„Willkommen auf Esperance Manor!“, begrüsste Charlene mich herzlich auf Englisch, kaum dass ich aus dem Taxi, das mich vom Flughafen von Galway hierher gebracht hatte, ausgestiegen war. Lächelnd sah ich mich um. Das war also mein neues Zuhause. Esperance Manor. Gut der Hoffnung. Der Name war schon einmal vielversprechend.
Der Chauffeur hatte inzwischen meine Koffer ausgeladen und wartete geduldig auf seine Bezahlung. Ich wollte schon meine Brieftasche hervorholen, doch Charlene kam mir zuvor.
„Ich mache das schon“, verkündete sie und drückte ihm einen Geldschein in die Hand. Der Taxifahrer bedankte sich und fuhr vom Hof. Charlene wandte sich strahlend zu mir um.
„Du bist sicher müde von der Reise. Möchtest du dich erst einmal etwas ausruhen? Dann zeige ich dir deine Wohnung!“, schlug meine neue Chefin vor.
„Eigentlich möchte ich am liebsten zuerst den Stall sehen“, antwortete ich mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme. Das war es, worauf ich am meisten gespannt war: die Pferde! Esperance Manor war berühmt für seine Springpferde. Und ich hatte das Glück, an diesem wundervollen Ort arbeiten zu dürfen.
Charlene lachte herzlich. „Dachte ich mir schon. Na gut, ich zeig dir jetzt erst einmal, wo du wohnen wirst, in einer halben Stunde hole ich dich dann ab und führ dich rum, in Ordnung?“
Ohne meine Antwort abzuwarten, nahm sie einen meiner Koffer, drehte sich um und ging auf die riesige Villa, die das ganze Anwesen dominiert, zu. Ich nahm den zweiten Koffer und folgte ihr über den Kiesplatz. In der Mitte der in einem Kreis endenden Einfahrt befand sich ein gigantischer Springbrunnen mit steigenden Pferdeskulpturen. Weiter hinten erkannte man einen riesigen Park, aus dem mir weiss gestrichene Stallungen, eine riesige, moderne Reithalle, der beige Boden zweier Aussenplätze und diverse andere kleine Gebäude entgegenleuchteten. Alles war in makellosen Zustand, ganz englisches Herrenhaus, oder sollte ich besser sagen, irisches?
Charlene hatte das Anwesen seinerzeit von ihrem Vater geerbt. Es befand sich schon seit mehreren Jahrhunderten im Besitz ihrer Familie, wie mir mein Dad erzählt hatte. Nur hiess es früher noch nicht Esperance Manor, sondern Esperance County, bis Charlenes Ururgrossvater bei der Queen in Ungnade fiel, und ihm daraufhin sein Titel weggenommen wurde.
Trotz all dem hatte Charlene eine erfrischende, natürliche Art und war überhaupt nicht arrogant, wie die meisten reichen Leute, die ich kannte. Überhaupt mochte ich sie von Anfang an. Sie war eine grosse, schlanke Frau Ende vierzig, mit dunkelbraunem, glattem Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel und bereits von einigen weissen Strähnen durchzogen wurde. Ihr Gesicht war voller kleiner Lachfältchen.
In diesem Moment drehte sie sich zu mir um. „Kommst du?“
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. „Ja… sicher!“
Ich folgte ihr um die Villa herum durch einen Rosengarten. Ein süsser, schwerer Duft hing in der Luft. Total kitschig, dachte ich, wie im Film.
Charlene führte mich zu einer Ansammlung von hübschen kleinen Bungalows, die unter einer Gruppe von riesigen, alten Linden standen. Sie schloss die Tür zum hintersten auf und bedeutete mir, einzutreten.
Ich kam in einen mit hellem Holz verkleideten Vorraum, in dessen linke Wand ein Gardarobenschrank eingelassen war. Der Boden war mit rötlichen Fliesen bedeckt. Eine Glastür mit hellem Rahmen, in den Blumenornamente geschnitzt waren, führte in ein Vorzimmer, von dem man durch einen weiten Bogen ins Wohnzimmer sehen konnte. Alles war sehr modern, doch geschickt mit einem antiken Touch versehen.
Links führte eine Tür in eine kleine, dunkelblau und grau ausgestatte, gemütliche Küche, links befanden sich ein Bad und ein geräumiges Schlafzimmer.
Charlene stellte meinen Koffer im Vorzimmer ab und meinte mit ihrem etwas gewöhnungsbedürftigen, irischen Akzent: „Nun gut, ich lass dich dann mal allein, dann kannst du dich etwas frisch machen und auspacken.“ Ohne ein weiteres Wort, aber mit einem weiteren freundlichen Lächeln verliess sie den Bungalow.
Ich inspizierte das ganz ihn hellblau und creme gehaltene Wohnzimmer und konsultierte dann den Kühlschrank, der mit allerlei Esswaren gefüllt war. Ich bestrich mir ein Brot mit Honig und sah mich kauend in meinem Schlafzimmer um. Auch hier war hellblau die vorherrschende Farbe. Mir gefiel es auf Anhieb hier.
Ich hob den ersten meiner Koffer auf das Bett und durchwühlte alles nach meinen Reitstiefeln. Einräumen konnte ich den ganzen Kram auch später noch.
Eilig schlüpfte ich in meine graue Lieblingsreithose, zog mir ein Poloshirt über und kämmte mir die langen, dunkelbraunen Locken, bevor ich sie zu einem Zopf zusammenband.
Charlene erschien pünktlich wieder vor dem Bungalow, um mich abzuholen. Sie musterte mich von oben bis unten und schenkte mir eines ihrer nicht sonderlich seltenen Lächeln, wie ich schnell merkte. „Dann können wir ja“, meinte sie gut gelaunt und führte mich in Richtung des Stallkomplexes. Wir betraten das Gebäude durch eine Tür, die in ein grosses, braunes Tor an der Längsseite eingelassen war.
Es war der wohl schönste Stall, den ich je gesehen hatte: dem breiten Stallgang entlang zogen sich geräumige, helle Boxen, die mindestens doppelt so gross waren wie die bei uns zu Hause. Halbhohe Holzwände und Gitterstäbe darüber trennten die Pferde voneinander, sodass sie sich zwar sehen und beschnuppern, aber nicht berühren konnten. An jeder Box hing ein kunstvolles Schild mit Goldrand, auf dem Name, Abstammung und Geburtsdatum des jeweiligen Pferdes vermerkt waren.
Andächtig schritt ich in Begleitung von Charlene die Boxen ab und studierte die Ahnentafeln. Bei der Boxe einer kleinen Dunkelfuchs-Stute blieb ich stehen. Das Pferd spitzte sofort die Ohren und beobachtete mich aufmerksam.
„Na du“, murmelte ich und hielt ihr die Hand hin. Vertrauensvoll kam sie näher und beschnupperte mich. Sie hatte einen feinen Kopf und einen eleganten Körper, wirkte dabei jedoch nicht zerbrechlich.
„A Promise of Dignity“, stellte Charlene vor, „der ganze Stolz meiner Zucht. Sie ist seit einem guten Jahr unter dem Sattel, bis jetzt entwickelt sie sich grossartig.“ Sie führte mich weiter durch den Stall, erwähnte hier und da ein Pferd, hob eines besonders hervor oder machte mich auf diesen oder jenen Stammbaum aufmerksam. Schliesslich erreichten wir die Sattelkammer, die in einen gemütlichen Nebenraum mündete. Darin sassen eine junge Frau und ein Mann an dem kleinen Tisch, beide etwas älter als ich, wie es aussah. Ein weiterer Mann, der älter als Charlene schien, lehnte an der Wand.
„Darf ich euch Alice Hofner vorstellen? Unsere neue Bereiterin.“
Die junge Frau stand auf und schloss mich spontan in die Arme. „Willkommen, Alice. Ich bin Emily. Und das sind William und Michael. William und ich sind ebenfalls Bereiter hier, Michael ist der Trainer“, stellte sie vor. Sie hatte lange, rotblonde Haare, eine Menge Sommersprossen und war eher klein und zierlich. Ich konnte sie mir besser hinter einem Bürotisch vorstellen als auf einem Pferd.
Der junge Mann, den sie als William vorgestellt hatte, stand nun ebenfalls auf und reichte mir die Hand. „Gut, dass wir wieder etwas Verstärkung bekommen“, meinte er und grinste. Mir fiel auf, dass er verdammt gut aussah, dunkle Haare, die ihm leicht in die Stirn fielen, und strahlend blaue Augen, in dich ich stundenlang hätte starren können.
„Äh, ja“, antwortete ich verwirrt. Nachdem mich auch Michael begrüsst hatte und mich ein wenig über unser Gestüt zu Hause in Deutschland ausgefragt hatte, meinte Charlene: „Ich nehme an, du kannst es nicht erwarten in den Sattel zu kommen. Morgen früh pünktlich um sechs zur Morgenarbeit. Michael wird dir ein paar Pferde aussuchen, die du für’s Erste betreuen wirst. Du kannst sie selbst vorbereiten, wenn du möchtest, und sonst gib einfach einem der Stallburschen Bescheid.“
Ich grinste. Mir war jetzt schon klar, welche Option ich wählen würde. Das Vorbereiten der Pferde gehörte für mich einfach zum Reiten dazu! Und so sollte es auch sein!
Ich atmete einmal tief durch, als ich an die kühle Morgenluft trat. Aufstehen war nie mein Ding gewesen, und egal, wie schön der Ort doch war, das Aufstehen war immer gleich. Ich ging hinüber zum Stall. Einige Pferdepfleger waren bereits dabei, Boxen auszumisten und Pferde, die nicht im Morgentraining gingen, auf die Koppel hinauszuführen. Ich suchte nach Michael und fand ihn in dem kleinen Nebenraum, wo er sich einen Kaffee gönnte. Er bot mir auch einen an, was ich dankend annahm.
„Nun denn“, meinte er, „ich habe für heute Promise und Casual für dich ausgesucht, mal sehen, wie du mit den beiden zurecht kommst. Promise ist eigentlich angenehm zu reiten, von ihren kleinen Zicken mal abgesehen. Casual wurde in den letzten Monaten nur von William geritten, er braucht eine ziemlich starke Hand. Die beiden sind grundverschieden, weshalb meine Wahl auch auf die beiden fiel.“ Er sah auf die Uhr. „Nimm zuerst Promise, in einer halben Stunde mit aufgewärmtem Pferd in der Halle“, verkündete er und verliess den Raum.
Ich ging ebenfalls in die Sattelkammer zurück, studierte einen Moment die Schilder unter den Sätteln und hob schliesslich den von Promise von der Halterung.
Wie am Vortag wandte die Stute sich mir mit einem freudigen Brummen zu. Ich putzte sie kurz über, sattelte und zäumte sie auf, bevor ich sie aus dem Stall und zur Reithalle führte.
William ritt dort gerade einen grossen Braunen. Er liess ihn locker auf dem Zirkel traben, als ich „Tür frei!“ rief und eintrat. Er grüsste mich kurz, konzentrierte sich dann aber wieder auf sein Pferd. Während ich meine Steigbügel richtete und den Sattelgurt nachzog, beobachtete ich ihn aus dem Augenwinkel. Gerade liess er das Pferd angaloppieren und über den Steilsprung gehen, der in der Halle aufgestellt war. Perfekt ging er in der Bewegung mit, passte sich geschmeidig seinem Pferd an, das mit einer handbreit Platz über die Stange segelte und weich auf dem Hallenboden aufkam. Er klopfte ihm lobend den Hals, dann parierte er zum Schritt durch und liess die Zügel lang.
Ich wandte mich wieder Promise zu und stieg auf. Ich sortierte die Zügel und trieb Promise leicht, sofort fiel die Stute in einen raumgreifenden, geschmeidigen Schritt.
William beobachtete mich eine Weile, während er sein Pferd ausritt, dann verliess er mit einem Nicken in meine Richtung den Stall. Ich liess Promise antraben. Sie gehorchte anstandslos. Doch an der nächsten langen Seite machte sie plötzlich einen seitlichen Hüpfer, der so unerwartet kam, dass es mich beinahe auf ihren Hals geschleudert hätte. Ich hörte ein Lachen von der Galerie und sah auf.
Emily sah belustigt zu mir herab. „Man merkt, dass du sie noch nicht kennst. Das macht sie dauernd“, bemerkte sie. Ich nahm die Zügel wieder auf und liess sie erneut antraben. Dieses Mal war ich bereit, als sie wieder versuchte, zur Seite auszubrechen. Als sie merkte, dass ich ihre List durchschaut hatte, versuchte sie es mit einem übermütigen Buckler und galoppierte einige Schritte an.
Ich parierte sie wieder zum Trab durch und ritt sie energisch vorwärts. Ich spürte augenblicklich, wie sie den Widerstand aufgab, auf der Trense zu kauen begann und nachgab. Ihre Ohren spielten aufmerksam, eines war nach vorne gerichtet, das andere behielt sie ständig zu mir gerichtet. Ich liess sie angaloppieren, als Michael die Halle betrat. Eine Weile stand er in der Mitte und sah nur zu, wie ich einige lockere Dressurübungen ritt, dann rief er mich zu sich.
„Sehr schön“, meinte er anerkennend. „Du scheinst ein Händchen für Pferde zu haben.“
Ich freute mich über das Lob und schaute verlegen auf Promise’ Mähne. Michael stellte den Sprung, den William vorhin geritten hatte, tiefer und forderte mich auf, ihn zu reiten. Ich liess Promise schwungvoll angaloppieren und steuerte das Hindernis an. Perfekt setzte die kleine Stute über die rotweissen Stangen.
„Ich würde sagen, das genügt für heute. Wenn du willst, kannst du Promise gerne in Beritt nehmen. Ihr kommt gut klar miteinander. Dann hol jetzt Casual.“
Ich sass ab und führte Promise aus der Halle. Emily wartete schon auf mich.
„Musst du nicht reiten?“, fragte ich. Ich hatte Emily noch nicht auf dem Pferd gesehen.
„Ein Pferd hab ich schon gemacht, die anderen zwei mach ich nachher“, erklärte sie. Sie half mir beim Absatteln und stellte mir danach Casual vor, einen riesigen Grauschimmel-Wallach. Er musterte mich von oben bis unten, bevor er schnaubte und begann, mich nach Leckereien abzusuchen. Ich stiess ihn lachend weg.
„Von mir kriegst du nix“, wies ich ihn zurecht. Emily zeigte mir seinen Sattel und begleitete mich danach zurück zur Halle. Dort gesellte sie sich zu William auf die Tribüne.
Ich merkte gleich, inwiefern Casual anders war als Promise: so leichtrittig sie war, so schwerfällig war der Wallach. Ständig lag er mir auf die Hand oder ging gegen mein Bein. Für jeden Schritt, den ich von ihm wollte, brauchte ich beinahe meine ganze Kraft. Schon nach dem Aufwärmen war ich schweissgebadet, und ich hatte noch nichts Anderes getan als ihn zu lockern.
Emily warf mir einen mitleidigen Blick zu, doch konnte sie sich ein Grinsen nicht verwehren. Ich streckte ihr scherzhaft die Zunge raus.
Diesmal schickte Michael mich gleich über das Hindernis und baute sogleich ein zweites auf. Im Gegensatz zu vorher, wo Casual sich von seiner faulsten Seite gezeigt hatte, drehte er jetzt auf, und ich hatte einige Mühe, ihn zurück zu halten. Mehr als einmal fiel eine Stange zu Boden, weil der Wallach zu schnell und unkontrolliert auf die Hindernisse zupreschte. Als wir schliesslich einen halbsweg anständigen Sprung zu Stande brachten, erklärte Michael das Training für beendet.
Als ich absass, hatte ich das Gefühl, auf einem schwankenden Schiff zu stehen. Meine Beine schmerzten bei jedem Schritt, und ich war mir sicher, dass ich morgen einen gewaltigen Muskelkater haben würde.
Nachdem ich Casual versorgt hatte, setzte ich mich zu William. Emily war inzwischen in den Stall gegangen, um Viscount, eines ihrer Pferde zu satteln.
William grinste breit, als ich mich steifbeinig hinsetzte. „Glaub mir, diese Erfahrung haben wir alle schon einmal gemacht“, meinte er aufmunternd.
Sehr beruhigend, dachte ich. So einen Muskelkater hatte ich schon seit langem nicht mehr gehabt.
„Was war das eigentlich für ein Pferd, das du gestern geritten hast? Ich kann mich gar nicht erinnern, ihn gestern im Stall gesehen zu haben“, wechselte ich das Thema.
„American Gigolo. Er gehört mir, darum steht er im alten Stalltrakt, wo Emilys und meine privaten Pferde stehen.“
„Er ist toll! Wer ist sein Vater?“ Ich hatte ja eigentlich befürchtet, dass es mir schwer fallen würde, mit einem so gutaussehenden und talentierten Typen zu reden, wenn auch nur Smalltalk. Aber zum Glück gab es ja Pferde, über die konnte man immer reden!
„Allassio’s Boy. Er ist nicht sonderlich bekannt, eher in der Military-Szene. Aber seine Mutter, Carolina Dior, stammt von Cabaret ab. Sie steht zurzeit übrigens auch hier im Stall. Ich kann dir nachher auch gerne mal mein anderes Pferd, Troubleshot, zeigen. Ist ein Sohn von Thunder Squall“, erzählte er. Ich nickte begeistert. Dann wurde meine Aufmerksamkeit auf Emily gelenkt, die gerade mit Viscount in die Halle kam. Michael hatte inzwischen einen kleinen Parcours aufgestellt.
Emily ritt ihr Pferd warm und begann dann mit dem Springen. Der junge Wallach hüpfte wie ein Flummi über die Hindernisse, man sah deutlich, wie viel Mühe es Emily machte, ruhig zu sitzen. Doch sie war eine exzellente Reiterin, ihr Sitz war perfekt, jede ihrer Hilfen kaum sichtbar und doch wirksam. Es war zum Komplexe kriegen! Ich wusste, dass ich gut war, doch diese beiden… Aus dem Augenwinkel sah ich zu William und schüttelte dann den Kopf. Die beiden haben auch mehr Erfahrung, redete ich mir ein, was mich zumindest etwas befriedigte.
Nachdem Emily den Parcours zwei Mal fehlerfrei geritten hatte, parierte sie zum Schritt durch und liess die Zügel lang.
Als sie die Halle verliess, stand William auf und ging nach unten in den Stall, ich folgte ihm, um Emily beim Absatteln zu helfen.
Zu Mittag assen wir alle gemeinsam mit Charlene im Haupthaus. Ich fühlte mich etwas unbehaglich in dem riesigen, antiken Speisezimmer, man kam sich ein bisschen wie in diesen kitschigen, alten Filmen vor. Alles war weiss und golden, und mitten im Raum stand ein langer, glänzend brauner Holztisch, der sich schon seit Jahrhunderten im Besitz von Charlenes Familie befand, wie mir Emily erzählte.
An einer Seite sah man durch riesige Fenster, die vom Boden bis unter die Decke reichten, über den Rosengarten auf die Stallungen und die Weiden. Gegenüber befand sich ein Cheminée, auf dessen Sims dutzende von Bildern standen, was dem Raum doch etwas von seiner steifen Atmosphäre nahm. Ich beneidete William und Emily, die sich so locker wie immer gaben, herumscherzten und mit Charlene plauderten.
Nach dem Essen meinte Charlene: „William, warum nimmst du Alice nicht mit, wenn du mit Darley ausreitest? Sie kann ja Daisy nehmen, dann hast gleich etwas weniger Arbeit, und Alice kann sich etwas mit dem Gelände vertraut machen. Wenn du möchtest“, fügte sie an mich gewandt hinzu. Ich nickte.
William stand auf. „Also dann.“
Wir verliessen das Haus, und ich atmete erleichtert auf. William begann zu lachen.
„Was ist so lustig?“, fragte ich verärgert.
„So schlimm?“, fragte er zurück und spielte damit wohl auf das Essen an.
„So könnte man’s auch nennen. Ich hatte ständig Angst, etwas fallen zu lassen oder so“, gestand ich. Er nickte wissend.
Er stiess die Stalltür auf und liess mich vorgehen, ganz der englische Gentleman. Irisch, korrigierte ich mich in Gedanken.
„Das da ist Daisy Danna“, sagte er und deutete auf eine grosse graue Stute, der man den Vollbluteinschlag deutlich ansah. „Sie hat sich vor ein paar Monaten eine Sehnenentzündung geholt und darf jetzt erst etwas Schritt geritten werden.“
Ich hielt ihr die Hand ihn. Sie beschnupperte mich und schnaubte. Ich klopfte ihr den Hals. William verschwand in der Sattelkammer, und während ich mich noch mit Daisy bekannt machte, brachte er mir meinen Sattel. Ich schenkte ihm dafür ein Lächeln.
Kurze Zeit später ritten wir vom Hof. William ritt einen hübschen Fuchs, ein Araber, wie man sofort an dem edlen Kopf erkannte.
„Der einzige hier“, erklärte er.
„Ist er auch verletzt?“, erkundigte ich mich.
„Fesselgelenk verstaucht“, bestätigte William. „Er darf zwar schon wieder traben, aber gestern ging er ein paar Schritte nicht ganz sauber, deshalb lass ich’s nochmals langsam angehen.“ Er lenkte Darley Richtung Park auf einen breiten Kiesweg. Wir ritten daneben im Gras, wo der Boden ebener war.
Der Weg wurde von hohen Birken gesäumt, in denen leise der Wind rauschte. Ich schloss die Augen und genoss die Sonne auf meinem Gesicht und der wiegende Schritt des Pferdes unter mir. Eine Weile ritten wir schweigend, dann fragte William: „Von wo genau kommst du eigentlich? Charlene hat nur gesagt, aus Österreich. Haben deine Eltern ein Gestüt? Oder hast du schon irgendwo gearbeitet?“
„Mein Vater züchtet auch Sportpferde. Da war es naheliegend, dass ich irgendwas mit Pferden mach.“
„Warum bist du nicht da geblieben?“
Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Irgendwie brauchte ich mal einen Tapetenwechsel. Und eigentlich haben wir auch genügend Bereiter für unsere paar Pferde. Ich hätte zwar problemlos da arbeiten können, aber irgendwie hat auch das Umfeld nicht gestimmt, und ich wollte auch mal raus, neue Erfahrungen sammeln und so, verstehst du?“
Er nickte und bog in ein kleines Waldstück ein.
„Wart ihr eigentlich nur zu zweit, Emily und du?“, erkundigte ich mich.
„Nein, bevor du gekommen bist, war da noch James, aber Charlene hat ihm schon vor einer ganzen Weile gekündigt, wegen… sagen wir mal, ein paar unangenehmen Zwischenfällen. Und dann ist da noch Elaine, die ist im Moment im Urlaub.“ Er schwieg einen Moment. „Na ja, du wirst sie noch früh genug kennen lernen.“ Er sagt das mit unheilvollem Tonfall, was mich etwas beunruhigt. Ich fragte jedoch nicht weiter nach, sondern beschloss, stattdessen Emily damit auf die Nerven zu gehen. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir mehr über Elaine und auch über James erzählen würde.
„James? Ach, lass mich raten. William hat getratscht.“ Emily lächelte in meine Richtung, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Anmeldeunterlagen, die sie vor sich liegen hatte. Wir sassen in dem kleinen Nebenraum hinter der Sattelkammer am Tisch und tranken Tee.
