Cover

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Footballers strain their ankles.

Swimmers bust their lungs.

Dancers rip their feet.

Gymnasts break their bones.

Athletes tear their muscles.

 And equestrians, well... it's hard to say…

Because equestrians live in a completely different world, that nobody understands.

Equestrians do not sleep, because they stay awake listening to their partner.

During the day, equestrians live 5 feet far from the ground on top of a 1200 pound creature that has a mind, body and soul of its own.

Equestrians speak a different language. A language built in silence.

Not everyone is able to hear the silence. Not everyone is capable of trusting an animal that can kill you.

But an equestrian in no ordinary person, and a horse is no ordinary animal.

Equestrians find a friendin that powerful creature. They know how to trust, listen, understand, forgive.

We, equestrians, and our friend break a sweat, drop tears, strain muscles, break bones; but above all, we risk our lives; though, at the end of the day, we always know our friend will be with us until the end, and the passion will never stop flowing through our veins, and it's because of all this that we are proud to say that

WE ARE EQUESTRIANS!

Kapitel 1

„Hailey! Wach auf, wir sind da.“

Das zierliche Mädchen auf dem Rücksitz streckte sich und versteckte ein Gähnen. Ihre dunkelblonden Locken kringelten sich wirr um ihr helles Gesicht. „Wie spät ist es?“

„Kurz vor acht“, antwortete die Fahrerin.

Hailey streckte noch einmal die Arme aus, dann kletterte sie über die Kisten und Kleiderhüllen neben ihr aus der Tür. Sie blinzelte in der bereits hell scheinenden Sonne. Als ihre Augen sich etwas an das Licht gewöhnt hatten, liess sie den Blick über den Turnierplatz im englischen East Sussex schweifen.  Es war bereits eine ganze Zahl an Transportern auf dem Parkplatz, auf dem Abreiteplatz wurden schon die ersten Pferde für die Prüfungen aufgewärmt.

„Zeit, dich umzusehen, hast du später noch, hol erst mal Sugar raus, ich hole deine Startnummern“, befahl Hannah, die inzwischen auch ausgestiegen war.

Hailey ging nach hinten zum Anhänger. Die Seitentür klemmte immer ein wenig, sodass sie sich mit der Schulter dagegen stemmen musste, um den Riegel öffnen zu können. Sofort streckte sich ihr eine helle Nase entgegen. „Na, Süsse, hattest du eine angenehme Fahrt?“ Sie kletterte zu der Schimmel-Stute in den Transporter, um den Strick zu lösen, und liess dann die Laderampe herunter. Sugar als erfahrenes Turnierpferd stieg problemlos selber rückwärts von der Rampe.

Das Mädchen band sie Transporter an und holte sich aus der Putzkiste im Kofferraum einen Striegel und eine Bürste, um noch kurz das Fell der Stute blank zu polieren. Bis sie damit fertig war und zwei der Springzöpfchen, die sich etwas gelöst hatten, wieder neu geflochten hatte, war Hannah mit den Startnummern und zwei dampfenden Bechern Kaffee wieder zurück.

„Die Parcoursbesichtigung ist um zehn Uhr“, verkündete sie. „Es gab noch einige Nachmeldungen, ihr seid jetzt 28 Starter.“

„Toll, noch mehr Konkurrenz.“ Hailey nahm ihr wenig begeistert einen der Becher ab.

„Kein Problem für euch, ihr seid in Top-Form, d as schafft ihr mit links. Ich würde vorschlagen, wir satteln gleich mal, dann könnt ihr schon mal ein paar Runden drehen.“ Hannah holte Sattel und Gamaschen aus dem Kofferraum und drückte letzte Hailey in die Hand. „Immerhin startete Juliane heute L, dann kommt ihr euch schon mal nicht in die Quere.“

„L? Du verarschst mich doch!“ Hailey hielt beim Verschliessen der Gamaschen inne.

Hannah zuckte mit den Schultern. „Ihr Vater hat ihr dieses neue Springpferd gekauft. Der ging unter seinem früheren Reiter S* und wurde von einem Grand Prix-Reiter ausgebildet. Muss eine Stange Geld gekostet haben.“

Hailey seufzte. Das ganze letzte Jahr hatten sie und Juliane einen ewigen Konkurrenzkampf in der A-Klasse ausgefochten. Meist hatte Juliane die Nase vorne gehabt, doch Hailey war immer dicht an ihr dran gewesen. Ein paar Mal hatte sie sie sogar geschlagen. Doch Sugar war nicht mehr die jüngste, weshalb Hailey es ihr nicht zumuten konnte, mehr als ein A-Springen zu gehen, während Juliane dank ihren vermögenden Eltern nur mit den Fingern schnippen konnte, und sofort ein neues Pferd im Stall stehen hatte.

