für's Begleiten."
"Kein Problem. Lag ja eh am Weg."
"Richtig... Also, bis morgen dann." Ich lächelte und öffnete das schmiedeeiserne Tor. Er hob grüssend die Hand, dann drehte er sich um und ging. Ich blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihm nach. Schliesslich sprang ich kopfschüttelnd die paar Stufen zum Eingang hoch. "Hallo, ich bin wieder zu Hause." Ich streifte mir die Schuhe von den Füssen und ging in den Wintergarten, wo meine Eltern sich meistens um diese Zeit befanden.
Maman sass auch tatsächlich in einem der Korbstühle, das Telefon in der einen, ein Klemmbrett in der anderen Hand. Während sie telefonierte, machte sie sich eifrig Notizen. Offenbar war mal wieder einem ihrer Klienten ein Hund aus dem Fenster gesprungen und hatte sich die Pfote verstaucht, was Herrchen - oder Frauchen - jetzt natürlich extrem belastete und sofort nach einem Notfallgespräch verlangte. Ich verdrehte bloss die Augen.
Maman hob nur kurz den Kopf, als sie mich hereinkommen hörte, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf ihre Notizen. Ich nahm mir einen Apfel aus der Früchteschale auf dem Tisch, dann stieg ich die Treppe hoch in mein Zimmer.
Während ich meine Matheaufgaben machte, rief ich Sofie an, die natürlich sofort alles über Romain und Derec wissen wollte und erfreut aufschrie, als ich ihr von Luc erzählte.
"Siehst du", meinte sie zufrieden.
"Was sehe ich?"
"Er mag dich. Wetten, dass er Camille bald in den Wind schiesst?"
"Klar mag er mich. Als Freundin. Sofie, mach dir keine falschen Hoffnungen", seufzte ich und zeichnete Muster in mein Heft, anstatt die Aufgaben zu lösen.
"Aber er hat dich gefragt, ob du auf die Party gehst. Das hat was zu bedeuten", behauptete sie. "Jetzt musst du fast hin." Sie kicherte. "Kannst ja Derec mitnehmen und Luc eifersüchtig machen."
Ich verschluckte mich fast an meinem Apfel. "Sofie", warnte ich sie.
"Schon gut. Aber wäre der nicht eine Alternative?"
Ich dachte kurz nach. Derec war ebenfalls ausgesprochen attraktiv. Und ich war mir nicht sicher, ob das heute vielleicht doch ein Flirtversuch gewesen war.
"Kann schon sein."
"Ahaaa..." Sofie lachte.
"Aber ich sehe ihn ja erst in zwei Wochen wieder. Ausserdem wäre es sowieso nicht so schlau, mit ihm etwas anzufangen. Fernbeziehungen sind was Dummes."
Sofie schwieg einen Augenblick. "Na ja, andererseits..."
"Ok, Themenwechsel", schlug ich rasch vor. Sofie lachte. "Also schön."
Wir redeten stattdessen über die Schule, die Party und einen Typen, den Sofie heute beim Joggen getroffen hatte und der - laut ihr - irre gut aussah, bis Maman mich zum Abendessen rief.
"Also, wir sehen uns morgen, ja? Bis dann." Ich legte auf und rannte die Treppe hinunter, was meine Mutter mich einem Hochziehen ihrer Augenbrauen quittierte.
Im Vorraum schlug eine Tür zu.
"Salut. Ah, das riecht ja schon herrlich." Papa kam herein und schnupperte geniesserisch. "Das war vielleicht ein Tag heute", seufzte er, legte seine Tasche weg und ging ins Bad, um sich vor dem Essen die Hände zu waschen.
Nicole, die Haushälterin, trug währenddessen bereits den Salat auf. Meine Eltern waren ausgesuchte Feinschmecker, unter vier Gängen gab es bei uns selten beim Abendessen.
Ich wollte bereits hungrig nach meiner Gabel greifen, als meine Mutter ungehalten zischte: "Marielle, warte gefälligst, bis dein Vater am Tisch ist."
Mit einem Seufzen legte ich die Gabel zurück und trommelte gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch, bis mein Vater sich endlich auch gesetzt hatte.
"Bon appétit." Maman griff nach ihrer Gabel. Papa und ich taten es ihr nach.
"Alors, Marie, wie war dein Training?", erkundigte sich mein Vater nach einer Weile.
"Ganz gut. Die sind echt alle supernett. Und Chloe meinte, ich reite super, und es sei die richtige Entscheidung gewesen, mich ins Team zu holen."
Er lächelte. "Das klingt ja toll. Und wann habt ihr euer nächstes Training?"
"In zwei Wochen. Allerdings kann ich da dann mit den Durands fahren, dann muss Clement nicht extra hin."
Wieder ein Lächeln, aber ich merkte, dass seine Aufmerksamkeit angesichts näherer Details wieder schwand.
"Ach, da fällt mir ein: ich habe heute Nachmittag mit Maelle telefoniert", warf meine Mutter ein. War klar, dass ihr das unbedingt jetzt einfallen musste. Sie hasste es, wenn Dad versuchte, mir zu liebe ein bisschen Interesse an meiner Reiterei zu zeigen.
"Ach, lässt mein Schwesterherz mal wieder von sich hören?" Ich nahm mir ein Brötchen auf dem Korb und tunkte damit die restliche Salatsosse auf.
Maelle-Oceane. Meine Schwester. Sechs Jahre älter und so ziemlich das absolute Gegenteil von mir. Das leuchtende Beispiel, das einem immer vorgehalten wird. Und doch hätten wir uns nicht besser verstehen können. Seit einem Jahr allerdings wohnte sie mit ihrem Freund in einer kleinen Wohnung in Paris, wo sie als Innenarchitektin arbeitete.
"Sie will nächstes Wochenende mit Kellan Lefèvre kommen.“ Meine Mutter lächelte bedeutungsvoll. „Ihrem... Verlobten! Er hat um ihre Hand angehalten!“
Ich verschluckte mich an dem Bissen Brötchen. Hustend starrte ich meine Mutter an. „W...Was?“
Mein Vater sah sie entgeistert an. Jetzt war Maman voll in ihrem Element. Sie verzog ihre akkurat geschminkten Lippen zu einem Lächeln. „Es kommt noch besser: Sie werden hier heiraten. Denn Kellans Vater war doch Bürgermeister hier. Das wird ein großes Fest.“
Papa tupfte sich den Mund an seiner Serviette ab und wandte sich dann an meine Mutter. „Das sind ja sehr viele Informationen auf einmal.“
Maman lachte kurz auf. „Herrliche Informationen, nicht war?“ Sie fieberte dem Ereignis sichtlich entgegen, vor allen Dingen, da Maelle eine, wie sie fand, eine vorzügliche Wahl getroffen hatte, Kellan sah gut aus, war nicht gerade arm, und Maelle hatte einen tollen Job. Das Wichtigste aber: Für Kellan hatte Maelle das Reiten aufgegeben. Zwar war es schon immer ich gewesen, die pferdeverrückt war, aber Maelle hatte sich auch eine Zeit lang auf dem Pferderücken versucht. Sie war allerdings lieber beim Ballet- oder Klavierunterricht gewesen.
Papa lächelte gezwungen. „Geht das alles nicht ein bisschen schnell? Meinst du nicht, die beiden überstürzen da etwas?“
Ich hätte beinahe aufgestöhnt. Das war so typisch Vater. Die konnten ihre Töchter einfach nicht gehen lassen, diese ständige Angst und die Abneigung gegen Freunde ihrer weiblichen Sprösslinge teilte auch mein Papa. Aber Maelle war schließlich schon 22 und hatte sowieso schon immer gewusst, was sie wollte.
Meine Mutter zog die Augenbrauen zusammen. „Nicolas.“ Sie betonte jede einzelne Silbe seines Namens. Das konnte Ärger geben.
„Ich geh dann mal nach oben.“ Ich beeilte mich, in mein Zimmer zu kommen. Von unten hörte ich Mamans angriffslustige Stimme. In dieser Beziehung war ihre Meinung ziemlich eindeutig. Meine Eltern stritten sich ja selten, aber wenn, dann ging es meistens um mein oder Maelles Liebesleben.
Unschlüssig blieb ich in der Tür meines Reiches stehen. Es war noch viel zu früh zum Schlafen gehen, Fernsehen schied auch aus, da meine Eltern ihre Auseinandersetzung scheinbar ins Wohnzimmer verlegt hatten, und Sophie hatte ich schon angerufen. Lustlos nahm ich mein Buch und legte mich aufs Bett. Ich begann zu lesen.
„Marielle.“ Meine Mutter stand in der Tür, unten schein sich alles wieder beruhigt zu haben. „Hast du Zeit?“
Ich legte mein Buch von Amélie Nothomb weg und sah sie fragend an. „Ja?“
Maman setzte sich neben mich auf mein Bett und zeigte mir den Katalog in ihrer Hand.
Ich verzog instinktiv das Gesicht. „Brautmode? Für mich? Müsstest du das nicht Maelle zeigen?“
„Jetzt stell dich doch nicht dümmer, als du bist, Marielle. Wir brauchen schließlich ein Kleid für dich, wenn du Brautjungfer bist.
„Bin ich?“ Das wurde ja immer besser. Ich warf einen prüfenden Blick auf die Seite im Katalog, die Maman aufgeschlagen hatte.
„Bist du. Maelle wäre für dieses Kleid hier, sie meint, es wäre trés bien. Besonders zu dir würde es passen.“ Sie zeigte auf ein lavendelfarbenes, schulterfreies Kleid.
„Wenn sie meint.“ Ich zuckte die Schultern. Mir war das nicht so wichtig. Aber, zugegeben, Maelle hatte keinen schlechten Geschmack. Ganz mein Fall war es nicht, ich würde meine Hochzeit viel einfacher feiern, aber es gab Schlimmeres.
Meine Mutter lächelte zufrieden. „Dann wäre das ja geklärt. Bien, dann kann ich mich ja um die ganzen anderen Dinge kümmern. Du darfst zu der Feier einen Freund einladen, der dich begleitet. Und übrigens, Maelle will dich später noch einmal anrufen, um es dir persönlich zu sagen.“
„Okay. Und was ist mit Papa?“
„Nichts, er hat sich beruhigt.“ Sie grinste triumphierend und verließ mein Zimmer wieder.
Ich nahm wieder mein Buch, schaffte es aber nicht mehr, mich darauf zu konzentrieren. In mir nahm die Vorfreude, meine Schwester endlich einmal wieder zu sehen, überhand. Wir hatten uns viel zu lange nicht gesehen...
Das Telefon unterbrach meine Gedanken. Ich nahm ab, sicher, Maelle am anderen Ende zu haben. Statt ihrer hohe, flötenden Stimme meldete sich aber eine tiefe, raue und mir ebenfalls bekannte. „Hallo Marielle. Perfekt, das ich dich gleich am Telefon habe. Ich wollte dich nämlich mal etwas fragen.“
„Hallo, Derec.“ In meiner Stimme schwang, ich konnte es nicht verhindern, eine leichte Überraschung mit. „Was ist denn los?“
Er druckste nicht lange herum, sondern meinte selbstsicher: „Ich wollte dich fragen, ob du mal Lust hättest, dich mit mir zu treffen.“
„Du lässt auch gar nichts anbrennen, oder? Ich meine, wir kennen uns erst seit...“ Ich drehte gedankenverloren an einer Haarsträhne herum.
„...kurzem? Ja, und? Du warst mir von Anfang an gleich ziemlich symphatisch. Dein Freund wird schon nicht ausrasten, ich will mich nur mit dir treffen, mehr nicht.“
Ich lief rot an, musste dann aber lachen. „Um meinen Freund brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich habe keinen.“ Sofort biss ich mir auf die Lippe. Hätte ich das sagen sollen? Am Ende dachte er noch, ich wäre prüde. Oder aber er nahm es als Flirtversuch wahr. Beides war eigentlich nicht gedacht gewesen.
Aber Derec ging gar nicht groß darauf ein. „Also, wann hättest du denn mal Zeit?“
„Hm... In nächster Zeit sind ziemlich viele Turniere und außerdem muss ich auch so viel trainieren. Dann noch die Schule...“ Ich zögerte.
„Und für mich ist da kein Platz?“ Er klang nicht sauer, eher belustigt. Wusste er, dass ich rot wurde?
„Excuse-moi, aber es sieht ganz danach an, aber, stopp, warte mal...“ Mir fielen die Worte meiner Mutter ein. „Meine Schwester heiratet bald und ich brauche noch jemanden, der mit mir dort hingeht. Naja, ich weiß nicht, aber...“
Er lachte. „Perfekt.“
„Echt?“ Nahm er mich auf den Arm?
„Ja, echt. Wann ist es?“
Überrascht nannte ich ihm das Datum und die Uhrzeit. Selbst meinen Hinweis, er müsse in Anzug und Krawatte kommen, hielt ihn nicht davon ab, zu versprechen, zu kommen.
„Also, ich freu mich, Marielle.“
Ich verabschiedete mich, denn inzwischen hatte sich Maelle in der anderen Leitung gemeldet.
"Marie!", rief sie begeistert, als ich abhob. "Maman hat es dir bestimmt schon erzählt? Oh, es ist fantastisch, nicht?"
Ich lachte. Das war typisch Maelle. Was hatte ich diese übersprudelnde Fröhlichkeit vermisst. "Ja, hat sie. Ich hätte mich echt fast verschluckt, als ich es gehört habe", gestand ich. "Aber sind wirklich tolle Nachrichten, Mensch, Maelle, ich freu mich so für dich! Erzähl mir alles. Wie hat er dich gefragt?"
"Also...", begann sie und zögerte die Antwort dabei extra lang heraus.
"Komm schon, Maelle, heute noch!", rief ich ungeduldig.
"Na ja, wir waren abends im Park spazieren. Es war Vollmond, total romantisch. Und dann sind wir zu dieser Wiese gekommen, alles war mit Kerzen beleuchtet, es sah wunderschön aus. Dann haben wir uns hingesetzt und Champagner getrunken. Und irgendwann hat er diesen Ring aus der Tasche gezogen. Oh, Marie, ich bin so glücklich, ich kann es selbst noch kaum glauben! Wie findest du übrigens das Kleid, das ich für dich gedacht habe?", unterbrach sie sich.
"Es gefällt mir. Nur die Farbe ist etwas... gewöhnungsbedürftig. Aber meinst du, der Schnitt steht mir?"
"Ganz bestimmt", versicherte Maelle. "Und die Farbe sowieso, ich finde, sie passt wunderbar zu deinen Augen."
"Was wirst du tragen?"
"Das weiss ich noch nicht. Ich dachte, du könntest mir beim Aussuchen helfen. Du könntest nächsten Freitag nach Paris kommen, dann gehen wir Samstag in die Geschäfte und am Abend fährst du mit uns wieder zurück", schlug sie vor.
"Das wär toll. Maman erlaubt das bestimmt. Ich frag sie nachher."
"Und, weisst du schon, mit wem du kommst?", fragte Maelle neugierig mit unüberhörbarem Lächeln in der Stimme.
"Ja...", antwortete ich unbestimmt. Maelle schrie begeistert auf. "Wer ist es? Kenne ich ihn? Moment! Luc?"
"Schön wäre es", murmelte ich. Maelle gehörte neben Sofie zu den einzigen Personen, die um meine Schwärmerei für Luc wussten. "Nein, ich hab ihn beim Kader-Training kennen gelernt. Derec Nemours."
"Ist Luc immer noch mit dieser Camille zusammen?", fragte Maelle verächtlich.
"Ja, leider..."
"Aber erzähl, wer ist dieser Derec? Sieht er gut aus?"
Ich musste lachen. "Maelle, du lernst ihn ja selber kennen."
„Aber am Ende muss ich mich noch verschlucken, weil du mit einem wildfremden Mann auftauchst. Beschreib ihn doch kurz.“ Sie lachte kurz auf. „Einer werdenden Braut kann man doch keinen Wunsch abschlagen!“
Ich seufzte. „Okay, du hast gewonnen.“ Ich begann, ihr alles, was ich über Derec wusste, zu erzählen, auch wenn es nicht viel war, wie ich feststellte. Maelle hörte schweigend zu und johlte dann plötzlich auf. „Luc und er mögen sich nicht, sagst du? Du bist ja wirklich gerissen, kleine Schwester!“
„Was?“
„Jetzt stell dich doch nicht dumm, Mariechen. Wenn du mit Derec zu meiner Hochzeit kommst, wird Luc ja merken, ob er etwas für dich empfindet. Am Ende wird er eifersüchtig...“
„Moment mal, Luc kommt auch?“ Ich hatte mich unbewusst aufgerichtet.
„Natürlich kommt Luc auch. Kellans Vater war schließlich maire, Oberbürgermeister. Er will unbedingt alle wichtigen Leute aus der Umgebung einladen. Das wird eine tolle Feier!“ Maelle erklärte mir geduldig diese Tatsache, als hätte ich es wissen müssen.
„Ach so. Nein, eigentlich war das mit Derec eher Zufall... Aber zurück zu deiner Hochzeit: Hast du Kellans Antrag eigentlich gleich angenommen oder ihn zappeln lassen?“
„Was denkst du denn?“
Wir beide brachen in albernes Gelächter aus.
Ich telefonierte noch gut zwei Stunden mit meiner Schwester, bis sie auflegen musste.
Ich wünschte meine Eltern noch gute Nacht und legte mich hin. Aber schlafen konnte ich nicht, zu viele Gedanken kreisten durch meinen Kopf. Luc würde auch zu Maelles Hochzeit kommen. Wahrscheinlich, höchst wahrscheinlich, mit Camille.
Am nächsten Morgen wartete Ann-Sophie schon im Klassenzimmer. Sie saß gedankenverloren auf ihrem Platz, lächelte aber, als sie mich kommen sah. „Hej, Marie!“
„Salut, Soph, ich muss dir unbedingt etwas erzählen!“ Ich begann, ihr von Derec und seinem Anruf zu berichten. Sie freute sich zwar für mich, wirkte aber leicht geknickt.
„Was ist denn los?“ Ich unterbrach meine Erläuterungen über ihn und sah Sophie an.
Sie zuckte die Schultern, meinte dann aber: „Weißt du, ich freue mich zwar furchtbar für dich, aber mir kommt es im Moment so vor, naja, eben, als hättest du keine Zeit mehr, etwas mit mir zu unternehmen. Aber ich bin wahrscheinlich einfach total egoistisch.“
Obwohl es keine Anklage, nur eine nüchterne Feststellung war, packte mich das schlechte Gewissen. Nicht Sophie war egoistisch - sondern ich. „Oh Soph, es tut mir leid. Ich benehme ich bestimmt total arrogant und so.“
Das tat sie mit einer Handbewegung ab. „Quatsch. Das ist okay, aber vielleicht hast du ja mal wieder Zeit und willst...“
„Ich hab’s!“ Ann-Sophie sah mich verständnislos an. Mir war soeben die andere, wichtige Neuigkeit, die ich ihr erzählen wollte, eingefallen und ich hatte eine Idee. „Meine Schwester heiratet doch bald.“ Ich ignorierte ihre Überraschung. „Und wenn du willst, also, ich lade dich ein, zu kommen. Du könntest ja deine Joggingbekanntschaft mitbringen.“ Ein triumphierendes Grinsen macht sich auf meinem Gesicht breit, als Sophies Augen begeistert zu leuchten anfingen. Sie liebte Hochzeiten und alles, was mit Romantik zu tun hatte.
„Erlaubt das Maelle?“
„Klar, sie mag dich doch ganz gerne, außerdem kommen sowieso so viele Menschen!“
Sophie umarmte mich kurz. Unsere Klassenlehrerin kam mit der TV-Station herein. Sie schob einen langweiligen Dokumentarfilm über die Französische Revolution in das DVD-Gerät.
„Also,“ Soph flüsterte hinter vorgehaltener Hand, „wann genau feiert sie? Und wie war das genau? Ihr Verlobter ist doch Kellan, oder? Weißt du schon, was für ein Kleid sie tragen wird?“
Ich holte tief Luft. „Eins nach dem anderen, Soph.“
Die beiden letzten Stunden fielen aufgrund krankheitsbedingter Abwesenheit des Lehrers aus, und ich radelte gut gelaunt nach Hause, jetzt konnte ich noch früher in den Reitstall kommen und Bellamie schon einmal ein wenig warm reiten, bis Luc kam, denn auch eine so gut erzogene Stute wie sie hatte manchmal schlechte Tage.
Ich schloss die Haustür auf. Außer mir schien noch niemand da zu sein, aber im Backofen stand ein Spinatgratin comme á la maison, die Spezialität unserer Haushälterin.
Hungrig schaltete ich den Backofen ein, so früh, wie ich dran war, blieb genug Zeit für ein leckeres Essen. Ich wollte gerade nach oben gehen, um mich schon einmal umzuziehen, als das Telefon klingelte.
Die Pariser Nummer gehörte Maelle. Sie meldete sich sofort, kaum, dass ich abgenommen hatte.
„Schwesterchen, super, dass ich dich sofort erreiche. Bei mir ist etwas schief gegangen - wir können am Samstag nicht einkaufen gehen.“
„Okay, halb so schlimm, du findest sicher auch ohne mich ein tolles Kleid.“
„Nein, ich brauche deine Meinung. Ich dachte, wir könnten doch heute Mittag gehen, oder? Maman war auch einverstanden, ich habe sie vorhin angerufen. Sie meinte, du hättest heute nichts Wichtiges vor.“
„Was? Heute? Sorry, Maelle, das geht nicht, ich habe Training mit Luc, wegen dem Turnier.“
„Echt? Das hat Maman gar nicht erwähnt. Und du kannst das nicht verschieben? Ich bräuchte dich ganz dringend.“
Die Antwort wurde mir vorerst erspart, da sich Maman in der anderen Leitung meldete.
„Warte mal kurz, Maelle.“ Ich schaltete um.
„Marielle, Schätzchen, ich habe nicht viel Zeit, ich wollte nur fragen, ob deine Schwester dich schon angerufen hat.“
„Ja, hat sie. Ich kann aber heute nicht, ich habe Training!“
Meine Mutter schnaubte. „Und das ist dir wichtiger als die Hochzeit deiner einzigen Schwester?! Du kannst doch jeden Tag zu deinen Pferden!“
„Überhaupt nicht, außerdem hat Luc mir angeboten, mit mir Bellamie zu trainieren, wegen dem Turnier und außerdem...“
„Nichts außerdem , junge Dame. Du hast deiner Schwester versprochen, ihr zu helfen, also machst du das auch. Deine Pferde können warten, baste!“
Ich setzte zu einer wütenden Antwort an, doch meine Mutter verabschiedete sich und legte auf.
„Maelle? Bis heute Mittag. Ich nehme den Zug um Viertel nach zwei.“ Ich beendete das Gespräch und knallte das Telefon auf die Halterung. Wie konnte meine Mutter mir einfach verbieten, zu reiten?!