Emily setzte schwungvoll eine verschnörkelte Unterschrift auf das Formular und schob es dann beiseite. „Ist schon eine Weile her. Eigentlich redet niemand gerne drüber. Er hat eines unserer Pferde gespritzt. Charlene war ausser sich vor Wut. Sie ist ja eigentlich ein netter, ruhiger Mensch, aber wenn sie mal ausrastet… Jedenfalls beliess sie es bei einer Verwarnung, aber als Michael rausgefunden hat, dass er einem der Pferde für’s Training Nägel in die Bandagen getan hat, hat sie ihm fristlos gekündigt. Und nicht nur das! Mit ihrem Ruf hat sie auch die richtigen Verbindungen, um zu veranlassen, dass James nie wieder auf irgendeinem Hof einen Job bekommt.“ Sie zuckte die Schultern. „Eigentlich war er ja ganz nett. Und ein guter Reiter. Aber so was wird hier einfach nicht toleriert!“
Ich schwieg einen Moment, dann fragte ich arglos: „William hat heute noch eine Elaine erwähnt. Wie ist die so?“
Emilys Augenverdrehen war mir eigentlich schon Antwort genug. „Sie ist die grösste Tussi auf diesem Planeten! Und sie hält sich für das grösste Talent in der Springszene. Glaubt, sie wäre was Besseres. Charlene gegenüber ist unglaublich freundlich, und auch bei William, aber nur, weil sie was von ihm will. Aber sie ist ein Biest!“
Ich seufzte. Solche Zicken gab es leider viel zu viele im Reitsport. Ich war hauptsächlich hierher gekommen, um die Tussen zu Hause los zu sein. Aber scheinbar kam man von denen nie los!
Am nächsten Morgen liess Michael mich neben Casual und Promise noch eine junge Stute namens Crowns Quality reiten. Die junge Braune war ähnlich wie Promise, nur schreckhafter. Bei jedem unerwarteten Geräusch zuckte sie heftig zusammen und wollte durchgehen.
Michael liess mich alleine mit ihr arbeiten und beobachtete nur. Danach übte ich mit Promise einige schwierige Kombinationen, die zu meiner Freude alle problemlos klappten. Zuletzt kam Casual.
Michael ging mit mir nach draussen auf den Springplatz, wo bereits ein kleiner Parcours aufgebaut war. Nachdem ich Casual aufgewärmt hatte, nahm ich den ersten Sprung. Ich brauche alle Kraft, um ihn vorwärts zu reiten. Beinahe wäre er mir vor dem Hindernis stehen geblieben, er sprang beinahe aus dem Stand. Michael liess mich abbrechen und winkte mich zu sich.
„Das war pures Glück. Wäre Casual nicht so erfahren, wärt ihr mitten ins Hindernis rein. Jetzt gib ihm mal ordentlich eins mit der Gerte, wenn du ihn mit den Schenkeln nicht vorwärts kriegst.“
Ich ritt nochmal an. Diesmal war ich vorbereitet und gab ihm einen leichten Klaps. Er sprang ordentlich drüber. Ich steuerte den nächsten Sprung an, in der Erwartung, dass Casual ihn diesmal ohne weitere Probleme nehmen würde.
Falsch gedacht. Kurz vor dem Sprung stemmte er alle vier Beine in den Boden und zog eine Vollbremsung, die jedem Reining-Pferd zur Ehre gereicht hätte. Es schleuderte mich nach vorne auf seinen Hals, wo ich mir die Nase anstiess. Au!
„Was war denn das? Wo war deine Gerte?“, fragte Michael.
„’tschuldigung“, murmelte ich, wendete und liess Casual erneut angaloppieren. Meine Nase war vor jedem Sprung eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich die Gerte nicht vergessen durfte, und als ich den Parcours schliesslich zu Ende geritten hatte, sah Michael mich kritisch an und meinte: „Du solltest kühlen, sieht ziemlich geschwollen an.“
Auch das noch. Mein zweiter Arbeitstag, und ich hatte es bereits geschafft, mir eine geschwollene Nase zu holen. Klasse!
Am nächsten Tag war meine Nase zwar nicht mehr geschwollen, dafür schimmerte sie bläulich. Ich seufzte und schmierte erst mal tonnenweise Abdeckstift drauf. Man sah es auch danach noch, doch es fiel nicht mehr so auf.
Etwas besser gelaunt verliess ich meine Wohnung und ging zum Stall. Emily, die gerade Honeydew aus ihrer Box führte, warf mir einen mitleidigen Blick zu, sagte jedoch nichts.
William, der noch nichts von der ganzen Sache mitgekriegt hatte, fragte erstaunt: „Hast du Bekanntschaft mit einer Faust gemacht?“
„Nein, mit Casuals Hals“, knurrte ich zurück. So viel zu meiner guten Laune!
Zu allem Übel fuhr am frühen Nachmittag ein auffälliger, knallroter Sportwagen auf den Hof. Ich hatte bereits eine düsterte Vorahnung, wer da kam. Als eine junge Frau ausstieg, die wie eine dieser klassischen Zicken aus einem Hollywood-Film aussah, wurde mir sofort klar, wen ich vor mir hatte. Einen Moment lang musterten wir uns abschätzig, und ich war grenzenlos neidisch. Mit den seidigen, langen blonden Haaren, die ihre offen über den Rücken fielen, der gertenschlanken Figur und dem puppenhaften Gesicht war sie eindeutig eine Schönheit.
„Wie siehst du denn aus?“, entfuhr es ihr schliesslich. Ich hätte sie dafür ohrfeigen können.
„Wie bist du denn drauf?“, konterte ich. „Ach, ich habe vergessen, dass im Wortschatz von Leuten wie dir ein ‚Hallo’ nicht vorhanden ist!“ Eins war ja wohl von der ersten Minute an klar: beste Freundinnen würden Elaine und ich wohl nie werden!
„Elaine, meine Liebe“, rief jemand hinter mir. Charlene. „Wie war dein Urlaub? Hast du dich auch erholt?“
„Es war herrlich“, schwärmte Elaine auch sofort.
„Ich freue mich schon darauf, heute Abend beim Essen mehr zu hören. Ach, darf ich dir Alice vorstellen, deine neue Kollegin?“
Elaine wandte sich wieder mir zu, sie lächelte gekünstelt, doch ihre Augen blieben kalt. „Wir hatten schon die… Freude. Nun, ich bin wirklich gespannt auf unsere Zusammenarbeit.“
Charlene nickte erfreut. „Schön, dass ihr euch so gut versteht!“
Ich hätte beinahe lauthals losgeprustet.
Emily schien Elaines Ankunft schon mitbekommen zu haben, mit finsterer Miene striegelte sie Billie Jean, ihre Stute, als ich den alten Stall betrat. Auch William schien nicht besonders gut gelaunt, missmutig stand er mit seinem Sattelzeug in der Stallgasse herum, bis ein Pfleger ihn fragte, ob er sein Pferd satteln solle.
Als Emily mich bemerkte, fragte sie: „Und?“
Mein Gesichtsausdruck schien ihr Antwort genug zu sein, denn sie bemerkte: „Hab ich mir schon gedacht!“
William blickte unschlüssig von mir zu American, dann meinte er: „Würdest du ihn reiten? Ich glaub nicht, dass heute noch was Gescheites dabei heraus kommt, wenn ich mich drauf setz!“
Ich glaubte, mich verhört zu haben. Da war ich so ungeschickt und stiess mir bereits am zweiten Tag beim Reiten die Nase und kam nicht mit einem Pferd wie Casual zurecht, und er wollte mich American reiten lassen!
„G-, gern“, stotterte ich.
Er nickte mit einem Lächeln. „Dann gehen wir auf den Aussenplatz. Hol dein Zeugs, ich führ ihn schon ein bisschen!“ Er führte ihn nach draussen, und ich eilte in die Sattelkammer vom neuen Stalltrakt, um meinen Helm und die Gerte zu holen.
Als ich zum Springplatz kam, stand dort Elaine neben William am Zaun und flirtete hemmungslos mit ihm, was ihn jedoch völlig kalt liess. Er zwinkerte mir zu und lächelte mir dann übertrieben zu. Ich spielte sein Spiel mit.
„Ach, Liam, du bist so ein Schatz!“ Ich trat zu ihm und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, dann trat ich zu American und begann, die Steigbügel zu richten. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Elaine, die mir einen verärgerten Blick zu warf, sich dann aber sogleich wieder an William wandte, um ihn von mir abzulenken. Komisch, dachte ich, ich kenn ihn erst zwei Tage, aber trotzdem fällt mir das alles so leicht! Ich bemerkte, dass ich lächelte.
William wandte sich jetzt endgültig von Elaine ab, die sich nur mühsam beherrschen konnte, nicht wütend mit dem Fuss aufzustampfen und gab mir einige Tipps. Er hielt das Pferd fest, während ich aufsass, dann hantierte er an den Hindernissen, während ich American am langen Zügel ganze Bahn gehen liess.
Nach einer Weile nahm ich die Zügel auf und liess ihn antreiben. Er war viel angenehmer zu reiten als Casual oder sogar Promise und Quality, aber ich spürte sofort seine Unsicherheit, weil nicht die vertraute Person auf seinem Rücken sass. Ich redete ihm gut zu und ritt die Hufschlagfiguren und ein paar einfache Dressurübungen. Sofort spürte ich, wie seine Sicherheit zurückkehrte, und er begann, mich auszutesten, mach hier und da einen kleinen Bocksprung, tat, als würde er ab einem Baum erschrecken, der plötzlich raschelte oder ging mir einfach gegen die Hand.
Ich korrigierte ihn ruhig, aber konsequent, und bald hörte er mit seinen Spielchen auf, wölbte den Hals, trat unter und kaute auf der Trense. Zufrieden klopfte ich seinen Hals.
Ich ritt das erste Hindernis an, das William aufgebaut hatte, ein kleines Kreuz, problemlos nahm es der Wallach. Nachdem ich den Parcours einmal geritten hatte, liess ich American Schritt gehen und ritt zu William hinüber.
„War die richtige Entscheidung, dich reiten zu lassen! Ihr zwei seht grossartig aus zusammen!“ Er lächelte mir zu.
„Ansichtssache! Ausserdem hast du mich noch nie mit ihm gesehen“, mischte sich Elaine an.
„Und das werde ich auch nicht!“
Ich grinste. Das schmeckte der Zuckerpuppe wohl gar nicht, dass ich – die Neue – Williams Spitzenpferd reiten durfte, und sie nicht.
„Hach, er ist ja so ein tolles Pferd“, schwärmte ich und hoffte, Elaine damit noch mehr auf die Palme zu bringen. Himmel, bin ich fies! Aber die Wirkung blieb nicht aus, wutentbrannt drehte Elaine sich um und stürmte davon, ihre Haare wehten hinter ihr her. Ein bühnenreifer Abgang, so viel musste man ihr lassen.
Ich sah William an, und wir begannen wie auf Kommando loszuprusten.
„Köstlich! Ich bin schon gespannt, wie das wohl weitergeht! Nicht mal Emily hat es geschafft, sie so wütend zu machen! Na ja, sie hat’s verdient“, kommentierte William. Er legte mir den Arm um die Schultern, und wir gingen gemeinsam zum Stall zurück.
Ich war mir nicht sicher, ob es eine rein freundschaftliche Geste war, oder ob da mehr war. Ging das andererseits nicht ein bisschen schnell? Ich kannte ihn noch gar nicht richtig, und er mich nicht! Andererseits hatte ich ihn auch geküsst. Es war zwar nur Theater gewesen, aber ich hatte wohl etwas übertrieben. Und wenn er das missverstanden hatte…
Ich beschloss, abzuwarten. Darüber musste und wollte ich mir jetzt keine Gedanken machen.
William bot mir an, American abzusatteln, damit ich meine Pferde fertig machen konnte, was ich dankend annahm. Während er zum alten Stall, der etwas weiter hinten gelegen war, abbog, lief ich zum anderen Stalltrakt, um Promise zu holen. Zu meinem Erstaunen war sie nicht in ihrer Box, und auch ihr Sattelzeug hing nicht an seinem Platz.
„Wo ist Promise?“, fragte ich Tom, einen der Stallburschen, der gerade die Nachbarboxe ausmistete.
„Beim Training, wo sonst“, antwortete er verwundert. In diesem Moment ging mir ein Licht auf. Ich konnte mir schon denken, wer sie genommen hatte.
Ich rannte hinüber zur Reithalle. Elaine liess Promise gerade über einen Sprung gehen. Ich trat ihr in den Weg. Sie hielt die Stute an.
„Was soll das? Spinnst du?“, fuhr sie mich an.
„Komm sofort von dem Pferd runter!“
„Spinnst du?“, wiederholte sie. „Warum sollte ich?“
„Weil ich Promise reite!“, rief ich. Langsam wurde ich wütend. Was bildete sie sich eigentlich ein?
„Tja, das war einmal!“ Sie lächelte fies. „Such dir besser ein anderes Pferd, auf Promise kommst du nicht mehr rauf!“
„Das werden wir ja noch sehen!“
„Was brüllt ihr denn so rum?“ Michael betrat die Tribüne. „Alice, Elaine, was hat das zu bedeuten?“
„Sie kommt hier rein und stört mein Training“, beschwerte sich Elaine.
„Sie reitet mein Pferd!“ Na ja, eigentlich war Promise ja gar nicht mein Pferd, aber ich fand, die Bezeichnung war angebracht.
„Ihr Pferd!“, rief Elaine aus. „Promise ist immer noch bei mir in Beritt!“
„Elaine, du weisst, was wir besprochen haben! Du bist nicht die richtige Reiterin für Promise! Ich habe sie Alice gegeben. Das habe ich dir vorhin schon gesagt“, meinte Michael in ruhigem Ton.
„Aber…“, begann Elaine erneut, doch Michael unterbrach sie: „Kein Aber, Elaine, du kommst von diesem Pferd runter und tust, was ich dir sage, sonst kann auch dein Rumgeschleime bei Charlene deinen Rauswurf nicht mehr verhindern.“ Er blieb immer noch seelenruhig, aber seine Stimme hatte einen drohenden Ton angenommen.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen stieg Elaine ab, liess achtlos die Zügel fallen und marschierte aus der Halle. Michael zwinkerte mir zu, als ich nach Promise’ Zügeln griff.
„Ich hoffe, es macht dir nichts aus, sie versorgen zu müssen! Lass dir Casual satteln, in 15 Minuten auf dem Springplatz!“
Zu meinem Erstaunen machte Casual heute keine Zicken, trotz meiner schlechten Laune. Im Gegenteil, je missmutiger ich war, desto aufgestellter schien er zu sein. Perfekt nahm er jeden noch so kniffligen Sprung, und Michael war mehr als zufrieden mit uns.
„Siehst du, geht doch! Ich wusste, dass ihr euch irgendwann zusammenraufen würdet.“
Als er sich abwandte, nickte ich wichtigtuerisch, mehr für mich selbst. So, wusste er also! Ich grinste selbstzufrieden und verliess mit Casual den Platz, um Quality zu holen.
Am Nachmittag ritten William und ich wieder mit Darley und Daisy aus. Eine Weile schwiegen wir, dann fragte er: „Und, was meinst du jetzt zu Elaine?“
Eigentlich hätte ich am liebsten einer wüsten Schimpftirade Luft gemacht, aber dann musste ich doch überlegen. Was war denn so schlimm an ihr? Sie ist eingebildet, egoistisch, überheblich wichtigtuerisch… Traf eigentlich alles zu. Dennoch hatte ich Zweifel. Ich hatte es schliesslich gewissermassen auch auf einen Streit ankommen lassen.
Aber ihre Art war ja daran schuld gewesen. Ich konnte nicht von mir behaupten, ruhig oder verständnisvoll zu sein. Eher im Gegenteil. Ich brauste schnell mal auf und war null komma nichts eingeschnappt. Auch wenn ich auf Leute, die mich nicht kannten, eher schüchtern wirkte.
„Was denkst du?“, fragte William. Ich erzählte ihm, was mir durch den Kopf ging. Er zuckte nur die Schultern.
„Du kennst sie halt noch nicht besser. Anfangs kam sie bei uns auch so rüber. So… unschuldig!“, war sein einziger Kommentar dazu. Ich nickte und schwieg.
Nach einem kurzen Stopp am Bach, wo wir die Pferde trinken liessen, kam uns plötzlich ein Reiter auf einem eleganten Schimmel entgegen, den ich sofort in meine geistige Schublade mit der Aufschrift „gutaussehend“ steckte. Wobei gutaussehenden noch untertrieben war. Er schien etwa so alt wie William, nur dass er irgendwie sorgloser wirkte. Blonde Haare, grüne, funkelnde Augen. Ich fragte mich, wer er wohl war. William jedenfalls schien ihn zu kennen.
„Hi, Ian. Na, seid ihr aus dem Urlaub zurück?“
„Ja, es war super, tolles Wetter, genial zum Surfen. Und es hatte einen Haufen hübscher Mädels dort!“ Ian zwinkerte William scherzhaft zu. Ich hatte Mühe ihrem Gespräch zu folgen, normalerweise bemühten William und Emily sich, langsam mit mir zu reden, da ich noch Probleme mit dem Akzent und einigen englischen Ausdrücken hatte. Aber die beiden redeten so schnell, dass ich nur mit knapper Not noch verstand, um was es ging.
Ians Blick fiel auf mich. „Na, sieh an, die hübschesten gibt’s immer noch zu Hause. Liam, würdest du uns gnädigerweise bekannt machen?“, fragte er.
„Ian, Alice. Alice, Ian“, erklärte William betont gelangweilt. Ich merkte schon, dass die beiden gerne ihre Spässe miteinander trieben.
Ian setzte ein bezauberndes Lächeln auf und meinte: „Erfreut!“
Ich lächelte zurück und hatte keine Ahnung, was ich antworten könnte. „Ganz meinerseits“ wäre wohl etwas steif gewesen.
William antwortete an meiner Stelle: „Sie ist aus Österreich und seit ein paar Tagen bei uns als neue Bereiterin.“
„Dann werden wir uns ja öfter sehen.“
„Äh… ja.“ Ich verfluchte mich selber dafür, dass ich keine enthusiastischere Antwort zu Stande brachte. Ich wusste nicht, wieso und ob ich übertrieb, aber ich hatte das Gefühl, dass hinter seinen Worten mehr steckte.
Er verabschiedete sich, zwinkerte mir zu und trabte dann den Weg, den er gekommen war, zurück.
Wir wendeten unsere Pferde ebenfalls und ritten in gemütlichem Schritttempo wieder zurück Richtung Esperance Manor.
„Wie findest du Ian?“, fragte William. Er versuchte, desinteressiert zu klingen, doch ich spürte, wie er darauf brannte, meine Antwort zu hören. Ich war mir nicht so recht sicher, was ich davon halten sollte.
„Süss… etwas angeberisch… machohaftes Getue… aber alles in allem nett“, fasste ich zusammen. Williams Miene verriet nicht, was er dachte. Zumindest mir nicht. Einen Moment lang glaubte ich, dass er zufrieden aussah, dann konnte man seinen Gesichtsausdruck wieder eher mit bitter beschreiben.
Wieder einmal war ich unschlüssig, ob ich von William mehr zu erwarten hatte als eine freundschaftliche Beziehung. Und wieder meldete sich eine leise Stimme in meinem Kopf von wegen: Du kennst ihn erst zwei Tage! Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Gut sah er auf jeden Fall aus. Meine Gedanken wanderten weiter zu Ian, wurden dann aber von einem Regentropfen unterbrochen, der kalt und feucht auf meine Hand klatschte.
Ich sah besorgt zum Himmel auf. Das Wetter hatte ziemlich schnell umgeschlagen, wo vorher noch der schönste Sonnenschein gewesen war, zierten jetzt graue Gewitterwolken den Himmel.
„So schnell kann’s gehen“, meinte William nur. „Wenn wir Glück haben, kommen wir noch trocken nach Hause.“
Glück! Da kannte er mich aber schlecht. Ich hatte die Angewohnheit, Pech wie ein sehr starker Magnet anzuziehen. Zwar nicht in jeder Hinsicht, aber doch in vielerlei.
Tatsächlich fielen die Tropfen immer rascher, bis sie gleichmässig auf den trockenen Boden trommelten. Am liebsten hätte ich Daisy im Galopp zurück gejagt, aber ihr Bein verhinderte das. Also nur ein Ausweg: nass werden!
William schien es ähnlich zu gehen, missmutig hielt er Darleys Zügel, der unter ihm tänzelte und bockte, kaum dass der Regen sein Fell berührte.
Innert kürzester Zeit klebten mir Reithose und Shirt am Körper, die Stiefel waren durchweicht, an meinen nackten Armen rann das Wasser hinunter.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich das Gestüt vor uns auftauchte. William zog die Stalltür auf und liess mich mit Daisy vorgehen, dann folgte er mit Darley. Erleichtert lehnte ich mich gegen eine Boxentür. Es war niemand zu sehen, im Stall war es ruhig. Ich lachte leise auf. „Mann, was für ein Wetter!“
„Gewöhn dich lieber dran“, grinste William. Sein Blick wanderte ungeniert über meinen Körper und blieb schliesslich an meinem Busen hängen, der sich unter dem nassen T-Shirt deutlich abzeichnete. Ich spürte, wie ich rot wurde und wandte mich Daisy zu, um sie abzusatteln. Da war also doch mehr! Oder war das einfach typisch Mann?
Ich zuckte zusammen, als ich seine Hand an meiner Hüfte spürte. In diesem Moment ging die Stalltür auf, und William wandte sich ruckartig ab. Man konnte meine Erleichterung und seine Enttäuschung förmlich mit den Händen greifen. Mir war unwohl zu Mute, und ich war froh, als Emily hereinkam und rief: „Gott sei Dank, da seid ihr ja! Ich dachte schon, ihr steckt irgendwo fest! Tut das wüst.“
Ich schaute zum Fenster. Tatsächlich war der Himmel inzwischen fast schwarz, und immer wieder erhellten grelle Blitze die Landschaft.
Ich beeilte mich mit dem Absatteln und verstaute unter Emilys vielsagenden Blicken mein Sattelzeug. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht eher Ruhe geben würde, bis ich irgendeine haarsträubende Geschichte über irgendeine Affäre – die ich nicht mal hatte – auftischte. Das konnte ja heiter werden!
Tatsächlich lud sich Emily danach bei mir auf einen Tee ein. Sie war diese Art von Mensch, der stets über den noch so kleinsten Klatsch informiert sein wollte.
„Also, was läuft da zwischen dir und Liam?“, fragte sie auch sofort, kaum sass sie an dem kleinen Tisch in meiner Küche.
„Nichts“, wehrte ich ab und stellte zwei Tassen mit dampfendem Tee hin.
„Danach sah es auch aus“, spottete sie. Ich seufzte. „Ich glaube, er will mehr, aber da war nichts!“ Noch nicht, fügte ich in Gedanken hinzu.
„Aha!“ Sie schwieg einen Augenblick und rührte in ihrer Tasse. „Könntest du dir denn eine Beziehung mit ihm vorstellen?“
Ich verschluckte mich fast an meinem Tee. „Emily“, protestierte ich hustend, „ich kenn ihn gerade mal zwei Tage!“
„Na und?“, fragte Emily arglos.
„Du hast vielleicht Nerven!“
„Schon mal was von Mr. Right gehört?“, fragte sie weiter und seufzte übertrieben. War William das? Ich war mir nicht so recht sicher. Und ich war mir nicht sicher, ob ich ihr von Ian erzählen sollte. Doch als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, meinte sie auch sofort: „Na ja, dann warte halt, bis du Ian begegnet bist. Der ist vielleicht süss!“
„Bin ich schon“, antwortete ich.