„Lass dir von ihr nicht schon wieder den Tag verderben. Noch dazu, bevor du sie überhaupt gesehen hast!“

„Hast ja Recht.“ Mit einer bestimmten Bewegung legte sie die Gamaschen fertig an.

 

„Sieht gut aus, Hailey!“, lobte Hannah. „Treib sie noch fleissiger ans Gebiss. Gut so!“ Sie wandte sich von ihren beiden Schützlingen, die sich auf dem Abreitplatz zwischen den anderen Teilnehmern durchschlängelten, ab, um den Probesprung umzubauen.

Hailey konzentrierte sich ganz auf die Stute unter ihr. Sugar trabte völlig gelassen dahin, nichts vermochte sie aus der Ruhe zu bringen, obwohl auf dem Turnierplatz ein reges Treiben herrschte. Dafür hatte Hailey Mühe, sich zu konzentrieren. Es war einer der wenigen, heissen Sommertag, und natürlich fiel er genau auf diesen einen Turniertag.

Plötzlich entdeckte Hailey am Tor zum Abreitplatz die Person, die sie heute am wenigsten hätte sehen wollen. Dort stand Juliane. Neben ihr eine junge Pferdepflegerin, die einen riesigen Fuchs am Zügel führte. Das Pferd tänzelte unruhig und schlug mit dem Kopf, bis er schliesslich Juliane, die gerade ihre Reithandschuhe anzog, anrempelte. Juliane fuhr zu der Pferdepflegerin herum und wollte sie gerade wütend zurecht weisen, als ein Ruf über den Abreitplatz erschallte: „Juliane!“

Hailey drehte sich zu der Stimme um und erkannte Alexander, Viscount von Outmoor. Alexander gehörte ebenfalls zu den unliebsamen Turnierbekanntschaften, die Hailey gemacht hatte. Er war der Sohn eines Grafen aus Somerset und ebenso adelig wie arrogant. Allerdings war er ein ausgezeichneter Reiter, mit seinem Schimmel Princeton dominierte er die M-Klasse.

Juliane setzte ihr breitestes Lächeln auf und kam leichtfüssig in ihren blankpolierten Massstiefeln auf ihn zugerannt. „Hey Alex!“ Nur wenige Meter neben Hailey blieb sie stehen.

Er trabte das letzte Stück zu ihr hin und beugte sich dann zu ihr herunter, um sie auf die Wange zu küssen. Hailey verdrehte die Augen und wollte sich abwenden, als Juliane sie plötzlich bemerkte. „Oh, Hailey!“, kommentierte sie süffisant. „Du also auch hier? Wirst du auch in der L springen?“

Doch bevor Hailey sich um eine Antwort bemühen musste, zog etwas Anderes Julianes Aufmerksamkeit auf sich. „Wie traurig, läufst du etwa immer noch in diesem unmodischen Sack herum? Tja, es haben halt nicht alle das Glück, ihre Jacketts vom grossen Maestro persönlich nach der neusten Mode in Italien schneidern zu lassen.“ Sie strich ihr smaragdgrünes, figurbetontes Turnierjackett glatt. Von Alex kam ein leises Lachen.

Hailey sah verlegen zu Boden. „Da hast du wohl Recht, es haben nicht alle das Glück, von ihrem reichen Daddy alles in den Arsch geschoben zu kriegen. Gewisse Leute müssen auch für ihre Erfolge kämpfen!“

Juliane verschlug es für einen Moment die Sprache. Hailey sah ihren entgeisterten Blick, Alex‘ Mund dagegen war zu einem spöttischen Grinsen verzogen, wobei Hailey jedoch nicht genau sagen konnte, was er so amüsant fand.

„Ich bemitleide diese Leute“, fauchte Juliane schliesslich, als sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. „Viel Glück jedenfalls in deiner A, du wirst es brauchen. Komm, Alex, wir müssen uns auf die richtigen Prüfungen vorbereiten.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zurück zu ihrer Pferdepflegerin, um ihr grob die Zügel aus der Hand zu reissen. Hailey schüttelte bloss den Kopf, dann sah sie sich suchend nach Hannah um, die ihr schon vom Probesprung her zuwinkte. Mit einem Kopfschütteln nahm Hailey die Zügel auf und galoppierte Sugar an, um sich vor der Prüfung noch etwas einzuspringen.