Genervt riss ich meine Schranktür auf und durchwühlte missmutig meine Oberteile, während ich mit unter's Ohr geklemmtem Handy versuchte, Luc zu erreichen, doch es kam nur das Besetztzeichen. Genervt warf ich das Handy auf's Bett und beschloss, es später nochmal zu probieren.
"Marie!", hörte ich Maelles Stimme, kaum dass ich aus dem Zug gestiegen war. Ich drehte mich um und erblickte eine hochgewachsene, schmale Blondine. Sie lächelte breit, ihre ebenmäßigen Zähne wurden sichtbar.
„Maelle!“ imitierte ich ihren Ton. Sie umarmte mich und grinste.
„Hast dich gut gemacht, Schwesterherz.“ Sie fuhr sich mit zwei Fingern durch das Haar. Ihre, und darum beneidete ich sie seit ich denken konnte, war glatt und glänzend, nicht so graus und unbändig wie meines.
Der Rest an Wut verflog, wobei ich eigentlich sowieso eher auf Maman wütend war. Sie hatte sich gestern aufgeführt, als wäre ich sechs und nicht sechzehn.
Maelle brachte mich auf andere Gedanken, sie begann mich gleich vollzureden. Sie erzählte von Kellan und ihren Plänen in Bezug auf das Hochzeitskleid.
„Ich will etwas ausgefallenes, weißt du?“ erklärte sie, während wir in die Avenue des Champs-Élysées einbogen. Vor uns erstreckte sich jetzt die Pariser Prachtstraße.
„Willst du aussehen wie diese in Plötzlich Prinzessin?“
„Vor oder nach dem Styling?“ Wir mussten beide losprusten.
So war es bei mir und meiner Schwester: wir waren zwar extrem unterschiedlich, aber trotzdem ein Herz und eine Seele, wie Papa meinte, ich nannte es schlicht und einfach zwei alberne Gänse unter sich.
Maelle blieb vor einer breiten Schaufensterfront stehen. „Schau mal, Mariechen, was hältst du von der Tasche dort?“ Sie wies auf eine feine lederne Handtasche. Ich kam näher. „Hast du die gleiche nicht schon?“
„Nein, das ist die neuste Mode, erst vor einer Woche in Mailand von Louis Vuitton vorgestellt, die kann ich gar nicht haben!“
„Aber eine ähnliche.“ Ich erinnerte mich, dass Camille neulich in der Schule solch eine Tasche dabei gehabt hatte.
Maelle winkte mir zu, die eine Hand schon auf der Ladenklinke. „Los, da müssen wir rein, diese Tasche wollte ich mir sowieso schon längst kaufen!“ Sie lächelte mir aufmunternd zu und strich sich eine Haarsträhne aus dem pfirsichfarbenen Gesicht.
Sie hatte schon den Fuß in den Laden gesetzt, aber ich hielt sie zurück. „Maelle! Wenn du da jetzt rein gehst, kommst du nie wieder raus! Und wir müssen schließlich das perfekte Brautkleid für dich finden.“
Sie schnitt eine Grimasse, nickte aber dann. „Ich weiß. Danke, s½urette, ich weiß, warum ich dich mitgenommen habe und nicht Maman.“ Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und war schon weitergelaufen. Amüsiert folgte ich ihr die breite von Nobelläden gesäumte Prachtstraße entlang. Rechts und links erstreckten sich die teuersten Läden, von weitem konnte ich eine dicke schwarze Limousine erkennen.
In so einer Gesellschaft würde meine Schwester heiraten. Langsam wurde mir klar, warum sich meine Maman so gefreut hatte. Klar, wir waren auch nicht gerade arm, aber da fehlte der adelige Großvater oder der Verwandte des Präsidenten in unserem Stammbaum.
Und Kellan hatte nur die besten Verbindungen. Ich hatte ihn erst einmal gesehen, damals war sein Vater noch Bürgermeister in unsere Gemeinde gewesen. Er schien, so wie ich ihn einschätzte ganz nett zu sein und außerdem vertraute ich der Menschenkenntnis Maelles.
Sie war zwar ein hoffnungslos dem Einkaufen verfallenes Mädchen, aber daran war schließlich meine Mutter schuld.
Alles in Allem liebte ich sie.
Maelle hatte indes schon den nächsten Laden angesteuert, ein mit Prunk und Stuck verziertes Gebäude, in dessen Schaufenstern weite ausladende silberne und weiße Kleider in einem Meer von champagnerfarbenem Satin ausgestellt waren. Über der Tür prangte in goldenen Lettern der Name "Belle Fleur".
„Hier sind wir richtig.“ Maelle stiess die gläserne Schwingtür auf. Sofort stürzte eine junge Frau mit wasserstoffblonden Haaren herbei, umgeben von einer Parfümwolke, die mir in die Nase stieg und mich zum Niesen brachte. Ihr porzellanpuppenhaftes Gesicht war passend zu ihrer zartrosa Bluse und ihrem anthrazitfarbenen Bleistiftrock zugeschminkt. "Bienvenu", begrüsste sie uns. "Kann ich Ihnen behilflich sein?" Sie sah abwartend von Maelle zu mir.
"Ich denke schon." Maelle strich ihre langen blonden Haare zurück, sodass ihre teuren Chopard-Ohrringe besser zur Geltung kamen, und rückte ihre Louis Vuitton-Handtasche zurecht. Ich liebte es, wenn sie das tat. Kaum liess sie durchblicken, wie viel Geld bei ihr vorhanden war, bemühten sich die Verkäuferinnen sogleich noch eine Spur mehr, einem alles richtig zu machen. Es war ein herrlich luxuriöses Gefühl.
Tatsächlich schien die Verkäuferin sich innerlich zu straffen, machte eine einladende Handbewegung und meinte: "Bitte, folgen Sie mir doch in den hinteren Teil, dort haben wir unsere exklusiveren Modelle ausgestellt." Sie warf Maelle einen bedeutungsvollen Blick zu und ging voraus. Wir zwinkerten einander zu und verkniffen uns ein Kichern. Ja, so waren wir.
"Bitte sehr. Das sind alles Einzelstücke, von teils sehr angesehenen Designern. Hier haben wir zum Beispiel ein sehr einfach geschnittenes Satin-Kleid, das dafür mit seiner perlenbesetzten Spitze an der Taille ein echter Blickfänger ist. Dazu hätten wir dann diesen Schleier..." Sie verstummte, als sie Maelles kritisches Gesicht sah. "Nun, dann hätten wir hier drüben", sie ging ein paar Schritte weiter zum nächsten Kleid, "ein Kleid im griechischen Stil der Antike in gebrochenem Weiss."
Maelle sah mich an und schüttelte nur schwach den Kopf. Ich spielte ihr Spiel mit und setzte eine skeptische Miene auf. Der Verkäuferin reichte das, sofort ging sie ein Kleid weiter, doch sie setzte gar nicht erst zu einer Erklärung an.
"Haben Sie nichts im barocken Stil? Wissen Sie, ich meine ein Kleid mit einem weit ausladenden, verzierten Rock, Taft vielleicht, das aber trotzdem nicht unmodisch aussieht", erklärte Maelle mit geduldiger Überlegenheit. Die Verkäuferin dachte kurz nach. "Entspricht so etwas Ihren Vorstellungen?" Sie zeigte uns ein Kleid mit einem Rock aus mehreren Schichten Tüll und einem ärmellosen Oberteil, das wie die schuppige Haut eines Fisches aus lauter kleinen, glitzernden Plättchen zu bestehen schien.
Maelle verzog das Gesicht. "Nun, der Rock ist sehr schön, so etwa stelle ich mir das vor, nur dieses Oberteil... Ich möchte etwas eher Klassisches."
Die Verkäuferin dachte kurz nach, dann nickte sie. "Ich denke, wir haben durchaus etwas, was Ihnen gefallen könnte, allerdings bewegen wir uns da in unserer höchstes Preissegment..."
Maelle machte eine wegwerfende Handbewegung. "Geld spielt keine Rolle. Solange ich nur das perfekte Kleid finde."
Die Verkäuferin nickte und führte uns ganz nach hinten, wo ein Teil des Ladens durch einen schweren Samtvorhang abgetrennt war. Sie betätigte einen Knopf an der rechten Wand, woraufhin der Vorhang lautlos zur Seite glitt. Dahinter eröffnete sich uns ein weiteres Meer aus Kleidern, auf quadratischen, Samt bezogenen Podesten schachbrettmusterartig angeordnet. Ich hielt die Luft an. Es war gigantisch!
"Voila. Das sind unsere wohl exklusivsten Stücke, für unsere besonderen Kunden." Sie hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.
Maelle nickte bloß gelangweilt. Die Verkäuferin führte uns durch die Reihen, präsentierte uns jedes Kleid als die perfekte Wahl für Maelle, die auch einige davon anprobierte, um die Verkäuferin nicht vor den Kopf zu stossen, doch DAS Kleid war nicht darunter.
"Marie, chérie, was meinst du?", fragte Maelle mich schließlich.
"Ich seh dich in keinem davon", gab ich zu. Sie nickte. "Das ist auch mein Eindruck." Sie wandte sich an die Verkäuferin. "Ich werde wohl weiter suchen müssen, aber ich werde auf sie zurückkommen bei Bedarf. Vielen Dank."
Wir liessen die enttäuschte Verkäuferin zurück und verließen das Geschäft.
"Eine sehr unangenehme Person, findest du nicht?", fragte Maelle stirnrunzelnd. "Irgendwie unsympathisch... Also, bevor wir es im nächsten Geschäft versuchen, finde ich, wir haben uns eine Stärkung verdient. Dort hinten gibt es ein nettes, kleines Café. Sie haben die beste tarte des pommes, die du dir vorstellen kannst."
Wir bogen in eine kleine Seitenstrasse ein, an deren Ende man bereits ein türkis-weiß gestreiftes Sonnendach erkannte, unter dem einige wenige gemütliche Glastischchen mit Korbstühlen standen.
Ich liess mich in einen davon an einem Tisch fallen, der hinter kleinen Buchsbäumchen vor neugierigen Blicken schützte. Sofort kam ein junger Kellner herbei geeilt, um uns nach unseren Wünschen zu fragen. Maelle bestellte zwei Stück Kuchen und Kaffee, wobei sie den Kellner kokett anlächelte und ihn damit völlig aus dem Konzept brachte. Ich grinste in mich hinein.
"Maelle, du bist jetzt verlobt", erinnerte ich sie lachend, als der Kellner schliesslich Richtung Küche verschwunden war, um unsere Bestellung aufzugeben.
"Ja und?" Sie lachte ebenfalls. "Ein bisschen Spass kann ich ja trotzdem haben." Sie zwinkerte mir zu. Ich schüttelte amüsiert den Kopf.
Maelle hatte nicht zu viel versprochen: der Kuchen schmeckte fabelhaft und rundete den wunderschönen, sonnigen Tag im prachtvollen Paris perfekt kulinarisch ab.
Nachdem die Kaffeetassen leer waren und Maelle es sich nicht hatte nehmen lassen, dem süssen Kellner ein saftiges Trinkgeld zu bezahlen, setzten wir unsere Kleidersuche fort. Maelle schleppte mich als erstes in ein kleineres Geschäft, das unter den ganzen glamourösen Schaufenstern mit der kleinen Glasfront, hinter der ein einziges, schlichtes weisses Kleid ausgestellt war, fast unterging. Wir betraten es dennoch. Irgendwo im hinteren Teil des Ladens bimmelte eine Glocke.
Ich sah mich neugierig um. Der Raum war angenehm kühl, die holzverkleideten Wände verliehen dem Raum eine gemütliche Atmosphäre und setzten zusammen mit den roten Polstersesseln die Kleider durch den Kontrast wunderbar in Szene.
Hinter der Theke gegenüber der Tür kam jetzt eine ältere Frau zum Vorschein. Sie trug eine einfache graue Hose, dazu eine weisse Bluse und unterschied sich dadurch nicht viel von der jungen Verkäuferin aus dem ersten Geschäft. Doch ihr sympatisches Gesicht, das von einigen grauen Strähnen, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatten, umrahmt wurde, lächelte uns freundlich und offen an. "Bonjour. Ich bin Lucie Rozier, mir gehört das Geschäft. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?"
"Ich bin auf der Suche nach einem Hochzeitskleid", antwortete Maelle. Im Gegensatz zu vorher, wo sie die verwöhnte Tochter aus gutem Hause mit viel Geld gespielt hatte, war sie jetzt einfach sich selbst, warmherzig und offen, wie ich sie kannte und liebte, auch wenn es ab und an Spass machte, wenn sie ihre andere Seite zeigte. Das war meiner Meinung nach schon mal ein gutes Zeichen.
Mme Rozier lächelte uns an. "Natürlich. Was stellen Sie sich denn vor? Eher schlicht? Etwas Ausgefallenes?"
"Nun, eigentlich hätte ich am liebsten etwas im barocken Stil, wissen Sie?", erklärte Maelle.
Mme Rozier nicke. "Ich denke, da lässt sich bestimmt etwas finden. Kommen Sie, am besten, wir fangen hinten an." Sie verschwand mit Maelle zwischen den Kleidern. Ich blieb zurück und streifte auf eigene Faust etwas durch das Geschäft. Die meisten Kleider sprachen mich nicht sonderlich an, und ich begann mich zu fragen, ob auch dieses Geschäft ein Reinfall werden würde.
"Marie, komm doch mal her!"
Ich folgte Maelles Stimme und fand sie völlig verzückt vor einem Kleid stehen. Es war aus glänzendem Satin, trägerlos, das Oberteil über und über mit goldenen und silbernen Stickereien verziert. Der Rock war weit ausladend, im unteren Teil ebenfalls bestickt und lief in einer endlos langen Schleppe aus. Bewundern strich ich mit der Hand über den Stoff.
"Es ist perfekt", flüsterte Maelle andächtig. "Kann ich es anprobieren?", wandte sie sich an Mme Rozier. Diese nickte erfreut, löste das Kleid vorsichtig von der Puppe und begleitete Maelle zu den Umkleidekabinen. Während diese in das Kleid stieg, kam Mme Rozier zu mir. "Ihre Schwester meinte, dass wir uns in der Zwischenzeit nach einem Kleid für Sie umsehen sollten. Darf ich bitten?"
Sie führte mich zu einer Reihe von Brautjungfern-Kleidern in allen Farben, grün, violett, pink, blau, rot, lila, rosa, orange...
"Wir sind leider nicht so gut bestückt wie die grösseren Geschäfte hier", meinte Mme Rozier entschuldigend. Doch ich brachte den Mund kaum wieder zu. Die Fülle an Kleidern konnte es bestimmt nicht mit der bei "Belle Fleur" aufnehmen, da hatte sie wohl recht, aber auch diese hier war gigantisch.
Ich bemerkte, wie Mme Rozier mich musterte. "Türkis", stellte sie dann fest und kramte an einem der Kleiderständer herum. Schliesslich zog sie ein wie Maelles Kleid ebenfalls Trägerloses hervor. Das Oberteil war hellblau und mit sternförmigen Blüten aus kleinen silbernen Steinchen verziert. Der Rock war ebenfalls hellblau, allerdings war darüber eine Tüllschicht gelegt, die links seitlich an der Taille befestigt war und den Rock türkis schimmern liess. Die Schicht war nicht komplett durchgehend, sodass in einem Keil der hellblaue Satinstoff darunter zu sehen war. Der Rand war mit ebenfalls mit Glitzersteinchen besetzt. Das Kleid war so wunderschön, dass es mir fast den Atem verschlug. "Es ist wunderschön."
"Möchten Sie es anprobieren?"
Ich nickte. Wir gingen zurück zu den Umkleidekabinen, wo Maelle gerade den Vorhang zurück zog. "Was meinst du?" Sie strahlte mich an.
"Perfekt ist noch untertrieben, Maelle", antwortete ich ehrlich. „Jetzt brauchst du nur noch einen Schleier. Und Handschuhe würden toll aussehen. Weisst du, diese langen.“
"Ja?" Sie drehte sich zu dem Spiegel in der Kabine um, dann wandte sie sich an Mme Rozier. „Haben sie so etwas?“
Die Frau nickte. „Ich hole Ihnen eine Auswahl.“ Sie verliess uns und verschwand zwischen den Kleidern. Maelle wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu. "Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt habe", gestand sie. Sie sah mich an, als warte sie auf einen Wink von mir, dass sie es kaufen solle.
Ich grinste in mich hinein. Sollte sie ruhig noch ein bisschen darauf warten. Ich stieg mit gemächlichen Bewegungen in mein Kleid und versuchte, den Reissverschluss zuzubekommen, was mir jedoch nicht so recht gelingen wollte.
"Du bist einfach zu dick", stellte meine Schwester ungerührt fest.
"Dankeschön, ich hab dich auch lieb, Moppelchen", schoss ich zurück. Wir mussten lachen, denn im Spiegel der Kabine konnte man klar und deutlich erkennen, das weder sie noch ich auch nur ein Gramm zu viel hatten. Während es bei mir jedoch nur durch den Sport so weit gekommen war, hatte Maelle ihre Traumfigur in die Wiege gelegt bekommen.
"Der Reißverschluss klemmt!", schimpfte sie jetzt und bemühte sich, ihn zu schließen.
"Nicht so fest!", protestierte ich doch sie zog weiter und langsam kam ich doch ins Wanken. Ich stolperte über den breiten Saum meines Kleides und stürzte auf Maelle, die sich wiederum auch nicht halten konnte in ihrem schicken Monstrum aus Tüll und Seide, sodass wir beiden kichernd zu Boden stürzten.
"Ach, Marie! Du bist so ungeschickt", ächzte Maelle lachend und knuffte mich in die Seite.
"Ach ja?" Ich warf die lange, weite Schleppe nach oben und über ihren Kopf und die perfekt sitzende Frisur.
"Mari-ie!" kreischte sie. Wir wurden beiden von einem neuerlichen Lachanfall geschüttelt und erst durch die Verkäuferin wieder unterbrochen.
"Voyons, meine Damen!", war ihr einziger Kommentar, als sie den Vorhang öffnete, doch der Ton war milde und um ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln. "Hier sind die Handschuhe und einige Schleier, die sehr gut zu dem Kleid passen würden." Sie reichte Maelle ein paar schneeweisse Handschuhe aus Seide mit denselben Stickereien an den Rändern oben wie auf dem Kleid, dazu verschiedene Schleier, die ich nicht voneinander unterscheiden konnte, ich sag nur einen Berg aus Tüll. Mme Rozier begann, das Kleid abzustecken, um die nötigen Änderungen vorzunehmen, während Maelle die Handschuhe überzog und die Schleier sortierte und begutachtete.
Ich war inzwischen ganz in mein Kleid geschlüpft und betrachtete mein Ebenbild im Spiegel. Das Brustteil schmiegte sich eng um meinen Oberkörper und fühlte sich herrlich weich an auf der Haut. Der spitze V-Ausschnitt war nicht zu tief. Das Kleid fiel von der Taille ab gerade und weit bis auf den Boden. Die Unterröcke raschelten bei jeder Bewegung, was mir eine Impression davon verlieh, wie die Damen sich wohl früher in ihren Kleidern gefühlt haben mussten. Ich lächelte mich im Spiegel an.
Ich erntete zwei anerkennende Blicke von meiner Schwester und Mme Rozier und grinste nun breit. "Alors, das nehme ich."
"Auf jeden Fall", meinte Maelle bestimmt, „es steht dir so ausgezeichnet.“ Sie wandte sich an Mme Rozier. „Bis wann können Sie die Änderungen vornehmen?“
„Wir können gleich alles abstecken, dann kann ich das bis übermorgen fertig machen, und Sie können noch einmal zur Anprobe vorbei kommen.“
Maelle sah mich an. „Das klingt ausgezeichnet.“
Ich nickte. Schweren Herzens stieg ich aus dem Traumkleid und zog wieder meine Jeans und die Bluse über. Maelle schien es ähnlich zu gehen. Sie machte ein Gesicht, als würde sie in eine Zitrone beissen.
„Gib’s zu, du freust dich nur schon auf die Hochzeit, weil du dann das Kleid tragen kannst“, neckte ich sie.
„Du doch auch.“ Sie lachte. Mme Rozier nahm uns die Kleider ab und hängte sie zusammen mit Maelles Handschuhen und dem Schleier an einen Ständer hinter der Theke.
„Mme Rozier, ganz herzlichen Dank für die liebe Betreuung“, meinte Maelle zum Abschied zu der alten Dame. Diese winkte ab. „Das ist doch selbstverständlich. Sie werden eine wunderhübsche Braut abgeben. Und ihre Schwester eine ebenso hübsche Brautjungfer. Dass Sie Ihrer Schwester aber nicht den Auftritt verderben.“ Sie zwinkerte mir zu. Ich lachte. „Keine Sorge, das wird Maelles Tag“, versicherte ich.
Wir winkten beim Verlassen des Geschäftes, und Mme Rozier hob ebenfalls lächelnd die Hand. Ich blinzelte in das grelle Sonnenlicht. „Jetzt haben wir uns aber ein Eis verdient?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Maelle lachte. „Also gut, um die Blumen kann ich mich auch nächste Woche alleine kümmern. Na los, komm.“
"Salut, Clement." Ich blieb in der Tür zum Schulstall stehen und winkte ihm zu. Clement unterbrach seine Erklärung an Lucien, den neuen Pferdepfleger, den er gerade einarbeitete, und blickte mich an. "Ach, Marie. Gut, dass du das bist. Der Tierarzt kommt nachher vorbei, du sollst ihm doch gleich noch einmal Aviateurs Bein zeigen, um sicher zu gehen", meinte er. "Juliet ist nach Lermot gefahren, um sich im Auftrag von dieser neuen Reitschülerin ein Pferd anzusehen. Sie kommt erst am Abend wieder. Wenn du Zeit hast, könntest du noch Andrejana bewegen, die ist gestern nicht draussen gewesen, und heute hat ihr Reiter abgesagt."
"Alles klar. Hast du Luc heute schon gesehen?"
"Ja, der reitet gerade Avantgarde auf dem Springplatz. Nein, nein, nein, das Kraftfutter für den Abend kommt in die roten Eimer", herrschte er Lucien an. Ich grinste in mich hinein. So geduldig Clement mit seinen vierbeinigen Schützlingen war, so anspruchsvoll war er gegenüber den Angestellten. Ich verliess den Stall und machte mich auf den Weg zu Caliente, die ich heute als erstes dran nehmen wollte. Die Stute begrüsste mich schon mit einem freudigen Brummen.