„Und das hast du mir nicht erzählt?“, kreischte Emily los.
„Emily, ich schmeiss dich gleich raus!“, warnte ich sie. „Ich bin seit 10 Minuten wieder da, wann hätte ich dir das denn bitte schön erzählen sollen?“ Ich mochte Emily, ich mochte sie wirklich, und ich hatte das Gefühl, dass wir bestimmt gute Freundinnen werden würden – wenn wir das nicht schon waren -, aber ihre Art ging mir jetzt schon irgendwie auf die Nerven, vor allem, weil ich immer noch nass in meiner Küche hockte.
„Entschuldige“, meinte sie kleinlaut, fragte dann aber sofort weiter: „Und wie findest du ihn?“
War das ein nationaler Brauch, mich ständig zu fragen, wie ich wen fand?
„Emily, wenn’s dir nichts ausmacht, würde ich ganz gern erst mal duschen gehen. Ich hab keine Lust, mir eine Erkältung zu holen!“
Sie wollte protestieren, schloss den Mund dann aber wieder und musterte mich. Schliesslich nickte sie. „Ist vielleicht besser!“
Als ob ich ihre Erlaubnis brauche, um duschen zu gehen. Was soll’s!
Das heisse Wasser war eine Wohltat und half, für eine Weile meine Gedanken ausser Kraft zu setzen. Danach fühlte ich mich wie neugeboren. Ich schlüpfte in meinen kuscheligsten Jogging-Anzug und setzte mich wieder zu Emily. Meine Gedanken schweiften jedoch gleich wieder zu William ab, während ich gedankenverloren in meiner mittlerweile kalten Tasse rührte. Ich wusste nicht so recht, ob ich sauer auf ihn sein sollte, oder ob ich das Ganze vorerst vergessen sollte. Darin hatte ich es bereits zur Meisterschaft gebracht, meine Probleme so lange aufzuschieben, bis sie sich von selbst lösten.
Andererseits hatte ich es so gut mit ihm gehabt, und er musste alles kaputt machen. Ich seufzte. Egal, wo man war, die Probleme waren überall die gleichen. Nur hatten sie andere Namen!
Am nächsten Morgen, als ich zum Training in den Stall kam, besser gelaunt als am Vortag, stand William an Promise’ Boxentür gelehnt und schien auf mich zu warten. Ich erstarrte in der Bewegung. Ich hatte gehofft, die Begegnung mit ihm auf später verschieben zu können.
Frei nach dem Motto, Angriff ist die beste Verteidigung, ging ich an ihm vorbei uns sagte so kalt wie möglich: „Morgen!“
Er griff nach meinem Handgelenk und hielt mich fest. Ich drehte mich um.
„Alice, ich…“, begann er, doch ich unterbrach ihn: „Ich habe wirklich keine Zeit, also würdest du mich bitte loslassen!“ Es klang härter, als ich beabsichtig hatte, doch er augenblicklich löste er seinen Griff. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, lief ich weiter in die Sattelkammer, wo ich mich erst mal gegen die Wand lehnte.
Meine Reaktion schien ihn verletzt zu haben, doch im Moment war mir das ziemlich egal. Was bitte schön sollte ich denn erst sagen? Ich hatte gedacht, dass zwischen mir und William vielleicht wirklich etwas werden könnte. Irgendwann, wenn wir uns besser kannten. Aber so...
Ich atmete einmal tief durch, dann zog ich entschlossen Promise’ Sattel von der Halterung. Ich würde mir von ihm nicht den Tag verderben lassen.
Nachdem ich meine drei Pferde geritten hatte, führte mir Michael einen schicken Rappen in die Halle. Er war wohl eines der schönsten Pferde, das ich je gesehen hatte. Er tänzelte und schnaubte aufgeregt.
„Galant Prince“, erklärte Michael, während er versucht, das Pferd zu beruhigen. „Einer unserer Hengst! Ich dachte, du könntest ihn mal ausprobieren.“
Er trat ein Stück zurück und hielt ihn fest, während ich einen Fuss in den Steigbügel setzte und mich in den Sattel zog. Michael nickte mir zu. Ich legte leicht die Schenkel an, der Hengst fiel sofort in einen schwungvollen, federnden Trab. Ich parierte ihn wieder zum Schritt durch.
Ich merkte schnell, dass Prince unglaublich viel Kraft hatte, was er mir auch deutlich zu verstehen gab. Ich hatte Mühe, ihn zu reiten, musste immer wieder auf alle nur erdenklichen Tricks zurückgreifen, um ihn unter Kontrolle zu behalten.
Doch dann gab er plötzlich nach, wölbte den Hals und begann, auf der Trense zu kauen. Ich wusste nicht, wieso, doch ich war stolz darauf. In perfekter Versammlung, den Nasenrücken eine handbreit vor der Senkrechten, ritt ich ihn verstärkten Trab, Traversalen und zum Schluss sogar verstärkten Galopp. Es war ein herrliches Gefühl, als ob ich mit dem Hengst verschmelzen, eins werden würde, er schien meine Befehle voraus zu ahnen, ich musste kaum noch daran denken, schon führte er sie willig aus.
Mit keinem Pferd hatte ich so eine Bindung gehabt, seit vor ein paar Monaten Dollar Girl, meine Stute, an den Folgen einer Kolik gestorben war. Es war wohl das schönste Gefühl, das ich kannte.
Mit einem leisen Bedauern lenkte ich Prince zu Michael und sass ab. Er sah mehr als zufrieden aus und nickte mir erfreut zu. Ich lächelte glücklich und klopfte ihm den Hals.
Emily schaute mich bedauernd an, als ich sie bat, mir den Ausritt mit Daisy abzunehmen.
„Aber das wäre doch DIE Gelegenheit gewesen, dich mit ihm auszusprechen“, erklärte sie.
„Ich will mich aber nicht mit ihm aussprechen! Noch nicht!“, antwortete ich und verschränkte bockig die Arme. Ja, ich kann manchmal ganz schön stur sein.
Emily seufzte. „Na gut! Aber nur, wenn du dafür Kiss für mich übernimmst!“
Ich jubilierte innerlich. French Kiss war neben Galant Prince und Paegents Pride eines der besten Pferde im Stall. Die drei Hengste waren alle noch sehr jung, kamen aber aus besten Linien und zeigten bereits jetzt viel Talent.
„Bist ein Schatz, Emily, dafür hast du was bei mir gut!“, rief ich und war schon halb im Stall verschwunden, als sie murmelte: „Das merk ich mir!“
Michael hob bloss eine Augenbraue, als ich anstelle von Emily Kiss sattelte, doch er fragte nicht. Ich ritt mit Kiss einige einfach Dressur-Aufgaben und liess ihn dann ein paar einfache Sprünge gehen. Man spürte seine Unsicherheit deutlich, doch er arbeitete willig mit, eifrig darum bemüht, mich zufrieden zu stellen.
Zum Glück waren William und Emily noch nicht wieder da, als ich Kiss zurück zum Stall brachte und ihn versorgte. Danach setzte ich mich mit einem Buch und heissem Tee auf mein Bett und lauschte eine Weile dem Regen, der seit gestern Abend ununterbrochen gegen die Fenster prasselte und den Hof in einen wahren Sumpf verwandelte.
Ich führte Prince auf den Hof, als ein schwarzer, glänzender Porsche auf den Hof fuhr und mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Ich schüttelte leicht den Kopf, bis ich merkte, dass es Ian war. Prince schnaubte nervös und begann wieder, herum zu tanzen. Ich zupfte kurz am Zügel, worauf der Hengst sofort stehen blieb.
Ian schwang sich elegant über die geschlossene Wagentür und nahm die Sonnenbrille – die er trotz des wolkenverhangenen Himmels trug – ab.
„Morgen, Darling! Hast du Liam gesehen?“, begrüsste er mich.
„Nein, hab ich nicht. Und es interessiert mich auch nicht, wo er steckt!“ Diese Typen gingen mir auf den Wecker. Allesamt! Aber warum mussten sie auch noch süss aussehen?
Ian musterte mich verwundert, dann grinste er. „Soso, bist er vier Tage da und hast dich schon mit ihm verkracht? Respekt!“
Ich hätte ihm irgendeine zickige Antwort geben können, aber stattdessen drehte ich mich um und lief zum Reitplatz. Ein bisschen Stolz hatte ich schliesslich auch, und meine Streitigkeiten mit egal wem gingen IHN bestimmt nichts an.
Meine Laune hatte ihren Tiefpunkt erreicht, als ich mich in den Sattel schwang, und als dann auch noch Elaine ins Viereck kam, sank sie sogar tiefer. Ohne mich eines Blickes zu würdigen stieg sie in den Sattel des Fuchswallachs und ritt ihn an. Ihre Haltung war beneidenswert, das musste ich zugeben.
Ich konzentrierte mich wieder auf Prince, wärmte ihn auf und begann dann mit dem Springen. Der Parcours, der aufgebaut war, eignete sich perfekt für den Hengst. Ich spürte, wie viel Spass es ihm bereitete, was sich auf mich übertrug.
Nach einer Weile bemerkte ich Michael, der an der Umzäunung stand und uns beobachtete. Ich ritt zu ihm.
„Was meinst du?“, fragte ich.
„Eine sehr gute Runde! Ich denke, sobald du die Pferde etwas besser kennst, würde ich dich gerne mal in einer Prüfung sehen. In vier Wochen wäre ein geeignetes Turnier. Was hältst du davon?“
Ein aufgeregtes Kribbeln breitete sich in mir aus. „Das wäre fantastisch! Mit welchem Pferd?“ Ich hoffte, dass es Promise oder Galant sein würde.
„Das werde ich mir noch überlegen. Also dann soll ich deine Nennung abschicken?“, fragte er mit Nachdruck. Ich nickte begeistert. Er lächelte, dann wandte er sich wieder Elaine zu, die nun ihrerseits den Parcours ritt.
Auch an diesem Nachmittag tauschte ich wieder Kiss gegen Daisy. Ich hatte es bisher erfolgreich geschafft, William auszuweichen. Nur beim Mittagessen und einmal, als ich in die Halle kam, hatte ich ihn kurz gesehen, doch glücklicherweise hatte sich daraus nie ein Gespräch ergeben.
Nachdem ich Kiss geritten hatte, machte ich mich auf die Suche nach Michael. Ich fand ihn in seinem Büro beim Stall, wo er gerade telefonierte. Als er mich bemerkte, winkte er mich herein und deutete auf einen Sessel, der an seinem Schreibtisch stand.
Während ich wartete, liess ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Er war hell und freundlich, mit einem grossen Fenster, das zum Hof hinaus ging, holzverkleidete Wände, gemütliche Polstersessel, der riesige Schreibtisch und dahinter ein Regal mit dutzenden von Ordnern und diversen Fotos, Pokalen und Auszeichnungen. Das klassische Büro eines Pferdemenschen, dachte ich amüsiert.
„So, was führt dich zu mir?“, unterbrach Michael meine Beobachtungen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er inzwischen aufgelegt hatte.
„Ähm, ja… Wegen dem Turnier“, meinte ich.
„Ah ja, richtig!“ Er kramte in den Unterlagen auf seinem Tisch. „Hier“, er zog eine Broschüre hervor, „da stehen alle Infos drin. Und, wegen dem Pferd, ich habe lange überlegt, aber… Ich weiss, dass du wohl Promise bevorzugen würdest, vielleicht auch Quality oder Galant… Aber die beste Wahl wäre wohl Casual.“
Ich fiel aus allen Wolken. „Casual?“
Er nickte. „Natürlich, ihr zwei seid noch nicht so eingespielt, aber ich denke, mit ein wenig Arbeit könntet ihr ganz gut abschneiden. Immerhin habt ihr ja noch ein paar Wochen Zeit, euch zusammen zu raufen, und ich denke, dir tut eine Herausforderung gut.“
Ich unterdrückte ein Seufzen. Es schien, als ob das sein letztes Wort war, also brauchte ich mich gar nicht weiter zu beschweren.
Ich wollte schon aufstehen und gehen, als Michael rief: „Ach, eins noch, Alice, es nimmt mich wunder, warum du die letzten beiden Tage immer Kiss geritten hast, und Emily stattdessen mit Daisy im Gelände war. War mit der Stute etwas nicht in Ordnung?“
Ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Ich hatte keine Lust, mich mit ihm über mein „Problem“ mit William zu unterhalten. Also sagte ich schlicht: „Ähm, nein, eigentlich nicht. Ich… war nur nicht so ganz auf dem Damm, seit wir letztens in das Gewitter gekommen sind, da… mochte ich einfach nicht ausreiten, und Emily hat mir angeboten, dass sie das stattdessen übernimmt, und ich dafür hier bleiben kann“, schwindelte ich. Na ja, so gelogen war es nicht mal. Ich fühlte mich wirklich schlecht, aber das hatte keine körperliche Ursache. Ausserdem konnte man selbst in diesem Zustand einen gemütlichen Bummelritt ins Gelände machen.
Michael schien das Gleiche zu denken, doch er sagte nichts, nickte nur.
Ich verliess schnellstens das Büro, doch vor der Tür prallte ich mit jemandem zusammen. William.
„’tschuldigung“, murmelte ich und wollte weiter, doch er stellte sich mir in den Weg. Ich sah zu ihm hoch.
„Alice, wir müssen reden!“, beharrte er.
„Worüber?“, fragte ich verärgert und verschränkte die Arme.
„Hör mir zu, eine Minute!“, bat er. Eigentlich war ich nicht gewillt, sie ihm zu gewähren, aber man konnte ja schliesslich nicht so sein.
„Eine Minute“, betonte ich, dann trat ich einen Schritt zurück und bemühte mich, gelangweilt auszusehen.
Ich… ich wollte mich bei dir entschuldigen… Es tut mir wirklich leid, dass ich… Ich kann nicht sagen, wieso… ach, verdammt!“ Er sah zu Boden, und ich musste feststellen, dass er mir eigentlich fast leid tat. Dumme, sentimentale Person, schimpfte ich mich, er hat dir überhaupt nicht leid zu tun! Und doch…
„War’s das?“, fragte ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich seine Entschuldigung annehmen sollte oder nicht. Er nickte. Ich befand mich ganz schön in der Zwickmühle. Eigentlich wäre es mir ganz recht gewesen, ihn noch ein bisschen zappeln zu lassen, aber…
„Na endlich!“ Emily seufzte übertrieben.
„Was heisst denn hier endlich? Ich hab ja bloss zwei Tage nicht mehr mit ihm geredet“, verteidigte ich mich. Emily war auch zu dramatisch. Ich bereute auch gleich, ihr von meiner Versöhnung mit William erzählt zu haben.
„War ja auch lange genug!“, gab Emily zurück. Ich schüttelte bloss den Kopf.
„Was?“ Emily sah mich verwundert an.
„Ach, nichts. Gehen wir ausreiten? Ich muss nur noch kurz mein Handy holen.“ Ich lief hinüber zu den Bungalows und ging in mein Schlafzimmer, wo mein Handy auf dem Nachttisch lag. Als ich es aufklappte, stand auf dem Display sehr zu meiner Verwunderung „4 Anrufe in Abwesenheit“. Es war eine Nummer aus Österreich, doch ich kannte sie nicht.
Ich beschloss, das auf später zu verschieben, steckte das Handy ein und eilte zurück zum Stall.
Emily stand mit ihrem Baymont am Zügel auf dem Vorplatz und plauderte mit Ian, der sich schon wieder hier herum trieb. Ich ignorierte ihn, ich hatte keine Lust auf weitere ironische Kommentare zu meinem Privatleben.
Ich holte Sugar Twin, einen schon etwas älteren Wallach, den Michael mir für den Ausritt zugewiesen hatte, aus seiner Box und sattelte ihn auf. Als ich wieder nach draussen kam, sass Emily bereits auf ihrem Pferd, und Ian stieg gerade auf Troubleshot, Williams zweites Pferd. Ich verdrehte die Augen und zog mich in Twins Sattel. Als ob mir Ian nicht schon gereicht hätte, führte William jetzt American aus dem Stall.
Einen Moment überlegte ich mir ernsthaft, einen Ohnmachtsanfall vorzutäuschen, liess es aber dann doch bleiben. Was soll’s, dachte ich resigniert und gurtete noch einmal nach.
Im Schritt ritten wir vom Hof. Ich bemühte mich, mit Emily über irgendwelche belanglosen Dinge zu quatschen, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, mit Ian oder William reden zu müssen. Eine Weile ging das ganz gut so, bis Ian Emily etwas fragte und die beiden ins Gespräch kamen. Ich ritt eine Weile schweigend neben William. Der verlor kein Wort über heute morgen, sondern fragte mich bloss, ob wir in Österreich auch so schönes Reitgelände hätten.
Ich war erleichtert darüber, wie einfach ich mit ihm über irgendwelche belanglosen Dinge plaudern konnte. Trotzdem war es mir ganz recht, als die Gebäude von Esperance Manor wieder in Sicht kamen.
Wir versorgten die Pferde, und Ian verabschiedete sich. Emily lud William und mich zum Abendessen zu sich ein, was wir dankend annahmen. Ich verliess die beiden aber bald wieder, schliesslich wollte ich mich noch um die Anrufe kümmern.
Ich liess mich auf mein Bett fallen, klappte mein Handy auf und wählte die Nummer. Es dauerte eine Weile, bis jemand abhob.
„Alice, endlich rufst du zurück!“
Mit einem Schlag war ich hellwach. „Alex?“
Die Person am anderen Ende lachte. Es war das vertraute Lachen meiner besten Freundin. Alex. Mit einem Mal bekam ich Heimweh.
„Wer sonst?“
„Was hast du für eine komische Nummer?“, fragte ich, noch immer ganz verblüfft.
„Ich hab mein Handy verloren, deshalb hab ich eine neue und…“ Der Rest des Satzes ging in den Hintergrundgeräuschen unter. Das klang wie eine Ansage am Flughafen, wie das Rattern von Rollkoffern, die von Passagieren eilig zu den Gates gezogen wurden.
„Alex? Wo bist du?“
„Am Flughafen“, erklärte sie. Ich hatte also recht gehabt.
„Was machst du am Flughafen?“
„Ich bin unterwegs nach Irland!“
„Nun, freie Boxen haben wir ja genug! Also, ich habe nichts dagegen.“
Ich hätte Charlene für diese Ankündigung um den Hals fallen können. Sobald ich erfahren hatte, dass Alex mit ihrem Pferd herkam, um an einigen Turnieren teilzunehmen, darunter auch das in Westport, hatte ich natürlich sofort Charlene gefragt, ob Alex nicht so lange bei uns bleiben konnte, statt gleich zum Turnierplatz zu fahren.
Ich fieberte ungeduldig dem nächsten Tag entgegen, und nach dem Training fuhr ich zum Flughafen in Galway, um sie abzuholen. Es erinnerte mich ein bisschen an meine eigene Ankunft, als ich schliesslich im Gedränge in der grossen Halle stand und nach Alex Ausschau hielt.
Ich hatte sie noch nicht entdeckt, als mir plötzlich jemand von hinten um den Hals fiel. Ich drehte mich um. „Alex!“
Da stand sie, genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Mit den vielen Sommersprossen, dem rotblonden glatten Haar, in den üblichen ausgefransten Jeans und Bluse. Es war schon eine ganze Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, denn etwa zwei Monate, bevor ich nach Irland gegangen war, hatte Alex ein Angebot von einem Gestüt in Kärnten bekommen. Ich weiss noch, wie neidisch ich auf sie gewesen war, obwohl ich es ihr gegönnt hatte.
Wir verluden ihre Koffer, dann holten wir Ice Cube, ihre Stute ab. Cube stammte aus der Zucht meines Vaters. Alex und ich waren bei ihrer Geburt dabei gewesen, und Alex hatte sie gekauft, bevor sie nach Kärnten gegangen war. Girly, meine Stute, war eine Vollschwester zu ihr gewesen, jedoch zwei Jahre älter.
„Grossartig sieht sie aus“, bemerkte ich und strich über das graue Fell der Stute. Sie war viel heller geworden, und man konnte den Schimmel immer besser erahnen.
„Ja, die Wiesen dort scheinen ihr zu gefallen. Ich muss ständig aufpassen, dass sie nicht zu fett wird.“ Alex lachte. Wir verluden die Stute, dann machten wir uns auf den Rückweg nach Esperance Manor.
Als wir das Gestüt erreichten, hörte der Regen endlich auf. Die Sonne brach durch die Wolkendecke und tauchte alles in einen goldenen Glanz. Alex neben mir schnappte nach Luft. Ich musste lächeln. Mir war es ähnlich gegangen, als das Taxi, das mich vom Flughafen hergebracht hatte, in die gekieste Einfahrt gefahren war. Nur dass jetzt, nach dem Regen, die Bäume und Büsche in voller Blüte standen und dem Hof seine ganze Pracht gaben.
Ich hielt vorsichtig vor dem Stall an, erleichtert, dass alles gut gegangen war. Ich war seit einer Ewigkeit nicht mehr mit einem Pferdeanhänger gefahren. Zumindest kam es mir so vor.
Cube bekam eine Box bei American, Troubleshot und Emilys Donglass Perfect. Als ich Alex so mit ihrer Stute sah, wurmte es mich schon ein wenig, die einzige ohne Pferd zu sein, und ich vermisste Girly. Na ja, abgesehen von Elaine, aber die zählte für mich irgendwie gar nicht. Einen winzigen Moment lang fragte ich mich, ob es wirklich die beste Idee gewesen war, Alex hierher einzuladen. Ich verwarf den Gedanken aber sofort wieder.
Nachdem Alex sich versichert hatte, dass Cube gut versorgt war, zeigte ich ihr meine Pferde und stellte ihr Emily, William, Michael und Charlene vor. Elaine war zum Glück nicht da.
Nach dem Mittagessen musste ich noch Casual reiten, den ich heute auf den Nachmittag verschoben hatte, um pünktlich am Flughafen zu sein. Anfangs hüpfte er wie ein Vierjähriger in der Halle herum und tat, als ob er vor nicht vorhandenen Monstern erschrecken würde. Als er sich endlich wieder eingekriegt hatte, und ich mit dem Springen anfangen wollte, brachte ich ihn wieder kaum vorwärts. Erst nachdem ich ihm einmal ordentlich eins mit der Gerte gegeben hatte, brachten wir einen einigermassen gleichmässigen Kanter zustande.
Mehr oder weniger elegant kamen wir doch fehlerfrei durch den Parcours, den Michael mir aufgestellt hatte. Er nickte einigermassen befriedigt. „Könnte besser sein, aber du hast dich ganz gut geschlagen. Lass ihn noch etwas Schritt gehen, dann hol Pride.“
Mein Blick muss wohl ziemlich verständnislos gewesen sein, denn er lächelte und winkte mich weg.
Paegents Pride, der schicke Dunkelfuchs, wartete bereits gesattelt in seiner Box auf mich. Ich übergab Casual einem Pfleger und nahm Pride mit in die Reithalle. Der junge Hengst tänzelte nervös an meiner Hand, richtete den Schweif auf und schnaubte aufgeregt. Alex verschlug es beinahe den Atem, als ich den wunderschönen Hengst in die Halle führte. Sie hatte mir bei der Arbeit zusehen wollen, was mir eigentlich gar nicht behagte. Ich hatte es früher schon gehasst, gegen meine beste Freundin zu starten, aber diesmal, wo sie so ein Spitzenpferd unter dem Sattel hatte, und ich nur den mühsamen Casual, ging es mir noch mehr gegen den Strich.