 

„Mum? Ich bin zuhause!“ Hailey warf ihren Hausschlüssel auf den winzigen Beistelltisch neben der Tür und liess die Reitstiefel in ihrer Hand noch im düsteren Hausflur fallen. Sporttasche und Kleiderhülle mit den Turnierklamotten noch in der Hand bahnte sie sich den Weg vom Flur links ins Wohnzimmer, wobei der Raum von der Grösse eines Schuhkartons diese Bezeichnung kaum verdiente. „Mum?“

Ihre Mutter, die auf der Couch sass, hob die Hand und deutete auf das Telefon an ihrem Ohr.

Hailey ging ein Stück weiter den Flur entlang. Dort, wo er endete, befanden sich drei einfache, weisse Holztüren. Die rechte führte zu Haileys Zimmer. Der Raum war sogar noch kleiner als das Wohnzimmer und sehr bescheiden eingerichtet, ausser einem Bett, einem Schrank, einer kleinen Kommode, die ihr gleichzeitig als Schreibtisch diente, und einem Stuhl, fanden darin keine Möbel Platz. Dafür waren die Wande tapeziert mit Fotos und Zeitungsausschnitten. Die Fotos zeigten fast alle Hailey und Sugar, bis auf einige wenige Aufnahmen von berühmten Springreitern und Jockeys. Dazwischen hingen immer wieder bunte Schleifen, die Hailey an Springprüfungen mit Sugar gewonnen hatte.

Sie stellte ihre Sporttasche ab und förderte daraus eine weitere Schleife sowie einen kleinen Pokal zu Tage, den sie sorgfältig auf ihrem Nachttisch platzierte.

„Wie ich sehe, warst du erfolgreich.“ Ihr Mutter, Caroline, war plötzlich im Türrahmen aufgetaucht. „Komm her!“ Sie umarmte Hailey. „Ich bin so stolz auf dich!“

„Danke, Mum!“ Hailey befreite sich wieder aus ihren Armen. „Hannah lässt dich grüssen. Sie fragt, wann du dich wieder einmal blicken lässt.“

Hannah war Carolines Schwester, auch wenn sie knapp zehn Jahre jünger war. Sie hatte einen kleinen Bauernhof, gleich ausserhalb von Newhaven, wo es ausser einigen Hühnern und Schafen die beiden Pferde gab, Sugar und Champagn. Champagn hatte Hannah vor einigen Jahren von der Rennbahn gekauft, nachdem er sich das Bein gebrochen hatte. Jetzt genoss er seinen Lebensabend bei ihr. Mit Sugar hatte sie früher selber an Turnieren teilgenommen, hatte sich jetzt aber vom grossen Sport zurückgezogen. Dafür hatte sie angefangen, Hailey Reitunterricht zu geben. Für diese war damit ein Traum in Erfüllung gegangen.

„Ich weiss, ich weiss“, holte Caroline sie mit einem Seufzen aus ihrer Verzückung. „Aber im Moment habe ich einfach viel zu viel um die Ohren. Gerry macht mir die Hölle heiss, und Ende Monat will er mir den Lohn noch weiter kürzen.“ Sie fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht.

„Das ist nicht dein Ernst? Kann er das einfach so machen?“ Hailey starrte sie entgeistert an.

„Er meint, ich solle froh sein, dass ich den Job überhaupt habe. Weisst du, wenn wir das Geld nicht so dringend bräuchten, würde ich einfach kündigen.“ Plötzlich erhellte sich ihre Miene ein Stück weit. „Aber vielleicht ergibt sich da gerade etwas…“

Hailey horchte auf.

„Ich habe dir doch erzählt, dass Brooke sich selbstständig gemacht hat. Ihr Gärtnereiunternehmen läuft fantastisch. Sie hat kürzlich sogar einen Auftrag von diesem Grafen in Somerset bekommen…“

„Willst du jetzt etwa Gärtnerin werden?“, unterbrach sie Hailey ungläubig.