"Na, meine Schöne, ist dir der freie Tag bekommen?" Ich kraulte ihre Stirn. Sie schnaubte genüsslich. Rasch fuhr ich mit einer Kardätsche über ihr makelloses Fell, dann holte ich ihr Zeug und sattelte sie auf. Vor dem Stall stieg ich auf und lenkte sie zum Springplatz hinüber, wo Luc gerade die zierliche Rappstute Avantgarde ritt. Die 5-Jährige stammte aus Juliets eigener Zucht und war ihre grosse Nachwuchshoffnung. Sie hatte einen erstklassigen Stammbaum, der einiges erwarten lassen durfte.
"Hey!", rief ich zu Luc hinüber, doch er gab keine Antwort. Hatte er es nicht gehört oder war er einfach zu konzentriert, um zu antworten? Ich zuckte die Schultern und wandte meine Aufmerksamkeit zu Caliente.
Als Luc sich anschickte, den Platz zu verlassen, trabte ich zu ihm hinüber. "Hast du nachher Zeit, mit Belle und mir noch ein paar Kombinationen zu üben?"
Luc starrte mich an. "Weisst du, Marie, deine Unverfrorenheit ist bewundernswert", meinte er kühl. Ich sah ihn verständnislos an.
"Tu doch nicht so. Ich hätte ehrlich gesagt etwas mehr von dir erwartet. Ich dachte, du seist jemand, der einem wenigstens Bescheid sagt, anstatt mich einfach zu versetzen."
Es dauerte einen Moment, dann fiel mir siedend heiss ein, dass ich vergessen hatte, noch einmal bei Luc anzurufen und ihm zu sagen, dass ich mit Maelle einkaufen gehen musste.
„Oh nein!“ Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Oh Luc, pardon, ich wollte dich anrufen, aber...“
„Jetzt komm mir nicht mit irgendeiner Ausrede, Marie.“ Er schwang sich aus dem Sattel und klopfte Avantgarde den schweißnassen Hals. „Versetz einfach das nächste Mal mit jemand anderen, such dir irgendeinen Dummen.“
Mir wurde klar, dass ich es verbockt hatte. Luc schien alles andere als gut gelaunt.
„Entschuldige. Es tut mir wirklich leid.“ Ich versuchte, möglichst reuevoll zu schauen, ganz wie Lolita, der schwarze Mischlingshund Sophies. Aber er fixierte mich nur kurz.
„Vergiss es.“ Damit wandte er sich Richtung Stall, drehte sich aber noch einmal um. „Nur für die Zukunft, als Tipp, Marie. Versetz deinen Freund ja nicht so wie mich. Sonst bist du schneller Single als du pardon sagen kannst.“
Wut schoss in mir hoch. Darum ging es hier doch gar nicht! Vor mir stand dieser Typ und redete daher, als hätte er persönlich die Liebe erfunden! Auf Camille stand er doch auch nur aufgrund ihres Äusseren! Ich strich mir mit leicht zitternden Händen eine wilde Locke hinters Ohr und schoss zurück: „Ja, zum Glück sind ja nicht alle so wie du, Luc. Es soll ja auch noch richtige Jungen geben..." Obwohl Caliente neben mir bereits unruhig mit dem Vorderhuf scharrte, machte ich eine Kunstpause, ehe ich schloss: „...solche wie Derec. Und der kann sogar erstklassig reiten.“
Ich hatte offensichtlich ins Schwarze getroffen. Dass die beiden Rivalen waren hatte ich im Training nur allzu gut beobachten können. Zu spät wurde ich mir der Falte auf Lucs Stirn bewusst. War ich über’s Ziel hinaus geschossen?
„Marielle, ich hatte dich immer für erwachsen und intelligent gehalten. Aber scheinbar haben dir deine Eltern weder Manieren noch sonst irgendetwas beigebracht. Wenn es nicht mitten in der Saison wäre, dann würde ich mir ernsthaft überlegen, ob ich dir mein Pferd weiterhin anvertraue.“
Ich musste schlucken. Die Vorstellung, dass Luc mir die leichtrittige, feinfühlige Bellamie einfach wieder wegnehmen würde, verursachte eine leichte Übelkeit. In der kurzen Zeit hatte ich mich so an ihre weichen, ausladenden Gänge gewöhnt. Und auch so konnte ich mir nicht vorstellen, ein anderes Pferd zu reiten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ich den Kader dann sofort vergessen könnte.
Ich senkte den Blick und wendete Caliente wortlos. Die Lust zum Trainieren war mir gründlich vergangen.
Als ich auf den Hof kam, parkte gerade der schmutzige alte Jeep unseres vétérinaire, Monsieur Leclerc, ein. Der kleine rundliche Mann mit der Hornbrille stieg aus und hob grüßend die Hand. „Ah, Mademoiselle Marielle.“
Ich zwang mich, ihn anzulächeln. Viele der wohlhabenderen Reiter kritisierten oft Juliets Wahl, aber ich kannte keinen fähigeren Tierarztes als ihn. „Salut.“
In diesem Moment kam Clement auf den Hof. „Ah, da sind sie ja, Docteur.“ Er schüttelte ihm die Hand, bevor sie beide in ein vertraulicheres Gespräch übergingen und mich stehen ließen, als wäre ich gar nicht da. Der Tag konnte ja nur noch besser werden.
Frustriert wendete ich Caliente ab. Der Arzt würde sich sowieso erst um die beiden hochträchtigen Stuten der Bürgermeisterstochter kümmern müssen, das würde also noch eine Weile dauern, bis er sich Aviateur ansehen konnte, genug Zeit, um Caliente doch noch etwas zu bewegen.
Ich ließ die Reitplätze links liegen, sondern saß auf und lenkte Caliente in Richtung Wald. Ein schmaler Reitweg führte vom Hof aus aufs Land hinaus. Es wehte eine leichte, kühle Brise vom Meer her, die meinen Kopf wie leer fegte und mich den Ärger mit Luc rasch vergessen ließ.
Caliente ging zügig vorwärts, und ich brauchte sie nicht erst zu ermuntern. Schließlich war sie in letzter Zeit fast nur in der teils staubigen Halle oder dem Außenplatz gegangen und schien den ungezwungenen Ausritt sichtlich zu genießen.
Wir erreichten die ersten Bäume und den am Waldrand entlang führenden Reitweg. Ich hörte auf, Caliente zurückzuhalten und ließ ihrem Drang, zu galoppieren, freien Lauf. Sie streckte sich unter mir und das Rauschen des Windes in meinen Ohren vermischte sich mit dem gleichmäßigen Trommeln der Hufe im Dreitakt. Ich beugte mich etwas weiter vor und ging in den leichten Sitz. Caliente beschleunigte noch mehr, der Boden flog buchstäblich unter uns dahin.
Der Weg wurde schmaler, und ich verstärkte den leichten Kontakt zum Pferdemaul. Die Stute fiel sofort wieder in den Trab. Leicht überrascht klopfte ich ihr den verschwitzten Hals.
Mein Handy vibrierte in der Tasche meiner Jacke. Ich fischte es heraus und meldete mich. „Ja?“
„Salut, Marie.“ Seine Stimme trieb mir einen warmen Schauer über den Rücken.
„Derec!“
„Ich habe gerade an dich gedacht.“ Er sagte es leise, sexy. Ich schloss die Augen und genoss den Klang. Derec schaffte es, mir mit so wenigen Worten ein richtig gutes Gefühl zu geben, als wäre ich ein Mädchen wie Camille, nachdem sich jeder Typ die Finger leckte. Es liess mich für einen Moment meinen Stress mit Luc vergessen.
„Echt?“, fragte ich und ärgerte mich darüber, dass mir keine gewitztere Antwort einfiel und dass das „Echt“ auch noch so plump rüber kam.
„Ja.“
Ich schmolz nur so dahin. Was brauchte ich Luc, wo ich mit Derec doch einen viel besseren Fang machen konnte?
„Ich habe mir überlegt, ob wir uns vielleicht vor der Hochzeit mal treffen wollen. Du könntest zu mir kommen, und wir gehen ausreiten. Oder ich hol dich ab, und wir machen uns einen netten Nachmittag in Paris.“
Ich malte mir aus, wie wir Händchen haltend durch den Jardin des Tuileries schlenderten, auf dem ausladenden Rasen picknickten, uns an einem Stand Eis kauften…
„Sag mal, spielst du Golf?“, durchbrach Derecs Stimme meine Gedanken.
„Was?“, fragte ich verwirrt.
„Golf. Ich habe mir gerade überlegt, dass – wenn du Lust hast - du natürlich auch mit meiner Familie am Wochenende in den Golfclub kommen könntest. Was meinst du?“
Einen Moment lang war ich etwas enttäuscht, Paris hätte mir doch mehr zugesagt, und das letzte Mal, als ich mit zum Golfen gewesen war, hatte am Ende der Golflehrer mit einer Gehirnerschütterung und einer dicken Beule am Kopf von meinem Schläger ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Aber die Aussicht, Zeit mit Derec verbringen zu können…
„Ich würde gerne mitkommen, aber ich warne dich, ich bin total untalentiert.“
Er lachte. „Na, das kriegen wir schon hin“, meinte er zuversichtlich, und ich glaubte es ihm sogar.
Als ich mit Caliente an der Hand auf den Hof zurück kam, fühlte ich mich viel besser als zuvor, was einerseits an dem zügigen Ritt lag, andererseits an dem Telefonat mit Derec. Wir hatten mehr als eine Stunde geredet, worüber wusste ich nicht mal mehr genau. Nur eins wusste ich, ich freute mich darauf, ihn zu treffen, egal, dass wir Golfen gingen.
Fröhlich summend führte ich Caliente in ihre Box und machte mich daran, sie abzusatteln.
„Scheinst bessere Laune zu haben als vorhin. Na, wenn du deswegen zu spät warst, ist’s das wert.“
Ich fuhr herum und sah Clement an der gegenüberliegenden Boxentür lehnen. „Woher weisst du, dass ich schlecht drauf war?“, fragte ich, bevor mir etwas Anderes einfiel. „Zu spät? Ach, zut, Aviateur… Ist Monsieur Leclerc schon gegangen?“
„Ja, aber keine Sorge, ich habe ihm deinen Grossen gezeigt. Er meinte, wenn er weiterhin nicht lahmt, sollst du ihn nächste Woche ruhig mal ein wenig Schritt reiten.“
Ich seufzte erleichtert. „Danke, Clement. Ich hab mich total vertrödelt.“
Er winkte ab. „Du bist ja sonst immer zur Stelle, da lässt sich das entschuldigen. Und du hattest ja scheinbar einen guten Grund…“ Er zwinkerte mir wissend zu und verliess den Stall. Ich erstarrte kurz. Was ahnte er? Und vor allem wie?
Als Caliente bestens versorgt in ihre Box auf die Abendfütterung wartete und ich auch ihr Sattelzeug sorgfältig verstaut hatte, machte ich mich auf den Heimweg. Luc begegnete mir zum Glück nicht mehr - ihm gegenüber empfand ich immer noch ein schlechtes Gewissen. Schließlich hatte er sich lange genug die Zeit genommen, Belle und mich zu trainieren…
Mein Fahrrad stellte ich einfach im Vorgarten, von innen an die Mauer gelehnt, ab und betrat bester Laune das Haus. Meine Mutter kam mir schon entgegen. „Ich habe gerade von Maelle ein Foto von einem Kleid für dich gesehen! Oh, Marie, ich bin so stolz auf dich - auf euch beide! Was habe ich nur für wunderschöne Töchter - und so erwachsen.“ Sie strahlte vor Glück. „Weißt du, vielleicht könntest du ja nächste Saison dein Debüt geben...“ Sie hielt inne.
„Mein was?“ Ich starrte sie entgeistert an.
„Dein gesellschaftliches Debüt, du weißt schon, dein erster Ball. Du wirst in die Gesellschaft eingeführt, das ist ein uralter Brauch. Schon vor Jahrhunderten haben junge Mädchen aus gutem Haus in deinem Alter debütiert.“
Ihre Erzählung erinnerte mich an die Szenen aus alten Filmen, Mädchen in wehenden weiten weißen Kleidern am Arm von hübschen jungen Männern. Begrüßen wir Marielle Beauchamp, begleitet von Derec Nemours… Ich riss mich von diesem Gedanken los. Im Grunde waren die Debütantinnenbälle als eine Art Hochzeitsmarkt für junge Adelige auf Brautschau gewesen. Und verschachern würde ich mich nicht lassen, nur weil meine große Schwester beschlossen hatte, jung zu heiraten.
„Jetzt kommt erst einmal Maelles Hochzeit, oder? Ich freu mich schon so!“, heuchelte ich übertriebene Begeisterung, um sie von diesem Thema abzubringen. Aber ich freute mich wirklich auf die Hochzeit, das musste ich zugeben.
„Wir alle freuen uns, Schatz. Sag mal, weißt du schon, wen du mitnimmst? Vielleicht den jungen Durand?“ Sie sah auf einmal wieder geschäftig aus.
Ich runzelte die Stirn. Hatte Maelle ihr etwas von meiner Schwäche für Luc erzählt? Nein, das konnte nicht sein. Wie auch immer, ich schüttelte entschieden den Kopf und konnte nicht verhindern, dass meine Wangen zu glühen anfingen. „Nein, ich… ich dachte an Derec Nemours, er ist mit mir im Kader.“
„Auch gut, Schätzchen. Stell uns den jungen Mann bei Gelegenheit doch vor.“ Obwohl ihre Stimme wie immer klang, bemerkte ich ein verräterisches Glitzern in ihren Augen. Endlich hatte auch ihre jüngere Tochter einen abbekommen.
„Mhm, jaa... Könnte ich machen...“ Ich überlegte, ihr gleich von unserem Treffen am Wochenende zu erzählen, entschied mich aber dagegen, zumal ein Blick auf die Uhr genügte, um zu sehen, dass mich Ann-Sophie in einer halben Stunde bei sich zuhause erwartete. Bis dahin wollte ich noch duschen und meine Hausaufgaben erledigt haben, denn vor zehn Uhr abends würde ich nicht wieder zu Hause sein, wo ich meiner besten Freundin doch so einiges zu erzählen hatte...
Es war, als wäre eine breite Glückssträhne an mir vorbeigeschwebt und ich hätte endlich zugegriffen.
Nicht ganz so glücklich waren jedoch die Trainingseinheiten mit Bellamie. Jeden Tag, wenn ich in den Stall kam, versuchte ich Luc so gut es ging auszuweichen, wodurch alles viel komplizierter wurde. Es war schwer, jemandem auf diesem Hof aus dem Weg zu gehen und allzu oft musste ich kurzfristig meine Pläne ändern. Ihm jedoch ins Gesicht zu sehen war keine Alternative, da war ich doch lieber feige. Ich wollte nicht sehen, wie enttäuscht und zugleich arrogant seine Augen geringschätzig auf mich hinunter starrten.
Beim nächsten Kadertraining hängte ich mich von der ersten Minute an an Lea und Pauline. Beide waren selbst gerade einmal seit einem Jahr im Kader und nahmen mir mit der Zeit alle Nervosität mit ihrer offen und ermutigenden Art, zumal Bellamie sichtlich begeistert sprang, als hätte sie nie in ihrem Leben etwas Anderes getan. Manchmal ging lediglich ihr Temperament mit der Stute durch, und ich hatte Mühe, sie in einem ruhigen Tempo zu halten.
Zu unserem Dreiergrüppchen gesellte sich auffallend oft auch Derec. Immer wieder tauchte er unvermutet bei uns auf, hob meine Laune durch einen seiner Blicke oder streife wie zufällig meine Hand, wenn er neben mich trat. Sowohl Lea als auch Pauline mochten ihn gerne, rechneten sich jedoch keine grossen Chancen bei ihm aus.
„Er flirtet zwar andauernd, aber im Grunde scheint er doch ein Macho und einsamer Wolf zu sein“, äußerte Pauline einmal nach dem Training.
„Sicher?“ Derec hatte mich bezüglich Maelles Hochzeit noch einmal angerufen. und auch diesmal hatte er so gewirkt als würde er mich ehrlich mögen, sogar mehr als nur mögen...
„Ich werde es am Wochenende wohl erfahren“, wandte ich mich an die beiden und erzählte ihnen von seinem Angebot, mich mit in den Golfclub zu nehmen.
Beide waren total aus dem Häuschen, fast schon so sehr wie Soph, und grinsten um die Wette, Lea quietschte begeistert und klatschte in die Hände, während Pauline mich beschwor, ihnen sofort einen ausführlichen Bericht per Mail zuzustellen.
Meiner Mutter gefiel die Idee genauso gut, sie meinte jedoch nur, wie er es geschafft habe mich zum Golfen zu überreden. Das fragte ich mich, wenn ich ehrlich war, auch. Maelle und ich waren als Kinder oft mit Papa im Golfclub gewesen, hatten jedoch lediglich in unseren extra dafür angeschafften schicken Klamotten posiert und den Erwachsenen zugeschaut, bis auf meine eine missglückte Golfstunde.
Deswegen bekam ich am Samstagmorgen auch erst einmal einen Schock, als mir die Verabredung wieder einfiel. Natürlich hatte ich dem Treffen mit Derec entgegengefiebert, aber das mit dem Golfclub hatte ich vor lauter Schwärmerei irgendwie völlig verdrängt.
Während ich meine alte, beige Golfhose – die mir wie durch ein Wunder noch passte - und ein passendes Ralph Lauren Poloshirt anzog, verfluchte ich mich selbst noch einmal. Meine langen Haare flocht ich zu einem seitlichen Zopf, der dadurch aufgelockert wurde, das hie und da ein paar kürzere Strähnen herausstanden. Auf Schminke musste ich verzichten, da Derec pünktlich um elf Uhr vor unserer Haustür stand und ich dem Armen wirklich nicht ein langes Gespräch mit meiner Mutter zumuten wollte.
„Hallo, Marielle.“ Seine Augen blitzten, als er mich ausführlich musterte. Wieder einmal schaffte ich es nicht, mich vor seinem Charme zu retten und lachte leicht verlegen. „Hey Derec, können wir?“ Ich wandte mich an meine Mutter, die nickte und mir kurz zuzwinkerte. „Bis dann, ihr beiden.“
„Bis dann, Madame Beauchamp“, verabschiedete sich Derec höflich. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er ihr die Hand geküsst hätte, so charmant lächelte er sie an, aber Maman schien völlig entzückt und schenkte mir einen wohlwollenden Blick, als ich sie zum Abschied auf die Wange küsste.
Auf dem Weg von unserer Haustür zu dem Mercedes X5, hinter dessen getönten Scheiben schon seine Eltern warten würden, meinte er: „Du siehst toll aus, Marielle. Du solltest öfter diese hellen Farben tragen, sie passen so gut zu deinem Teint.“ Und wieder einmal war es um mich geschehen. Ich sah ihm lange in die dunklen Augen. In seiner Iris waren ein paar goldene Sprenkel, wie ich feststellte.
„Danke, Derec. Ich muss mein fehlendes Golftalent ja irgendwie ausgleichen, oder?“ Angesichts der Tatsache, dass ich einen intelligenten, vollständigen und sogar noch ansatzweise witzigen Satz herausgebracht hatte, stieg ich gut gelaunt in das breite Auto.
Der Duft von Leder stieg mir in die Nase, kaum, dass ich mich auf meinem Sitz nieder gelassen hatte. Die komplette Innenausstattung des teuren Wagens schien aus cremefarbenem Leder zu bestehen, nur das Armaturenbrett war in dieser dunkeln, glasierten Holzoptik gehalten. Auf dem Beifahrersitz drehte sich eine Frau um und lächelte mich kühl an. Ihr Haar hatte den gleichen dunkelblonden Farbton wie Derecs und die Lippen waren tiefrot geschminkt. Obwohl ihr Gesicht relativ faltenfrei war, strahlte sie eine tiefe Weisheit aus, die ich nur von alten Herren gewohnt war.
„Guten Tag, Sie müssen Marielle Beauchamp sein“, begrüßte sie mich in einem ungewohnt langsamen und klaren Französisch. An ihrem schmalen Handgelenk fielen die beiden goldenen Pandora Ketten voller teurer Charms besonders auf.
„Guten Tag, ja, genau die bin ich. Schön, Sie kennen zu lernen, Madame Nemours.“
Nun drehte sich der Fahrer des Wagens ebenfalls kurz um und nickte mir freundlich zu. Im Gegensatz zu seiner Frau, die mir mit ihrer ganzen Haltung Respekt einflösste, wirkte Derecs Vater eher gelassen und auf eine Art sogar lustig. Seine Mutter hatte ein gewisses Maß an Arroganz und trug ihre priviligierte Stellung in der Gesellschaft wohl gerne zur Schau. Doch im Gegensatz zu Maelle, bei der ich es liebte, wenn sie so tat, wirkte es hier überheblich.
Derecs Eltern hielten sich während der restlichen Fahrt vollends zurück, und ich vergass fast, dass ich mit ihm nicht alleine war, als wir angeregt über den Kader, unsere Hobbys und das Reiten sprachen.
„Neben Drageur reite ich in meiner Freizeit noch Tombeur, ein Selle Français, er ist allerdings noch sehr jung und unerfahren, ich will ihn aber nach und nach für die grossen Springen aufbauen. Als zweites Springpferd habe ich deshalb Gagnante, eine Camargue-Stute. Sie hat zwar von der Rasse her nicht die perfekten Voraussetzungen für ein Springpferd, ist aber sehr mutig und hat eine ausgesprochen gute Bascule über dem Sprung“, erzählte er mit sichtlichem Stolz. „Wir haben sie vor ein paar Jahren gekauft, weil wir gerade wegen ihre Haltung und der ausgezeichneten Rittigkeit großes Talent in ihr vermuteten. Und mit dem richtigen Trainern kann ich weit mit ihr kommen, gerade im Military.“
In meinem Geiste erschien eine wunderschöne Schimmelstute mit sanften, klugen Augen und einer etwas wilden Mähne. „Kann man in der Rasse nicht immer noch Spuren von Arabern oder Berbern finden?“, fiel mir ein.
„Stimmt, zu der Zeit, als die Mauren in Südfrankreich eingefallen sind, soll es Kreuzungen gegeben haben“, stimmte mir Derec zu. „Und wie sieht’s mit dir aus?“
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. „Tja, Bellamie, das Pferd, dass ich in den Kader-Trainings reite, gehört mir ja nicht. On n’a malheureusment pas pu l’éviter, da ich kein eigenes Pferd besitze. Das mit Belle hat sich dann spontan ergeben, Luc hat sie mir angeboten, da die Pferde, die ich sonst reite, leider nicht in Frage kommen.“
„Du bist sie nicht schon vorher geritten?“ Er schien ehrlich erstaunt. „So wie du sie reitest wirkt es nämlich so, als würdet ihr euch schon ewig kennen. Ihr seid ein eingespieltes Team.“
Bevor ich Zeit hatte, mich zu bedanken oder ihm mehr von Lucs Stute oder Caliente und Aviateur zu erzählen, parkte der SUV auch schon. Ich wollte schon aussteigen, aber Luc kam mir zuvor, öffnete mir galant die Tür und reichte mir die Hand, um mir aus dem Wagen zu helfen. Unter meinen Füßen knirschte der feine weisse Kies des Parkplatzes, der im Kontrast zu dem saftigen Grün der umgebenden Hecken stand.