Mir gefiel Michaels Beschluss immer weniger, doch ändern konnte ich auch nichts daran. Michael war schliesslich indirekt mein Boss, da Charlene ihm ja alles, was mit den Pferden zu tun hatte, übertragen hatte. Mit einem Seufzen konzentrierte ich mich wieder auf Pride. Der Hengst ging mit schwungvollen, federnden Tritten vorwärts, als ich leicht die Schenkel anlegte.
Wie bei Galant war es eine pure Freude, ihn zu reiten. Kaum hatte ich einen Befehl nur schon gedacht, führte der Hengst ihn aus.
Zum Schluss liess Michael uns noch ein kleines Kreuz aus dem Trab nehmen, dann erklärte er das Training für beendet.
„Ihr zwei habt grossartig ausgesehen“, lobte Alex, als wir zusammen zum Stall zurück gingen.
„Danke!“ Ich lächelte zufrieden. Ich hatte damit wohl meine Pleite von vorhin mit Casual wieder wett gemacht. Früher war immer ich die bessere von uns beiden gewesen, und ich wollte irgendwie nicht, dass sich daran etwas änderte. Ich wusste, dass Eifersucht Freundschaften zerstören konnte, und ich hatte das Gefühl, dass das durchaus auch bei Alex und mir passieren konnte, wenn ich nicht aufpasste. Es war einfach zu kompliziert. Das ganze Leben war kompliziert.
Als ich am Abend mit Alex auf meinem Bett sass, war es wieder wie früher. Wir lachten viel, erzählten uns, wie es uns auf den neuen Höfen ergangen war, und diskutierten – wie könnte es anders sein – über Männer.
„Aber ehrlich, hier auf dem Hof bist du – das betreffend – scheinbar im Paradies gelandet. William und dann dieser Ian, von dem du ständig erzählst…“ Alex lachte übermütig.
„Sag’s nicht zu laut“, antwortete ich, doch ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
„Christian würde die Wände hochgehen, wenn er es wüsste“, kommentierte Alex. Christian. Ich hatte eine Weile nicht mehr an ihn gedacht. Er war der Sohn eines befreundeten Gestütsbesitzers und war mir ständig nachgelaufen. Eine Weile waren wir sogar zusammen gewesen, bis ich wieder mit ihm Schluss gemacht hatte. Ich grinste. Es hatte ihm gar nicht geschmeckt, als ich verkündet hatte, dass ich nach Irland gehen würde.
Eine Weile sassen wir nur herum und sinnierten über alte Zeiten nach, bis ich vorschlug: „Wir sollten wohl langsam ins Bett. Du magst Ferien haben, aber ich hab immer noch zu arbeiten.“
Als mein Wecker läutete, schlief Alex noch tief und fest. Ich liess sie, zog mich leise an und ging nach draussen. Es war ein schönes Gefühl, ausnahmsweise einmal nicht von nasskaltem Regen, sondern von ersten Sonnenstrahlen empfangen zu werden.
William und Elaine, die ziemlich übernächtigt aussah, sassen in dem kleinen Nebenraum und tranken Kaffee. Ich genehmigte mir ebenfalls einen und setzte mich zu ihnen, als Emily bereits von der Arbeit mit ihrem ersten Pferd zurückkam. Sie war Frühaufsteherin, noch mehr als ich, und hatte, wenn wir uns endlich aus den Federn quälten, meistens schon ein bis zwei Pferde geritten.
„Guten Morgen“, trällerte sie.
„Musst du so rumkreischen? Mein armer Kopf!“, beschwerte sich Elaine.
„Hat ihre Hoheit schlecht geschlafen?“, fragte ich ernsthaft und grinste Emily schadenfroh an. Elaine warf mir einen giftigen Blick zu und starrte dann wieder auf ihre Tasse. Ich trank den letzten Schluck, dann ging ich in den Stall hinüber. Ich beschloss mit Casual anzufangen, solange ich noch frisch war.
Der Wallach döste, das Maul an die Krippe gelehnt, als wäre er beim Fressen eingeschlafen. Ich gab ihm einen Klaps auf die Kruppe. „Aufwachen, du Faulpelz, jetzt wird gearbeitet.“
Er schaute mich missmutig an, als ich ihm den Sattel auflegte und ihn auftrenste.
Da es gestern nicht geregnet hatte, waren die Aussenplätze einigermassen abgetrocknet, und ich beschloss, draussen zu trainieren.
Casual unterliess ausnahmsweise seine Spielchen und beschränkte sich darauf, meine Hilfen zu ignorieren. Als ich ihn einigermassen am Zügel hatte, liess ich ihn über die Sprünge gehen. Wir nahmen nur eine Stange mit. Ich liess es dabei bewenden. Casual schien mal wieder einen schlechten Tag zu haben – wann hatte er das nicht -, also war wohl nicht viel mehr zu erwarten.
Ich ritt Quality, dann Galant und Promise, die beiden Pferde, auf die ich mich immer am meisten freute.
Gegen zehn stiess auch eine verschlafene Alex dazu, in zerknittertem T-Shirt, die Haare nachlässig zu einem lockeren Zopf geflochten. Sie setzte sich auf die Tribüne und schaute eine Weile zu.
Nach dem Mittagessen kam auch Ian mit seinem Porsche. Alex fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, während ich nur ein genervtes Seufzen übrig hatte.
„Wie kannst du nur so uninteressiert tun! Der Typ ist zum Anbeissen“, kommentierte sie.
„Alex, Schätzchen, glaub mir, er ist es nicht wert“, antwortete ich ungerührt und striegelte weiter Prides dunkles Fell. Alex schüttelte verständnislos den Kopf, was mir ein kleines Lächeln entlockte.
Ian schwang sich über die geschlossene Autotür und nahm wie ein Filmstar die dunkle Sonnenbrille ab. Irgendwie erinnerte er mich so an Maverick aus Top Gun. Nur ohne Flugzeuge. Und ohne Motorrad. Dafür mit Porsche. Und Pferden.
Ich grinste, mehr für mich selbst.
„Was ist so belustigend?“ Er kam zu uns hinüber.
„Hallo, dir auch einen schönen Tag“, gab ich zurück. Er schien es sich zur Angewohnheit gemacht zu haben, nicht zu grüssen. Und mich ständig Sachen zu fragen, die ihn eigentlich gar nichts angingen.
Er sah mich kurz verwirrt an, dann wandte er sich an Alex. „Oh, hallo, wen haben wir denn da?“
„Meine beste Freundin Alex. Aus Österreich“, stellte ich knapp vor. Alex musste ihr Englisch mühsam zusammenkratzen, um überhaupt einen einigermassen verständlichen Satz zusammen zu bringen, das merkte man. Ich war von uns beiden immer die bessere in Englisch gewesen, sie dafür in Französisch. Ich hasste diese ganzen komplizierten Grammatiken und mühsamen Regeln. Das Englisch hingegen lag mir einfach.
Ich merkte plötzlich, dass Alex verschwunden war und Ian mich erwartungsvoll ansah. Hatte er mich etwas gefragt?
„Also?“
„W-, was?“, stotterte ich verwirrt.
„Ob du morgen mal rüberkommst“, wiederholte er geduldig. Rüber? Es dauerte einen Augenblick, bis mir einfiel, dass er wohl ihr Anwesen meinte.
„Oh, äh… warum nicht?“ Ich fühlte mich irgendwie komplett erschlagen. Kam halt davon, wenn man ständig mit dem Kopf in den Wolken steckte.
„Gut. Soll ich dich dann so um vier abholen?“ Er lächelte erfreut.
„Äh, ja, warum nicht?“, wiederholte ich und hätte mir dafür auf die Zehen treten können. „Ich muss dann mal Pride fertig machen.“ Ohne ein weiteres Wort ging ich hinüber in die Sattelkammer um Prides Zeug zu holen.
Während ich mich noch wunderte, wo Alex abgeblieben war, trat Emily aus dem Nebenraum und lehnte sich in den Türrahmen.
„So, du hast also ein Date mit unserem Herrn Nachbar.“
„Em, es ist überhaupt kein Date“, wehrte ich ab. Sie hob bloss bedeutungsvoll eine Augenbraue.
Am nächsten Tag stand ich – eine halbe Stunde vor meinem „Date“ mit Ian – vor meinem Kleiderschrank.
„Nein, nein, nein, hast du nicht etwas Eleganteres?“, fragte Alex empört, als ich meine Lieblingsjeans und ein schlichtes, meergrünes Oberteil aus meinem Schrank kramte.
„Alex, ich schau mir bloss ihren Hof an, ich bin nicht zu einer Party eingeladen“, protestierte ich.
Je später es wurde, desto höher wurde der Stapel mit den abgelehnten Klamotten auf meinem Bett. Schliesslich einigten wir uns auf ein bordeauxrotes Top, einen knappen weissen Strickpulli mit weiten Ärmeln, graue Jeans und dazu schwarze Halbstiefel.
„Meinst du, es ist nicht zu overdressed?“, fragte ich besorgt, während ich meine Haare mit einer Spange im Nacken zusammen nahm. Sie schüttelte den Kopf.
„Aber weiss? Wir werden bestimmt in den Stall gehen“, äusserte ich weitere Bedenken.
„Alice, Schluss jetzt! Du siehst gut aus, also hör auf, die schon wieder Gedanken zu machen und mir auf die Nerven zu gehen“, meinte Alex streng. Ich wusste selbst nicht, warum ich so nervös war. Schliesslich war es ja nur Ian. Na gut, er war reich, und er sah gut aus.
Ich zupfte mir einen Fussel vom Pulli, drehte mich noch einmal vor dem Spiegel um. Alex hob beide Daumen und zwinkerte mir übertrieben zu. Wir mussten beide lachen.
Auf die Minute pünktlich wurde draussen gehupt. Ich warf Alex einen raschen Blick zu, steckte mein Handy, das mich immer überallhin begleitete, ein und ging nach draussen.
William, der bei Ian stand, starrte mich mit offenem Mund an. Ich sah verlegen zu Boden. So toll war das Outfit nun auch wieder nicht.
Ian öffnete mir galant die Beifahrertür. „Darf ich bitten?“
Ich liess mich alles andere als graziös auf den kühlen Ledersitz fallen. Ich war mir Williams Blick durchaus bewusst, die ganze Zeit, es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Es war ein seltsames Gefühl, mir wurde abwechselnd heiss und kalt, und ich war froh, als Ian endlich den Motor anliess und vom Hof fuhr.
Wir redeten nicht viel auf der Fahrt, anfangs versucht Ian noch, mit mir ins Gespräch zu kommen, doch ich blieb wortkarg, ich hatte keine Lust und war zu aufgeregt, um mit ihm zu reden, und schliesslich gab er es auf.
Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und genoss den Fahrtwind, der mir über’s Gesicht strich. Ich liess meinen Gedanken ihren Lauf, bis ich plötzlich Ians Stimme hörte: „Da sind wir.“
Vor mir lag das wohl schönste Anwesen, das ich je gesehen hatte. Hinter einer Allee, die sich entlang eines hellen, gepflegten Kieswegs erstreckte, lag ein riesiges Herrenhaus. Es war grösser und auch moderner als Charlenes, doch man hatte sich sichtlich bemüht, bei der Renovation den altertümlich, eleganten Touch beizubehalten. Der Kiesweg endete unter einem ausladenden Vordach, das vorne von zwei Marmorsäulen und einem kunstvollen, schmiedeeisernen Ziergitter getragen wurde.
Vor der hohen Glastür, die mit eingeschliffenen Rosenranken verziert und von zwei zierlichen Buchsbäumen flankiert wurde, stand ein rot livrierter Mann, der mir auch sogleich die Wagentür aufhielt. Ian reichte ihm den Schlüssel, woraufhin der Mann einen jungen Burschen heranwinkte, der sich hinter’s Steuer klemmte und den Wagen wegfuhr.
Ian führte mich durch die Glastür in eine riesige Halle, die mit beigem Marmor ausgestattet war. Eine geschwungene Treppe führte in einen oberen Stock.
Mir war von Minute zu Minute unwohler zu Mute, und ich fragte mich allmählich, was ich hier eigentlich machte. Ich mochte ihn ja nicht mal. Na ja, er konnte ganz nett sein, aber meistens verhielt er sich wie der letzte Vollidiot.
"Ich nehme an, du möchtest zuerst die Pferde sehen", wandte er sich an mich. Ich nickte bloss.
Er führte mich durch die Eingangshalle in einen hellen Salon. Der Raum war mit gemütlichen, antiken Polstermöbeln, einem niedrigen Glastisch mit geschwungenen Metallbeinen und etlichen Kommoden aus dunklem Holz ausgestattet. Zwei höhe Türen mit Intarsien links und rechts gaben den Blick auf ein Arbeitszimmer mit einem wuchtigen Schreibtisch und einem Regal, das mit schweren Wälzern nur so vollgestopft war, und ein Esszimmer frei. Das Esszimmer ähnelte dem von Charlene, soviel man sah.
Gegenüber blickte man durch eine Glasfront, die die gesamte Seite des Raumes einnahm, auf einen lieblichen Park.
Ich drehte mich bewundernd im Kreis.
"Gefällt es dir?", fragte Ian mit einem Lächeln in der Stimme. Ich sah ihn an. "Es ist wunderschön!"
"Komm, ich zeig dir den Park und die Stallungen." Ganz selbstverständlich nahm er meine Hand und führte mich durch eine Tür nach draussen. Wir folgten einem Kiesweg, der sich zwischen makellos gepflegten Blumenrabatten entlang schlängelte. Das Alles war schon fast zu kitschig.
Wir erreichten von Hecken und weissen Holzzäunen eingerahmte Koppeln, auf denen sich fast ausschliesslich Jungpferde tummelten. Ich blieb stehen, um ihnen beim Spielen zuzusehen. Ian lehnte sich lässig an das Gatter.
Ein kräftiger, rotbrauner Hengst kam näher, als er uns entdeckte. Er zupfte mich spielerisch am Ärmel. Ich musste lachen.
Nach einer Weile schlenderten wir weiter. Ich spürte, wie Ian mich aus dem Augenwinkel beobachtete. Ich musste feststellen, dass ich ihn eigentlich gar nicht so übel fand.
Ein Stück weiter vorne erkannte man jetzt die roten Ziegeldächer der Ställe. Die Gebäude waren riesig, weiss verputzt, mit hohen braunen Schiebetoren, in die kleinere Türen eingelassen waren. Sie waren kreisförmig um einen Vorplatz angeordnet. Zwei der Gebäude schienen als Stallungen zu dienen, die beiden anderen, kleineren als Sattel- und Futterkammer und als Geräteschuppen.
Die Leute, die geschäftig hin und her eilten, trugen alle ein waldgrünes Poloshirt zu weissen Reithosen und blank polierten Stiefeln. Die meisten mochten nicht viel älter als ich sein. Die Bereiter erkannte man an den Sporen und den schwarzen Westen mit dem Logo des Stalles auf dem Rücken. So professionell es auch rüber kam, das war dann doch ein bisschen zu viel des Guten, und ich war froh, bei Charlene zu arbeiten.
Ian blieb stehen, um mit einem älteren Mann zu plaudern. Er stellte ihn mir als Mr Kingston, den Trainer, vor. Die beiden redeten noch eine Weile. Ich stand daneben und fühlte mich blöd. Ich betrachtete die Pferde, die von den Pflegern über den Hof geführt wurden, bis mich Ian aus meinen Beobachtungen riss. "Kommst du? Ich zeige dir den Stall!"
Wir betraten eines der grossen Stallgebäude.
"Hier drin stehen die aktiv gerittenen Pferde, also die Turnierpferde und die jungen, die gerade angeritten werden oder schon im Training sind", erklärte Ian. Wir gingen von Boxe zu Boxe, und er erzählte mir ein bisschen über jedes Pferd. Er kann ja eigentlich wirklich ganz nett sein, wenn er es darauf anlegt, dachte ich amüsiert.
"Und das ist German Champagn", stellte er vor und deutete auf einen wunderschönen, isabellfarbenen Hengst, der in der letzten Box stand. Ich trat näher. Der Hengst schnaubte und wölbte seinen muskulösen Hals.
"Er ist ein Traum", flüsterte ich bewundernd.
"Nicht wahr? Mein Vater hat ihn selbst gezüchtet. Sein Stammbaum ist hervorragend. Und er hat Potenzial."
Ich streichelte dem Hengst sanft über die Nüstern. Er schnaubte vertrauensvoll. Ich lächelte.
Wir gingen weiter in den zweiten Stalltrakt, wo die Zuchtpferde standen. Die meisten Stuten hatten kleine Fohlen an ihren Seiten. Bei Charlene gab es dieses Jahr bloss zwei. Bei uns zu Hause hatte es im Sommer von den kleinen, wuscheligen Fohlen auch nur so gewimmelt. Ich musste bei dem Gedanken an zu Hause lächeln. Ich vermisste Österreich jetzt schon.
Ich konzentrierte mich mit meinen Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt und hörte Ian aufmerksam zu, wie er mir die Abstammung der einzelnen Fohlen erläuterte.
Wir kamen zu den grossen Laufställen, in denen die Jährlinge, die gerade nicht draussen waren, untergebracht waren.
"Die meisten sind schon verkauft", erklärte Ian, "und auch von denen hier werden nur zwei oder drei bei uns bleiben." Er führte mich wieder nach draussen auf den Hof. "Ich glaube, Liza trainiert gerade mit Star Gazer. Wollen wir zusehen?" Er deutete Richtung Springplatz.
"Warum nicht?" Ich zuckte die Schultern. Wir gingen hinüber und lehnten uns gegen den Zaun. Das Mädchen auf dem athletischen Braunen liess ihr Pferd gerade mit hochkonzentrierter Miene antraben. Sie trug nicht wie die anderen Bereiter das übliche Outfit, sondern eine elegante, dunkelblaue Jacke zu grauen Reithosen. Sie galoppierte an und setzte über den ersten Sprung. Das Pferd ging in perfekter Versammlung und nahm jedes Hindernis tadellos.
Nachdem sie den Parcours beendet hatte, sass sie ab, klopfte ihm den Hals und übergab ihn einem Pfleger, der bereits bereit stand. Dann kam sie zu uns hinüber.
"Gute Runde. Wie ich sehe, seid ihr fit für das Turnier", sagte Ian mit einem Lächeln zu ihr. Dann drehte er sich zu mir. "Liza, das ist Alice, sie arbeitet seit neustem bei Charlene. Alice, meine Schwester."
Sie gab mir auf eine herablassende Art die Hand, obwohl ihr forsches "Hi" freundlich klang. Sie war hübsch, mit schwarzem Haar, das sie mit einer schlichten Spange zusammengebunden hatte, und dunklen, mandelförmigen Augen, die ihr etwas Exotisches verliehen. Es war schwer zu glauben, dass sie und Ian Geschwister waren, so unähnlich wie sie sich sahen.
Ich sah auf meine Uhr. "Oh, schon so spät? Ian, ich sollte langsam zurück." Ich war froh, unauffällig eine Ausrede gefunden zu haben. Er nickte. "Komm, ich fahre dich."
"Wie schade", meinte Liza ohne richtige Überzeugung. Ich war mir nicht recht sicher, was ich von ihr halten sollte.
"Wir sehen uns."
Ich nickte bloss und folgte Ian zurück Richtung Haus.
Auf der Rückfahrt schwiegen wir wieder. Ian schien ein bisschen enttäuscht zu sein, ich nehme an, dass er gehofft hatte, das Ganze würde in seinem Zimmer enden. Na toll!
Wir waren schon fast wieder zurück, als Ian plötzlich fragte: "Also, hast du Lust, mit mir essen zu gehen?"
Ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. "Vielleicht", antwortete ich daher unbestimmt. Er seufzte resigniert. "Ich hab keine Chance bei dir, stimmt's?"
Wir waren inzwischen wieder auf dem Hof angekommen. Ich stieg aus, schloss die Tür hinter mir und stützte mich darauf. "Wer weiss." Damit liess ich ihn stehen.
"Gut, diesmal hat's gepasst!"
Begeistert klopfte ich Casual den Hals. Wir hatten heute Morgen unter Michaels Aufsicht verschiedene Parcours trainiert. Ich musste eingestehen, dass Casual eigentlich gar nicht so übel war. Wir waren inzwischen kein schlechtes Team geworden, und ich sah dem Turnier mit etwas grösserem Optimismus entgegen. Zwar hatte ich immer noch das Gefühl, dass er mich nicht ernst nahm, aber inzwischen kannte ich ihn etwas besser und war gewappnet.
Alex, die gerade mit Cube auf den Platz kam, lächelte. "Ich sehe schon, ihr seid ernst zu nehmende Konkurrenz."
Ich lächelte halbherzig zurück. Ich war ziemlich nervös wegen dem Turnier, vor allem weil neben Alex und Liza auch einige andere hervorragende Reiter starten würden. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie gross der Anlass werden würde. Eigentlich hatte ich angenommen, Michael würde uns für den Anfang zu etwas Kleinem, Regionalem anmelden. Nie hätte ich mit einer Vier-Tages-Veranstaltung gerechnet.
Michael wollte schon am Donnerstag in aller Ruhe anreisen, da es bis Westport, wo das Turnier stattfand, doch eine ziemliche Strecke war, vor allem mit Anhänger. Emilys und Williams Prüfung fand am Freitag statt, ich startete am Samstag. Es würde nur Elaine auf dem Hof bleiben, und dann kam Freitag ja der neue Bereiter, von dem Charlene beim Mittagessen erzählt hatte. Die Pferde, die nicht geritten wurden, hatten frei oder wurden einfach an der Longe bewegt.
Die ganze Woche war gefüllt mit den Vorbereitungen und dem Training für's Turnier. Meist beaufsichtigten mich Michael oder William - mit dem ich mich wieder super verstanden - beim Springen mit Casual. Ich war immer noch nicht wirklich begeistert davon, mit ihm hinzufahren, auch wenn es langsam Spass machte, ihn zu reiten.
"Ah, Liam, lass den Quatsch!", quietschte Emily und brachte sich hinter Confidental vor Williams Wasserschlauch in Sicherheit. Ich lachte laut. Das Waschen der Pferde war rasch in eine mittelgrosse Wasserschlacht ausgeartet.
Emily warf ihren Schwamm nach William und kam zu mir hinüber, wo sie ausser Reichweite war. Das Wasser tropfte aus ihren rotblonden Haaren, sie grinste mich übermütig an. "Was hältst du davon, ihn in den Brunnen zu schmeissen?"
"Ausgezeichnete Idee, mach das", brummte ich schläfrig und räkelte mich genüsslich in der Sonne.
"Ihr seid so kindisch." Elaine, die gerade mit Simplicity aus dem Stall kam, verdrehte ihre makellos geschminkten Augen.
"Du bist so humorlos", gab ich zurück. Sie ignorierte mich und machte sich an ihren Steigbügeln zu schaffen. "Ich blödle immerhin nicht herum, sondern arbeite."
Emily nickte mit ironischem Lächeln. "Natürlich!"
William kam zu uns hinüber. "Alice, willst du Casual jetzt auch noch waschen oder nicht? Wenn ja sollten wir langsam anfangen. Michael will zeitig los."
Ich nickte und band den Wallach los. Gemeinsam shampoonierten wir ihn mit Betadine-Seife ein, ein alter Trick von zuhause, den William zuerst mit einem Stirnrunzeln, dann mit Begeisterung aufnahm, als unter dem ganzen Schaum Casuals Fell strahlend weiss hervorkam.
"Ich hätte nie gedacht, dass er mal wieder ein Schimmel wird", kommentierte Emily grinsend. "Hoffen wir, dass er's auch bleibt."