„Nicht doch! Aber dieser Graf sucht eine neue Köchin, und nächste Woche fahre ich zu einem Vorstellungsgespräch.“

Im ersten Moment explodierte in Hailey ein Sturm der Begeisterung. Eine Stelle als Köchin bei einem richtigen Grafen, das bedeutete, dass ihre Mutter nicht mehr bei Gerry in der Kantine arbeiten musste, um abends in einer schlecht besuchten, stickigen Bar zu kellnern, damit sie einigermassen über die Runden kamen. Sie könnten sich ein schöneres Apartment leisten und Hailey sich vielleicht endlich ein paar neue Reitstiefel zu Weihnachten wünschen. Doch mit einem Schlag war die ganze Begeisterung weggeblasen, als ihr klar wurde, was dies für sie auch bedeuten würde. Somerset lag vier Stunden von Newhaven entfernt. Das waren vier Stunden von Hannah und von Sugar. Von einem Moment auf den nächsten schlug ihre Stimmung von Höhenflug zu absolutem Tiefpunkt um.

Ihre Mutter schien zu merken, was in ihr vorging. „Hailey, ich weiss, dass dir Sugar und deine Reiterei extrem wichtig sind. Weisst du, es ist ja noch gar nichts entschieden. Aber… es wäre eine grossartige Chance für uns! Ich habe heute bereits mit der Haushälterin telefoniert, und es klang sehr vielversprechend. Ich kann am Montag schon hinfahren. Hailey, wenn das klappt, dann kommen wir endlich raus aus diesem Loch. Watchet ist eine wundervolle Stadt, es liegt direkt am Meer, und der Graf wohnt auf dem Land draussen. Wenn ich dann ordentlich verdiene, kannst du dann auch richtigen Reitunterricht nehmen.“ Sie fasste Hailey bei den Schultern und sah sie mit einem aufmunternden Lächeln an.

Hailey konnte nicht verhindern, dass ihr plötzlich die Tränen in die Augen stiegen. „Mum, das klingt, als hättest du alles bereits beschlossen. Ist es denn nicht wichtig, was ich will? Ich habe nichts hier, keine Freunde, nichts Besonderes – ausser Sugar, und sie bedeutet mir alles! Und Hannah! Ich würde sie nie wieder sehen – und du weisst, dass ich nie besonders gut darin war, neue Freunde zu finden. Was soll ich in Watchet?“

„Es sind doch nur vier Stunden. Du kannst doch an den Wochenenden ab und zu hinfahren. Und wenn ich dann endlich richtig verdiene, wirst du richtigen Reitunterricht nehmen können!“

"Mum, das ist nicht dasselbe! Es läuft im Moment so toll mit Sugar! Ich will sie nicht einfach verlieren. Es ist mir egal, wenn wir weiterhin hier wohnen müssen. Ich könnte doch auch endlich einen Job suchen, dann reicht das locker. Bitte, Mum, wir finden eine Lösung!", bat Hailey inständig.

Caroline sah sie lange an. "Eine Lösung hat sich uns gerade aufgetan. Ich weiss, dass es dir im Moment schwer fällt, das zu akzeptieren. Aber wenn sie mir diesen Job tatsächlich anbieten, werde ich ihn annehmen!"

Kapitel 2

Hailey liess ihren Blick über die vertraute Galoppstrecke schweifen. Der breite Sandweg erstreckte sich weit vor ihr und lockte sie, ihrem Pferd endlich die Zügel zu geben und den Weg entlang zu preschen. Sugar spürte, was ihre Reiterin von ihr wollte, kaum hatte diese nur an das Kommando gedacht, sprang die Stute in einen flotten Jagdgalopp. Hailey stellte sich in die Steigbügel, gab ihre Hände weit nach vorne und schloss die Augen. Der Wind wehte ihr ins Gesicht und war eine angenehme Abkühlung an diesem warmen Tag. Sie hatte in den letzten Tagen unglaubliches Glück gehabt, sodass sie die ihr verbleibende Zeit mit Sugar auf langen Ausritten richtig hatte geniessen können.

Ihre Mutter war am Montagmorgen in aller Frühe nach Watchet aufgebrochen. Gerry hatte ihr anfangs ihren freien Tag nicht bewilligen wollen, doch nach einigem Hin und Her hatte Caroline schliesslich gehen dürfen. Hailey war den ganzen Tag wie auf glühenden Kohlen gesessen. In der Schule hatte sie sich kaum konzentieren können, und auch beim Reiten waren ihre Gedanken ganz woanders gewesen. Natürlich hatte sie gehofft, dass ihre Mutter den Job bekommen würde. Aber gleichzeitig war da diese brennende Angst vor der Veränderung gewesen, die in ihr Leben treten und alles auf den Kopf stellen würde. Ihr Leben mochte nichts Besonderes sein, doch sie mochte es so, wie es war, und kam gut damit zurecht. Sie brauchte keine teuren Turnierjacketts wie Juliane oder ein grösseres Appartment, in das sie auch einmal hätte Freunde mitbringen können, solange Sugar und Hannah in ihrem Leben waren.