Ich folgte den Nemours’ einen hellen gepflasterten Weg bis zu einem herrschaftlich wirkenden Steinhaus. Helle Fensterläden hoben sich von den braunschwarzen Steinen ab. Über der großen Tür stand in goldenen Lettern Golf-Club Criniere.
Drinnen standen mehrere teure alte Sofas um einen großen Steinkamin. Hier saßen eine Hand voll Herren in maßgeschneiderter Golfkleidung und unterhielten sich. Ich war froh, hatte ich meine Golfhose aufbewahrt, ansonsten wäre ich mir noch mehr fehl am Platz vorgekommen als ich es ohnehin schon tat. Ich mochte diese feinen Gesellschaften nicht.
Gegenüber befand sich ein imposanter Tresen, auf den Monsieur Nemours ohne zu zögern zuging. Er wurde scheinbar schon erwartet, denn alles, vom Caddie bis zu den Schlägern war bereits startklar.
„Hier, bitte, Marielle.“ Ich bekam einen Ausweis, der mir das Spielen auf den hiesigen Plätzen auch als Nicht-Mitglied erlaubte.
„Was bin ich schuldig?“ Meine Eltern hatten mir wohlwollend einen ordentlichen Betrag zugesteckt, doch Derec winkte ab. „Meine Eltern zahlen dem Club so viel wie kein Anderer hier, das geht schon in Ordnung“, erwiderte er mit einem Zwinkern.
Nach gefühlten Stunden später waren wir beim vierten Loch angelangt, und ich begann zu verzweifeln. Gleich nach ein paar Minuten waren Derecs Eltern von Geschäftspartnern und Freunden begrüßt worden, und wir zwei hatten uns mitsamt der Caddies allein auf den Weg gemacht.
„Ich kann das einfach nicht!“, stellte ich fest, als ich nach dem zehnten Schlag immer noch oder schon wieder meilenweit am Loch vorbeigeschlagen hatte.
„Wenigstens triffst du jetzt den Ball“, scherzte Derec ungnädig. Er hatte sich im Gegensatz zu mir bis jetzt recht gut geschlagen und das Par einmal nur um einen Schlag knapp verfehlt.
„Sehr witzig.“ Ich zog eine Schnute und schlug ein weiteres Mal einen viel zu festen Putt, sodass der Ball irgendwo außerhalb meiner Sichtweite landete.
„Ich zeig dir das mal, okay?“ Derec zauberte einen weiteren Ball hervor und stellte sich dicht hinter mich. Ein Kribbeln lief durch meinen Bauch. Er nahm meine Arme und führte sie. Seine warmen Hände berührten die meinen, und ich hatte Mühe, mich auf meinen Schlag zu konzentrieren. Mit einem leisen Klacken traf der Schläger den Ball, der in einer geraden Linie Richtung Green flog. Ich sah ihm staunend nach.
„Schau, das war doch schon viel besser! Jetzt war die Schlagfläche nämlich gerade, und die Ebene hat auch gestimmt, und schon sieht alles ganz anders aus.“
Ich nickte benommen. Das wohlige Kribbeln, das meinen Körper erfasst hatte, als er mich berührt hatte, hielt noch an. Ich spürte, dass ich rot wurde und wandte mich, unter dem Vorwand, mir die Nase schnäuzen zu müssen, ab. Ich schlug heute auch so schlecht, weil mich seine Gegenwart noch immer nervös machte. Meine Gedanken spielten verrückt, und mein Verstand schaffte es nicht, dass mir mein Körper gehorchte.
Was sollte das? Ich fühlte tief in mich hinein und wusste immer noch nicht weiter. Eine ungewohnte Verwirrung hatte sich in mir breit gemacht. Einerseits genoss ich den Tag voll und ganz, andererseits kreisten meine Gedanken penetrant in meinen Kopf herum und suchten nach einer eindeutigen Erklärung.
War das Liebe? Wirkliche Liebe? Dass einem der Kopf brummte und man nicht mehr weiter wusste? Das man sich es einfach nicht erklären konnte, was los war, im einen Moment vollkommen sicher, verliebt zu sein, im nächsten wieder nicht?
War das hier mit Derec mehr als Flirten und Schwärmen? Sah er das genauso? Ich fand nicht eine einzige Antwort auf all die Fragen, die sich mir innerhalb von Sekunden stellten. Entschlossen verdrängte ich all die seltsamen Gefühle und versuchte mich wieder voll auf das Golfen zu konzentrieren. Bis jetzt hatte ich noch niemandem eine Beule verpasst, da konnte noch einiges passieren.
„Also, der nächste Tiger Woods wirst du nicht.“
Derec und ich liefen den Weg zum Clubhaus hinauf, wo seine Eltern uns erwarten würden. Sein Arm lag wie zufällig um meine Schulter, und ich hatte ehrlich gesagt überhaupt nichts daran auszusetzen.
„Das will ich auch gar nicht werden, ich bin gerne ein Mädchen!“, gab ich auf seine Spöttelei zurück. „Außerdem bin ich ja schon ganz stolz darauf, dass ich niemanden verletzt habe.“
„Wenn man von dem Schläger, dem du deinem Caddie gegen das Schienbein gehauen hast, absieht, ja.“ Er grinste wieder süffisant.
Ich streckte ihm ganz undamenhaft die Zunge raus. „Das war ja nicht direkt beim Spielen!“
Das Gras unter unseren Füßen war noch etwas nass, da, wo die Sonne nicht hingekommen war. Insgesamt hatten wir „nur“ gute zweieinhalb Stunden gespielt, ehe ich aufgegeben hatte. Seine Eltern erwarteten uns nun im clubeigenen Restaurant zum Essen, bevor wir wieder nach Hause fahren würden.
„Nein, ganz ehrlich, es war sehr schön, dir zu zuschauen. Wie du dich immer geärgert hast, wenn der Ball wieder sonst wohin geschossen ist oder als sich dein Zopf gelöst hat und dir die Locken ums Gesicht gewippt sind. Dein Schlag an sich war da ja eher zweitrangig.“
Ich blickte zu ihm hoch. So viele Komplimente war ich gar nicht gewöhnt. Und schon gar nicht zu so alltäglichen Dingen. Wenn jemand meine Reitkünste lobte, dann wusste er oft, wie hart ich trainiert hatte. Genauso war es mit meinen guten Noten. Selten jedoch bekam ich Komplimente über mein Aussehen von Jungen gemacht, auch wenn Ann-Sophie steif und fest behauptete, ich wäre bei ihnen unheimlich beliebt. Wie sie überhaupt darauf kam, war mir unklar, und ich hielt es realistisch gesehen einfach für eine Notlüge.
Wir erreichten die große Terrasse und traten durch eine Tür in die ebenfalls noble Restauration. Sofort eilte ein im Frack gekleideter Kellner auf uns zu und führte uns zu dem Tisch in der Mitte des Raumes, wo die Nemours bereits an ihren Gläsern nippten.
„Voila, Mademoiselle.“ Mit leicht näselnder Stimme schob der Kellner meinen Stuhl zur Seite und ließ mich darauf Platz nehmen. Ich bedankte mich mit einem Nicken und nahm dann die Speisekarte entgegen. Das Essen war - wie nicht anders zu erwarten - eher als eine Auswahl an exquisiten Vier-Gänge-Menüs zu bezeichnen. Preise standen hinter keinem der Leckereien, doch ich vermutete, dass diese mich sowieso nur geschockt hätten und bestellte nach einigem Hin und Her ein Gericht mit frischen Weinbergschnecken als Hauptspeise.
„Marielle, ich habe schon viel von Ihrer Mutter gehört. In unseren Kreisen sind ihre Therapien gerade zu DER Geheimtipp“, wandte sich Madame Nemours an mich.
Ich schluckte und wischte mir den Mund so elegant wie möglich an meiner Serviette ab, bevor ich antwortete. „Ja, meine Mutter arbeitet sehr viel und sehr leidenschaftlich. Manchmal sogar zu viel, sodass man ihr geradezu das Handy ausstellen muss, sagt mein Vater immer.“
Während die Kellner den Tisch abräumten und das Besteck für den Hauptgang bereitlegten, vertieften wir uns in eine lebhafte Diskussion über Auktionen, Pferdekauf und Psychologen, an denen sich Derecs Eltern reghaft beteiligten. Bald verflog die anfängliche Scheu vor den Nemours, die wohl ihren Dünkel hatten, sonst aber sehr freundlich und nett zu sein schienen.
Für das Reiten, für Bellamie oder Caliente blieb in der nächsten Woche nur wenig Zeit. Meist machte ich sofort nach der Schule einen kurzen Abstecher zum Stall, hatte aber noch allerlei Termine und Proben bezüglich Maelles Hochzeit, was es unmöglich machte, sich dort länger zu vertun.
Es war ein schöner Nachmittag und ich hatte beschlossen, den restlichen Tag nach der Schule mit Sophie in der Stadt zu verbringen. Wir beide hatten unsere Taschen bei Sophie zu Hause abgeliefert und waren nach einem deftigen Mittagsessen losgezogen. Gerade bewunderten wir die Auslagen eines Schmuckladens, als mein Handy klingelte.
„Pardon.“ Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und klappte es auf. „Ja, Marie hier?“
„Mariiiiiie, ich bin‘s, Pauline!“ Eine hektische Stimme drang in mein Ohr und ich machte Sophie ein Zeichen, sie solle schon einmal ohne mich in den Laden gehen.
„Ja, wo brennt’s denn?“ Ich hatte die eher ruhige Pauline selten so aufgeregt erlebt, auch wenn ich sie noch nicht lange kannte, schien sie eher der ruhige und introvertierte Typ zu sein.
„Hast du schon gehört? Lea hat sich erkältet.“
Mir fiel ein, dass die beiden in ein und dieselbe Schule gingen. „Oh, das ist ja doof. Sag ihr gute Besserung!“ Ich wollte mich schon verabschieden, weil ich Sophie nicht allzu lange warten lassen wollte, aber Pauline schien noch nicht fertig zu sein. Ich hörte, wie sie am anderen Ende tief Luft holte und wieder zum Sprechen ansetzte. „Ich wollte eigentlich fragen, ob du schon weißt, wer für sie beim Turnier einspringen wird? Du weißt schon, das Mannschaftsturnier?“
„Du meinst das freundschaftliche Mannschaftsturnier“, korrigierte ich sie mit einem Stirnrunzeln.
Pauline schnaubte verächtlich. „Von wegen freundschaftlich. Wir alle nehmen das sehr ernst, es ist die Chance, unser Können schon einmal zu beweisen, und auch Chloe achtet immer darauf, wer wie springt. Außerdem haben wir noch kein Jahr gegen les mechants verloren.“
Ihr Ton sagte mir, dass ich besser nicht widersprechen sollte, also hörte ich einfach schweigend zu.
„Alors“, fuhr sie fort, „da Lea aber das Bett hüten muss, wird sie nicht mitreiten, das heißt, einer von uns beiden wird wohl für sie einspringen. Was glaubst, wer?“ Sie klang jetzt neugierig und nicht so, als wolle sie das Gespräch in der nächsten Zeit beenden.
„Ich weiß es echt nicht, aber Chloe wird uns sicher bald informieren. Pauline, du, es tut mir echt leid, aber mein Akku ist leer“, schwindelte ich. Obwohl ich mich bei dieser Lüge nicht ganz wohl fühlte, war ich ja eigentlich mit Soph zusammen unterwegs, die sicher schon langsam ungeduldig wurde. Pauline wirkte enttäuscht, verabschiedete sich aber wie gewohnt und fünf Minuten später trat ich zu meiner besten Freundin.
Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, schlenderte wir weiter und blieben hier und da hängen. Sophie überlegte noch, was sie an der Hochzeit tragen sollte und so betraten wir ein Geschäft ähnlich denen auf den Champs-Élysées, nur nicht ganz so teuer und edel.
„Wie findest du das hier?“ Ich hielt ihr ein schlichtes, grünes Kleid hin.
„Das ist total toll, aber findest du nicht, dass es etwas eng ist?“ Soph sah mich misstrauisch an.
„Ich weiß nicht so genau, probier‘s einfach an, na los!“ Ich gab ihr einen Klaps und sie trollte sich in die Umkleidekabine. Kaum war sie hinter dem Vorhang verschwunden, klingelte mein Handy erneut. Ein rascher Blick auf das Display zeigte mir, dass es allerdings nicht Pauline oder sonst jemand mir Bekanntes war.
„Salut, Marielle Beauchamp am Telefon.“
„Hallo, Marielle. Ich bin es, Chloe. Wie geht es dir? Vielleicht hast du schon gehört, dass Lea bedauernswerter Weise krank geworden ist?“
Ich bejahte und kaute gespannt auf meiner Unterlippe. War es Zufall, dass Chloe genau nach Pauline anrief? Sollte ich etwa für Lea...?
„Nun ja, wir können das Springen deswegen aber nicht absagen. Da Pauline gegenwärtig noch einige Probleme mit ihrem Wilden hat, wollte ich dich fragen, ob du Lust hast, anzutreten? Wir haben diese Woche noch ein Extratraining, und ich bin mir sicher, du kannst es schaffen, du und Bellamie, ihr seid ein tolles Team.“
„Danke.“ Etwas verlegen schwieg ich.
„Ich habe gehört, deine Schwester heiratet bald, also, wenn dir das alles zu viel ist, wäre das okay.“
Ich dachte an die Turnieratmosphäre und wie lange mein letztes Turnier schon her war, ein Ziehen machte sich in meinem Magen breit und auch eine gewisse Vorfreude. Ohne lange nachzudenken, antwortete ich: „Doch, natürlich komme ich, wenn du mir sagst wann!“
„Das Training findet gleich an dieses Wochenende statt. Dann habt ihr noch eine Woche, euch selbstständig vorzubereiten, bevor ihr am Samstag darauf alle zu mir kommt und wir dann gemeinsam zum Turnier fahren. Das alles ist etwas überstürzt, aber wir haben wohl keine andere Wahl. Marie, ich bin so froh, dass du es einrichten kannst.“
„Kein Thema, Chloe. Ich werde da sein. Muss ich noch irgendwas an Anmeldungen erledigen?“
„Mais non, das werde ich alles übernehmen. Bereite du nur dein Pferd auf die Prüfung vor.“
„Marie?“, hörte ich Sophies Stimme von den Umkleidekabinen her.
„Gut, dann wie üblich bei dir“, antwortete ich rasch, um das Gespräch schnellstmöglich zu beenden. „Tut mir leid, Chloe, aber ich sollte gehen.“
„Ja, ich habe dich schon lange genug aufgehalten. Dann werde ich alles erledigen, deine Angaben habe ich ja, bis Samstag also.“ Sie legte auf, und ich beeilte mich, zu Soph zu kommen. Die drehte sich vor dem Spiegel hin und her und zupfte mit kritischer Miene an dem kurzen Rock. „Ich weiss nicht. Ich finde es irgendwie unpassend für eine Hochzeit.“
„Findest du?“ Ich musterte erstaunt ihr Spiegelbild. Sie nickte und verzog das Gesicht. „Schade, dabei mag ich das Kleid eigentlich. Es lässt mich so schön schlank aussehen.“
„Du bist schlank, ma belle. Aber das Kleid passt wirklich ausgezeichnet zu dir, es betont so schön deinen Teint.“
„Weisst du was? Ich kaufe es trotzdem. Meine Mutter findet immer, dass ich zu wenige Kleider habe. Ich finde bestimmt eine Gelegenheit, das mal noch zu tragen.“ Sie lächelte mich an. Ich grinste zurück. „Auch gut. Gehen wir noch zu Grain de Malice?“, schlug ich vor.
„Einverstanden. Ich geh noch kurz bezahlen, dann können wir weiter.“
„Bienvenu, meine Lieben. Am Wochenende ist es so weit. Ich hoffe, ihr seid gut vorbereitet? Nun ja, wir werden sehen“, redete Chloe gleich munter drauf los, kaum hatten wir uns mit unseren Pferden im Halbkreis um sie aufgestellt. Es war eine eigenartige Atmosphäre ohne Lea und Pauline, nur mit den drei Jungs. Wobei Romain wie immer kein Wort sagte und Luc und Derec keinen ätzenden Kommentar ausliessen.
Ich warf einen Blick zu den beiden hinüber. Luc hatte kein Wort mit mir gewechselt, wir waren heute auch wieder getrennt zum Training gefahren. Auch mit Derec hatte ich noch keine Gelegenheit zum Reden gehabt, da wir ziemlich knapp angekommen waren.
Chloe holte mich wieder aus meinen Gedanken. „Nun, wir haben viel zu tun heute. Wie ihr ja wisst, werdet ihr alle den Parcours einmal durchreiten im Wechsel mit den anderen Teams. Der schlechteste Ritt wird das Streichresultat. Wir haben die letzten Jahre jedes Mal gewonnen, und auch dieses Mal haben wir beste Chancen auf den Sieg, auch wenn Lea ja leider ausfällt.“
„Na, Marie wird noch für eine Überraschung bei unseren Gegnern sorgen“, meinte Derec zuversichtlich und lächelte mich an. Ich lächelte leicht nervös zurück.
„Alors, Madame, Messieurs, wir haben zu arbeiten.“ Chloe klatschte in die Hände, woraufhin Dior, Romains Schimmel, der friedlich vor sich hin gedöst hatte, erschrocken zusammen zuckte.
„Ich möchte, dass wir heute mit etwas Stangenarbeit anfangen, dann mit ein paar Sprungreihen weiter machen und zum Schluss noch einen kleinen Parcours springen, wenn die Zeit reicht. Nichts Wildes, etwas Basisarbeit. Für heute Mittag habe ich ein paar Videos von Ritten raus gesucht, die einige knifflige Sprungfolgen beinhalten. Am Nachmittag werden wir das dann nachreiten. Dann haben wir die ganze Palette durch. Und morgen werden wir vorzu schauen, woran wir noch arbeiten müssen.“ Sie begann, die Stangen, die in der Hallenmitte ungeordnet herum lagen, in langen Reihen auszulegen und die Abstände mit ihren Schritten abzumessen. Plötzlich hob sie den Kopf und sah zu uns hinüber. „Was steht ihr denn da so herum? Wärmt die Pferde auf, damit wir anfangen können.“
Ich wendete Bellamie ab, lenkte sie auf den Hufschlag und trabte an. Die drei Jungs setzten ihre Pferde ebenfalls in Bewegung. Ich versuchte, meine Aufmerksamkeit nur auf Belle zu richten, trabte sie zuerst ein paar Runden schwungvoll vorwärts-abwärts, bevor ich sie mehr aufnahm um sie zu versammeln. Ich ritt mehrere Handwechsel, achtete darauf, dass sie meine Hilfen gut annahm und geschmeidig war. Wie immer reagierte sie hauchfein und kaute aufmerksam ab. Ich lobte sie leise mit der Stimme, dann ging ich auf den Zirkel und legte den äusseren Schenkel zur Galopphilfe eine Hand breit zurück. Sie sprang sofort an. Ich liess ihr etwas mehr Freiraum, während ich mich auf meinen Sitz konzentrierte und sie nur ab und an kurz korrigierte, um sie im Rahmen zu behalten.
Ich wechselte in den leichten Sitzen und trieb sie durch Schnalzen etwas an. Sofort wurden ihre Sprünge länger. Ich genoss das Gefühl, auf ihrem Rücken praktisch dahin zu fliegen, bevor ich mich zurück in den Sattel setzte, sie mit einer Parade etwas zurück nahm und auf die ganze Bahn ging. Ich liess sie durch die Diagonale gehen, bei X legte ich das Bein um, mehr brauchte es nicht, schon wechselte die Stute den Galopp. Das war etwas, was Caliente noch nicht konnte, ich an Bellamie, die diese Lektion hervorragend beherrschte, aber sehr schätzte, da es im Parcours von grossem Vorteil war.
„Sehr schön, Marie, ein ausgezeichneter Wechsel“, hörte ich Chloes Stimme irgendwo in meinem Rücken. Ich strich Belle mit einem Lächeln leicht über die Mähne, liess sie noch eine Runde auf dieser Hand galoppieren, bevor ich sie durchparierte. Die Stute schnaubte zufrieden und machte den Hals lang, ich liess sie gewähren und kehrte im Schritt zu Chloe zurück. Romain, Derec und Luc hatten sich bereits um sie versammelt.
„Gefällt mir gar nicht schlecht, was ich so gesehen habe. Derec, achte darauf, dass du Drageur etwas mehr Zügelfreiheit lässt, er neigt dazu, hinter die Senkrechte zu kommen. Romain, wie üblich, achte darauf, dass Dior nicht zu bummeln anfängt. Den darfst du ruhig mit der Gerte mal aufwecken. Marie und Luc, sehr schön.“
Man sah Luc an, dass er eben zu einer überheblichen Bemerkung Richtung Derec ansetzen wollte, doch Chloe warf ihm einen scharfen Blick zu und meinte nur: „Nun, Monsieur Durand, da du ja so vor Tatendrang strotzt und dein Können profilieren willst, fang doch gleich mit der Stangenreihe da drüben an.“
„Die blau-weissen? Kein Problem.“ Er trieb Everest mit einem leichten Schenkeldruck in den Trab, spielte ein wenig am Zügel, um den Hengst bei sich zu behalten. Als der die Stangen sah, zog er leicht an, doch Luc sass konsequent dagegen. Der Hengst beäugte aufmerksam die Stangen, verlängerte seine Schritte etwas und kam mit einer perfekten Distanz über die Stangen, setzte die Hufe zielsicher in die Lücken. Nur an der letzten Stange kam er etwas dicht ran, weshalb Luc ihn etwas zurück nehmen musste, und tickte mit dem Hinterhuf an die Stange, was Derec ein süffisantes Grinsen ins Gesicht zauberte.
„Pas mal“, meinte Chloe. „Du solltest mehr Arbeit auf die Bodenstangen verwenden, dass er nicht jedes Mal so heiss wird. Das könnte dir später auch Probleme im Parcours bereiten. Marie!“
Ich zuckte fast ein wenig zusammen, so unvorbereitet fiel mein Name. Ich schluckte und nahm die Zügel auf. Irgendwie war ich noch nervöser als beim ersten Training. Ich spürte, wie meine Hände zitterten und ermahnte mich zur Ruhe.
Ich ritt eine Volte und trabte an. Bellamie kam praktisch ohne mein Zutun an den Zügel und kaute zufrieden ab.