Wir erreichten die Anlage nach gut zwei Stunden Fahrt. Es dunkelte bereits ein. Am Tor warteten zwei Angestellte in schwarzen Reithosen und dunkelroten Pullovern mit dem Logo des Stalls. Die eine, eine junge Frau, kam zum Führerhaus des Transporters.
"Willkommen zum 21. Turnier in Westport", begrüsste sie uns. "Darf ich die Namen wissen?" Sie deutete auf das Klemmbrett in ihrer Hand.
"Alice Hofner, Alexandra Steinhauser, Emily Lloyd und William Evans", antwortete Michael. Ich musste mal wieder schmunzeln, wie sie meinen Nachnamen aussprachen. Und den von Alex erst!
Die Frau suchte unsere Namen auf ihrem Brett, dann wandte sie sich wieder an uns. "Gut, also, Sie fahren den Weg entlang, bis die Koppeln aufhören. Dort können sie links auf der Wiese parkieren. Die Pferde sind im Nebentrakt untergebracht. Sie sollten keine Mühe haben, es zu finden, sonst fragen Sie einfach. Im Haupthaus sind Zimmer reserviert. Gehen sie einfach hinein, man wird Ihnen dann alles zeigen. Schönen Aufenthalt und viel Erfolg noch!"
Michael dankte ihr und fuhr den Weg entlang. Ausser den hellen, hölzernen Koppelzäunen konnte man nicht mehr viel erkennen. An der angegeben Stelle stand bereits ein Ordner, der uns einwies.
Wir luden die Pferde aus und versorgten sie. Der Stall war gross und luftig, allerdings kein Vergleich zu Esperance Manor. Trotzdem war alles tadellos, und die Pferde schienen sich wohl zu fühlen.
Wir holten unser Gepäck. Das Haupthaus war ein gemütlich aussehendes altes Landhaus. Der Eingangsbereich war hell erleuchtet. Aus einem Nebenraum kam eine ältere, korpulente Frau mit flammend roten Korkenzieherlocken. Sie strahlte eine Wärme und Herzlichkeit aus, dass ich sie sofort mochte.
"Michael, hätte ich mir ja denken können, dass du auch wieder hier bist!", rief sie, als sie uns sah. Sie hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme, die jedoch irgendwie zu ihr passte und eine beruhigende Wirkung zu haben schien. Ich fühlte mich gelassen und irgendwie geborgen.
Michaels Lachen riss mich aus meinen Gedanken. "Natürlich, wir müssen doch das reiterliche Niveau hier etwas heben, nicht?" Er zwinkerte ihr zu. Sie lachte ebenfalls. "Deinen Humor hast du jedenfalls nicht verloren." Sie wandte sich an uns. "William, Emily, grossartig seht ihr aus! Habt ihr vor, dieses Jahr wieder so abzuräumen?"
Emily lächelte. "Sicher doch, Ella."
"Nun denn. Michael, willst du mir nicht endlich mal die beiden unbekannten Gesichter vorstellen?"
"Ach ja, natürlich. Das sind Alice, unsere neue Bereiterin, und ihre beste Freundin Alex, die extra für das Turnier aus Österreich angereist ist", erklärte Michael.
Ella führte uns eine knarrende Holztreppe hinauf in einen langen Gang mit mehreren Türen. Sie öffnete die letzten beiden und übergab Emily und Michael die Schlüssel.
"Kommt runter, wenn ihr euch eingerichtet habt. Im Esssaal gibt es Abendessen." Sie lächelte uns noch einmal kurz an, dann stieg sie die Treppe wieder runter.
Neugierig betrat ich hinter Emily das Zimmer. Die Decke war sehr niedrig, eine etwas grössere Person hätte sich bestimmt den Kopf gestossen.
Vor dem Fenster, das Richtung Hof zeigte, hingen dunkelrote Vorhänge. Die drei Betten an der rechten Wand waren in derselben Farbe bezogen. In der linken hinteren Ecken, hinter einem grossen Holzschrank, befand sich eine Tür, die in ein kleines Bad führte. Neben dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einem gemütlichen Sessel davor. Kupferstiche von verschiedenen Reiterszenen zierten die Wände.
Alles war sehr einfach eingerichtet, doch sauber und irgendwie liebevoll. Alex, die mir in den Raum gefolgt war, sprach aus, was ich dachte. "Erinnert mich an die alten Bauernhäuser zuhause."
Emily liess ihren Koffer auf das Bett bei der Tür fallen und setzte sich daneben. "Ganz nett hier", meinte sie und liess ihren Blick durch den Raum schweifen.
"Hast du noch nie hier übernachtet?", fragte Alex. Emily schüttelte den Kopf. "Nein, normalerweise haben wir immer im Transporter geschlafen. Wenn wir nur zu dritt waren, ging das ganz gut."
Ich nickte und legte meinen Koffer auf das mittlere Bett, um frische Klamotten rauszusuchen.
Lautes Gelächter und Stimmen schallten und entgegen, als wir den Esssaal betraten. Auch hier war die Decke genauso niedrig wie in den Zimmer oben, doch die lange Holztheke an der hinteren langen Wand, die mit Blumen und Strohgebinden verziert war, und die holzverkleideten Wände mit den diversen Fotografien, Schleifen und Bildern verliehen dem Raum eine gemütliche Atmosphäre.
An den langen Tischen sassen Leute unterschiedlichsten Alters, die jedoch alle miteinander lachten und plauderten. Auf erste Erfolge wurde mit Champagner angestossen, Niederlagen mit einem Bier hinuntergespült. Doch obwohl so viele verschiedene Leute da beisammen sassen, es fühlte sich doch an wie eine einzige, grosse Familie. Das war es, was ich an den Turnieren so liebte!
Wir fanden Michael und William an einem Tisch an der hinteren Wand. Bei ihnen sassen zwei junge Frauen, in einer von ihnen erkannte ich - sehr zu meinem Leidwesen - Ians Schwester Liza. Die Andere kannte ich nicht. Sie hatte rote Haare und noch mehr Sommersprossen als Emily, wenn das überhaupt möglich war. Ihre grünen Augen musterten mich freundlich. Mir fiel auf, wie nahe sie bei William sass. Was hat dich das zu interessieren?, schimpfte ich mich in Gedanken. William lächelte mir zu. "Alice, Alex, das sind Carol und Liza. Carol und ihr Bruder Danny besuchen das Turnier hier auch jedes Jahr. Sie arbeiten bei Freunden von Charlene." Er drehte sich halb zu Liza. "Und das ist Ians Schwester Liza." Damit wandte er sich wieder zu Carol. "Das sind Alice, sie arbeitet jetzt bei uns, hab ich dir ja vorhin erzählt, und Alex, ihre beste Freundin aus Österreich. Sie nimmt auch am Turnier teil."
Hab ich dir ja vorhin erzählt? Was mochte er mit ihr wohl noch alles über mich geredet haben? Ich merkte, dass ich eifersüchtig war. Es passte mir gar nicht, wie vertraut sie beieinander sassen. Dabei hatte ich ja eigentlich gar keinen Grund dazu. Ich wollte ja nichts von William. Oder?
"Freut mich!" Carol lächelte uns zu. Sie war mir sympathisch, doch das mit William war ein erheblicher Minuspunkt. Ich setzte mich auf Williams andere Seite. Liza sah mich an. "Und, bereit für morgen?"
"Oh, ich starte morgen noch nicht", antwortete ich. Ich konnte nicht sagen, warum, aber ich fühlte mich unter ihrem Blick unbehaglich. Sie zog eine Augenbraue hoch. "Ach nein? Ich dachte, du gehst auch die M, bei deinem Talent, von dem William immer schwärmt." Sie sagte es mit leicht ironischem Tonfall, was mein Misstrauen nur noch verstärkte. Ich verstand nicht ganz, was sie damit bezweckte.
"Na ja, ich kenn das Pferd ja noch nicht so gut und so, und deshalb dachten wir, dass das L-Springen für den Anfang geeigneter wäre", erklärte ich zögernd.
"Ah ja!" Sie lächelte mich herablassend an, ihr Blick war mitleidig.
"Liza, lass das!", fuhr William sie entnervt an. Sie schaute erstaunt zu ihm hinüber. "Was denn, Darling?"
"Das weisst du ganz genau!"
"Pff!" Sie strich sich hochnäsig eine Strähne aus dem Gesicht, doch sie sagte nichts mehr.
Ich warf William einen dankbaren Blick zu, den er mit einem Lächeln quittierte.
Im Stall herrschte schon reger Betrieb, als wir nach dem Frühstück nach unten gingen, um nach den Pferden zu sehen. Carol war bereits da und begrüsste uns fröhlich, Liza würdigte uns keines Blickes, lediglich Liam schenkte sie ein strahlendes Lächeln, der jedoch verzog keine Miene.
Casual begrüsste mich mit einem freundlichen Brummeln, was mich besonders freute. Ich klopfte kurz seinen kräftigen Hals und ging dann weiter in die Futterkammer, um Hafer für ihn zu holen. Vor mich hin pfeifend und völlig in Gedanken versunken machte ich mich auf den Rückweg zu Casuals Box, als ich plötzlich über etwas stolperte und beinahe hinfiel, hätte mich im letzten Moment nicht jemand aufgefangen.
"Vorsichtig", lachte die Person hinter mir. Ich mühte mich wieder auf die Beine. "Äh... danke!", murmelte ich und drehte mich um. Vor mir stand ein Mann, wahrscheinlich etwas älter als William. Er war gross und schlank, wirkte jedoch nicht schlaksig, sondern eher kräftig. Mit den roten Haaren und den grünen Augen erinnerte er mich an Carol. Ob die beiden wohl verwandt waren?
"Kein Problem." Er lächelte. "Man sieht sich." Er drehte sich um und verschwand in einer der Boxen. Noch völlig verwirrt ging ich zurück zu Casual und schüttete ihm das Futter in die Krippe. Bevor ich jedoch weiter über meinen gutaussehenden Helfer nachdenken konnte, hetzte Emily an mir vorbei und warf mir im Vorbeilaufen ihre Gamaschen und das Zaumzeug hin. "Los, beweg dich, du musst mein Pferd warm reiten."
"Em, beruhig dich, du musst doch erst um halb zehn auf dem Pferd sitzen."
"Es IST halb zehn", entgegnete sie hektisch und warf Viscount den Sattel auf den Rücken. Ich sprang von dem Strohballen, auf dem ich sass, und half Emily, die Gamaschen anzulegen und ihn aufzuzäumen.
Emily ging zum Haupthaus, um sich umzuziehen, ich führte Viscount zum Abreiteplatz, um ihn schon einmal etwas Schritt zu reiten. Es waren bereits einige andere Reiter mit ihren Pferden beschäftigt. Ich sass auf und lenkte den Braunen auf den zweiten Hufschlag. Er schnaubte entspannt und ging ruhig am langen Zügel. William, der diese Prüfung ebenfalls ritt, gesellte sich mit seinem Troubleshot zu mir. "Wo ist Em?"
"Du kennst die ja. Sie hat mal wieder die Zeit vergessen." Ich sagte ihm nicht, dass ich auch nicht auf die Uhr geschaut hatte.
Wir ritten einige Runden schweigend nebeneinander. Emily war noch immer nicht aufgetaucht. Ich trabte Viscount an. Er ging schön locker, trat gut unter und kaute zufrieden auf der Trense. Ich liess ihn angaloppieren und steuerte auf den kleinen Probesprung in der Mitte des Platzes zu. Problemlos setzte er darüber. Auch der höhere Sprung bereitete ihm keine Schwierigkeiten, sauber sprang er ab und landete weich auf der anderen Seite.
"Schöner Sprung. Da bekomme ich ja echt Konkurrenz", erklang eine Stimme von der linken Seite. Als ich ihn erkannte, lächelte ich.
"Ich hab ja gesagt, man sieht sich." Er zuckte die Schultern. "Wann bist du dran?"
"Erst morgen", antwortete ich, und als ich seine verwirrte Miene sah, fügte ich hinzu: "Ist das Pferd von meiner Freundin."
"Danny, beeil dich, es sind nur noch zwei Reiter vor dir." Carol lenkte ihr Pferd neben ihn. Sie sass auf einem erstaunlich zierlichen Rappen, was er jedoch durch sein Temperament wieder wett machte. "Oh, hi, Alice." Sie lächelte mir zu.
"Morgen, Carol."
"Wie ich sehe, hast du meinen Bruder schon kennen gelernt", stellte Carol fest. Ich hatte mit meiner Vermutung also recht gehabt. Sie wandte sich an ihn. "Danny, das ist Alice, Williams und Emilys neue Kollegin", erklärte sie. Er nickte mir erfreut zu. "Dann werden wir uns bestimmt noch öfter sehen. Ich geh dann mal rüber." Danny lenkte seinen Goldfuchs zum Ausgang.
"Alice!"
Ich drehte mich im Sattel um. Emily kam über den Platz. Ich sass ab und reichte ihr die Zügel.
"Du bist ein Schatz", sagte sie und hantierte mit ihrem Haarnetz. Ich grinste. "Gib her." Ich nahm es ihr aus der Hand und befestigte es mit zwei schnellen Handgriffen in ihrem Haar.
"Danke", seufzte sie und stieg in den Sattel.
"Kein Problem. Er ist soweit eigentlich bereit. Geht gut heute. Ich geh dann mal rüber und schau ein bisschen zu, wenn du mich nicht mehr brauchst."
Als sie nickte, verliess ich den Abreiteplatz und lief zum Springplatz. Es hatte viele Zuschauer, mit Mühe kämpfte ich mich bis zur Reitertribüne durch und setzte mich auf eine Bank.
"Chloe Timberland, Princesse d'Anjou, acht Punkte in 78,61", verkündete gerade der Ansager. "Als nächsten Reiter sehen wir Troubleshot, geritten von William Evans."
William ritt ein und grüsste. Trouble machte einen nervösen Eindruck, er schlug unruhig mit dem Schweif und scheute. Als William ihn angaloppieren wollte, stieg er kerzengerade in die Luft. Das Publikum raunte aufgeregt. William wartete, bis er wieder auf den Boden kam, dann ritt er ihn vorwärts und liess ihn im Trab kleine Volten gehen. Der Hengst beruhigte sich langsam. Als die Glocke erklang, liess William ihn angaloppieren und ritt das erste Hindernis an.
Trouble setzte mit einem riesigen Sprung darüber. William schien seine liebe Mühe mit ihm zu haben, der Hengst ging mit ordentlichem Tempo vorwärts. Es war mehr Glück als Verstand, dass Trouble keine der Stangen berührte.
Dann kam die dreifache Kombination. Trouble nahm den Einsprung problemlos. William nahm ihn vor dem zweiten Sprung etwas zurück, der Hengst stiess sich vom Boden ab und flog über das Hindernis.
Im Publikum war es so still, dass man eine Feder hätte fallen hören, als die beiden auf den Aussprung zukamen. Trouble zog an. Er sprang ab. Die Stange klapperte, einen Stöhnen ging durch die Zuschauermengen. Die Stange wackelte gefährlich und... blieb liegen. Ich atmete auf.
Den Rest des Parcours nahmen die beiden souverän, kein einziges Mal war ein Anschlagen zu hören.
"William Evans, Troubleshot, null Punkte in 72,01", erklang es aus den Lautsprechern. Das Publikum brach in Jubel aus, was einen ordentlichen Bocksprung von Trouble zur Folge hatte. William schien es gelassen zu nehmen, er lachte und klopfte seinem Hengst den Hals.
"Am Start bereit ist jetzt Danny Carter mit Rooftop Flyer, im Besitz von Lord Sean Danby."
Danny grüsste und ritt sein Pferd an. Der Fuchs galoppierte ruhig auf der Volte, bis Danny den ersten Sprung anritt. Die beiden nahmen jedes Hindernis wie alte Profis. Obwohl alles ruhig und konzentriert wirkte, legten die beiden doch ein ordentliches Tempo vor. Danny schien dem Pferd kaum Hilfen geben zu müssen, als kenne es den Weg allein.
"Das war der zweite Null-Fehler-Ritt in dieser Prüfung von Danny Carter und Rooftop Flyer in 71,57."
Danny sah sehr zufrieden aus, als er den Parcours verliess. Ich warf einen Blick auf die Anzeigetafel. Emily kam erst später, also konnte ich beruhigt nach unten gehen. Ich verliess die Tribüne und bahnte mir meinen Weg zum Abreiteplatz zurück. William und Danny standen mit ihren Pferden am Tor und diskutierten über den Parcours. Ich gesellte mich zu ihnen. "Gratuliere, ihr beiden."
"Danke! Oh Mann, die Kombination hatte es echt in sich. Top hat da einen Moment lang gezögert, ich dachte schon, er springt nicht", meinte Danny und lächelte mir zu.
"Ja, da hätten wir auch fast Punkte kassiert", entgegnete William mit einem Blick zu Trouble. "Wir hatten echt Glück. War Em schon dran?"
Ich schüttelte den Kopf. "Bis jetzt noch nicht. Carol auch nicht."
"Was ist mit Liza? Sie gehört auch zu den Favoritinnen für's Stechen", meinte Danny. Ich zuckte die Schultern. "Keine Ahnung, aber ich kann ja mal nachsehen", bot ich an.
"Das wäre nett." Danny lächelte mir wieder zu, sodass mir ganz flau wurde.
"Ach, Alice, könntest du meine Abschwitzdecke mitbringen? Eigentlich wollte das ja Michael machen, aber er scheint es vergessen zu haben", bat William.
"Kein Problem! Ich bin gleich wieder da." Ich joggte zum Anschlagbrett, wo die Startlisten ausgehängt waren. Auf dem Rückweg holte ich im Stall rasch Troubles Decke, dann lief ich zurück zu William und Danny. "Noch drei Starter vor Emily, dann einer dazwischen, dann Carol, Liza kommt erst als Zweitletzte", erklärte ich, während ich Trouble die Fleecedecke überwarf.
"Sie sind jetzt erst in der Hälfte", meinte Danny, "das kann noch dauern."
"Mindestens eine Stunde", bestätigte William. "Dann können wir zwischendurch ja absatteln. Wozu sollen wir hier noch länger rumstehen?"
Ich begleitete die beiden zum Stall und half beim Versorgen der Pferde, dann gingen wir zur Tribüne und verfolgten das Springen. Plötzlich fiel mir eine Person ein paar Sitzreihen weiter unten auf, besser gesagt, zwei Personen. Ich stiess William an. "Schau mal, da unten, zweite Reihe, etwas weiter rechts."
Einen Moment lang war seine Miene ratlos, dann begann er zu lachen. "Michael und Ella. Hab ich's doch gewusst!"
Tatsächlich sassen die beiden ziemlich dicht beieinander, Michael hatte seinen Arm um die Schultern der rothaarigen Frau gelegt.
"Sag mal, wie alt ist Michael eigentlich?"
William dachte einen Augenblick nach. "Als ich vor drei Jahren auf den Hof kam, hatte er gerade seinen 55. Dann müsste er jetzt 58 sein. Aber warum meinst du?"
Ich zuckte die Schultern. "Nur so."
"Ihr solltet euch jetzt besser auf's Zuschauen konzentrieren, da kommt Emily", bemerkte Danny. Tatsächlich lenkte Emily gerade ihren Braunen in den Parcours.
Bis auf William und Danny hatte bisher kein weiterer Reiter einen Null-Fehler-Ritt geschafft, doch Emily hatte gute Chancen.
Auf den Klang der Glocke stürmte Viscount voller Tatendrang vorwärts, Emily nahm in mit einer halben Parade etwas zurück und kam perfekt auf den ersten Sprung. Auch die Tripplebarre und den Wassergraben nahmen die beiden in vollendeter Manier, als handle es sich um ein Stilspringen. Viscount buckelte übermütig und schnaubte begeistert.
Die beiden kamen auf die Kombination zu, hier waren bisher die meisten Fehler passiert. Doch die beiden nahmen auch dieses Hindernis souverän, der Abstand stimmte auf den Zentimeter genau. Sie beendeten die Runde nach zwei weiteren Steilsprüngen, einem Oxer und der Mauer fehlerfrei.
"Emily Lloyd mit Viscount, im Besitz von Charlene Kensey", ein Knacken unterbrach die Ansage, bevor der Speaker weitersprach, "null Fehler in 71,61."
Den Beifall konnte man nur als rauschend bezeichnen. Emily fiel ihrem Pferd um den Hals und tätschelte ihn. Der Parcours hatte es wirklich in sich gehabt, einige Hindernisse waren ziemlich knifflig anzureiten gewesen.
"Sieht bisher so aus, als würde es ein Duell zwischen unseren beiden Ställen", meinte William zu Danny, der scherzhaft die Augen zusammenkniff und meinte: "Dann sind wir von jetzt an Feinde.", woraufhin die beiden zu lachen begannen.
"Ein alter Scherz", erklärte William auf meine wohl ziemlich ratlose Miene hin.
"Die nächste Reiterin ist Barbara Wells auf Kelly Crown, die im Besitz der Charleston Stables steht", wurde bereits die nächste Teilnehmerin angekündigt.
"Liam, das ist die Stute", sagte Danny.
"Welche Stute?", fragte ich neugierig.
"Sie steht zum Verkauf, und Carol hat darüber nachgedacht, sie mal anzuschauen, weil sie endlich ein eigenes Pferd sucht. Kelly wäre perfekt, sie ist noch relativ jung, hat aber eine tolle Abstammung, eine gute Ausbildung und schon etwas Turniererfahrung", erklärte Danny. Ich musterte den Apfelschimmel. "Sie hat tolle Gänge, überhaupt ein gutes Exterieur", bemerkte ich.
"Ja, seh ich auch so. Und sie scheint ein angenehmes Temperament zu haben", fügte William hinzu. "Carol soll sie doch morgen mal ausprobieren. Connor hat ja noch mehr Pferde am Start, also ist er bestimmt noch hier. Und ihr wolltet ja auch erst morgen Abend fahren."
Ich hörte nur noch halb zu und konzentrierte mich stattdessen auf die Stute. Sie schien unsicher, immer wieder zögerte sie und sprang unkonzentriert. Sie wirkte überhaupt ängstlich und total überfordert. Ich schaute zu William, der die Stirn in Falten gelegt hatte.
Die Reiterin lenkte die Stute auf die Kombination zu. Doch kurz vor dem Hindernis zögerte das Pferd wieder. Die Reiterin trieb es mit Sporen und Gerte vorwärts, die Stute wollte abspringen, doch sie war zu dicht am Sprung und prallte mit der Vorhand in die Stangen. Holz splitterte. Die Reiterin verlor das Gleichgewicht und stürzte.
Man hörte jemanden aufschreien, im nächsten Moment rannte ein Helfer, gefolgt vom Sanitäter, über den Springplatz. Auf der Reitertribüne wurden Stimmen laut, ein älterer Mann - wahrscheinlich der Besitzer des Pferdes - stürzte zur Treppe.
Die Reiterin war inzwischen wieder aufgestanden und klopfte sich den Dreck von der Hose, die Schimmelstute allerdings, die der Helfer inzwischen am Zügel genommen hatte, schonte ihr linkes Vorderbein.
Inzwischen hatten auch der Tierarzt und der Mann, der tatsächlich der Besitzer - Connor O'Brian - war, den Springplatz betreten. Ich rutschte unruhig auf meinem Platz herum, bis Danny mir eine Hand auf die Schulter legte und mich beruhigend ansah. Der Blick verfehlte seine Wirkung nicht, und mir wurden wieder die Knie weich. Ich war froh, dass ich sass.