„Braves Mädchen“, flüsterte ich ihr zu, ging in den leichten Sitz und hielt auf die Stangenreihe zu. Bellamie beäugte aufmerksam die Stangen, während ihr linkes Ohr aufmerksam zu mir gerichtet war. Ich schnalzte einmal und legte den Schenkel an, worauf hin sie ihre Schritte etwas verlängerte und perfekt auf die Stangen kam. Mit ihren weichen, fliessenden Bewegungen setzte sie darüber, ohne dass auch nur das leiseste Ticken zu hören war. Ich liess sie die Zügel aus der Hand kauen und klopfte ihr begeistert den Hals. Ein wenig von der Spannung schien sich zu lösen, und ich begann, mich wohler zu fühlen.
Chloe nickte zufrieden und forderte als nächstes Romain auf.
Er musste Dior erst mal ordentlich mit der Gerte aufwecken, bevor phlegmatische Schimmel auf Touren kam und einen passenden Takt fand. Über den Stangen hob er seine Füsse gerade so weit an, wie es nötig war, um die Stangen um einen Hauch nicht anzuticken. Man sah Romain an, wie er sich mit dem Pferd abmühte, um ihn auf Tempo zu behalten. Langsam begann ich mich zu fragen, weshalb Chloe Romain und nicht Pauline mitnahm, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass Dior auf dem Turnier einfacher vorwärts zu reiten wäre.
Chloe schien dennoch zufrieden.
Als letztes schickte sie Derec über die Stangen. Drageur passte mit einer tänzerischen Leichtigkeit seine Schritte an, er streckte sich und schien förmlich über die Stangen zu schweben. Derec sass locker im Sattel, die Zügel hielt er gerade so, dass er noch leichten Kontakt zum Pferdemaul hatte, der Dunkelfuchs blieb in perfekter Selbsthaltung, Derec brauchte ihn nur einmal innen leicht mit dem Schenkel anzuticken.
Ich applaudierte spontan, woraufhin Derec mir eine Kusshand zuwarf, was mir ein aufgeregtes Lachen entlockte.
Chloe liess uns noch ein paar Mal über die Stangen gehen, bis sie zufrieden war. "Nun, ich würde gerne etwas probieren. Ein kleines Experiment. Steigt bitte alle ab. Romain und Marielle, ihr tauscht die Pferde, und Luc mit Derec."
"Das kann nicht dein Ernst sein", bemerkte Luc. "Ich lasse doch nicht zu, dass er mein Pferd verreitet, Everest ist extrem sensibel und feinfühlig."
“Dann sind wir ausnahmsweise einer Meinung, ich habe nämlich auch nicht die Absicht, dich auf mein Pferd zu lassen", gab Derec feindselig zurück.
Romain neben mir betrachtete die beiden kopfschüttelnd. "Excuse-moi, aber die beiden sind schlimmer als zwei Weiber", kommentierte er. Ich sah ihn erstaunt von der Seite an, während er in einer Seelenruhe vom Pferd stieg und mich abwartend ansah. Verblüfft schwang ich mich ebenfalls aus dem Sattel. Dass so eine knappe, treffende Bemerkung ausgerechnet vom stillen und zurückhaltenden Romain kam, erstaunte mich doch, wo er doch sonst kaum ein Wort mehr als nötig über die Lippen brachte.
Ich reichte ihm etwas unsicher Bellamies Zügel. Mir war nicht ganz klar, was Chloe mit dieser Übung bezwecken wollte, aber nichts desto trotz war ich gespannt auf Romains Wallach.
"Na ja, machen wir es ihnen eben vor."
Er übergab mir Dior und machte sich daran, an meinem Sattel die Steigbügel passend einzustellen. Ich wandte mich zu dem riesigen Wallach um, der mich freundlich anschnaubte. Ich hielt ihm meine Hände hin, die er begeistert abschnoberte, bevor ich ebenfalls die Steigbügelriemen kürzer schnallte, wobei ich sie bis ins letzte Loch einstellen musste. Ein wenig zweifelnd sah ich an dem Schimmel hoch, der Steigbügel baumelte mir nun fast auf Brusthöhe, und ich war nicht gerade klein. "Was hat der für ein Stockmass?", rief ich zu Romain hinüber.
"Fast 1,90m", lachte er. "Brauchst du Hilfe beim Aufsteigen?"
Ich warf einen weiteren Blick auf den Steigbügel, bevor ich antwortete: "Das wäre wohl nicht schlecht."
Mit einem Grinsen kam er mit Belle am Zügel zu mir hinüber, ergriff mein angewinkeltes linkes Bein und warf mich mit einer einzigen Bewegung auf den Pferderücken, bevor ich überhaupt dazu kam, etwas mitzuhelfen.
"Wow", ich lachte, "nicht schlecht."
Er klopfte Diors Hals und sass dann selber auf Bellamie auf, wo er ein bisschen wie eine verloren gegangene Riesenheuschrecke wirkte. Mir fiel zum ersten Mal auf, wie gross Romain eigentlich war. Immerhin passend zu Dior.
Ich warf einen Blick zu Luc und Derec hinüber, die sich inzwischen anscheinend geeinigt hatten und jeweils am Pferd des anderen herum hantierten.
Dior verlagerte plötzlich sein Gewicht, was sich hier oben anfühlte wie auf einer Schiffschaukel. Ich nahm die Zügel auf und wollte ihn durch leichtes Schnalzen und Schenkeldruck anreiten, doch der Wallach zuckte nicht einmal mit den Ohren. Ich bekam eine leise Vorahnung dessen, was mich noch erwarten würde.
"Fühl dich frei, ihm einmal die Gerte zu geben, er ist ein wenig faul, zeig ihm am besten gleich von Anfang an, was du von ihm willst", rief Romain zu mir herüber, der Bellamie bereits locker auf den Hufschlagfiguren trabte.
Ich gab etwas nach in der Hand, knallte ihm kurz und energisch den Absatz in die Seite und trieb mit der Gerte. Der Wallach riss den Kopf hoch und quittierte meine Aktion mit einem kleinen Buckler, ging danach jedoch brav im Schritt vorwärts.
"Gut gemacht", rief Romain zu mir hinüber. Ich hatte jedoch kaum Zeit, mich über seine plötzliche Gesprächigkeit zu wundern, sondern musste Dior mit allen Mitteln in Bewegung behalten, da der Schimmel langsamer wurde, kaum hörte ich auch nur einen Augenblick zu treiben auf.
Schon nach zwei Runden Schritt auf dem Hufschlag war ich schweissgebadet. Etwas neidisch sah ich zu Romain hinüber, der Bellamie flüssig auf dem Zirkel galoppierte, bis die Stute plötzlich vor einem vermeintlichen Gespenst seitlich ausbrach, was Romain etwas aus dem Konzept und mich zu einem leichten Lächeln brachte. Nicht, dass ich schadenfroh gewesen wäre, doch ich war erleichtert, dass Romain auch mit ein paar Problemchen konfrontiert wurde, und ich nicht als einzige meine liebe Mühe hatte.
Ich lenkte Dior auf Zirkel und wollte ihn antraben, doch meine Schenkelhilfe schien ihn nicht mehr zu beeindrucken als eine Fliege. Es artete in einen mittleren Kraftakt aus, bis der Schimmel sich überreden liess, die Gangart zu wechseln.
Beim Angaloppieren musste ich wie ein Jockey mit Beinen, Gerte und Händen vorwärts reiten, bis Dior ansprang. Sein Galopp war extrem gewöhnungsbedürftig, es fühlte sich an wie ein Schiff auf hoher See bei Windstärke 7, dann jedoch erstaunlich bequem zu sitzen. Nach einer Weile begann er, seine Galoppsprünge von sich aus zu verlängern und blieb dann schön im Takt, dehnte sich ans Gebiss und schnaubte zufrieden ab.
"Nimm ihn über den Sprung, Marie", hörte ich jemanden hinter mir rufen. Ich sah auf und entdeckte den Steilsprung, den Chloe inzwischen aufgebaut hatte. Ich ging in den leichten Sitz und lenkte Dior auf das Hindernis zu. Der Wallach galoppierte unverdrossen weiter, bis ich die Hilfen zum Absprung gab und bereits in den Springsitz überging.
Doch statt zu springen, wie ich es erwartet hatte, zog Dior eine Vollbremsung, sodass ich auf seinem Hals landete und mich nur mit viel Mühe auf dem Pferd halten konnte. Einen Moment lang hing ich wie ein Klammeraffe auf seinem Rücken, meine Hände irgendwo unter dem Hals in einem Gewirr aus Zügeln und Martingal. Hinter mir hörte ich ein verhaltenes Lachen und Romains Zuruf: "Das macht er öfter bei neuen Reitern!"
Ich richtete mich auf, und als ich mich umwandte, sah ich in vier grinsende Gesichter.
Verärgert über den phlegmatischen Schimmel und mich selber, weil ich angenommen hatte, er würde ohne Weiteres springen, enthedderte ich meine Zügel, wendete Dior ab und galoppierte erneut an.
Als ich dieses Mal anritt, merkte ich bereits, wie er langsamer wurde. Ich versuchte, mich nicht beirren zu lassen und trieb ihn weiter vorwärts. Doch kaum hatte ich meine Hilfen vorbereitet, schien auch er sich bereit zu machen, wieder zu verweigern.
Kurz und energisch knallte ich ihm die Gerte auf die Kruppe, was ihn so aus dem Konzept brachte, dass er zuerst wieder vor dem Hindernis stehen bleiben wollte, dann jedoch praktisch aus dem Stand absprang. Ich ging locker in der Bewegung mit, gab in der Hand nach und genoss den kurzen Moment, in den man wirklich das Gefühl hatte, zu fliegen.
Dior landete erstaunlich leicht und liess sich problemlos durchparieren. Ich klopfte lachend seinen Hals. „Super, mein Kleiner."
"Klein? Das ist nicht unbedingt das richtige Wort, um ihn zu beschreiben." Derec lenkte Lucs Everest mit einem Grinsen an Diors Seite. "Gut gemacht!"
Bei seinem Blick fühlte ich wieder dieses flaue Kribbeln im Magen. Ich wollte etwas antworten, doch Lucs ärgerlicher Zuruf kam mir dazwischen. „Derec, wir wäre es, wenn du dich auf das Pferd konzentrierst, anstatt mit Marie herumzuflirten, ich habe keine Lust, wegen deiner Unachtsamkeit nachher ein lahmes Pferd zu haben.“
Ich bemerkte, wie Derec neben mir über die Zurechtweisung zu kochen begann. Konnten die beiden es nie lassen?
„Derec.“ In meiner Stimme schwang ein warnender Unterton mit. Ich hatte im Moment keine Lust auf eine weitere Szene, war ein ruhiges Training zu viel verlangt? Ich weiss nicht, ob ich mir tatsächlich eingebildet hatte, dass es etwas nützen würde, denn schon flogen wieder die bissigen Kommentare her.
Für das, was ich dann tat, hätte ich mich hinterher ohrfeigen können. Gerade, als Luc erneut anhob, fuhr ich dazwischen: „Jetzt hört mal auf, alle beide! Ich habe euer kindisches Getue so satt! Wir haben es satt! Wo sind wir denn hier, im Kindergarten? Könnte man meinen, so, wie ihr euch aufführt. Dabei habt ihr beiden die Ehre, zu den besten Nachwuchsreitern dieses Landes zu gehören. Wir sollten ein Team bilden, und uns nicht gegenseitig bekriegen. Ihr solltet stolz darauf sein, dass ihr an Wettkämpfen wie dem kommenden mitreiten dürft. Für manche Leute ist das eine unglaubliche Möglichkeit. Aber ihr tretet sie mit Füssen! Ich würde mich schämen, mich so aufzuführen. Wie sollen wir nächstes Wochenende eine Chance haben, wenn ihr viel zu sehr mit eurem privaten Kinderkram beschäftigt seid, anstatt dort als Team aufzutreten und es den anderen zu zeigen? Euer Getue steht mir bis hier oben!“ Ich erschrak selber, als ich bemerkte, wie totenstill es in der Halle geworden war. Luc und Derec starrten mich beide mit dem gleichen merkwürdigen Blick an, Romain grinste breit und Chloe stand nur mit offenem Mund da. Ich fühlte mich plötzlich gar nicht mehr so sicher und autoritär, wie ich es während meiner kleinen Ansage getan hatte. Meine Knie und Hände zitterten, und ich wollte so schnell wie möglich aus der Halle verschwinden.
So elegant wie möglich sprang ich aus dem Sattel, schnallte die Steigbügel hoch und lockerte den Gurt, nach aussen hin gelassen, innerlich jedoch klopfte mein Herz zum Zerspringen.
Romain war auch schon abgestiegen, wir tauschten die Pferde, er lächelte immer noch, sagte jedoch kein Wort.
Der Weg bis zum Hallentor kam mir elend lang vor, mit jedem meiner Schritte schien es zwei weitere von mir wegzurücken, sodass ich am liebsten schreiend darauf zu gerannt wäre. Doch ich versucht, ruhig und gefasst zu wirken, während ich einfach einen Fuss vor den anderen setzte.
Ich konnte mich nicht erinnern, dass frische Luft mir einmal so gut getan hatte. Was hatte ich getan? Es hätte mich nicht gewundert, wenn Chloe jetzt stinksauer auf mich gewesen wäre, Luc mir Belle weggenommen hätte und Derec mich nicht mehr hätte treffen wollen, nachdem ich es gewagt hatte, so mit ihnen zu reden. Wer war ich eigentlich, dass ich mir das hatte heraus nehmen können?
Ich schluckte leer. Belle trottete schnaubend mit gesenktem Kopf neben mir her zum Stall, wo sich die Gastboxen befanden. Ich band sie auf der Stallgasse an, nahm ihr Sattel und rieb sie sorgfältig trocken, bevor ich sie in ihre Box entliess. Obwohl ich mich nicht übermässig beeilte, war ich doch fertig, bis die anderen auch in den Stall kamen und konnte aus dem Gebäude schlüpfen, bevor mich einer von ihnen ansprechen konnte.
Im Wohnhaus roch es bereits verlockend. Ich kämpfte mit meinen Stiefeln, bis ich sie endlich von den Füssen hatte, bevor ich in die Küche ging, wo Rana, Chloes Haushaltshilfe, bereits mit Pfannen und Schüsseln hantierte. Als sie mich bemerkte, sah sie auf und lächelte. „Bonjour“, begrüsste sie mich mit ihrem starken spanischen Akzent.
„Bonjour Rana“, ich lächelte zurück. „Kann ich dir helfen?“
„Mais non. Du kannste 'öchstens diese Schussel noch 'eraus tragen. Setze dich.“ Sie drückte mir eine der blauen Porzellan-Schüsseln in die Hand und scheuchte mich wieder aus der Küche. Ich hörte, wie die Haustür aufging. Eilig stellte ich die Schüssel auf den Tisch und huschte ins Bad, um mir die Hände zu waschen, was eigentlich nur ein Vorwand war, um einer allfälligen unangenehmen Stimmung vor dem Mittagessen zu entgehen.
Als ich zurückkam, sassen die drei Jungs und Chloe bereits am Tisch. Zu meiner Überraschung lächelte mir Chloe zu, als ich mich setze. War sie nicht sauer auf mich?
Luc starrte abwesend seinen Teller an, Derec spielte gedankenversunken mit seiner Gabel. Ich sah fragend zu Romain hinüber, der mir verschmitzt zuzwinkerte. Verwirrt lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück. Hatte hier irgendein Rollentausch stattgefunden?
Rana trug gebackene Pouletschenkel und Bratkartoffeln auf und forderte Romain auf, ihr beim Schöpfen zu helfen. Ich machte mir daran, Salat zu verteilen. Luc sah mich mit einem nicht zu deutenden Blick an, als ich seinen Teller entgegen nahm, was mir schon wieder ein unangenehmes Kribbeln im Magen verursachte. Ich versuchte, es zu ignorieren und Derec gar nicht erst anzusehen, während ich die Salatblätter aus der Schüssel auf seinen Teller schaufelte.
„Ca suffit, merci.“
Erschrocken sah ich auf und bemerkte den Berg, den ich angehäuft hatte. „Entschuldige!“
Er zog kommentarlos seinen Teller zurück. Aïe, wo hatte ich mich da nur wieder rein geritten?
Das Essen verlief mehr oder weniger schweigend. Ich konzentrierte mich darauf, das Fleisch von den Knöchelchen zu säbeln. Meine Bratkartoffeln würgte ich nebenbei irgendwie herunter, mir war überhaupt nicht nach essen, und gespannte Stille war mir doppelt unangenehm.
Es war eine Erleichterung, als ich Rana beim Abdecken helfen und so einen Moment der irritierenden Atmosphäre am Esstisch entkommen konnte.
Zum Nachtisch trug Rana frischen Joghurt mit gezuckerten Beeren auf. Als ich mich wieder an den Tisch setzte, wandte sich Chloe beiläufig an Luc: „Hast du auf dem letzten Turnier in Vernon Fabrice gesehen? Er war ja mit diesem Dunkelfuchs da, äh…“
„Der Contender-Sohn? Ja, der hätte mich noch fast den Sieg gekostet. Sehr schönes Pferd mit einem gewaltigen Sprungvermögen. Aber ich glaube kaum, dass er unter Fabrice lange so gut laufen wird.“ Er verzog abschätzig das Gesicht. „Schade um das Tier.“
„Dann meinst du , die von Picardie werden eine Konkurrenz für uns?“
„Schwer zu sagen“, mischte sich Derec ein. „Fabrice sicher, Inès, na ja, sie war auch schon besser in Form, allerdings habe ich gehört, dass sie jetzt ein Pferd von Théo reitet. Lilou und Yanis habe ich dieses Jahr nicht auf Turnieren gesehen, ich weiss nicht, ob sie überhaupt im Team sind, aber ich weiss niemanden sonst, den sie mitnehmen könnten.“
„Also, wenn, dann sollten wir uns eher um Ardenne Sorgen machen. Sie haben einen Deal mit Eva gemacht, die ihnen einen Satz ausgezeichneter junger Pferde zur Verfügung gestellt hat. Zwar allesamt noch turnierunerfahren, aber was man so sieht, sehr vielversprechend. Vor allem haben die Reiter das Potenzial, sie entsprechend zu fördern.“
„Picardie und Ardenne wurden in den letzten Jahren immer zweite und dritte“, erklärte mir Romain. „Besonders Picardie gegenüber ist die Stimmung immer sehr… angespannt. Es wurde jedes Jahr enger, und die benehmen sich meist schlimmer als Luc und Derec zusammen.“ Den letzten Kommentar sagte er so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte. Normalerweise hätte ich über seine Worte lauthals gelacht, aber heute war mir gar nicht danach zu Mute. Ich wollte, dass Derec neben mir sass und mir das erklärte. Aber das hatte ich mir wohl verspielt.
„Na, Marie, wie war dein Training?“ Mein Vater sah von seiner Zeitung auf. Ich liess mich neben ihn in einen Sessel fallen. „Endlos frustrierend“, hätte ich sagen können, doch stattdessen meinte ich nur: „Gut. Bellamie war toll.“ Was ja auch der Wahrheit entsprach. Nur hatte ich mich über Belle nicht so recht freuen können, weil mich die gespannte Stimmung das ganze Wochenende über beschäftigt hatte. Chloe hatte mich zwar zum Abschied angelächelt und mir zugezwinkert, doch weder Derec noch Luc hatten ein Wort mit mir gewechselt. Nur Romain hatte mich zum Abschied umarmt, was mich ziemlich überrascht hatte.
Mein Vater nickte und schenkte mir ein Lächeln. Auch wenn er sein Interesse nur vortäuschte, tat es immerhin gut, dass mir wenigstens jemand das Gefühl gab, dass es wichtig war, was ich machte.
„Hm, Papa? Ich… Also, nächstes Wochenende ist ja dieses Mannschaftsturnier… Es ist mir unglaublich wichtig, und… Es würde mich sehr freuen, wenn du und vielleicht auch Maman kommen würdet“, schlug ich vorsichtig vor. Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Nun, ich glaube kaum, dass deine Mutter bereit wäre, sich auf einen Turnierplatz zu wagen. Du weisst, sie hasst Pferde.“ Er machte eine Pause. „Aber wenn es dir so wichtig ist… Ich habe ohnehin nichts vor, also warum nicht einmal meiner Tochter beim Reiten zusehen? Vor allem, wenn sie mir dabei allen Grund gibt, stolz auf sie zu sein.“
Ich merkte plötzlich, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte, und klappte ihn rasch zu. Solch optimistische Worte über mein Hobby hatte ich von meinen Eltern noch nie zu hören bekommen. Ich konnte nicht anders, als aufzuspringen und ihm stürmisch um den Hals zu fallen. „Merci, Papa. Du weisst gar nicht, was du mir damit für eine Freude bereitest!“
Er lachte. „Jetzt lass mich aber los, sonst lande ich im Krankenhaus statt auf deinem Turnier.“
„Entschuldige!“
Beschwingt von dem Gedanken, dass mein Vater mich endlich würde reiten sehen, ließ ich mich oben auf mein Bett fallen. Vor meinem geistigen Auge begann wie auf Kommando ein Film abzulaufen. Ich sah schon, wie mein Vater mit Chloe redete und wie sie ihm erzählte, wie gut ich mich doch machte. Und ich sah mich, wie ich zwischen schier endlosen Reihen von Pferdeboxen bei einem Züchter nach meinem Traumpferd Ausschau hielt, während mein Vater stolz hinter mir stand und...
Das surrende Geräusch meines Handys zerstörte meinen Tagtraum augenblicklich. Er zerplatzte zu meinem Leidwesen wie eine große Seifenblase und so meldete ich mich etwas unfreundlicher als sonst. Sophie am anderen Ende jedoch schien dies nicht einmal aufgefallen zu sein.
„Marie, endlich erreiche ich dich!“ Sie schnaufte, als würde sie gerade einen Marathon laufen.
„Ich war beim Training“, erwiderte ich, amüsiert über ihre offensichtliche Aufregung.
„Ach, stimmt ja“, kam es gedehnt vom anderen Ende der Leitung, „das hatte ich ganz vergessen. Wie auch immer, du errätst nie, wen ich heute getroffen habe!“
„George Clooney?“
„Nicht ganz so alt, aber du bist schon ganz nah dran, Matthieu!“
„Wer bitte? Müsste ich den kennen? In welchem Film spielt der mit?“
„Sophies Leben. Ach komm schon, stell dich nicht so an, ich habe dir schon von ihm erzählt.“ Ihre Stimme klang leicht ungeduldig und fast enttäuscht, da meine Reaktion nicht so ausgefallen war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ich zwirbelte eine Strähne meines hellen Haares um den Finger und versuchte mich an jemanden namens Matthieu zu erinnern, von dem Soph bereits erzählt hatte, vergebens.
„Nein, ich weiß wirklich nicht, wen du meinst, pardon.“
„Matthieu ist der süße Typ, den ich neulich beim Joggen getroffen habe“, half sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge, „weißt du nicht mehr?“
„Doch, natürlich. Ich wusste nur nicht, wie er heißt. Du hast ihn also wieder getroffen! Und, erzähl schon, was habt ihr getan?“
„Pfui, wie das klingt!“ Sophie lachte, halb entrüstet, halb belustigt. „Nichts, wir waren nur Kaffeetrinken, aber er hat mich am Wochenende zu sich eingeladen. Er schmeißt eine kleine Party und wollte unbedingt, dass ich auch komme! Ist das nicht total toll? Du musst unbedingt mitkommen!“ Sie setzte zu einem langatmigen Vortrag darüber an, wie toll diese Party werden würde und wie gut Matthieu doch aussehe, sodass meine Gedanken irgendwann abzuschweifen begannen. Zum einen freute ich mich wahnsinnig für meine beste Freundin, die ansonsten mit ihrem Hang zu totalen Idioten nie großes Glück gehabt hatte, dass dieser Matthieu so nett zu sein schien, andererseits erinnerte es mich auch daran, dass ich es sowohl mit Derec als auch mit Luc verbockt haben zu schien. Ich seufzte und nahm mir vor, mir von den beiden mein Wochenende nicht versauen zu lassen, selbst wenn sie mich beim Turnier wie Luft behandeln würden. Jungs waren schließlich nicht alles, was im Leben wichtig war. Mehr oder weniger.
„Komm, Marie, etwas mehr Schwung, mach sie wach.“
Es war erst zehn Uhr morgens, doch die Sonne brannte bereits vom Himmel, als wäre es Nachmittag. Ich schwitzte in meinem dunkelblauen Jackett und hätte mich jetzt schon am liebsten in den Schatten gelegt und eine Runde geschlafen. Doch Chloe war unerbittlich.
Der Abreitplatz war so überfüllt, dass man kaum eine halbe Bahnlänge galoppieren konnte, bevor man wieder anhalten und jemanden vorbeilassen musste. An die Übungssprünge war überhaupt kein Herankommen. Es gab zwei Dinge, die ich über alles hasste an Turniertagen: Hitze und proppenvolle Abreitplätze. Heute wurde ich mit beidem konfrontiert, was meiner Laune nicht unbedingt zuträglich war.
Ich hielt Ausschau nach den anderen Mitgliedern meines Teams. Romain tat das einzig Richtige und hatte sich mit Dior unter einen Baum gestellt. Luc und Derec gingen irgendwie in dem Meer aus Reiterpaaren unter.
Der Beginn des ersten Umgangs wurde gerade ausgerufen. Sofort leerte sich der Platz merklich, da die Reiter sich am Start bereitstellten. Ich hatte somit endlich freie Bahn auf die Testsprünge und steuerte den ersten Steilsprung an. Belle merkte sofort, was Sache war, sie spitzte die Ohren und beäugte wachsam den Sprung. Mit ihren weichen, fliessenden Bewegung nahm sie ihn perfekt, und ich bog gleich nach links auf ein Kreuz an, das sie mit einer solchen Leichtigkeit übersprang, dass man das Gefühl bekam, sie würde sich lustig machen über die kindische Aufgabe, die ihr gestellt wurde. Ich parierte zum Schritt durch und klopfte der Stute den Hals. Viel mehr brauchte es bei ihr nicht, also stellte ich mich an den Rand des Reitplatzes, von wo man eine perfekte Sicht auf den Parcours hatte.
Gleich an der mit Bannern geschmückten Holzabsperrung zum Springplatz stand mein Vater in einem hellen Trenchcoat und beobachtete das Treiben der Helfer, die noch letzte Abstände überprüften und Stangen zurecht rückten. Ich spürte, wie mir vor Freude fast die Tränen in die Augen stiegen. Er war tatsächlich da, und er stand ganz vorne. Er war hier, um mich endlich reiten zu sehen.
Der Sprecher holte mich von meinem Gefühlsausbruch wieder auf den Boden zurück, indem er Besucher und Teilnehmer begrüsste, allen ein erfolgreiches Turnier wünschte und die Sponsoren verdankte. Er erläuterte kurz den Parcours für die Zuschauer, wies auf Höhe und Weite der Sprünge und die erlaubte Höchstzeit hin und stellte den Parcoursbauer vor.
„Und nun starten wir bereits in den ersten Umgang, dieser wird eröffnet von einem Reiter aus dem Centre: Raphaël Chevrier, er reitet Primo, einen zehn-jährigen Hannoveraner-Wallach, das Pferd steht im Besitz des Reiters.“
Ich beobachtete Raphaël, wie er seinem Pferd einen unterbauten Oxer zeigte, der ein Problem darstellen könnte. Der Fuchs machte einen nervösen Eindruck, den Kopf weit hochgerissen, man konnte das Weisse in seinen Augen sehen. Die Glocke erklang, und Raphäel wendete Primo ab, galoppierte ihn eine Runde zwischen den Sprüngen, bevor er Anlauf auf den ersten Steilsprung nahm. Schon bei diesem Sprung hatte es den Anschein, als würde der Fuchs davor stehen bleiben, doch Raphaël brachte ihn mit einem Klaps mit der Gerte über das Hindernis.
In einem langen Rechtsbogen ging es jetzt auf den zweiten und dritten Sprung zu, ein Oxer, fünf bis sechs Galoppsprünge dazwischen, dann ein weiterer Steil. Wieder nach rechts über den nächsten Oxer, dann in einer 270°-Wendung nach links auf die Kombination zu. Raphaël nahm den längeren Weg um die Blumentöpfe herum, um wieder etwas Ruhe in sein Pferd zu bekommen. Bisher waren die beiden fehlerfrei geblieben, doch auf die Kombination kamen die beiden viel zu schnell. Der Einsprung klappte, beim Aussprung jedoch wackelte die Stange gefährlich und blieb nur mit viel Glück liegen. Der Wallach keilte ärgerlich aus und wehrte sich gegen die Reiterhand. Szenen, die man viel zu oft zu sehen bekam, von schönem Reiten keine Spur.
Jetzt ging es nach links über einen Steilsprung, dann in einer Linkskurve auf den nächsten Oxer zu, der in violett-weiss gehalten war; Farben, die für die Pferde extrem schwierig zu taxieren war, doch Raphaël brachte Primo auch über dieses Hindernis. Das drittletzte Hindernis war wieder ein Steil, der in einem grossen Rechtsbogen um die Blumentöpfe herum angeritten werden musste. Auch hier gab es keine Probleme, doch das nächste Hindernis war der unterbaute Oxer, den er vorhin seinem Pferd gezeigt hatte. Zuerst machte es den Anschein, als stelle der Sprung keine Schwierigkeit dar, doch plötzlich scheute der Wallach und verweigerte. Raphaël wendete ihn ab, ritt erneut an, das Pferd schüttelte ärgerlich den Kopf und wollte wieder nicht springen, doch der Reiter trieb ihn vorwärts. Primo sprang ab, nahm aber die obersten beiden Stangen mit, da der Schwung fehlte. Auf den letzten Sprung nahm Raphaël jetzt den kürzeren Weg, mit der Verweigerung und dem Abwurf musste er jetzt aufpassen, sich nicht auch noch Zeitfehler einzuhandeln. Beim letzten Hindernis schepperte noch einmal die Stange, blieb aber wieder liegen. Die Zeit behielt er um eine halbe Sekunde. Der Applaus war eher mässig, als Raphaël jetzt durchparierte und seinem Pferd den Hals klopfte.
Auch die nächsten beiden Reiter hatten kein Glück, der erste handelte sich zwei Abwürfe ein, der zweite kassierte ebenfalls eine Verweigerung und zusätzliche Strafpunkte für die Zeitüberschreitung. Darauf folgte die erste Reiterin für Ardenne. Ich erinnerte mich an Lucs Worte, dass Ardenne heute mit sehr jungen, unerfahrenen Pferden an den Start gehen würde. Tatsächlich war die Stute, die das Mädchen – Elena – vorstellte, gerade sieben Jahre alt. Man merkte ihr an, dass das Turniergeschehen ihr noch nicht so geheuer war, sie wirkte spannig, beäugte misstrauisch die Zuschauerreihen und stieg plötzlich ohne Vorwarnung und wirklich ersichtlichen Grund. Elena blieb mit bewundernswerter Gelassenheit sitzen, klopfte der Stute beruhigend den Hals und forderte sie bestimmt zu einem zügigen Trab auf. Die Stute wölbte den Hals und kaute aufgeregt auf dem Gebiss herum.
Elena gehörte wohl – ganz im Gegensatz zu ihrem Pferd – zu den ältesten Teilnehmerinnen im Feld. Ich hatte sie vorher schon mit anderen Pferden gesehen, sie war eine sehr einfühlsame Reiterin mit einer weichen, fairen Hand und viel Geduld. Und die brauchte sie auch. Sie bemühte sich nicht, Druck zu machen oder auf Zeit zu reiten, was wohl viele Reiter versucht hätten, sondern versuchte, ihr Pferd ordentlich in der Versammlung zu behalten und die Sprünge sauber zu reiten, was sich gar nicht so einfach gestaltete. Die Stute hatte zwar Potenzial, was man deutlich sehen konnte, doch sie war nicht bei der Sache, sodass die Reiterin sie mit Ach und Krach über die Hindernisse bringen musste. Trotzdem schafften die beiden es irgendwie, dass keine Stange fiel, und sie blieben sogar innerhalb der erlaubten Zeit.
Ich schaute zum Eingang, wo Luc, der als übernächster Reiter dran war, schon bereit stand. Irgendwie blieb mein Blick an ihm hängen. Ich spielte gedankenverloren mit einer Strähne von Belles Mähne, die sich aus den Turnierzöpfen gelöst hatte, während ich seine vertrauten Züge musterte und darüber nachdachte, wie viel sich in meiner Beziehung zu ihm geändert hatte. Ich musste mir eingestehen, dass ich selber nicht mehr so ganz wusste, wie ich zu der ganzen Situation stand, seit Derec aufgetaucht war. Aber eines war ich mir sicher, ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass der unsinnige Streit mit Luc ein Ende hatte. Selbst wenn ich nicht wusste, ob ich nach wie vor Gefühle für ihn hatte, es war doch schön gewesen, zumindest mit ihm befreundet zu sein.
Mir fiel erst auf, wie lange ich ihn angestarrt hatte, als er jetzt nochmal prüfend an den Verschluss seines Helmes fasste; eine Geste, die ich gut von ihm kannte, bevor er seine Zügel zum Einreiten sortierte. Ich räusperte mich unwillkürlich und biss mir nervös auf die Unterlippe. Ein Ticken mit einer Gerte an meinem Knie riss mich aus der Konzentration. Als ich aufsah, erkannte ich Derec, der mich verlegen anlächelte. „Na, geht’s dir gut?“
Ich lächelte zurück. „Die Spannung steigt, aber wir sind topfit, was, Belle?“
„Gut. Wir müssen heute wohl auch alle eine super Leistung bringen, ich hab vorhin die Leute von Picardie beobachtet, das wird hart.“
„Mach mich nicht nervös“, versuchte ich lahm einen scherzhaften Tonfall, doch es wirkte, Derec verzog das Gesicht zu einem Grinsen.
„Da, Luc, ist dran!“ Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen im Parcours zu. Wäre Luc für ein gegnerisches Team angetreten, hätte mich sein überzeugtes Auftreten masslos verunsichert. Bei ihm als Routinier sah alles immer so spielend leicht aus. Und auch Everest strahlte heute nichts als Ruhe und Sicherheit aus. Es war nicht weiter verwunderlich, dass der Hengst über den Sprüngen fast einzuschlafen schien, er vermittelte den Anschien, als langweile er sich schon über diesen Parcours.
„Die beiden sind einfach brilliant!“, entfuhr es mir begeistert. Von Derec kam ein zustimmendes Brummen. Sieh an.
Selbstverständlich blieb Luc ohne Fehler. Direkt nach ihm kam der Reiter aus Picardie, Fabrice, der eine ähnlich fantastische Leistung zeigte. Da wurde einfach in einer anderen Liga gespielt.
Wie erwartet blieben Ardenne und Picardie weiterhin ohne Fehler, auch Romains Runde gelang makellos, da Dior überraschenderweise für die kurze Zeit des Durchgangs aus seinem phlegmatischen Zustand erwachte. Bei allen anderen Teams währenddessen häuften sich jedoch die Fehler. Der Vormittag zog sich hin wie ein ekelhaft klebriger Kaugummi, bis wir auch nur schon in die Nähe des dritten Umgangs kamen, war es Mittag. Ich hatte Belle in der Zwischenzeit wieder abgesattelt, damit sie sich vor dem Auftritt nochmal etwas ausruhen konnte.
Als die Mittagspause anbrach, lagen wir mit Picardie und Ardenne gemeinsam vorne, alle drei Mannschaften ohne Fehler. Das Team aus dem Centre auf dem vierten Platz hatte bereits achtzehn Strafpunkte auf dem Konto, was ziemlich klar machte, dass die Podestplätze wie erwartet unter den drei favorisierten Teams ausgemacht werden würden. Nur war dort noch jede Kombination möglich.
Ardenne startete jedoch gleich mit zwei Abwürfen in den vorletzten Umgang. Beim ersten Fehler ging ein erstauntes Raunen durchs Publikum, beim zweiten waren ein paar enttäuschte Ausrufe zu hören. War ich während der Mittagspause noch relativ entspannt gewesen, stellte sich jetzt wieder ein Flattern in der Magengegend ein, als auch bei Ardenne die ersten Stangen fielen.
Und sie waren nicht die einzigen Favoriten mit Pech in dieser Runde. Als Derec einritt, ballte ich meine Hände so fest zu Fäusten, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handflächen bohrten, doch ich konnte nicht locker lassen.
Die beiden begannen ihre Runde hervorragend, ohne nennenswerte Vorkommnisse kamen sie durch den Parcours. Bis vor den zweitletzten Sprung, es war eine kleine Unstimmigkeit zwischen Reiter und Pferd, doch es reichte aus, dass Drageur mit einem Hinterhuf die Stange leicht touchierte. Eine gefühlte Ewigkeit schien sie in Slow Motion in der Halterung hin und her zu schaukeln, bevor sie dann doch fiel, als Derec schon fast über dem letzten Hindernis war. Erst sein enttäuschtes Kopfschütteln, als er zum Schritt durchparierte, machte den Fehler so richtig bewusst.
„Damit hat jetzt niemand gerechnet“, kommentierte Romain neben mir trocken.
„Nein, nicht wirklich“, murmelte ich.
Picardies nächster Reiter blieb als einziger in dieser Runde fehlerfrei. Was bedeutete, dass ich im letzten Umgang nach Möglichkeit keinen Patzer leisten durfte, damit wir noch Chancen auf einen zweiten Platz vor Ardenne hatten. Ich schluckte leer, als mir klar wurde, was das jetzt für mich hiess.
„Hey, mach dir jetzt keinen Druck!“ Als hätte er meine Gedanken gelesen, trat ausgerechnet Luc neben mich. Ich verschluckte mich fast.
„Es ist bloss ein Turnier.“ Er zuckte die Schultern.
Ja, es ist bloss mein erstes Turnier für mein Team, dachte ich sarkastisch, doch ich sprach den Gedanken nicht laut aus. Derec kam zu uns, er war abgestiegen und führte Drageur am Zügel neben sich her. „Sorry, Marie, ich hatte auf eine bessere Vorlage gehofft.“
Und tat Luc etwas, was mich noch mehr erstaunte, als dass er wieder ein Wort mit mir gewechselt hatte: er klopfte Derec auf die Schulter. Ich hatte so ziemlich alles erwartet, doch das war nicht dabei gewesen. Von Romain kam irgendein komisches Geräusch zwischen einem ungläubigen Lachen und einem Hustenanfall. Ich ertappte mich selber dabei, wie ich die beiden nur mit offenem Mund anstarrte. Ich erwachte erst aus meiner Trance, als Derec seinen Arm um meine Schultern legte. „Tja, jetzt liegt es an dir. Aber Chloe hätte dich nicht als letzte Reiterin da raus geschickt, wenn sie nicht wüsste, dass du es zu zweihundert Prozent im Griff hast. Mach’s so wie im Training, und der zweite Rang ist uns auf jeden Fall sicher.“
„Hm.“ Irgendwie überzeugte mich Derecs zuversichtlicher Tonfall überhaupt nicht, zumal zusätzlich noch mein ganzes Weltbild Kopf stand.
Um mich zu beruhigen, zupfte ich mein ganzes Outfit noch einmal zurecht, bevor ich Belles Zaumzeug, Steigbügel und Sattelgurt kontrollierte und dann aufsass, um sie vor unserem Umgang nochmal etwas zu lockern. Die anderen Ritte zogen an mir vorüber, ohne dass ich gross etwas mitbekam, was vielleicht auch besser so war. Und dann war mein grosser Moment gekommen. Obwohl ich mich in diesem Augenblick nicht so gross fühlte.
Ich atmete tief ein und wieder aus, grüsste und ritt an. Als Belle völlig ruhig und konzentriert auf meine Hilfen auf das erste Hindernis zugaloppierte, wich plötzlich jegliche Nervosität.
Der erste Steilsprung fühlte sich an wie ein Bilderbuchsprung, was mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Im Rechtsbogen bemühte ich mich, etwas Zeit gutzumachen und Belle optimal auf die beiden nächsten Hindernisse vorzubereiten. Oxer, Steilsprung. Ich kürzte ab auf die Kombination zu. Wir kamen leicht schräg, was mir einen Moment übel werden liess, doch die Distanz passte perfekt für Belle. Es ging weiter nach links über einen weiteren Steilsprung auf den violett-weissen Oxer zu, der mir etwas Bedenken bereitete. Belle zögerte kurz, suchte meine Unterstützung beim Taxieren. Ich schickte ein Stossgebet gegen den Himmel, dass ich mich nicht verschätzt hatte, doch auch hier ging es perfekt auf. Wieder ein Steilsprung, den Belle dieses Mal fast ohne mein Zutun überwand. Noch zwei Hindernisse. Der überbaute Oxer sah von hier bedrohlicher aus als aus dem Zuschauerraum. Doch auch hier hatten wir keine Probleme. Der letzte Sprung lag vor mir, ich zählte die Galoppsprünge, als ich ihn anritt. Belle sprang ab.
„Und das war eine wahre Bilderbuchrunde von Marie Beauchamp und Bellamie in der besten Zeit, die wir heute gesehen haben!“, hörte ich die Stimme des Sprechers, bevor der Rest seiner Ansage im Applaus unterging.
„Marie, das war ein Traum!“, schrie mir Chloe schon von Weitem entgegen. „Ich wusste doch, dass es die richtige Entscheidung war, dich als Letzte starten zu lassen!“
Durch die Menge bahnte sich eine Gestalt in einem hellen Trenchcoat, die sich als mein Vater entpuppte. „Ca était magnifique, ma filette“, lobte er, mindestens so begeistert wie Choe. Ich sprang von Belle, so schnell ich konnte und fiel ihm in die Arme. Ich wusste nicht, was mich glücklicher machte, meine Leistung oder dass mein Vater sie gesehen hatte.
„Marie, der letzte Reiter von Picardie ist schon drin, die anderen sind da vorne, geh, ich kümmer mich um Belle“, bot Chloe an.
„Sicher?“
Chloe machte eine wegscheuchende Handbewegung. Ich rannte zu den anderen und zog im Laufen die Reitkappe aus. „Hab ich was verpasst?“
Statt einer Antwort zog Derec mich in die Arme. „Ganz tolle Leistung, Marie!“
„Ja, damit hast du Derecs Patzer mindestens wett gemacht“, pflichtete Romain bei. Ich räusperte mich. „Übertreibt mal nicht, Romain, dein Ritt war also auch klasse.“
„Zu viel der Ehre“, scherzte er. „Zut, wir haben schon die ersten zwei Hindernisse verpasst. Keine Fehler bis jetzt?“
„Leider nein.“ Luc warf einen Blick zur Anzeigetafel. „Wenn er einen Abwurf hat, sind wir wieder gleich, das heisst, es würde ein Stechen geben.“
„Bleiben wir realistisch, wie hoch ist die Chance, dass das passiert? Die setzen ja alle ihre besten Reiter zum Schluss ein, wir waren die einzigen, die wahnsinnig genug waren, es anders zu machen“, kommentierte ich. Derec sah mich an. Sein Arm lag jetzt locker um meine Hüfte, was irgendwie ein schönes Gefühl war. „Na, sag das nicht, es hat sich doch ausgezahlt, oder?“
Urplötzlich schrien Luc und Romain gleichzeitig auf und brachen dann in Jubel aus.
Verwirrt blickte ich von einem zum anderen. „Was? Was war?“
„Ihr verpasst wieder den besten Teil!“, schalt uns Luc. „Da, Fehler am überbauten Oxer.“
„Waaaas?“
„Jetzt heisst es Daumen drücken, ich hätte null Bock auf ein Stechen.“
Und als hätte der Himmel Derecs Wunsch erhört, fiel die nächste Stange gleich auch noch. Was am letzten Hindernis geschah, bekam niemand mehr so recht mit, das Ende des Rittes ging unter in den gemischten Enttäuschungs- und Jubelrufen. Chloe kam zu uns gestürmt. „Hab ich richtig gehört? Dann haben wir gewonnen? Ich glaub’s nicht!“ Sie umarmte einen nach dem anderen. „Los, Leute, ab mit euch, ihr kommt mir nur beritten zur Siegerehrung!“
Luc und Romain beeilten sich, zu ihren Pferden zu kommen, um wieder aufzusatteln, nur bei Belle und Drageur hatte sich das Absatteln nach der Prüfung gar nicht erst gelohnt, weshalb wir es etwas gemütlicher nehmen konnten. Auf dem Rückweg zum Hänger bekamen wir bereits erste Glückwünsche zugerufen.
„Dafür, dass dieses Turnier rein freundschaftlich sein soll, kommt aber schon fast Meisterschafts-Stimmung auf“, bemerkte ich amüsiert. Im Moment hatte ich dieses unglaubliche Höhenflug-Gefühl wie noch nie nach einem Sieg. Derec lachte. „Hat auch nie jemand etwas Anderes behauptet.“
Die beiden Jungs hatten ihre Pferde in der Zwischenzeit schon wieder gesattelt. Ich beeilte mich, Belle loszubinden, und zu viert machten wir uns in ziemlich ausgelassener Stimmung wieder auf den Weg zum Parcours, gerade rechtzeitig, um zur Rangverkündigung gebeten zu werden. In der Zuschauermenge entdeckte ich ganz vorne meinen Vater, der immer noch ein stolzes Dauer-Lächeln im Gesicht hatte. Ich lächelte zurück und musste einen Moment lang gegen die Tränen ankämpfen.
„Alors, alle Teams bitte da drüben an der langen Seite aufreihen. Die Preise werden dann hier vorne überreicht. Alles klar?“ Die junge Frau, die den Job der Ehrendame übernommen hatte, lächelte in die Runde und begann, uns wie gewünscht an der Bande zu platzieren.