Der Tierarzt liess die Stute vortraben, schüttelte kurz den Kopf und tastete dann das Bein ab. Er redete kurz mit dem Besitzer, dann verliess er den Platz. Mr O'Brian und Barbara Wells gingen ebenfalls zum Ausgang, ohne noch einen Blick auf das Pferd zu werfen, das der Helfer nach einigen ratlosen Blicken hinter ihnen her führte.
"Wie kann man nur so herzlos sein? Schliesslich war ja die Reiterin schuld", murmelte ich, mehr zu mir selbst.
"Eigentlich ja der Besitzer! Die Stute war ja ganz offensichtlich überfordert! Warum lässt er sie dann überhaupt so eine Prüfung gehen?", ereiferte sich Danny. William sagte gar nichts, doch sein Gesicht hatte einen missmutigen Zug.
"Entschuldigt mich!" Ich sprang auf und lief zur Treppe. Danny rief mir noch etwas nach, doch ich hörte es schon nicht mehr. Mich interessierte viel mehr, was mit der Stute passiert war. Ich schlenderte ein wenig umher, auf der Suche nach Mr O'Brian, und entdeckte ihn schliesslich mit Barbara vor dem Stall.
"Dieses Pferd hat überhaupt kein Talent! Die Abstammung mag noch so toll sein, sie hat einfach keine Ahnung, wohin mit ihren Beinen, ich kann machen, was ich will! Sie ist einfach total unbegabt!", regte Barbara sich auf und spielte missgelaunt mit ihrer Gerte. "Wenn Sie mich fragen, war das die grösste Fehlinvestition! Wer will so ein Pferd jetzt noch?"
Mr O'Brians Antwort verstand ich nicht, doch auch er wirkte ziemlich verärgert. Plötzlich bemerkte er mich. "Kann ich helfen?", fragte er irritiert. Ich spürte, wie ich rot wurde. "Ähm... na ja... ich wollte mich bloss nach dem Pferd erkundigen... Wie geht es ihr?"
"Nach mir fragt wohl hier niemand! Schliesslich hat mich der dumme Gaul abgeworfen. Und der ist selber schuld, dass er nicht gesprungen ist!"
In mir stieg die Wut auf. "Weisst du was, Miss Superschlau? Der 'dumme Gaul' kann überhaupt nichts dafür! Würdest du nur eine Minute lang auf das Pferd achten, statt an den Gewinn zu denken, wäre dir aufgefallen, wie sehr sie sich bemüht hat! Aber sie war schlichtweg überfordert! Es war total verantwortungslos, die Stute in einen Parcours zu schicken, für den sie noch nicht bereit war!" Erst, als ich Mr O'Brians Blick sah, wurde mir bewusst, was ich gerade alles gesagt hatte. Barbara sah aus, als würde sie jeden Moment explodieren, als sie mich anfuhr: "Du solltest besser nicht von Dingen reden, von denen du keine Ahnung hast! Und jetzt verschwinde besser, bevor..."
"Bevor was?", konterte ich. "Weisst du, ich will dir einen guten Rat geben: bevor du dein Pferd als untalentiert beschimpfst, solltest du dir besser mal über dein eigenes Talent Gedanken machen. Und Ihnen", ich sah Mr O'Brian an, der knallrot im Gesicht war, "würde ich dasselbe empfehlen!" Damit drehte ich mich um und lief davon. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich hörte, wie Barbara über mich herzog und mich eine "unwissende Person" nannte, die Pferde wohl bisher nur aus Büchern kannte und sich besser nicht einmischen sollte, wenn "Leute, die ja wohl eindeutig etwas davon verstanden" über etwas redeten. Wäre ich nicht so wütend gewesen, hätte ich das Ganze beinahe amüsant gefunden.
"Alice, da steckst du ja!"
Ich schaute auf und sah Carol, die mit ihrem Pferd am Zügel auf mich zukam. Siedend heiss fiel mir das Springen wieder ein. "Warst du schon dran?"
Sie nickte. "Keine Sorge, hast nix verpasst." Sie verzog das Gesicht.
"So schlimm?"
"Ziemlich. Na ja, wir hatten wohl einfach einen schlechten Tag." Sie klopfte ihrem Wallach den Hals. Ich beschloss, ihr von Kelly zu erzählen. Als ich fertig war, sah sie mich ungläubig an. "Das hast du wirklich alles zu ihm gesagt?"
Ich nickte, und sie begann zu lachen. "Ach, ich wünschte, ich hätte Barbaras Gesicht gesehen. Aber das mit Kelly..."
"Ich hoffe, O'Brian hört nicht auf diese dumme Barbara und schläft sie nicht ein! Das hat sie nicht verdient. Es war ja nicht mal ihre Schuld!"
Carol legte den Kopf schief, ihre Miene war nachdenklich. "Vielleicht..."
"Was vielleicht?", fuhr ich ungeduldig dazwischen.
"Ich werde ihm ein Angebot für die Stute machen. Wenn er sie sowieso loswerden will, dann..."
"Carol, das ist Wahnsinn! Du hast keine Garantie, dass sie je wieder im Sport eingesetzt, geschweige denn geritten werden kann. Du weisst ja nicht mal, was für eine Verletzung sie sich zugezogen hat!" Obwohl ich natürlich auf diese Antwort gehofft hatte, wusste ich doch - und Carol wusste es genauso gut - wie riskant es war.
"Das Risiko bin ich bereit einzugehen! Aber wir sollten den Teufel nicht an die Wand malen, sondern erst einmal abwarten. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm." Sie klang nicht überzeugt, und ich war ebenfalls skeptisch. Doch schliesslich machten wir uns auf den Weg zum Stall. Plötzlich blieb ich stehen. "Was macht der denn hier?"
"Wer denn?", fragte Carol neugierig. Ich hätte mich für meine grosse Klappe bereits zum zweiten Mal an diesem Tag ohrfeigen können. "Ian. Da drüben." Ich nickte zu ihm hinüber. Er stand mit Mr O'Brian am Stalltor.
"Ach so. Du kennst ihn?"
"Wir sind praktisch Nachbarn."
Wir hatten inzwischen den Stall erreicht. Als Ian mich erkannte, lächelte erfreut. "Alice, Darling. Ich wusste nicht, dass du auch hier bist!" Das "Darling" klang für meinen Geschmack etwas zu besitzergreifend, weshalb ich es schlicht überhörte. "Hi, Ian", antwortete ich möglichst gleichgütlig. Mr O'Brian musterte mich kurz abschätzig, dann ignorierte er mich.
"Hey, Ian. Connor, tut mir leid, das mit deiner Stute. Wie sieht die Diagnose aus?", fragte Carol. Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. "Der Tierarzt meinte, es kommt von der Schulter. Sie sei auf jeden Fall geprellt, wahrscheinlich schlimmer. Aber ohne Röntgenbild wollte er sich nicht festlegen. Aber meine Entscheidung steht ohnehin schon fest! Was soll ich mit einem Springpferd, das nicht springt? Ausserdem ist sie so unbrauchbar, dass es sich nicht lohnt, sie zu behalten, so oder so. Wenn sich kein Käufer für sie findet, dann..."
"Wieviel?"
Mr O'Brian sah auf. "Was?", fragte er entgeistert.
"Wieviel?", wiederholte Carol. "Sie wollen die Stute loswerden, hier ist ein Käufer."
"Carol, ich rate dir davon ab. Der Gaul ist für den Springsport absolut ungeeignet. Taugt höchstens als Ausreitpferd. Wenn überhaupt. Schau dir doch lieber meine Vierjährigen an, es hat ein paar interessante Pferde darunter, die dir gefallen könnten", versuchte Mr O'Brian sie davon abzubringen. Doch Carol blieb hart. "Wenn du das Pferd doch sowieso weghaben willst, dann verkauf sie doch an mich. Du machst immer noch den besseren Deal."
"Dann nimm sie halt", knurrte er. "Aber sag nicht, ich hätte es dir nicht gesagt. Für 5000 kannst du sie haben."
"2000", antwortete Carol. "Immerhin habe ich keine Garantie, dass sie wieder fit wird, und den tollsten Stammbaum hat sie auch nicht gerade."
"Na gut. Aber nur, weil ich so eine hohe Meinung von deinem Bruder habe! Du kriegst die Papiere und den Vertrag nächste Woche, den Gaul kannst du gleich mitnehmen."
Carol sah mich begeistert an. Mr O'Brian drehte sich wortlos um und verschwand im Stall. Ian blieb bei uns stehen. "Na dann, darf ich die Damen zur Feier des Kaufes auf einen Drink einladen?"
"Tut mir leid, ich muss erst einmal Fair versorgen, und dann würde ich gerne nach Kelly sehen", lehnte Carol ab. Ian sah mich an. Es gab nichts, worauf ich im Moment weniger Lust hatte, als auf einen Drink mit Ian. "Ähm... Ich... wollte eigentlich zurück zur Tribüne, ich bin... mit William verabredet, wir wollten... Trouble satteln, weil er ja bald das Stechen hat", versuchte ich mich verzweifelt heraus zu reden. Obwohl es bis zum Stechen noch mindestens eine Dreiviertelstunde dauerte, kaufte Ian mir den Schwindel kommentarlos ab. Wahrscheinlich hatte ihm nicht sonderlich gefallen, dass ich mich mit William treffen wollte. Mir war das ganz recht. Er sollte ruhig mal aufhören, so besitzergreifend zu sein.
Ich schlenderte zurück zum Springplatz.
"Da bist du ja", empfing mich William. "Du hast Carols Ritt verpasst."
"Ja, ich weiss. Ich hab sie unterwegs getroffen. Ist nicht so gut gelaufen, wie's scheint."
Danny nickte finster. "Vier Abwürfe. Und sie waren ganz schön knapp in der Zeit. Sean ist nicht sehr glücklich darüber."
"Sind bis jetzt noch andere Reiter ins Stechen gekommen?", fragte ich und setzte mich wieder zwischen sie.
"Ja, zwei. Lauren Ritter und Shane Halter. Langweilig wird's auf keinen Fall." William grinste.
"Ich hab auch News", verkündete ich und legte eine Kunstpause ein. Die beiden sahen mich gespannt an.
"Carol hat Kelly gekauft."
"Sie hat WAS?", fragte Danny so laut, dass sich alle empört nach uns umdrehten. Er lächelte ihnen entschuldigend zu. Dann wandte er sich wieder an mich. "Ist sie wahnsinnig?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Kann schon sein. Aber Mr O'Brian hätte die Stute sonst wahrscheinlich zum Abdecker gebracht. Dabei ist sie so ein tolles Pferd. Das mit ihrer Schulter kommt schon wieder hin", meinte ich zuversichtlich. Danny sagte nichts, doch ihm schien die Sache nicht besonders zu gefallen.
"Weiss man denn schon Genaueres über die Verletzung?", erkundigte sich William. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, der Tierarzt wollte sich ohne Röntgenbilder nicht festlegen. Aber sie hat mindestens eine Prellung."
In diesem Moment horchten wir auf, da der Ansager gerade eine weitere Teilnehmerin im Stechen verkündete: Liza O'Brian.
Einen Moment lang sass ich wie erschlagen da. Wenn Liza auch O'Brian hiess, konnte das nur heissen, dass sie die Tochter von Connor O'Brian war. Und das wiederum bedeutete...
"Alice, alles in Ordnung? Du bist ganz blass", stellte William besorgt fest.
"Ach, nein, geht schon. Mir... war nur gerade etwas schwindlig. Ich glaube, ich hab zu wenig getrunken heute", wehrte ich ab. Er nickte bloss, schaute aber immer wieder prüfend zu mir rüber.
Ich versuchte, mich wieder auf den Parcours zu konzentrieren. Liza hatte die beiden ersten Hindernisse schon problemlos hinter sich gebracht. Ich warf einen Blick auf die Zeitanzeige. Sie war schnell, zweifelsohne, aber ob sie auch fehlerfrei bleiben würde? Wenn man auf Zeit ritt, bestand immer die Gefahr, dass man ein Hindernis nicht sauber oder zu schnell anritt. Doch Liza schien trotz des hohen Tempos keine Schwierigkeiten zu haben, ihr Pferd ging perfekt über die Hindernisse, meist war sogar noch ordentlich Platz dazwischen. Ich hoffte vergebens, dass eine Stange fiel, die beiden beendeten den Parcours ohne Fehler und in der bisher besten Zeit. Liza strahlte siegessicher, so, als hätte sie schon gewonnen.
"Verdammt", fluchte ich leise. Danny sah mich grinsend an. "Ihr zwei seid wohl nicht gerade beste Freundinnen, was?"
"Könnte man so sagen", antwortete ich grimmig. Er lachte. "Ich werde versuchen, besser zu sein als sie." Er lächelte.
"Dann sind wir ja schon zwei", meinte William. Täuschte ich mich, oder hörte ich da Eifersucht in seiner Stimme?
"Worum wetten wir diesmal?", fragte Danny und stand auf. Ich sah die beiden erstaunt an.
"Das ist eine Art Tradition zwischen uns. Schon seit wir uns kennen", erklärte er mir.
"Aha."
"Wie wär's, wenn der Gewinner dich küssen darf?", schlug Danny augenzwinkernd vor. Ich fiel aus allen Wolken. Damit hatte ich nicht gerechnet. William grinste. "Warum nicht?"
Ich überlegte einen Moment. Eigentlich gefiel mir der Vorschlag. Ich lächelte die beiden an. "Wenn ihr darauf besteht...", antwortete ich keck. Dann drehte ich mich um und rief ihnen über die Schulter zu: "Viel Glück euch beiden! Wir sehen uns bei der Siegerehrung." Ich warf meine Haare mit einer gekonnten Handbewegung nach hinten und verschwand Richtung Stall. Ein bisschen Show konnte schliesslich nicht schaden. Ich musste zugeben, dass mir die ganze Sache sogar Spass machte.
"Was guckst du denn so fröhlich?", fragte Emily neugierig, als ich zu ihr in Viscounts Box trat.
"Ach, nix. Nur gute Laune." Die Geschichte mit der Wette musste ich Em nicht unbedingt auf die Nase binden. Sie hätte nur wieder ein riesen Drama draus gemacht.
"Wann geht's denn weiter?", fragte ich.
"In einer halben Stunde. Ich bin als erste dran. Vielleicht sollte ich langsam satteln, was meinst du?"
"Die Zeit brauchst du schon zum Aufwärmen. Komm, du sattelst, ich leg die Gamaschen an."
Zu zweit hatten wir die Arbeit schnell erledigt. Emily führte ihren Wallach nach draussen. Ich machte mich auf die Suche nach Carol. Ich fand sie in der Box von Kelly. "Und, schon mit dem Tierarzt gesprochen?"
Sie drehte sich zu mir um. "Oh, du bist's." Sie lächelte. "Ja, aber er hat mir auch nicht mehr gesagt als Connor. Ich werd sie zu Hause als erstes von unserem Tierarzt untersuchen lassen", erzählte sie. Die Schimmelstute, die bisher mit hängendem Kopf gedöst hatte, öffnete die Augen und stupste Carol an. Sie streichelte ihre Nase. Lächelnd betrachtete ich die beiden. "Ihr zwei passt wirklich gut zusammen. Hoffentlich wird sie wieder!"
Carol nickte. "Das hoffe ich auch!" Sie gab der Stute einen letzten Klaps auf den Hals, dann verliess sie die Box und schloss sorgfältig den Riegel. "Wie sieht's aus?"
"Es sind sechs Reiter im Stechen, in einer halben Stunde geht's los. Emily ist die Erste", informierte ich sie, während wir zusammen zum Springplatz hinüber gingen, wo gerade der Parcours umgebaut wurde. In der Zwischenzeit sahen wir uns die parallel laufenden Dressurprüfungen in der Halle an und beobachteten eine Weile die Hengstschau, die auf dem anderen Aussenplatz lief.
Als wir wieder zurück zum Springplatz schlenderten, begegneten wir Charlene, die ganz begeistert war, beide ihrer Pferde im Stechen zu haben. "Das ist gute Werbung für uns. Obwohl wir es ja nicht nötig haben", meinte sie augenzwinkernd. Ich grinste. Zusammen gingen wir zur Tribüne. Emily wartete bereits am Eingang zum Parcours. Sie sah ein bisschen nervös aus. Gerade, als sie einritt, liess sich Alex neben mich auf die Bank fallen.
"Wo hast du denn den ganzen Tag gesteckt?", fragte ich.
"Ach, ich hab mir die Stände angesehen. Und danach war ich bei Cube. Das Fesselgelenk hinten links war etwas geschwollen, ich hoffe, das kommt bloss vom Stehen. Sie läuft auch etwas steif, aber sie geht nicht lahm." Alex sah besorgt aus.
"Da ist bestimmt nichts, mach dir keine Sorgen", versuchte ich sie zu beruhigen. "Wir können es heute Abend zur Sicherheit etwas kühlen, dann ist sie morgen schon fit. Solange sie gerade läuft..."
"Konzentriert euch lieber, ihr beiden", mahnte Carol. Emily ritt gerade den ersten Sprung an. Der Parcours war um zwei Hindernisse verkürzt, die Abfolge etwas geändert und zwei Sprünge erhöht worden.
Emily bemühte sich, den Parcours ruhig und sauber zu reiten, was sich auch bewährte. Sie kamen ohne Fehler durch, kassierten aber dennoch einen Strafpunkt wegen Zeitüberschreitung.
Als nächstes war Laura Ritter dran, eine der Reiterinnen, die ich nicht gesehen hatte. Sie ritt einen nervösen Fuchshengst, der schon beim Geräusch der Glocke kerzengerade in die Luft stieg. Die Reiterin hatte ihre liebe Mühe, das Pferd wieder unter Kontrolle zu bringen. Jeder Versuch ihrerseits, das Pferd zu beruhigen, misslang und machte den Hengst nur noch nervöser. Schliesslich gab sie es auf, galoppierte ihn an und ritt ihn vorwärts. Schon vor dem ersten Sprung versuchte der Fuchs, seitlich auszubrechen. Laura schien das jedoch vorausgesehen zu haben, sie knallte ihm die Gerte auf die Schulter. Der Hengst sprang praktisch aus dem Stand ab. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte die Stange mitgenommen.
Vor dem Oxer probierte er denselben Trick nochmals, wieder verhinderte Laura es, doch diesmal hatten sie weniger Glück und räumten die obere Stange ab. Die von einer dreifachen zu einer zweifachen verkleinerte Kombination nahmen die beiden auch mehr schlecht als recht und schafften es mit Hängen und Würgen über den Sprung, allerdings nahm der Hengst auch hier mit den Hinterbeinen eine Stange mit. Er buckelte ärgerlich über den Fehler und legte sich der Reiterin auf die Hand. Die beiden kamen auf den Wassergraben zu. Laura trieb ihn mit Gerte und Sporen vorwärts, doch der Hengst hatte anderes im Sinn, er zog kurz vor dem Hindernis eine Vollbremsung, dass sie Reiterin auf seinen Hals geschleudert wurde.
Verärgert rückte sie ihre Reitkappe zurecht, wendete ab und ritt erneut an. Doch wieder stoppte das Pferd kurz vor dem Hindernis.
"Noch einer, und sie ist draussen", murmelte Carol gespannt.
Laura startete einen letzten Versuch, trieb den Fuchs mit allem, was sie hatte. Erst sah es so aus, als würde er springen, doch diesmal brach er wieder zur Seite weg.
"Aus", kommentierte Alex trocken. Wir atmeten alle auf. Jeder Reiter, der wegfiel, bedeutete eine bessere Platzierung für Emily und die Jungs. Als nächste war Liza dran. Wir verfielen wieder in gespanntes Schweigen.
Liza grüsste und galoppierte ihren Braunen an.
"Eins muss man ihr lassen: Star Gazer sieht toll aus unter ihr", bemerkte Carol anerkennend. Es stimmte, Liza harmonierte wirklich mit ihrem Pferd. Der Wallach ging ruhig und schien ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Ich musste zugeben, dass ich die beiden nicht ganz ohne Neid betrachtete.
Wie schon in der Vorrunde hatten die beiden an keinem einzigen Hindernis Probleme und blieben innerhalb der erlaubten Zeit. Liza parierte ihr Pferd zum Trab durch und winkte begeistert ins applaudierende Publikum. Ich verabscheute sie mit jeder Minute mehr. Sie warf William, der mit Trouble schon am Eingang wartete, eine Kusshand zu, wofür ich ihr hätte den Hals umdrehen können. Alex schien es zu bemerken. "Alice, entspann dich", murmelte sie, "ich dachte, du willst nichts von William?"
Sie hatte eigentlich recht. Oder? Ich war mir nicht ganz sicher. Verärgert schüttelte ich den Kopf. Der Ansager kündete jetzt William an, der unter dem Jubel des Publikums einritt. William schien - neben Danny - ganz der Publikumsliebling zu sein.
"Das ist immer so", erklärte Carol, "die beiden sind total beliebt bei den Zuschauern. Weiss der Teufel, warum. Klar, sie sind gut, aber auch nicht besser als manch anderer hier auf dem Platz. Letztes Jahr haben die beiden eine riesen Show abgezogen." Sie grinste.
William hob grüssend die Hand, dann legte er sie kurz zum Richter gewandt an den Rand der Reitkappe, bevor er die Zügel sortierte und seinen Hengst aus dem Stand angaloppieren liess. Carol schüttelte amüsiert den Kopf.
Er ritt auf mehr Risiko als in der ersten Runde, ritt schneller, schnitt die Kurven und kam mehr als einmal schräg auf einen Sprung. Doch Trouble rettete ihn aus jeder noch so kniffligen Situation.
"Unglaublich", murmelte Alex bewundernd. Das war es tatsächlich. Jedem anderen wäre es wahrscheinlich misslungen. Aber William und Trouble schafften schier unmögliches. Man spürte, wie die beiden einander vertrauten und genau wussten, was sie dem anderen zumuten konnten. Es schien eine unsichtbare Verbindung zwischen ihnen zu geben.
Er beendete den Parcours. Tosender Applaus brandete auf. War es die Wette, die ihn so angespornt hatte? Oder war er auch sonst so ehrgeizig?
"Er hat auch sonst ziemlich was geboten. Aber das hier..." Carol - als hätte sie meine Gedanken gelesen - schüttelte ungläubig den Kopf.
"Und diesen Meisterritt von William Evans auf Troubleshot in 56,02, meine Damen und Herren. Was für eine Leistung", verkündete der Ansager atemlos. William klopfte seinem Pferd begeistert den Hals. Der Hengst buckelte übermütig. William riss sich die Kappe vom Kopf und winkte damit dem Publikum zu, während er sein Pferd Richtung Ausgang galoppieren liess.
"Das toppt keiner mehr", meinte Carol.
"Meinst du?", fragte ich. "Was ist mit Danny?"
"Könnte eine Chance haben. Aber da müsste er wie Gott in Person reiten, nach Liams Teufelsritt." Sie lachte über das Wortspiel.
Als nächstes kam Shane Halter an die Reihe. Er ritt einen Riesen von einem Rappen, mit mindestens 1,85 Meter Stockmass, eines jener Pferde, bei denen man eine Leiter brauchte, um in den Sattel zu kommen. Trotz seiner Grösse wirkte der Rappe jedoch nicht ungelenk, sondern hatte etwas Tänzerisches an sich. Sein Name, Lucky Dance, passte perfekt zu ihm.