Der Sprecher begann, von hinten die Platzierungen vorzulesen. Es dauerte eine Weile, bis er schliesslich bei den Podestplätzen angekommen war. Schlussendlich lag Picardie zusammen mit Ardenne mit einem klaren Vorsprung auf dem zweiten Rang. Und…
„Wir gratulieren ganz herzlich unseren Gewinnern, den Titelverteidigern aus Cotes-du-Nord: Luc Durands, Romain Dupont, Derec Nemours und Marielle Beauchamp. Herzlichen Glückwunsch!“
Als der Sprecher das verkündet, beugte sich Derec, der so dicht neben mir stand, dass sich fast unsere Knie berührten, plötzlich zu mir herüber. Seine Hand griff sanft in meinen Nacken und zog mich noch etwas näher. „Herzlichen Glückwunsch“, flüsterte er dicht an meinem Mund, und dann waren seine Lippen auf meinen. Warm, mit dem Geschmack der Pfefferminz-Traubenzucker, die Chloe den ganzen Tag verteilt hatte. Einen Moment lang verschwamm alles, ich blendete sogar den begeisterten Beifall der Menge aus, als Derec mich küsste.
„Ihr habt WAS?“, brüllte Sophie beinahe in den Hörer. „Und ich erfahre erst jetzt davon?“
„Uns geküsst. Bist du schwerhörig? Und es ist erst ein paar Stunden her.“ Ich lachte ausgelassen.
„Ein paar Stunden? EIN PAAR STUNDEN?“, empörte sie sich. „Zur Strafe will ich jetzt alles detailiert wissen. En détail, hörst du?“
„Glaubst, ich würde dir die vorenthalten?“ Ich schmiss mich auf mein Bett und schloss kurz die Augen. Ich hatte fast das Gefühl, Derecs Kuss noch immer auf meinen Lippen zu spüren. „Es war total schön. Ich glaube, einen perfekteren ersten Kuss hätte ich mir nicht wünschen können.“
„Auch nicht, wenn er von Luc gewesen wäre?“ Ihre Stimme nahm diesen hinterfragenden Tonfall an. Ich dachte einen Augenblick über die Frage nach. „Ich weiss nicht. Vielleicht? Vielleicht nicht? Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch in Luc verliebt bin. Aber vielleicht ist doch die Tatsache, dass ich es so schön fand, als Derec mich geküsst hat, ein Hinweis darauf, dass es eben nicht mehr so ist.“
„Das muss man erlebt haben“, murmelte Sophie gespielt schockiert ins Telefon.
„Themawechsel: Matthieus Party morgen Abend! Aufgeregt?“
„Oh Gott, Marie, du hast keine Ahnung! Du musst morgen unbedingt früher kommen und mich bei meinem Outfit beraten, ich bin verzweifelt!“
Ihre Worte brachten mich dazu, aufzustehen und einen Blick in meinen eigenen Kleiderschrank zu werfen. „Was ist denn mit dem grünen Kleid, was du dir neulich gekauft hast? Das würde Matthieu umhauen!“
„Meinst du?“
„Auf jeden Fall. Und sonst kannst du immer noch Jeans und das rosa Glitzertop von der letzten Party anziehen, das war auch süss.“ Ich zog ein hellgrünes Volant-Top hervor und hielt es prüfend vor mich hin. „Ich bin ja mal gespannt auf deinen Matthieu“, neckte ich sie.
Meine Mutter hatte es sich in den Kopf gesetzt, aus der Hochzeit ihrer ältesten Tochter ein gesellschaftliches Ereignis der Extraklasse zu machen. Schließlich heiratete sie mit Kellan eine örtliche Berühmtheit und alle wichtigen und bekannten Familien der Umgebung sollten eingeladen werden.
Auch heute saß sie schon wieder mit Claire in unserem Wintergarten und war über Pläne und Ausdrucke gebeugt.
„Salut, Marie“, begrüßte mich Claire, die Hochzeitsplanerin, die von den beiden Familien engagiert worden war, freundlich. Die blonde junge Frau war auch heute in ein elegantes violettes Kostüm gekleidet, dazu trug sie eine schlichte weisse Bluse. Sie winkte mich auf den einzigen noch freien Platz. Ich setzte mich, ohne mir die Mühe zu machen, vorher nach oben zu gehen und mich umzuziehen, und betrachtete das riesige Blatt Papier genauer. Es stellte sich als Sitzordnung heraus, auf dem meine Mutter und Claire kleine Namenskärtchen vor und zurückschoben.
„Also, die Durands setzen wir auf jeden Fall an einen Tisch mit den Ledoux’. Schließlich sind die beiden Familien ja seit Jahren befreundet, und der junge Luc scheint ja in der Ledoux-Tochter seine große Liebe gefunden zu haben“, entschied Claire und lächelte auf eine Art, die man schon fast als verzückt hätte bezeichnen können. Ich hatte Mühe, den Tee, den ich gerade eben aus einer der goldrandigen Tassen getrunken hatte, nicht in hohem Bogen auszuspucken. Camillle war doch nie im Leben seine große Liebe! Aber eigentlich brauchte es mich jetzt ja auch nicht mehr zu interessieren, schließlich war Derec jetzt da, Derec, der von Camille, soviel ich wusste, nichts hielt, mich dagegen mit Komplimenten überhäufte.
„Aber die Ledoux sind doch mit den Guerlaines verwandt, die wiederum unbedingt neben den Pennecs sitzen wollen!“ Meine Mutter sah leicht verzweifelt aus. Der Grund war eindeutig, denn sogar ich wusste, dass die Durands und die Pennecs verfeindet waren und man sie schlecht an einen Tisch sitzen lassen konnte.
Wieder wurden die Karten hin und her geschoben.
„Was soll das?“ Ich hatte drei Kärtchen mit der Aufschrift „Nemours“ entdeckt und sah meine Mutter fragend an. „Ich hatte nicht vor, Derecs Eltern einzuladen, nur er sollte mich doch begleiten.“
Sie sah mich lange an, dann nahm sie seufzend zwei der Karten und warf sie achtlos in den Mülleimer zu ihren Füßen.
Ich drehte den Laptop, der vor meiner Mutter stand, zu mir und betrachtete die lange Gästeliste. Während ich sie langsam herunterscrollte, kam unser Hausmädchen herein. Sie balancierte ein großes silbernes Tablett beladen mit frischem, dampfendem Tee und Plätzchen und stellte es vorsichtig ab. Mit einem „Merci!“ griff ich sofort nach einem Keks und heftete meine Augen wieder auf den Bildschirm. Meine Laune verschlechterte sich jedoch, als ich die Namen von zahlreichen Familien las, die ich entweder gar nicht kannte oder am liebsten nicht kennen wollte. Camilles gesamter Freundeskreis samt Eltern schien zu Maelles Hochzeit eingeladen worden zu sein, und ich konnte mir schon vorstellen, was das geben würde.
Letztendlich waren alle so plaziert, dass es keine Toten geben würde, und ich hatte es geschafft, meine Mutter davon abzubringen, mich an den gleichen Tisch mit den Ledoux oder den Pennecs zu setzen.
„Hey, Süße!“ Ich begrüßte Caliente, die auf der Weide nahe der Landstraße, die das Gehöft mit der Hauptstraße verband, stand. Kaum dass sie meine Stimme gehört hatte, kam sie auch schon mit aufmerksam aufgerichteten Ohren zu mir. Ich stellte mein Rad an den Zaun und streichelte ihren Hals. Sie schnaubte zufrieden und machte einen Schwanenhals, um zu prüfen, ob sich in meiner Jackentasche vielleicht doch ein Leckerli befand.
„Entschuldige, heute gehst du leider leer aus!“ Ich musste lachen und gab ihr einen kleinen Klaps. „Jetzt tob dich erst mal aus und genieß das Wetter! Ich komme dich nachher holen.“
Während Caliente ein paar Meter weiter wieder anfing, zu grasen, hörte ich hinter mit eine leicht näselnde Stimme.
„Marielle, du weißt schon, dass es unsinnig ist, mit Pferden zu reden als seien sie Menschen. Das ist einfach nur lächerlich.“ Camille war aus dem Auto, das gerade in der Einfahrt angehalten hatte, ausgestiegen. Sie winkte dem Fahrer zu und obwohl zwischen hier und der Hofeinfahrt noch gut zweihundert Meter lagen, hatte sie anscheinend vor, das Stück zu laufen. Quel revirement! Aber selbst ihr Kommentar trübte meine Laune nicht, denn schließlich würde ich endlich einmal wieder auf’s Pferd kommen. Die Hochzeitsvorbereitungen hatten jeden früheren Zeitpunkt unmöglich gemacht. Gestern Abend allerdings hatte Juliet angerufen und mir mitgeteilt, dass in einem Gymnastikspringkurs für Fortgeschrittene eine Reiterin ausfallen würde und ich mit Bellamie mitreiten könne, wenn ich wolle. So musste ich auch keine Angst haben, Luc zu begegnen, da ich nach wie vor nicht wusste, ob er jetzt generell wieder mit mir redete oder ob das auf dem Turnier ein Ausrutscher gewesen war.
Ich nahm mein Fahrrad wieder und schwang mich noch einmal auf den Sattel. Da erst bemerkte ich, dass Camille anscheinend immer noch eine Reaktion von mir erwartete. Sie stand in einer teuren Bluse zu heller Reithose und braunen Lederstiefeln ein paar Meter weiter.
„Gehst du auch reiten?“ Ich wusste selbst, wie lahm meine Frage klang. Camille würde nie freiwillig in ein ihrer Meinung unpassendes Outfit schlüpfen, wenn sie nicht müsste.
„Ja, Luc gibt mir eine Extrastunde“, entgegnete sie knapp, aber mit einem gewissen Stolz in der Stimme.
„Na dann, viel Spaß.“ Ich trat in die Pedale und fuhr los. Der Hof war schon in Sichtweite und zu meiner Erleichterung erkannte ich lediglich Juliets altes Auto. Ich war mir sicher gewesen, Luc heute nicht zu treffen. Immerhin war er noch nicht da, sodass ich unbehelligt Bellamie für das Training fertig machen konnte.
Ich stellte mein Rad ab und betrat den Privatstall. Belle wieherte mir zu und scharrte ungeduldig im Stroh, als ich ihre Box betrat und sie begrüßte.
„Na, wie geht es uns heute?“ Juliet kam die Stallgasse entlang, in der Hand hielt sie die Liste für die nächsten Reitstunden und Pferdezuteilungen.
„Gut soweit, und vor allen Dingen bin ich froh, endlich mal wieder reiten zu können.“
Juliet lachte und deutete auf Bellamie. „Luc hat sie die letzten Tage geritten.“ Sie warf einen Blick auf ihre Liste, als hätte sie vergessen, was sie damit vorhatte. „Gut, dann sehen wir uns in einer Viertelstunde in der Halle.“ Damit verschwand Juliet auch wieder.
Ich nahm den Strick, der an der Außenseite von Bellamies Box hing, und hackte ihn in ihr Halfter ein. Ich musste mich jedoch erst einmal ganz schön gegen ihr Gewicht stemmen, denn sie konnte es wirklich gar nicht erwarten, raus zu kommen. Ich entschied mich, sie bei dem herrlichen Wetter draußen anzubinden und zu putzen.
Unter den kreisenden Bewegungen des Striegels entspannte sie sich sichtlich. Und ich musste zugeben, ich merkte, wie auch meine Anspannung der letzten Tage langsam schwand. Es war zuweilen recht nervtötend gewesen, sich immer neuerliche Diskussionen über die Sitzordnung oder die Tischdekoration, die Wahl der Orgelstücke für die Kirche und den Blumengestecken für die Bänke anhören zu müssen. Und Claire hatte leider die leidige Angewohnheit, alle Familienmitglieder in die Planung einbeziehen zu müssen, was bedeutete, dass sie zu allem und jedem auch meine Meinung hören wollte.
Da Bellamies Fell recht sauber war, fuhr ich noch einmal sorgfältig mit der Kardätsche in Wuchsrichtung über ihr Fell und kratze ihr die Hufe aus. Ein längeres Putzen war erst nach der Stunde angesagt.
Nachdem ich sie gesattelt und getrenst hatte, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Ich hatte noch gut zehn Minuten, bis die Stunde anfing, also noch genug Zeit, um sie im Schritt aufzuwärmen und zu lockern.
„Tür frei?“ Ich hätte die mir diese Frage genauso gut schenken können, denn die Halle war noch leer. Ich führte Bellamie in die Mitte der Halle. Nachdem ich noch einmal nachgegurtet hatte, saß ich auf. Ich nahm die Zügel auf und lenkte sie auf den ersten Hufschlag. Sie ging fleißig vorwärts, und ich liess sie gewähren, bis sie sich etwas gelockert hat und ich von ihr etwas mehr Versammlung fordern konnte.
Nach ein paar Bahnen, Volten und Schlangenlinien kamen auch die anderen drei Reiterinnen in die Halle. Sie alle kannte ich lediglich vom Sehen. Doch eine der drei, oder besser gesagt, ihr Pferd erweckte sofort meine Aufmerksamkeit.
Der Apfelschimmel ging unruhig, schlug mit dem Kopf und nahm ihre Hand nicht an. Als sie an mir vorbeiritt, legte er drohend die Ohren an. Doch seine Reiterin reagierte sofort und wendete ihn ab.
Keine fünf Minuten später betrat Juliet die Halle. „Na, seid ihr alle aufgewärmt? Dann bilden wir eine Abteilung, Marie an die Tête, danach Caroline, Fabienne und zum Schluss Laura!“ Die Mädchen reihten sich der Aufzählung nach hinter mir ein, Laura, das Mädchen mit dem Schimmel, ritt zuhinterst.
Wir begannen mit ein paar einfachen Übungen, bis Juliet begann, einige kleine Hindernisse und Cavalettis aufzubauen. Im Grunde waren das Kindereien für Bellamie, doch auch ihr würde etwas Stangenarbeit mal wieder gut tun.
Juliet rief uns nacheinander erst einmal auf den Zirkel bei A und liess uns dann angaloppieren. Zuerst waren lediglich zwei Cavalettis zu überwinden, und Bellamie übersprang sie jeweils mit einem größeren Galoppsprung ohne Schwierigkeiten. Im Gegenteil, ich hatte sogar den Eindruck, sie würde sich langweilen, sodass ich sie mit ein paar Volten und Wechseln durch den Zirkel beschäftigte.
Laura dagegen hatte sichtliche Mühe, ihren Wallach unter Kontrolle zu bekommen, der in einen starren, viel zu schnellen Trab verfallen war und immer wieder versuchte, ihr mit einem Kopfschütteln die Zügel aus der Hand zu reißen.
„Setz dich tiefer in den Sattel, Laura! Die innere Hand bleibt stehen, mit der äusseren Paraden geben. Mach ihn weich.“ Juliet beobachtete, wie der Wallach die Hilfen seiner Reiterin stur ignorierte. Laura parierte ihn wieder durch und sah schon leicht verzweifelt aus.
„Das ist schon länger so“, klagte sie, „er galoppiert nie richtig an, auch wenn meine Hilfen korrekt sind!“
Juliet nickte. „Das kann daran liegen, dass du ihn nicht gut genug aufgewärmt und gymnastiziert hast. Er ist total steif. Achte das nächste Mal darauf, dass du ihn lange genug im Schritt in einfachen Hufschlagfiguren und Bahnen geritten hast. Reite viel Handwechsel und arbeite mit Biegung und Stellung.“ Damit entließ sie Laura und drehte sich zu uns um. „Okay, meine Damen, dann würde ich sagen, dass wir heute noch etwas Schenkelweichen üben. Ich weiss, dies hier ist ein Springkurs, aber etwas Dressur tut euren Pferden auch gut.“
Es folgte Gemurmel, und Juliet sah sich veranlasst, noch einmal weit über den Sinn und die korrekte Ausführung auszuholen. Ich hörte ihr nur mit einem Ohr zu, da ich das alles schon kannte, und begann an der langen Seite.
Während mein rechter Schenkel verwahrend knapp eine Handbreit hinter dem Sattelgurt lag, trieb ich mit dem Linken vorwärts-seitwärts. Trotz der stetigen Verbindung zum Pferdemaul wirkte auch der rechte Zügel nur verwahrend, während ich mit dem linke nachgiebig einwirkte, um Bellamie in die gewünschte Stellung zu bekommen. Eine Strähne hatte sich aus meinem Zopf unter dem Helm gelöst und ich strich sie ungeduldig wieder zurück, um meine ganze Konzentration wieder auf die Übung zu lenken. Mein Gewicht verlagerte ich dabei leicht nach links und Bellamie reagierte wie gewünscht und trat nach rechts in einem fünfundvierzig Gradwinkel vorwärts auf den zweiten Hufschlag zu. Die Übung klappte so leicht, so lehrbuchmässig mit Belle. Ich lächelte und klopfte ihr den Hals, nachdem ich sie vor der kurzen Seite wieder gerade gestellt hatte.
„Und wenn ihr einmal auf Bellamies Beine achtet, seht ihr, dass das rechte Beinpaar seitwärts tritt, das linke dagegen vorwärts. Genau so sollte das aussehen, wenn ihr alles richtig gemacht habt, weiter so, Marielle!“ Juliet lächelte mir zu.
Nach Beendigung der Stunde ließ ich der Stute die Zügel lang. Obwohl ich mich eigentlich auf ein paar Sprünge mehr gefreut hatte, war ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Natürlich besaß Bellamie nicht unbedingt die Grazie eines hochklassigen Dressurpferdes aber, im Gegensatz zu manch anderen Pferden machte ihr die leichte Dressurarbeit Spaß.
Auch Lauras Wallach hatten die Lockerungsübungen gut getan, er schritt nun viel gelöster und durchlässiger. Ich lächelte ihr zu und sah, dass er nun viel besser auf ihre Hilfen reagierte, als sie ihn durchparierte und sich zu einer Mitreiterin gesellte.
„Gut, wir sehen uns dann nächste Woche um die gleiche Zeit. Wenn das Wetter gut ist, treffen wir uns auf dem Aussenplatz.“ Damit waren wir entlassen. Ich sprang ab und schnallte die Steigbügel hoch, bevor ich die Zügel vom Hals nahm und Bellamie zum Auskratzen neben das Tor stellte. Ich wollte gerade die Halle verlassen, als von draussen eine mir sehr wohl bekannte Stimme „Tür frei!“ näselte, und ohne eine Antwort abzuwarten auch schon Camille mit einem von Juliets Schulpferden, einer hübschen Fuchsstute, herein marschiert kam. Ich seufzte. „Camille, man wartet ab, bis jemand von innen die Tür frei gibt“, belehrte ich sie, obwohl ich wusste, dass es ohnehin vergebens war. Sie schenkte mir wie erwartet nur einen herablassenden Blick. „Du weisst anscheinend gar nichts. Es hat ja niemand geantwortet.“
Ich schnaubte verächtlich. „Du musst den Leuten auch mehr als eine Millisekunde Zeit geben.“
„Marielle, besorg dir eine Uhr“, meinte sie mit einem mitleidigen Lächeln. „Wenn Luc recht hat und du genauso schlecht reitest, wie du zählen kannst…“
Ich ignorierte ihren pseudo-komischen Kommentar, viel eher interessierte mich, was Luc zu Camille über mich gesagt hatte. Erst, als Camilles Blick von gespielt mitleidig zu höhnisch wechselte, wurde mir klar, dass ich das eben laut ausgesprochen haben musste.
Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mich so weit zu beherrschen, um Camilles Antwort noch zu hören, sondern führte Bellamie einfach an ihr vorbei aus der Halle. So, wie ich Camille kannte, hätte sie ohnehin nicht viel preisgegeben, aus dem einfachen Grund, mich zu ärgern.
Draussen stolperte ich beinahe in Luc, der gerade zu Camille in die Halle wollte. Ich stammelte eine kurze Entschuldigung, wich seinem Blick aus und ging so schnell, wie es mit Belle im Schlepptau möglich war, zum Stall hinüber. Plötzlich brannten Tränen in meinen Augen, und ich hatte einen Kloss im Hals. Es konnte mir ja eigentlich egal sein, was Luc oder gar Camille über mich sagten. Und trotzdem…
Ich blinzelte die Tränen fort, während ich mich mit dem Sattelgurt abmühte. Meine Finger zitterten, sodass ich mehrmals abrutschte, bevor ich die Schnalle endlich aufbrachte, und an der zweiten blieb ich hängen und riss mir der Länge nach eine blutige Schramme in die Hand. Ich bemerkte es erst, als das Blut auf den Sattelgurt tropfte. Ich betrachtete einen Augenblick meine Hand, dann schüttelte ich den Kopf und wollte weiter machen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte.
Im ersten Moment dachte ich, es wäre Luc, doch dann hörte ich Clement, wie er mir ruhig, aber bestimmt befahl, mich erst mal um meine Hand zu kümmern. Ich wollte mit einem „Das ist doch nicht nötig“ abwehren, doch es blieb mir im Hals stecken. Ich stand einen Moment lang da, bis ich bemerkte, wie belämmert ich aussehen musste. Clement hatte die Stute mit einigen knappen, sicheren Handgriffen abgesattelt und ihr die Trense abgenommen, ohne, dass ich fähig gewesen wäre, mich zu rühren. Ich stand einfach nur da und dachte darüber nach, was mit mir los war. Völlig ruhig und zutiefst verwirrt zugleich.
Clement gab der Stute mit einem Klaps zu verstehen, dass sie sich ihrem Heu zuwenden durfte, dann hängte er das Sattelzeug achtlos über die Boxentür, bevor er mich aus dem Stall hinüber zur Reiterstube schob, wo er mich auf einen Stuhl drückte und im Schrank nach dem Verbandszeug kramte. All das bekam ich wie durch einen Berg von Watte am Rande meines Bewusstseins mit. Bis ein Brennen in meiner Hand mich wieder in die Realität zurückholte, als Clement den Riss vorsichtig mit Desinfektionsmittel abtupfte und ein übertrieben grosses Pflaster darüber klebte.
Während er alles wieder verstaute, fragte er plötzlich ganz sachlich: „Kann ich irgendwas tun?“ Kein „Wie geht es dir?“, kein „Was ist mit dir los?“, kein Kommentar, kein mitleidiger Blick, was mich dazu gebracht hätte, wieder in Tränen auszubrechen in dem Versuch, in Worte zu fassen, was gerade los war. Doch es war diese eine Frage, die dafür sorgte, dass ich mich gleich besser fühlte. „Danke, es geht schon.“ Als ich es sagte, meinte ich es so.
Er nickte nur knapp und fragte nicht weiter, sondern hielt mir nur wortlos die Tür auf. Ich ging voraus nach draussen. Mir war die Lust vergangen, noch Caliente oder Aviateur zu bewegen, und Mäuschen spielen bei Camilles Reitstunde war das Letzte, was ich im Moment wollte, auch wenn ich zu gern gesehen hätte, wie sie sich blamierte. Ich beschloss, nach Hause zu fahren. Ich wollte mich mit Schokolade in mein Bett legen und Soph anrufen, und dann den ganzen Abend mit ihr über Camille lästern. Der Gedanke daran stimmte mich gleich fröhlicher. Ich verabschiedete mich von Clement, schnappte mir mein Fahrrad und machte mich auf den Heimweg.
Unterwegs dachte ich über den Nachmittag nach. Alles war wunderbar gewesen, bis Camille aufgetaucht war und ich Luc in die Arme gelaufen war. Wieso schafften es die beiden, mich derart aus der Fassung zu bringen? Camilles Kommentare trafen mich schon lange nicht mehr, und Luc konnte mir ja im Grunde egal sein, ich konnte auch allein trainieren, und ich hatte jetzt Derec. Aber schuldig fühlte ich mich ihm gegenüber trotzdem noch.
„Ach, Marie, da bist du ja!“ Meine Mutter winkte mich zu sich, kaum dass ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, bevor sie sich sofort wieder dem Telefon zuwandte. Als ich näher trat, bedeckte sie die Sprechmuschel mit der Hand und flüsterte mir zu: „Maelle ist in der anderen Leitung und will etwas mit dir besprechen, ich habe noch mit der Arbeit zu tun.“ Wie üblich.
Ich ging ins Wohnzimmer, wo auf dem Tisch das Funktelefon lag und meldete mich. Maelle empfing mich sofort mit einem Wortschwall, als wäre sie in der Wüste verschollen gewesen und hätte Monate nicht mehr mit mir geredet, sodass ich sie erst mal bremsen musste.
"Langsam, Maelle, ich bin gerade erst nach Hause gekommen." Den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, zog ich meine Reitstiefel von den Füssen und ging in die Küche, um mir nach etwas Essbarem zu suchen, während Maelle mir von den Gestecken und ihrem Brautstrauss vorschwärmte, die sie ausgesucht hatte. Ich fand im Kühlschrank noch eine Schale mit Apfelcrème vom Nachtisch gestern, die ich mit in mein Zimmer nahm. Hin und wieder murmelte ich ein abwesendes "Klingt gut!" in den Hörer, um Maelle glauben zu machen, ich höre ihr immer noch zu, bis sie fragte: "Sag mal, hörst du mir überhaupt noch zu?"
"Ja, natürlich", versicherte ich ihr rasch.
"Also, was hältst du davon?", hakte sie nach.
"Wovon?"
Maelle seufzte genervt. "Aber du hörst mir zu, natürlich. Was ist heute los mit dir?"
"Sorry, Maelle, ich hatte einen schlechten Tag", brummte ich und kramte nach meiner Jogging-Hose. Ich konnte es kaum erwarten, aus der verschwitzten Reithose zu kommen.
"Alors", begann Maelle erneut, "Kellan hat ja seinen Junggesellenabschied. Und ich dachte mir, dass es doch schade wäre, wenn wir Mädels nicht auch was machen."
Ich wurde sofort hellhörig. "Eine Brautparty?" Meine Stimme überschlug sich vor Begeisterung. Maelle lachte. "Ja."
„Das planst du doch nicht erst seit heute, warum hast du mich nicht angerufen?“, fragte ich ungeduldig.
„Ach, ich weiss doch, wie furchtbar beschäftigt du bist, ausserdem wollte ich erst alles mit Madeleine klar machen…“
„Maelle!“, lachte ich mit gespielter Empörung.
„Also, willst du jetzt meinen Plan hören?“, unterbrach mich Maelle und fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten: „Ich dachte mir, dass wir vielleicht einen der kleineren Säle einrichten könnten, es hätte sogar einen passenden Raum, ich möchte es im kleinen Rahmen halten, nur meine engsten Freundinnen. Madeleine hat bereits mit dem Catering-Service gesprochen. Die Gäste wohnen ja ohnehin ab Freitag auf Chateau du Fleury, wir brauchen bloss noch einen entsprechenden Dresscode mitzuteilen.“
Ich konnte das Grinsen in ihrer Stimme sogar durch den Telefonhörer erahnen.
Maelle und Kellan hatten beschlossen, dass sie die Hochzeit nicht bei sich zu Hause haben wollten, zumal die Penthouse-Wohnung in der Pariser Innenstadt, die sie nach der Hochzeit beziehen wollten, noch nicht ganz fertig war, und keiner der beiden in ihrem Elternhaus feiern wollte, zumal es da noch Probleme mit der Unterbringung der fast dreihundert geladenen Gäste gegeben hätte. So hatten Kellans Eltern kurzerhand die Hochzeit im Chateau du Fleury, welches Geschäftspartnern von ihnen gehörte und an der Küste in der Normandie lag, organisiert. Wir würden schon am Donnerstag anreisen, weshalb ich für zwei Tage von der Schule befreit war, die Gäste würden im Verlaufe des folgenden Tages eintreffen und bis zur Feier am Sonntag im Chateau übernachten.
„Und wie lautet der Dresscode?“
„Je ne sais pas encore. Möglichst ausgeflippt?“
Ich stellte mir Maelle mit pinkfarbenen Strapsen im neon-grünen Minikleid vor mit verrückten Zöpfen und lachte laut auf bei der Vorstellung.
„Aber um auf ein anderes Thema zu kommen: Maman hat da etwas erwähnt…“, begann Maelle mit unverhohlener Neugier. Ich konnte mir schon denken, worauf die anspielte: Derec.
„Ach, hat sie?“, fragte ich unschuldig.
„Tu doch nicht so!“, quietsche Maelle. „Erzähl schon! Da muss ja einiges im Busch sein, wenn er dich überreden konnte, mit ihm golfen zu gehen.“
„Du kennst mich zu gut.“ Ich schmiss mich auf mein Bett und dachte über mein Date mit Derec nach. „Na ja, er hat mich halt angerufen und mich gefragt, ob wir uns vor der Hochzeit mal noch treffen können. Und dann hat er halt gefragt, ob ich mit ihm und seinen Eltern zum Golfen wolle. Wieso auch nicht?“
„Und du hast wirklich schon seine Eltern kennen gelernt? Wie sind sie so?“
„Sie sind… speziell.“
„Inwiefern?“
„Na ja, sein Vater ist überhaupt nicht so, wie man sich einen golfspielenden, kalt berechnenden Gross-Unternehmer vorstellen würde. Er ist eher der gemütliche Typ, den man sicher besser in einem grossen Ohrensessel hinter einer Zeitung vorstellen kann. Seine Mutter dagegen… Ich mag sie irgendwie nicht. Sie ist genau der Typ der besseren Gesellschaft, den ich nicht leiden kann, wenn du verstehst.“
„Ich kann es mir vorstellen. Nach wem kommt Derec eher, was meinst du?“, fragte Maelle neugierig.
„Ich weiss nicht, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Vom Aussehen her ganz klar nach seiner Mutter. Sie ist wirklich hübsch, das muss man ihr lassen. Charakterlich… Ich weiss wirklich nicht. Ich war die meiste Zeit mit Derec alleine unterwegs, hatte also kaum Gelegenheit, seine Eltern näher kennen zu lernen. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte.“
„Oh là là“, meinte Maelle anzüglich. „Was ist passiert?“
„Noch nicht viel“, gab ich zu, „er hat mir ständig Komplimente gemacht, und einmal stand er hinter mir und hat mich berührt, als er mir gezeigt hat, wie ich schlagen muss, und das war einfach… Wow! Aber das Beste ist ja nach dem Turnier letztes Wochenende passiert, als er mich bei der Siegerehrung geküsst hat.“
„Wahnsinn, dieser Derec kriegt einen Orden! Mein Schwesterchen ist nicht länger ungeküsst.“ Maelle lachte vergnügt. „Wann trefft ihr euch wieder?“
„Och, keine Ahnung, wahrscheinlich beim nächsten Kadertreffen…“, antwortete ich lahm. Ich wusste es eigentlich selber nicht so genau.
„Mensch, Marie, du musst mal die Initiative ergreifen. Ruf ihn an, verabrede dich mit ihm. Das geht schliesslich nicht von alleine“, rief Maelle ungeduldig aus.
„Meinst du?“, hakte ich zögernd nach.
„Unbedingt! Weisst du was, wir machen jetzt Schluss, und du rufst ihn gleich an.“
„Was? Aber Maelle, ich kann doch nicht einfach…“ Ein Tuten in der Leitung zeigte an, dass meine Schwester einfach aufgelegt hatte. Etwas ratlos starrte ich auf den Hörer. Automatisch tippten meine Finger Derecs Nummer ein. Ich kannte sie auswendig, so oft hatte ich sie auf dem Display meines Handys angestarrt.
Ich stütze die Füsse gegen die Wand und liess mich kopfüber halb vom Bett hängen, während ich dem Freizeichen lauschte. Es klingelte und klingelte, doch niemand hob ab. Enttäuscht drückte ich die rote Taste und warf das Telefon missmutig auf’s Bett, jedoch nur, um ihn gleich darauf wieder zu packen und dieses Mal Sophs Nummer zu wählen.
Kaum hob sie ab, begann ich auch schon, meinem Ärger über Luc und Camille, über die Tatsache, dass Derec nicht an’s Telefon ging, und auch über Maelle, die mich dazu gebracht hatte, ihn anzurufen, Luft zu machen. Ich redete und redete, und Sophie sagte kein Wort, sondern hörte einfach nur zu. Bis mir auffiel, dass sie leise zu lachen anfing. Verblüfft hielt ich inne.
„Mach mal langsam, Marie, du solltest dich hören.“
Einen Moment lang wusste ich nicht, ob ich sauer sein oder mitlachen sollte, doch schliesslich siegte das Lachen. Ich konnte einfach nicht anders. Das gelang auch nur Sophie, zu lachen, wenn ich sie sicher eine halbe Stunde lang ohne Punkt und Komma mit meinen Problemchen, in die ich mich so schön herein steigern konnte, zutextete.
Schliesslich meinte Sophie: „Jetzt wieder besser?“ Ich war mir sicher, dass sie sich in diesem Moment die Lachtränen aus den Augen wischte.
„Viel besser!“, bestätigte ich. „Ach, das hat gut getan.“
„Siehste! Ach ja, jetzt, da du dich wieder beruhigt hast, kann ich dich ja fragen, ob wir jetzt übermorgen in den Film wollen, dann würde ich nämlich noch Plätze reservieren, der soll immer total besetzt sein…“
„Stimmt. Klar, wieso nicht? Wenn ich ja endlich mal Zeit habe… Übrigens, was ich dir noch erzählen wollte, Maelle will vor der Hochzeit eine Brautparty veranstalten, sie hat sicher nichts dagegen, wenn du auch dabei bist.“
„Und das erwähnst du so beiläufig?“, fragte Sophie und klang mindestens so aufgeregt wie ich es vorhin gewesen war. „Da müssen wir uns aber irgendwas Originelles einfallen lassen, etwas für Maelle richtig Peinliches“, meinte sie begeistert.
„Na, ob dir ihre Rache dann auch so gefällt… Aber irgendwas machen müssen wir fast, egal, was sie hinterher mit uns anstellt.“
„Wozu gibt es Mathe-Stunden? Die eignen sich hervorragend, um über solche Dinge nachzudenken.“ Sophie kicherte übermütig.
Sie hatte es tatsächlich ernst gemeint, denn schon am nächsten Morgen in der Schule drückte sie mir einen Haufen Kopien in die Hände.
„Das habe ich aus dem Internet, alles Vorschläge für eine Brautparty und was eben dazugehört. Außerdem sitzt vor dir die leibhaftige Serien-Queen und es gibt fast in jeder Serie mindestens eine Brautparty.“ Sie grinste mich an und folgte mir gut gelaunt zu den Sporthallen. Während wir uns fertig machten, erzählte sie mir von allen möglichen Serien, in denen sie solche Parties bereits gesehen hatte.
„Okay, Soph, halt mal kurz an, sonst bist du außer Atem, ehe der Sport überhaupt angefangen hat!“ Ich lachte und schnappte mir einen Basketball. Während wir ein wenig dribbelten und auf die Körber warfen, um uns aufzuwärmen, bearbeitete sie mich jedoch weiter.
„Damit das klar ist, ich will keine Party, die für meine Schwester zum Albtraum wird, sie soll keine ewig schlimmen Sachen machen müssen, und wir laden auch keine, naja, du weißt schon welche Sorte von Leuten, ein!“
Sophie riss mit gespieltem Entsetzen die Augen auf. „Was denkst du von mir?!“
Unserer Lehrerin bedeutete uns, zu ihr zu kommen, und begann, den Verlauf der heutigen Stunde zu erläutern. Wir verteilten uns anschließend auf die Körbe und sollten einen Korbleger machen und dabei die Schrittfolge beachten.
„Wir könnten ihr doch Aufgaben stellen, die sie lösen muss.“ Sophie machte zwei Schritte, nahm den Ball auf und machte noch einen, ehe sie einen perfekten Wurf vollführte, ins rechte obere Eck des schwarzen Rechteckes zielte und der Ball von dort aus abprallte und im Korb landete. Sie fing ihn geschickt und fuhr fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
„Du weißt schon, irgendwelche ungewöhnlichen Dinge, die sie als Ehefrau von Kellan nicht mehr so einfach machen kann!“
Ich dribbelte, nahm auf, warf und traf daneben. „Also doch etwas Peinliches?“
„Etwas peinlich sollte es schon sein, aber nicht so, dass es sie ihr Leben lang verfolgen wird. Nur eben Dinge, zu der sie als Frau aus einer gehobenen Gesellschaft nicht mehr kommt.“
Die Schlange bewegte sich, während die anderen drei an unserem Korb nacheinander warfen. Dann kam wieder Soph dran.
„Was hältst du…“ Der Ball landete wieder mit einem leisen Rascheln des Netzes im Korb, „…davon?“
„Mhm.“ Ich tat es ihr gleich und fing meinen Ball wieder, ohne, dass er den Boden berührte. „Von mir aus, wenn dir etwas Konkreteres einfällt!“
„Könnt ihr eure privaten Gespräche bitte in der Pause vorführen, Mesdames?“ Unsere Sportlehrerin schritt mit einer steilen Falte auf der Stirn auf uns zu.
„Später, Soph.“
Nach Sport hatten wir Mathe, wo wir uns in eine der hintersten Ecken zwängten und ich anfing, die Ausdrucke zu studieren, während der Rest der Klasse die Hausaufgaben verglich. Das meiste fand ich entweder zu kindisch oder nicht lustig, nur hin und wieder gefiel mir eine Idee, die ich sofort ankreuzte. Sophie schnaubte, als sie sah, dass ich hinter die Nägel bunt und voller verschiedener Farben bemalen ein Kreuzchen gesetzt hatte, denn in ihren Augen kam so etwas Banales gar nicht in Frage. Sie hatte ja auch keine pinken Fußnägel.
Nebenbei landeten außerdem andauernd Zettelchen von meiner besten Freundin auf dem Tisch, die der Lehrer zum Glück nicht bemerkte.
So hatten wir all unsere Ideen zu Schulende schon beisammen und waren sogar schon dazu übergegangen, eine kleine Rede zu schreiben. Bis auf einen kleinen Zwischenfall in Chemie, wo wir beinahe unsere Reagenzgläser gesprengt hatten und in wildes Lachen ausgebrochen waren, war es keinem Lehrer aufgefallen. Ich verdrängte alle Gedanken an den Stoff, den ich heute eindeutig verpasst hatte, und umarmte Sophie, als wir uns ab Schultor verabschiedeten kurz.
„Das wird richtig prima! Wir sehen uns dann am Donnerstagmorgen bei mir, meine Schwester holt uns ab und dann geht’s in Richtung Chateau du Fleury.“
Am Donnerstagmorgen half Maelle mir, meinen Koffer in ihr Auto zu verladen. Wir hatten uns so herzlich begrüßt, als wäre unser letztes Treffen Jahre her und bevor wir ins Auto steigen konnten, mussten wir uns allerlei Ratschläge unserer Eltern anhören. Sie würden erst samstags nachkommen, um abends mit Kellans Eltern auszugehen, während für alle anderen die Junggesellen- und Junggesellinnenabschiede anstanden.
Was genau Kellans Freunde sich ausgedacht hatten, wusste ich nicht, er hatte mir jedoch versichert, dass wir ihnen nicht begegnen würden, was mir ganz Recht war, denn soweit ich wusste, war auch Luc mit von der Partie.
„So wie ich die Kindsköpfe kenne, spielen sie irgendwo in einer verrauchten Kneipe den ganzen Abend Poker“, meinte Maelle und ein zärtliches Lächeln umspielte ihren Mund.
„Du klingst schon wie eine alte Ehefrau, Schwesterherz.“ Für diese Bemerkung erntete ich einen leichten Stoss in die Rippen.
„Wo bleibt denn Sophie?“
„Ich weiß nicht, sie wollte eigentlich pünktlich da sein.“
„Naja, umso besser, dann kann sich mein Rücken erholen, nachdem ich deinen Koffer allein tragen durfte. Was hast du denn alles eingepackt?“ Sie rieb sich mit gespielt schmerzverzehrter Miene den Rücken.
„Nicht so viel, eigentlich. Der Großteil ist auch gar nicht von mir, den hat Maman mir eingepackt.“
Maelle schnaubte, sagte aber nichts, da es in diesem Moment gegen die Scheibe des Wagens klopfte. Sophie stand mit wirren hellen Haaren und in einem Blumentop und einem dunkles Rock, den sie im altmodischen Stiel über das Top gezogen hatte und der ihr schon knapp an der Taille begann, da.
Ohne viel Federlesen verstaute sie ihre Sachen im Wagen und quetschte sich auf die Rückbank.
Die Fahrt wurde äußerst lustig, ich lehnte mich in dem weichen Sitz zurück und atmete den schweren Geruch des Leders ein, während Maelle eine CD nach der anderen laufen ließ und wir mal lauter, mal leiser mitsangen. Wir hielten einmal kurz an einer Raststätte, um etwas zu essen, da sowohl Maelle als auch ich schon wieder Hunger hatten und versorgten uns bei dieser Gelegenheit mit ein paar Schokoriegeln und Gummibärchen.
Sophie und ich warfen uns hin und wieder verstohlene Blicke zu. Unsere Ideen für die Brautparty standen in der Endplanung und warteten nur darauf, heute Abend noch ihr Finish zu bekommen, wenn wir in Ruhe unsere Zimmer bezogen hatten.
Erst gegen Mittag wurde Maelle plötzlich langsamer, warf ihre langen Haare gekonnt zurück und verkündete: „So, meine Lieben, gleich sind wir da!“
Gespannt wandte ich meinen Blick dem Fenster zu und beobachtete die Landschaft. Gleich musste das Chateau in Sicht kommen!
Tatsächlich tauchte hinter dem letzten grünen Hügel, den wir gerade umrundeten, eine Ansammlung von Gebäuden auf. Hinter ein paar kleinen, zauberhaften Steingebäuden im Vordergrund hob sich das Château mit seinen strahlend weissen Steinmauern deutlich von der grünen Hügellandschaft ab. Ich fühlte mich plötzlich ein paar hundert Jahre zurück versetzt, als Maelle jetzt durch das ausladende, weit offen stehende Gusseisentor die lange Auffahrt entlang auf das Schloss zufuhr. Der Weg mündete in einen breiten, viereckigen Platz, dessen Mitte von einem flachen Wasserbecken eingenommen wurde. Die Wasseroberfläche war fast vollständig mit Seerosen bedeckt, die in voller Blüte standen.
„Bienvenu au Châteu du Fleury“, verkündete Maelle. Ich brachte vor Staunen kein Wort hervor. Nur Sophie auf dem Rücksitz gab ein begeistertes Quietschen von sich. „Maelle, es ist zauberhaft. Deine Hochzeit wird perfekt werden.“
Maelle lachte. „Das hoffe ich.“ Sie stieg aus und streckte sich. Sophie und ich kletterten ebenfalls aus dem Auto. Während wir uns den Hof genauer besahen und staunend an den Mauern hoch blickten, flog die grosse Doppeltür auf. Vier Personen kamen die paar Treppenstufen herunter auf uns zu. Eine davon war Claire, die wie immer in ein makelloses Kostüm in ihrer Lieblingsfarbe Lila gekleidet war. Sie wurde begleitet von einer zweiten, etwas älteren Frau, die ein Klon von Claire hätte sein können, nur hatte sie dunkle Haare und trug rosa. Hinter den beiden folgten zwei livrierte Bedienstete.
„Maelle, ma chère, endlich seid ihr da. Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Fahrt?“ Die Dunkelhaarige eilte auf meine Schwester zu und tauschte Küsschen mit ihr aus.
„Es war ganz in Ordnung. Wir hatten Glück mit dem Wetter“, entgegnete Maelle. „Marie, Sophie, das ist Madeleine, die verantwortliche Verwalterin, die sich hier gütigerweise schon um alle möglichen Dinge gekümmert hat. Sie ist die gute Seele des Schlosses.“
Madeleine machte eine abwehrende Handbewegung und lächelte kokett, was bei einer Frau in ihrem Alter irgendwie lächerlich wirkte. Ich sah zu Soph hinüber, die ähnlich Mühe hatte, ihr Grinsen zu verbergen.
„Zu viel der Ehre! Aber kommt, kommt, Kinder, ich zeige euch jetzt erst mal eure Zimmer; Maelle, wir haben noch so viel zu besprechen nachher.“ Madeleine nickte den beiden Bediensteten zu, die sich sofort an unserem Gepäck zu schaffen machten. Ich lächelte peinlich berührt, als einer der beiden sichtlich Mühe mit meinem schweren Koffer hatte.
Madeleine führte uns in die prächtige Eingangshalle, in der – wie sie uns erläuterte – der Empfangsapéro stattfinden sollte.
„Wir haben alle Familienangehörigen im Ostflügel untergebracht, die Gästezimmer befinden sich auf der anderen Seite. Auf deinen speziellen Wunsch, Maelle, habe ich für euch drei die Suiten im dritten Stock herrichten lassen, damit ihr etwas Raum für euch habt. Deine Eltern und Kellans Familie wohnen auf dem zweiten Stock. Ich hoffe, das geht so in Ordnung?“
„Ganz fantastisch, danke schön, Madeleine."
Texte: Sämtliche Charaktere, Schauplätze und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu realen Geschehnissen sind nicht beabsichtigt.Die folgende Geschichte und ihre Teile sind urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung jeglicher Art ist ohne schriftliche Einverständniserklärung der Autorin ungültig und somit rechtswidrig. Jede Art einer solchen Handlung kann strafrechtlich verfolgt werden. Die Rechte liegen allein bei den Autorinnen.
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2010
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