Shane ritt mit entschlossener Miene an. Er trieb sein Pferd an, sodass sie bereits auf den ersten Sprung etwas zu schnell kamen. Doch es reichte gerade knapp. Auch er versuchte, durch Abkürzungen so viel Zeit wie möglich zu sparen. Bei den ersten Sprüngen gelang es ihm, wenn auch sehr knapp. Aber als er auch noch die Kombination schneiden wollte, kam er total verkehrt auf den ersten Sprung. Das Pferd hebelte sich irgendwie hinüber, doch den zweiten schafften die beiden nicht mehr. Die Stange fiel.
"Der wäre somit auch aus dem Rennen", meinte Alex.
"Jetzt kommt's nur noch auf Danny an."
Ärgerlich über seinen eigenen Fehler zog das Pferd an. Die beiden schafften knapp den Wassergraben, doch auch an der Mauer touchierte der Rappe mit den Vorderhufen. Das letzte Hindernis dagegen nahmen sie perfekt.
Dann war endlich Danny an der Reihe. Er wirkte angespannt, Top tänzelte aufgeregt, als könne er es kaum erwarten, endlich zu zeigen, was er konnte. Danny ordnete noch einmal in aller Ruhe die Zügel, bevor er anritt. Top schnaubte zufrieden im Takt der Galoppsprünge. Es war eine bewundernswerte Harmonie zwischen den beiden da. Danny ritt den ersten Sprung an. So leicht und elegant wie eine Feder setzte das Pferd darüber. Danny war schnell unterwegs, doch er ritt nicht auf Risiko so wie William. Viel mehr bemühte er sich, die Sprünge sauber anzureiten.
Ich sah William mit zufriedenem, siegessicheren Lächeln am Eingang stehen und Dannys Ritt beobachten. Ich warf einen Blick zur Anzeigetafel. Danny lag gut in der Zeit, aber ob er schneller war als William?
Danny nahm den letzten Sprung. Es dauerte einen Moment, dann knackte es im Lautsprecher. Ein weiterer Augenblick verging, bis der Ansager das Ergebnis verkündete. Gespanntes Schweigen hing über den Zuschauertribünen, bis der Ansager sich wieder gefasst hatte. "Das ist eine Sensation, meine Damen und Herren. Einfach unfassbar! Danny Carter mit Rooftop Flyer in 56,01 und somit der Gewinner der heutigen..."
Der Rest ging in dem ohrenbetäubendem Beifall unter, der aufbrandete. Carol sprang begeistert auf. "Er hat gewonnen!", rief sie übermütig. Sie packte mich und zog mich hinter sich her zur Treppe. Wir rannten hinüber zum Eingang, wo die Reiter auf die Siegerehrung warteten. Danny grinste zufrieden, William dagegen zog ein ziemlich saures Gesicht und auch Liza schien nicht gerade glücklich zu sein, was mich besonders freute.
"Super Ritt, Danny, ihr beiden war fantastisch!" Carol klopfte begeistert den Hals des Pferdes und belohnte ihn mit einer Karotte. "Ihr beiden habt wirklich einen Wahnsinnsritt hingelegt, schade, hat es nicht gereicht", meinte sie aufmunternd zu William.
"Na ja..." Er kraulte seinen Hengst am Mähnenansatz.
"Die Reiter bitte zur Siegerehrung", bat der Ansager. Danny und William nahmen praktisch synchron die Zügel auf. Charlene und Michael waren inzwischen bei uns angekommen, in Begleitung von Mr O'Brian und einem zufrieden aussehenden älteren Mann, der wahrscheinlich Lord Danby, Rooftops Besitzer, war. Er war in Begleitung einer älteren Frau, die einen eher resoluten Eindruck machte und sich angeregt mit Michael unterhielt. Ich vermutete, dass es sich um die Trainerin handelte.
"Alice, komm." Charlene winkte mich mit einem Lächeln zu sich. Ich sah sie verwundert an. "Was, ich?"
"Natürlich, oder willst du etwa nicht mit zur Siegerehrung?" Sie lachte. Etwas verwirrt folgte ich ihr auf den Platz. Eigentlich war er nicht üblich, dass der Besitzer mitging. Jedenfalls hatte ich so etwas zu Hause noch nie erlebt.
Die Reiter stellten sich nebeneinander auf, ich hielt mich etwas im Hintergrund und gesellte mich zu Charlene neben William.
Shane wurde Fünfter, Emily kam auf den vierten Platz. Bei Danny und William hob der Ansager noch einmal die "unglaublichen Ritte, in deren Genuss wir heute kommen durften" hervor, bevor ihnen Schleifen und Medaillen überreicht wurden. Während sie "We are the champions" spielten, grinste Danny mir zu. "Na, wir wär's? Lust, das Turniergespräch zu werden?" Er spielte damit wohl auf die Wette an. Ich lächelte frech zurück. "Warum nicht?"
Er beugte sich halb vom Pferd. Ich trat zwei Schritte auf ihn zu, zog ihn etwas näher zu mir hinunter und küsste ihn. Das Publikum tobte, anders konnte man es nicht nennen. Danny löste eine Hand von den Zügeln und legte sie mir auf den Rücken. Ich vergass alles um mich, konzentrierte mich nur auf den Kuss. Es wäre gelogen zu behaupten, dass ich es nicht genoss. Danny küsste wirklich fantastisch.
Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis er mich wieder losliess. Ich lächelte leicht verlegen in die Runde. Im Publikum wurde noch immer geklatscht und gepfiffen. Von Charlene, Emily und Carol erntete ich verwunderte Blicke, Liza starrte mich wütend an. Ich schaute hinüber zu William. Er wich meinem Blick aus und starrte mich verkniffenem Mund stur geradeaus.
Die Reiter wurden gebeten, die Ehrenrunde zu reiten. Danny liess seinen Wallach aus dem Stand in den Galopp springen, William und die anderen folgten. Carol trat zu mir. "Sag mal, hab ich was verpasst? Was sollte das eben?" Sie klang verärgert, doch ich war mir nicht recht sicher, wieso. War es, weil ich ihren Bruder geküsst hatte? "Ach, es ging bloss um eine Wette", antwortete ich ausweichend. Sie schien mit der Antwort nicht so recht zufrieden zu sein, doch sie kam nicht dazu, weiter nachzubohren, denn die Reiter kehrten bereits von ihrer Runde zurück.
Wir verliessen den Springplatz. Erst jetzt bemerkte ich, dass bei Mr O'Brian und Liza auch Ian stan. Mr O'Brian redete leise auf Liza ein, die Stirn in Falten gelegt. Ian sah zu mir hinüber. Ich glaubte, in seinem Blick etwas Vorwurfsvolles zu erkennen, doch im nächsten Moment wandte er sich auch schon ab. Ich schüttelte verärgert den Kopf. Was hatten denn alle?
Ich gesellte mich zu Emily, die inzwischen abgestiegen war und mich neugierig ansah. "Du und Danny?", fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. "Das hatte bloss mit einer Wette zwischen ihm und William zu tun. Ich mag ihn, aber nicht so."
"Schade." Sie klang bedauernd, doch so recht schien sie mir bloss zu glauben. Ich hatte angenommen, dass sie von Dannys und Williams Scherzen Bescheid wusste, aber offenbar schien ich die erste zu sein, die sie in die Sache mit der Wette eingeweiht hatten.
Ich half ihr, Viscount abzusatteln. Danach ging Emily erst mal duschen. Ich stand etwas planlos in der Stallgasse herum und beschloss schliesslich, bei Casual vorbeizuschauen. Der Schimmel begrüsste mich mit einem freundlichen Schnauben.
"Sieh an, wir beide werden anscheinend doch noch Freunde." Ich lachte und kraulte ihm die Stirn.
"Meinst du uns beide?"
Ich drehte mich um. Danny stand lässig an die Boxentür gelehnt da. Er hatte sein Turnierdress gegen T-Shirt und Jeans getauscht, seine Haare waren noch feucht vom Duschen.
"Sind wir das nicht schon?", antwortete ich grinsend. War ich mal wieder schlagfertig heute! Er stiess sich von der Boxentür ab und kam auf mich zu. "Ich bin mir nicht so recht sicher." Sein Lächeln war wie immer umwerfend. Ich lachte verlegen. Er kam noch näher, bis er nur noch einen Schritt von mir entfernt stand. "Alice..." Er fuhr mir sanft mit der Hand über die Wange, dann beugte er sich zu mir hinunter und küsste mich. Ich schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte den Kuss. Ich wusste selbst nicht genau, was ich erwartete, aber es machte mir Spass, mit Danny zusammen zu sein. Ich war mir nicht sicher, ob ich in ihn verliebt war. Aber er gefiel mir.
Ein Räuspern liess uns auseinanderfahren. Emily stand in der Stallgasse. Sie sah mich bedeutungsvoll an, dann meinte sie bloss: "Wir wollten doch noch ein bisschen feiern. Alle warten schon auf euch!"
"Wir kommen", antwortete Danny gelassen. Ihm schien die Situation überhaupt nichts auszumachen. Er ging voraus zum Wohnhaus zurück. Emily hielt mich etwas zurück. Leise fragte sie: "So, so, ich dachte, da läuft nichts zwischen dir und Danny?"
"Tut es auch nicht!", wehrte ich ab.
"Ach nein? Sah aber nicht gerade danach aus!" Sie hob eine Augenbraue. "Alice, das kannst du meinetwegen deiner Grossmutter erzählen, aber nicht mir. Also?" Wenn Emily sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sie nicht mehr davon abbringen, das hatte ich inzwischen gemerkt. Ich seufzte bloss. Emily sah mich ungeduldig an. "Alice..."
"Was ist, kommt ihr oder nicht?" Danny hielt uns auffordernd die Tür zum Wohnhaus auf.
"Äh, ja", sagte ich schnell, bevor Emily etwas entgegnen konnte und schlüpfte hinein. Wir gingen hinüber zum Esssaal hinüber, aus dem es bereits tönte, als wäre schon ziemlich viel Alkohol geflossen an diesem Abend. Emily führte uns hinüber zu dem Tisch, an dem bereits William mit Alex und Carol sass und mit Laura und Shane, den beiden anderen Reitern aus dem Stechen, plauderte. Mit einem Seufzen registrierte ich, dass auch Ian und Liza da waren. Charlene und Michael sassen mit Ella, Mr O'Brian, seiner Trainerin und zwei älteren Herren an einem Tisch in der hinteren Ecke. Charlene winkte mir kurz zu, als sie mich sah.
Ich setzte mich zu Alex hinüber und war froh, von ihr nicht auch wegen Danny gelöchert zu werden. Ich bestellte mir etwas zu trinken.
William schien wieder ganz der Alte zu sein, er trank ein Bier nach dem anderen und flirtete auf's Heftigste mit Laura, die das zu geniessen schien. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch ich kochte vor Eifersucht.
"Ganz ruhig auflaufen lassen! Das ist doch genau das, was er versucht, dich eifersüchtig zu machen."
Wieder einmal war ich dankbar dafür, wie ruhig und souverän Alex die Situation erfasste. Ich war mehr ein Gefühlsmensch und reagierte schnell über. Sie dagegen nahm alles eher ruhig und bedacht. Deshalb ergänzten wir uns auch so gut. Wie heisst es doch so schön, Gegensätze ziehen sich an!
"Halt dich lieber an Danny, der starrt schon die ganze Zeit zu dir rüber", zischte sie mir ins Ohr und kicherte übermütig. Als meine beste Freundin hatte sie es sich zur Mission gemacht, mich mal wieder zu verkuppeln. Zu Hause hatte sie das auch schon ein paar Mal versucht, doch das war meistens schief gelaufen.
Neugierig musterte ich Danny aus dem Augenwinkel. Er sah es dennoch und trank mir lächelnd zu. Ich lächelte zurück und wandte mich ab. Alex stiess mich in die Seite. "Es ist unverkennbar, was er denkt." Ihr Grinsen wurde noch breiter.
"Ach ne!" Ein seltsames Kribbeln breitete sich in mir aus. Plötzlich schien es mir viel zu heiss hier drin. Ich musste raus! "Ich bin gleich wieder da", verkündete ich und stürzte schon fast aus dem Raum.
Draussen war es zwar nicht besonders kalt, aber nach der Wärme drinnen angenehm kühl. Tagsüber war es meist noch erdrückend heiss, aber abends war die Temperatur angenehm. Auf Esperance Manor merkte man in den klimatisierten Reithallen und Ställen nicht viel davon, ins Gelände ritten wir bei diesem Wetter sowieso meist erst spät, aber hier, auf dem Turniergelände, wo die Reitplätze, auf denen die Prüfungen stattfanden, alle im Freien lagen, war der nahende Sommer deutlich zu spüren.
Im Stall drüben wurde das Licht ausgeschaltet, die Pfleger machten Feierabend. Ein Hund bellte, dann herrschte wieder Stille.
Ich starrte eine Weile ins diffuse Dämmerlicht und genoss die Ruhe nach der ganzen Hektik und Aufregung des Tages.
"Hier bist du!"
Ich erschrak und drehte mich um. "Ach, du bist's! Musst du dich so anschleichen?"
Danny lachte. "Ich hab mich gar nicht angeschlichen. Du hast nur nicht aufgepasst."
"Hm. Und, zufrieden?"
"Wie könnte ich nicht zufrieden sein? Ich hab das S-Springen nach einem wirklich spannenden Wettkampf der Spitzenklasse gewonnen und durfte das tollste Mädchen auf dem ganzen Turnier küssen."
Ich war dankbar dafür, dass er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie ich rot wurde. Er zog mich an sich und küsste mich wieder. Ich schloss die Augen und erwiderte den Kuss. Er liess mich wieder los und meinte: "Wir sollten wohl langsam wieder rein gehen. Die anderen wundern sich bestimmt, wo wir so lange bleiben."
"Hm, dann sollen sie sich ruhig wundern", erwiderte ich keck und schlang meine Arme um seine Schultern.
Mich weckten die Sonnenstrahlen, die meine Nase kitzelten. Ich hielt die Augen geschlossen und genoss noch eine Weile die angenehme Wärme unter der Bettdecke. Erst als ich die Tür knarren hörte, öffnete ich die Augen und setzte mich auf. Danny stand mit einem Tablett in der Hand in der Tür. "Guten Morgen." Er lächelte.
"Morgen", murmelte ich und strich mir verschlafen die Haare hinter die Ohren. Danny stellte das Tablett auf das Bett und setzte sich neben mich. Ich wickelte mich in die Decke und kuschelte mich an seine Schulter. "Wie spät ist es?"
"Kurz vor halb acht. Ich habe mir erlaubt Casual für dich zu füttern, damit du vor der grossen Prüfung ausschlafen kannst."
"Du bist ein Schatz." Ich beugte mich zu ihm hinüber und küsste ihn. Er grinste. "So, jetzt iss erst mal was, mit leerem Magen kann sich ja niemand konzentrieren."
"Hm, ich glaube, ich bringe vor Nervosität nichts herunter", seufzte ich und musterte die verlockend duftenden Spiegeleier.
"Komisch, je aufgeregter ich bin, desto mehr esse ich. Na komm, dir geht's gleich besser." Er hielt mir ein Brötchen hin, von dem ich gehorsam abbiss, obwohl ich das Gefühl hatte, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Man sollte meinen, mit der Zeit vergeht die Nervosität vor einem Turnier, aber es war jedes Mal das Gleiche. Heute allerdings war es besonders schlimm, weil ich zum ersten Mal für Charlene starten würde.
Zu meinem Erstaunen fühlte ich mich tatsächlich etwas besser, kaum dass ich etwas im Magen hatte. "Du hast recht, es geht wirklich gleich viel besser. Ich bekomm sogar richtig Hunger. Gib her!" Ich nahm ihm das Brötchen aus der Hand. Er lachte und hielt mir eine Tasse starken, schwarzen Kaffee unter die Nase. "Hier, dann wirst du richtig wach."
Es dauerte nicht lange, bis von den Brötchen nur noch ein paar Krümel und von den Spiegeleiern und dem Kaffee gar nichts mehr übrig war. Ich lehnte mich zufrieden zurück. Danny grinste mich an. "Und, stimmt's oder hatte ich recht?"
"Du hattest recht, wenn es dich beruhigt", brummte ich. Er löste sich sanft von mir, stand auf und zog seine Stiefel an. "Deine Prüfung ist um halb zehn. Ich geh mal runter und seh nach Casual. Zieh du dich in Ruhe an, ich werde ihn dir fertig machen." Noch bevor ich mich bedanken konnte, war er auch schon aus der Tür. Einen Moment lang blieb ich noch im Bett sitzen, dann stand ich mit einem tiefen Seufzen auf und begann, meine Klamotten aufzusammeln. Am liebsten hätte ich mich wieder hingelegt und weitergeschlafen, doch was tat man nicht alles für die lieben Pferde?
In dem Zimmer, das ich mir mit Alex und Emily teilte, war niemand, worüber ich ehrlich gesagt ziemlich erleichtert war. Ich stellte mich erst einmal unter die Dusche, dann holte ich mein Jackett, Bluse und weisse Reithose hervor. Mit der gewohnten Routine zog ich mich an. Langsam wurde ich ruhiger. Sobald ich dann auf dem Pferd sass, würde von der Nervosität nichts mehr zu spüren sein, zumindest hoffte ich das.
Als ich fertig geschminkt, die Haare im Haarnetz hochgesteckt, Reitgerte und Kappe unter dem Arm mein Zimmer verliess, schloss William gerade seine Zimmertür. Er drehte sich um, als der Dielenboden unter meinen Schritten knarrte. Einen Moment lang starrte er mich an, als wäre ich eine Erscheinung, dann räusperte er sich und bemerkte: "Du siehst gut aus. Viel Glück nachher!" Er drehte sich um und war im Treppenhaus verschwunden, ehe ich antworten konnte. Mit einem Kopfschütteln folgte ich ihm die Treppe hinunter und wandte mich zum Stall. Dort herrschte wieder die übliche Hektik vor der Prüfung, die Reiter in ihren Turnierdress suchten verzweifelt nach Handschuhen und Sporen, während die Helfer die Pferde bereit machten, die das Treiben je nach Temperament neugierig oder aufgeregt beobachteten.
Casual wieherte leise, als ich den Riegel an der Boxentüre zurückschob und eintrat. Er war bereits fertig gesattelt, das Weiss der Satteldecke leuchtete mit seinem Fell um die Wette. Danny zog gerade den Sattelgurt nach.
"Na du? Zeigen wir's denen?", flüsterte ich dem Wallach zu und streichelte seine Nase. Er schnaubte begeistert. Danny lachte. "Das hiess dann wohl ja. Er ist blendender Laune heute."
"Das hoffe ich. Wie viel Zeit hab ich noch?", fragte ich, während ich meine Handschuhe anzog.
"Du solltest wohl langsam mit dem Abreiten beginnen, die Prüfung beginnt in einer Viertelstunde. Du startest irgendwo in der Mitte, aber Emily meinte, du sollst ihm genügend Zeit zum Warmreiten geben, als ich sie vorhin traf", meinte Danny mit einem Blick auf seine Uhr. Ich nahm Helm und Gerte und führte den Wallach auf die Stallgasse. "Wo ist sie eigentlich?"
"Emily? Sie hilft Alex mit Cube. Ich glaube, sie sind schon zum Abreiteplatz, Alex ist schon als eine der ersten dran."
Vor dem Stall gurtete ich nach und sass auf. Danny begleitete mich zum Abreitplatz. Ich erkannte sofort Cubes grau schimmerndes Fell zwischen all den Füchsen und Braunen. Alex liess ihre Stute gerade über den Probesprung gehen. Als sie mich sah, winkte sie mir zu. Ich lenkte Casual durch das Gedränge auf dem Abreitplatz zu ihr hinüber.
"Du hast mir einiges zu erzählen", empfing sie mich grinsend.
"Später", wehrte ich ab und wechselte das Thema. "Bereit für die grosse Prüfung?"
"Ich denke schon. Mit ihrem Bein scheint alles in Ordnung zu sein, jedenfalls springt sie sauber und scheint keine Schmerzen zu haben. War wahrscheinlich wirklich nur vom langen Stehen. Sie ist sich das halt nicht so gewohnt, zu Hause ist sie ja immer auf der Weide." Liebevoll klopfte sie ihrer Stute den Hals, und ich schluckte die Eifersucht wieder herunter. Ich vermisste Girly gerade mehr als sonst. Wie liebend gern hätte ich auch wieder ein eigenes Pferd gehabt, aber im Moment hatte ich einfach keine Zeit, mich nach einem umzusehen und solange ich Charlenes Pferde reiten konnte... Trotzdem blieb das dumme Gefühl. "Ich werde den Burschen hier mal etwas laufen lassen, hoffentlich wacht er noch auf", murmelte ich und trieb Casual an. Erst durch einen aufmunternden Klaps mit der Gerte liess er sich zu einem Trab überreden. Meine Zuversicht schwand mehr und mehr. Hatte ich mir tatsächlich eingebildet, wir wären mittlerweile ein gutes Team und hätten auf dem Turnier Chancen? Hatte ich wirklich geglaubt, es würde hier anders sein als zu Hause, dass ich hier keine Probleme mit ihm hätte?
Michael, der mit Ella an der Umzäunung stand und das Treiben beobachtete, schien meine Verzweiflung zu bemerken und kam herüber. "Etwas nicht in Ordnung?"
"Verdammt, ich krieg ihn einfach nicht vorwärts. Egal, was ich mich, ich habe das Gefühl, er ignoriert mich!"
Er klopfte dem Pferd beruhigend den Hals. "Das macht nichts, warte nur ab und schenk ihm ein bisschen Vertrauen. Wenn's drauf ankommt, wird er dich nicht im Stich lassen." Er verliess den Platz wieder, und ich sah ihm etwas ratlos nach. Wirklich viel weitergeholfen hatte mir das nicht.
Ich versuchte, den Wallach zu einem Galopp zu ermutigen. Es dauerte, bis er endlich ansprang und wie ein altersschwaches Nilpferd schnaubte. Ich parierte ihn nach einigen Schritten mit einem Seufzen wieder durch.
Bis wir den Parcours besichtigen durften, achtete ich vor allem darauf, dass er sich lockerte und etwas dehnte. Ich hatte immer noch die Hoffnung, dass er - sobald wir im Parcours waren - doch noch etwas Temperament zeigte und ich mich nicht vollkommen blamierte.
Gemeinsam mit Alex lief ich die Hindernisse ab und besprach mit ihr die Abstände und wie die Sprünge am besten anzureiten waren. Es war ein bisschen wie in alten Zeiten.
Wir kehrten zu Danny und Emily zurück, die unsere Pferde hielten.
"Und, wie sieht's aus?"
"Na ja, ein paar Sprünge sind schon ziemlich knifflig, vor allem in der Kombination wird's verdammt eng, aber wenn man danach vor der Mauer durchreitet anstatt den Weg aussen herum nimmt, kann man 'ne Menge Zeit sparen", erklärte ich.
"Verdammt, ist das eine Hitze, dabei haben wir erst kurz vor zehn. Ich möchte nicht wissen, wie heiss es hier im Hochsommer wird", murmelte Alex und wischte sich über die Stirn. Mir war tatsächlich auch ziemlich warm unter der Reitkappe, und ich schwitzte in meinem schwarzen Jackett. "Kann nur besser werden", kommentierte ich.
Alex musste bald starten, Emily ging zur Tribüne, um zuzuschauen, während Danny bei mir und Casual blieb. "Setz dich etwas in den Schatten, ich führ in etwas herum, damit er warm bleibt, bis du dran bist."
"Aber das kann ich doch auch selber", protestierte ich.
"Keine Widerrede! Konzentrier dich jetzt besser nochmal auf den Parcours. Für dich wird's nachher noch anstrengend genug." Danny nahm Casual am Zügel und führte ihn weg. Ich ging hinüber zu einer Gruppe Eichen, setzte mich ins Gras und nahm die Reitkappe ab. Ich musste sagen, ich genoss es, von Danny so umsorgt zu werden. Unsere Pferdepfleger, die mich in Österreich auf die Turniere begleitet hatten, hatten immer nur das Nötigste getan und auch nur, wenn man sie extra darum gebeten hatte.
"Bereit für die grosse Prüfung?"
Ich fuhr herum. Hinter mir stand Ian, lässig an einen Baum gelehnt, die Arme verschränkt und lächelte sein Verführerlächeln.
"Wieso nicht?", meinte ich locker und gab mich völlig unbeteiligt. Er kam zu mir hinüber und setzte sich neben mich. "Danny also?", fragte er. Ich lachte kurz. "Weiss das jetzt jeder hier?"
Er zuckte die Schultern. "Ist ein offenes Geheimnis. Ist eben so. Du solltest das kennen, kommst ja schliesslich auch aus dem Springsport. Die Schönen und Reichen sind süchtig nach jedem Klatsch, den sie kriegen können. Und ein begehrter Typ wie Danny... Das ist eine Welt für sich hier! Mit ihren eigenen Stars, zu denen er nun mal gehört. Gewöhn dich dran, wenn du wirklich was von ihm willst."
Ich lehnte mich zurück und stützte mich auf die Ellbogen. "Wer sagt denn, dass ich was von ihm will?" Ich sah ihn herausfordernd an.
"Du bist nicht der Typ für One Night Stands."
"So? Woher willst du das wissen? Du kennst mich ja gar nicht."
"Bist du's denn?"
"Vielleicht..."
Bevor Ian antworten konnte, kam Danny mit Casual zu uns. Die Zeit war offenbar viel schneller vergangen, als ich gedacht hatte. "Hier steckst du. Noch drei Reiter vor dir, wird Zeit, dass du in den Sattel kommst. Ian." Er nickte ihm zu, dann hielt er mir auffordernd den Steigbügel hin. Ich rappelte mich hoch. Ian reichte mir meine Reitkappe. "Viel Glück!"
Ich lächelte ihm kurz über die Schulter zu, dann trat ich zu meinem Pferd. "Und Junge, kann ich mich auch wirklich auf die verlassen?", flüsterte ich ihm zu. Er schnaubte. Ich klopfte kurz seinen Hals, dann stieg ich auf. "Na los, gehen wir rüber zum Springplatz, dann kann ich mir noch ein bisschen die Konkurrenz ansehen." Ich wendete den Schimmel und ritt ihn im Schritt hinüber zum Springplatz. Nach dem Gespräch mit Ian kam es mir plötzlich vor, als ob sich alle nach mir umdrehten und mich anstarrten. Blödsinn, schimpfte ich mich, du siehst mal wieder Gespenster, Alice!
"Bisher haben neben Alex nur drei Reiter einen Null-Fehler-Ritt hingelegt", erzählte Emily, die angelaufen kam. "Gib alles, Alice!"
Ihre Worte machten mich nur noch nervöser und trugen ihr einen strafenden Blick von Danny ein, der es zu bemerken schien. "Geh wieder zuschauen, Em."
Sie verschwand gehorsam Richtung Reitertribüne.
"Ganz ruhig. Ihr zwei packt das schon. Wenn du erst mal im Parcours bist, geht alles wie von selbst. Los, lächel mal!"
Gegen meinen Willen musste ich grinsen. Ich atmete tief durch und richtete meine Aufmerksamkeit auf die Reiterin, die gerade im Parcours war. Sie ritt einen eleganten Fuchs, der für meinen Geschmack schon etwas ZU schlank war. Die beiden hatten die Hindernisse bisher ohne Fehler überwunden und kamen jetzt an die Kombination. Erst sah es gut aus, doch dann riss der Fuchs den Kopf hoch und brach ihr seitlich weg.
"Die ist auch weg", kommentierte Danny trocken. "Noch ein Reiter vor dir."
"Wir sehen den vorletzten Reiter dieser Prüfung: Martin McCarthy mit Miles Away", tönte es aus dem Lautsprecher.
Danny musterte das Paar im Parcours. "Tolles Pferd. Toller Reiter. Die beiden haben die Prüfung letztes Jahr gewonnen. Wundert mich eigentlich, dass er noch nicht S geht."
Ich beobachtete den hübschen Rappen, wie er mit einer spielerischen Leichtigkeit die Sprünge nahm. Sein Reiter sass in perfekter Manier im Sattel, seine Hilfen waren kaum sichtbar.
"Wunderschöne Gänge", bemerkte ich, "überhaupt ein tolles Exterieur."
"Miles? Ja. Stammt aus einer eher unbekannten Zucht, hat auch keine tollen Linien, aber ist ein unglaubliches Pferd. Soweit ich weiss, steht er im Augenblick sogar zum Verkauf."
"Wer verkauft so ein Pferd?"
"Angeblich hat der Besitzer Geldprobleme. Schade drum. Er und Martin harmonieren so schön miteinander."
Gerade flog Miles über den letzten Sprung, und Martin beendete die Runde fehlerfrei.
"Das wird interessant", murmelte Danny neben mir. Ich schluckte. Mein Selbstvertrauen sank unter den Gefrierpunkt. Die Zügel fühlten sich steif an in meinen Händen, als ich sie aufnahm. Casual schlug unwillig mit dem Kopf, als ich ihn aus seinen Tagträumen holte und ihn zum Eingang hinüber lenkte. Dumpf bekam ich mit, wie der Ansager verkündete: "Und jetzt, meine Damen und Herren, der letzte Reiter des diesjährigen M-Springens: Alice Hofner und Casual Concept für den Stall von Charlene Kensey."
Ich trieb Casual mit den Schenkeln etwas vorwärts. Er reagierte nicht. Auch, als ich ihn leicht mit den Sporen vorwärts schickte, rührte er sich kaum vom Fleck. Ich wurde langsam nervös. Erst, als ich die Gerte nahm, legte er praktisch einen Kavaliersstart hin und sprang aus dem Stand in den Galopp.
"Mach dir nichts draus, der geht wie eine Eins!", rief mir Carol von der Tribüne zu. Ich ritt ihn mit allem, was ich hatte, vorwärts. Mochte sein, dass es ziemlich unschön aussah, aber das war mir im Moment auch egal.
Ich ritt das erste Hindernis an. Und dann geschah das Unfassbare: es war, als durchliefe ein aufgeregtes Zittern den Körper des Pferdes. Er riss den Kopf hoch und dann ging er. Einen Moment lang hing ich nur erschrocken in den Zügeln, bis ich mich wieder gefasst hatte. Ich ging in den leichten Sitz und liess ihn laufen.
Wir kamen zum ersten Hindernis, einem Steilsprung. Casual liess sich problemlos zurücknehmen und sprang tadellos darüber. Auf die Tripplebarre liess ich ihn wieder etwas an Tempo zulegen. Auch den Sprung nahm er, als handle es sich hier um ein Stilspringen. Wir kamen etwas zu schnell an die Kombination, doch ich machte mir unnötig Sorgen: Casual nahm genau Mass und überwand das Hindernis sauber. Auch die nächsten beiden Steilsprünge klappten perfekt, dann kamen wir an den Wassergraben. Diesmal reichte ein leichtes Schnalzen, um den Wallach anzutreiben. Es war, als hätte ich ein anderes Pferd unter dem Sattel.
Das zweitletztes Hindernis war ein breiter Oxer. Casual sprang etwas zu früh ab, touchierte die hintere Stange mit den Hinterbeinen. Ich wartete nur darauf, dass sie fiel, aber - nichts! Erleichtert steuerte ich ihn auf die Mauer zu, die den Parcours abschloss. Dieses Hindernis nahmen wir wieder perfekt.
Applaus brandete auf. Sofort fiel Casual in den Schritt, liess den Kopf hängen und erinnerte wieder an das altersschwache Nilpferd von vorhin. Doch in diesem Moment machte es mir nichts aus.
"Mit einer fehlerfreien Runde und somit die sechste Teilnehmerin im Stechen: Alice Hofner und Casual Concept in 61,24. Das Stechen beginnt in einer halben Stunde, bis dahin..."
Den Rest hörte ich gar nicht mehr. Ich verliess den Parcours, sass ab und führte Casual zurück zu Danny. Beim ihm standen Carol und - zu meinem Erstaunen, wie ich zugeben musste - William und Ian. Carol kam eilig zu mir, als sie mich sah. "Alice! Eine tolle Runde! Ihr beiden habt grossartig ausgesehen."
"Ja, er ging toll. Hätte ich von dem Burschen nie gedacht." Ich klopfte seinen Hals.
"Nur sechs Reiter im Stechen bei etwa dreissig Teilnehmern." Carol schüttelte den Kopf. "Komm, ich führ ihn etwas rum", bot sie an, nahm den Wallach am Zügel und führte ihn weg. "Da hinten im Schatten ist eine Flasche mit Wasser und was zu essen, falls du willst", rief sie mir noch über die Schulter zu.
Tatsächlich hatte sie nicht zu viel versprochen: neben der Wasserflasche fand ich ein Sandwich mit Schinken, Salat und Eiern vor, dazu ein Stück frischen Apfelkuchen. Ich erntete einen amüsierten Blick von Danny, der mit William und Ian angeregt über irgendwas zu diskutieren schien, als ich hungrig in das Sandwich biss. Ich grinste zurück.
Eine Weile beobachtete ich die drei, ich konnte zwar nicht hören, worum es ging, aber sie zu beobachten war auch schon amüsant genug, bis plötzlich Lauren neben William auftauchte, kurz mit ihm flüsterte und dann mit ihm verschwand. Ich spürte wieder die altbekannte Eifersucht in mir aufsteigen. Mach dich nicht lächerlich! Du hast Danny! Du willst gar nichts von Liam! Ihr seid nur Kollegen! Doch je öfter ich mir das sagte, desto lächerlicher hörte es sich an. Als versuchte ich, mir selber etwas vorzumachen. Tat ich das tatsächlich?
"Du machst kein sonderlich glückliches Gesicht! Was ist los? Immer noch nervös?"
Ich schaute hoch und erkannte Danny. "Nee, passt schon", antwortete ich ausweichend. Er setzte sich neben mich. "Was ist es dann?"
"Ach, ich habe nur über etwas nachgedacht... Worüber habt ihr denn diskutiert?", wechselte ich rasch das Thema.
"Worüber Männer halt so reden...", meinte er unbestimmt.
"Aha."
Eine Weile blieben wir so sitzen, bis Carol mit Casual zurückkam. "Der Parcours wird gleich zur Besichtigung freigegeben", verkündete sie, sah dabei jedoch an mir vorbei. Sie musterte mit gerunzelter Stirn ihren Bruder. Ich übersah es und rappelte mich hoch. "Gut, danke!"
Sobald ich ein Stück weg war, begann Carol, mit leiser, drängender Stimme auf ihren Bruder einzureden. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber ich war mir fast sicher, dass es um mich ging. Wegen irgendwas.
Alex stand neben Martin McCarthy am Eingang zum Parcours und trat nervös von einem Fuss auf den anderen. Als sie mich sah, lächelte sie. "Na du?"
"Na zurück", grinste ich. "Bereit?"
"Ich denke schon. Bin gespannt, was heraus kommt dabei. Die Konkurrenz ist ja nicht ohne." Sie lächelte angespannt und warf einen kurzen Blick zu Martin hinüber. Ich nickte.
Der Ordner gab den Parcours frei, und wir begannen, die verkürzte Strecke abzulaufen. Der Parcours war ähnlich dem vorherigen, allerdings führte der Weg nach der Kombination in einer scharfen Kurve auf den Steilsprung zu und danach aussen um den Wassergraben auf den Oxer zu. Zuletzt kam noch ein Steilsprunge, der zwar einfach aussahen, aber durch die Farben für die Pferde schwierig einzuschätzen war.
Alex musterte kritisch die Wendung um den Wassergraben. "Wenn man den Weg innen vorbei nehmen würde, würde man eine Menge Zeit sparen", meinte sie. "Allerdings ist es das Risiko nicht wert, man muss den nächsten Sprung schief anreiten, das kann nicht klappen."
Ich musterte den Oxer. Es würde tatsächlich verdammt eng werden, ein gutes Pferd würde es wahrscheinlich schaffen, aber Alex hatte recht, man ging damit wirklich ein grosses Risiko ein.
Wir wurden gebeten, den Platz wieder zu verlassen. Alex musste als dritte reiten, ich startete an vierter Stelle. Ich wünschte ihr viel Glück und ging dann hinüber zu Carol, um Casual wieder in Empfang zu nehmen.
"Na, bereit?", fragte sie und hielt ihn mir fest, während ich aufstieg.
"Ja. Carol... Kann ich dich was fragen?"
Sie richtete mir den Steigbügel und sah mich an, die Augen mit der Hand gegen die Sonne abgeschirmt. "Klar. Was denn?"
"Wegen Danny. Worum ging es vorher?"
Carol biss sich auf die Unterlippe und sah zu Boden. "Tja, also..." Sie schwieg, als wüsste sie nicht, ob sie es ihr sagen sollte.
"Carol, bitte. Was ist los?", fragte ich drängend. Carol sah hastig zum Eingang des Parcours. "Weisst du was, ich sag's dir nachher. Du musst jetzt in den Parcours." Sie verzog sich eilig, bevor ich noch weitere Fragen stellen konnte. Leicht genervt lenkte ich Casual hinüber zum Tor. Was war mit den beiden los? Erst Danny, jetzt auch noch Carol.
Am Eingang wartete Martin, der gespannt Alex Ritt verfolgte. "Der erste Reiter ist draussen, sein Pferd hat an der Kombination drei Mal verweigert", erzählte er. "Sie ist bisher fehlerfrei und scheint es auch zu bleiben." Er nickte zu Alex hinüber, die gerade ihre Runde beendet hatte und Cube die Zügel lang liess.
Ich schaute zur Anzeigetafel. Null Fehler in 49,97. Alex klopfte ihrer Stute zufrieden den Hals. "Hey. Viel Glück", wünschte sie mir, als sie an mir vorbeiritt. Ich nickte ihr kurz zu und trieb Casual vorwärts. Im Trab ritt ich ihn in grossen Volten um die Hindernisse, während ich mir den Weg um den Wassergraben noch einmal ansah. Rein theoretisch wäre es machbar. Mit dem richtigen Pferd... War Casual so ein Pferd? Ich war mir nicht sicher. Andererseits hatte er mich heute schon einmal überrascht. Warum also nicht wieder?
Ich grüsste und liess den Wallach angaloppieren. Ich hatte kaum Zeit, nachzudenken, schon lag das erste Hindernis hinter uns. Auch der Oxer und die Kombination stellten für Casual kein Problem dar, spielerisch setzte er über die Sprünge und liess dabei klar erkennen, dass er noch viel mehr Potential besass.
Wir kamen an den Steilsprung. In meinem Kopf war immer noch der Gedanke an die Abkürzung. Ich war mir nicht sicher, ob ich das Risiko eingehen sollte. Allerdings musste ich schnell sein um Martin zu schlagen. Verdammt schnell. Denn ich wusste, dass er, wenn ihm keine Fehler unterliefen, ziemlich sicher die Prüfung gewinnen würde, wenn ich nicht alles auf eine Karte setzte.
Casual setzte über den Steilsprung. Ich nahm entschlossen die Zügel auf und lenkte ihn innen am Wassergraben vorbei. Der Oxer lag schräg vor uns. Einen Moment lang war ich unsicher, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte, doch Casual galoppierte unverdrossen weiter. Die Sprünge des Schimmels wurden noch etwas länger, bevor er sich kräftig vom Boden abstiess und über das Hindernis flog, als handle es sich nicht um mehr als ein Cavaletti.
"Gut gemacht", flüsterte ich und parierte ihn zum Schritt durch.
"Und Alice Hofner mit Casual Concept bleibt ohne Fehler in 43,02 und geht somit in Führung. Als nächsten Reiter sehen wir Martin McCarthy mit Miles Away."
"Super Runde, Alice. Mann, ich dachte, ich seh nicht recht. Du hast es tatsächlich gepackt." Alex lenkte Cube neben mich.
"Einen Moment lang dachte ich echt, wir schaffen es nicht. Aber er war grossartig, nicht, mein Kleiner?" Ich strich dem Schimmel über den kräftigen Hals. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder zum Parcours. Martin kam gerade an die Kombination, Miles setzte spielerisch über den ersten Sprung. Er zog etwas an und kam auch problemlos über das zweite Hindernis. Es sah so leicht und lässig aus bei den beiden.
Der Steilsprung stellte für den Rappen ebenfalls keine Schwierigkeit dar. Ich hielt den Atem an, hoffte, dass er nicht ebenfalls versuchen würde, den Sprung zu schneiden, denn wenn ihm das gelang, war er zweifellos schneller als ich. Zuerst sah es so aus, als wolle er den Weg um den Wassergraben herum nehmen, doch dann schien er sich anders zu besinnen und zog links an dem Hindernis vorbei. Der Oxer lag vor ihnen. Miles zögerte, als wüsse er nicht, wie er das Hindernis nehmen solle. Martin trieb ihn an und unterstützte ihn mit der Stimme. Der Rappe stiess sich vom Boden ab, doch der Sprung war zu kurz. Mit den Hinterbeinen nahm er die hintere Stange mit. Ich atmete auf.
"Martin McCarthy und Miles Away - vier Punkte in einer Zeit von 42,68", verkündete der Ansager. Martin klopfte seinem Pferd den Hals und verliess den Parcours.
"Gut geritten. Schade um den Fehler", meinte ich aufmunternd, als er an uns vorbeikam.
"Danke. Du aber auch. Ich hoffe, du gewinnst, wäre verdient." Er lächelte mir zu.
"Danke", murmelte ich und strich über Casuals Mähne. Er nickte grüssend, dann lenkte er sein Pferd zu seinem Trainer hinüber.
Der letzte Reiter, Dwight Cabot, kam in den Parcours. Er ritt einen nervösen, langbeinigen Braunen, der unruhig zu tänzeln begann, kaum hatten sie den Springplatz betreten. Das Pferd war jetzt schon schweissbedeckt und atmete schwer. Ich runzelte die Stirn.
Dwight galoppierte an und lenkte sein Pferd auf das erste Hindernis zu. Als der Braune den Kopf hochriss und scheute, trieb er ihn mit der Gerte vorwärts. Mühsam sprang das Pferd ab und schien sich mit letzter Kraft über das Hindernis zu hieven. Er schien völlig übermüdet, nahm jedes Hindernis nur mühsam und touchierte immer wieder eine Stange, doch wie durch ein Wunder fiel keine, bis die beiden an den letzten Oxer kamen. Dwight hatte ebenfalls die Abkürzung genommen, die beiden kamen gut auf das Hindernis und erst machte es den Anschein, als ob sie darüber kommen würden, doch der Sprung kam viel zu flach und der Braune nahm die obersten zwei Stangen mit. Ärgerlich gab der Reiter ihm eins mit der Gerte. Ich sah Alex an, und wir schüttelten beide den Kopf. Dann begann Alex zu grinsen. "Weisst du, was das heisst? Du hast gewonnen."
Ich sah sie an. Obwohl ich es hörte, wusste, konnte ich es irgendwie nicht so recht begreifen. Erst, als Michael und Charlene strahlend zu mir kamen und mich beglückwünschten, sickerte es langsam bis zu mir durch. Lachend fiel ich Casual um den Hals. "Du warst super", flüsterte ich und kraulte ihn hinter den Ohren. "Danke!"
Der Ansager forderte uns auf, zur Siegerehrung einzureiten. Wie im Traum bekam ich mit, wie mir der Sponsor der Prüfung die Hand schüttelte und mir gratulierte und wie die Ehrendame Casual die goldene Schleife ans Zaumzeug steckte. Wir wurden gebeten die Ehrenrunde zu galoppieren. Ich liess Casual praktisch aus dem Stand angaloppieren, Alex und Martin folgten. Casual buckelte übermütig und zog an. Ich liess ihn laufen und lachte ausgelassen. In diesem Moment gab es nur noch ihn und mich. Alles andere schien unwichtig, in weiter Ferne. Und ich war froh darüber.
Am Tor parierte ich ihn durch und verliess den Parcours. Alex gesellte sich neben mich. "Weisst du, ich finde es richtig schade, dass meine Zeit hier schon fast um ist. Es ist herrlich hier oben. Und immer ist was los." Sie seufzte.
"Wann musst du weiter?", fragte ich.
"In zwei Tagen geht's weiter Richtung London", antwortete sie bedauernd. Ich sah sie erschrocken an. Mir war bewusst gewesen, dass Alex nicht ewig bleiben würde, aber ich hatte nicht mehr daran gedacht, dass sie schon so bald gehen würde. Irgendwie vermisste ich sie jetzt schon. Ich hatte Emily und nun auch Carol, aber das war nicht dasselbe wie mit Alex.
"Ach, zieh doch nicht so ein Gesicht. Das Telefon ist ja schliesslich auch schon erfunden, und wenn du's gar nicht aushältst, kommst du halt für ein paar Tage nach Hause. Oder ich komm dich wieder mal besuchen", meinte Alex aufmunternd. Ich nickte.
"Alice!" Charlene kam mit Michael auf mich zu. "Alice, das war eine tolle Runde. Gut gemacht! Es war die richtige Entscheidung, dich einzustellen." Sie lächelte so voller Begeisterung, dass mir ganz warm um's Herz wurde.
Sobald die Pferde zufrieden Heu mampfend mit ihren Abschwitzdecken in den Boxen standen, stellte ich mich erst mal unter die Dusche und zog mich um. Heute Abend ging es wieder zurück nach Esperance Manor. Nach Hause, dachte ich überrascht. Es war das erste Mal, dass ich an das Gestüt als mein Zuhause dachte.
Mit einem Lächeln verliess ich das Zimmer und machte mich auf die Suche nach Carol. Sie war mir eine Antwort schuldig.
Der Esssaal war um diese Zeit praktisch leer, nur Michael sass mit einem anderen Trainer an einem der Tische und genehmigte sich ein Bier. "Ach, Alice, wir wollen so um sechs fahren, damit wir vor der Dämmerung zurück sind. Sieh zu, dass du bis dann fertig bist", meinte er, als er mich sah.
"In Ordnung. Weisst du, wo die anderen sind?"
"William hab ich schon 'ne Weile nicht mehr gesehen, Alex und Emily sind im Stall, soweit ich weiss."
Ich dankte ihm und machte mich auf den Weg zu den Ställen. Tatsächlich waren die beiden gerade damit beschäftigt, ihr Sattelzeug zusammen zu packen.
"Hey, ihr zwei. Habt ihr Carol gesehen?"
Emily strich sich ein Strähne aus dem Gesicht. "Sie ist gerade zum Transporter, um ihr Zeug zu verladen. Und du solltest wohl langsam dasselbe tun."
"Ja, klar. Ich muss nur kurz mit ihr reden, danach komme ich", versprach ich und verliess den Stall rasch wieder.
Tatsächlich fand ich Carol am Transportparkplatz, wo sie gerade ihr Sattelzeug verstaute.
Texte: Titelbild © Mel Karrer, Bild © Karolina Wengerek
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Vani, die mich ständig gedrängt hat, etwas mit Springpferden zu schreiben, und für Jule, die mir mit den ganzen Namen und der irischen Geografie geholfen hat!