Caroline war erst spät abends zurück gekommen, als Hailey bereits geschlafen hatte, und am nächsten Morgen war sie schon aus dem Haus gewesen. Hailey hatte erst am folgenden Abend vom Ausgang des Gesprächs erfahren. Obwohl Caroline auf den ersten Blick kaum qualifiziert genug für den Job gewesen war, hatte sie sich mit Mrs Hennessy, der Haushälterin, wohl auf Anhieb verstanden, die ihr den Job auch sofort angeboten hatte. Damit war der Umzug beschlossene Sache.

Als Hailey ihre Augen öffnete, entdeckte sie ein Stück weiter vorne einen Baumstamm. Sugar hatte ihn ebenfalls bemerkte, sie spitzte aufmerksam die Ohren. Hailey setzte sich zurück in den Sattel, gab Paraden, um die Stute vor dem Hindernis zu versammeln, und liess sie dann wie eine Feder über den Stamm schnellen. Sugar landete weich und galoppierte in ruhigem Tempo weiter, begeistert den Kopf schüttelnd.

Das Mädchen parierte zum Trab durch und klopfte der Stute ausgiebig den Hals. Sugar drehte den Kopf, um sie am Fuss anzustupsen. Sie schien zu spüren, was vor sich ging. Gedankenverloren streichelte Hailey ihre Mähne. Es war alles so furchtbar schnell gegangen. Auch wenn Hailey es nicht gerne tat, sie musste doch zugeben, dass das Angebot einfach perfekt war. Es wäre Wahnsinn gewesen, es auszuschlagen. Trotzdem schmerzte jede Faser ihres Körpers bei dem Gedanken, dass dies das Ende ihrer Zeit mit Sugar war.

Im ruhigen Schritt traten sie den Heimweg an. Hailey liess Sugar bereitwillig herumtrödeln, sie nahm die Füsse aus den Steigbügeln und liess sie locker herunterbaumeln, die Zügel hielt sie lässig in einer Hand und genoss einfach nur den Augenblick. Jeden einzelnen Eindruck versuchte sie sich einzuprägen: der kleine Bach, den sie immer durchreiten musste, den fröhlich plätschernden Holzbrunnen, wo sie immer ihr Pferd tränkte.

Der Ausblick über die Jurassic Coastline auf das Meer sobald man aus dem Wald hinaus kam. Alles war ihr so vertraut geworden.

Sie kam eine gute Stunde zu spät auf dem Hof ihrer Tante an. Ihre Mutter war bereits da und trank mit Hannah Tee. Milch, kein Zucker, ganz nach der Englischen Art. Zu Haileys Erstaunen sagte sie kein Wort über die Verspätung.

Beim Absatteln von Sugar kamen ihr beinahe die Tränen. Sie erledigte jeden Handgriff mit der gewohnten Routine, hängte den Sattel zurück in die kleine Sattelkammer und brachte Sugar in ihre Box ganz hinten in der grossen Scheune neben der von Champagn.

Unentschlossen stand sie in der offenen Tür und beobachtete, wie Sugar an ihrem Heu mümmelte. Sie konnte sich keine angemessene Art ausdenken, wie sie sich von Sugar verabschieden konnte, die es ihr leichter gemacht hätte. Wäre die Stute ein Mensch, hätte sie ihr für all die tollen Stunden und Erlebnisse gedankt, für alles, was das Pferd ihr beigebracht hatte und ihre Engelsgeduld bei Haileys ersten kläglichen Reitversuchen. Doch sooft sie auch das Gefühl hatte, dass die Stute verstand, was in ihr vorging, so wusste sie doch nicht so recht, ob Sugar diesen Gefühlsausbruch verstehen würde. So streichelte sie der Stute ein letztes Mal über die Mähne, schloss sorgfältig die Boxentür und kraulte im Vorübergehen Champagn die Nüstern.

Auf dem Hof warteten Hannah und Caroline schon am uralten Ford von Haileys Mutter. Hannah umarmte sie mitfühlend. Es wurde ein kurzer Abschied. Sie überreichte Hailey ein altes Hufeisen von Sugar, das sie aufpoliert hatte, sodass es jetzt in der Sonne glänzte. "Vergiss nicht, immer mit der Öffnung nach oben aufhängen, sonst fällt das Glück hinaus!", ermahnte sie ihre Nichte.

Hailey kam diese Abschiedsszene seltsam surreal vor, als wäre ihr Körper eine leere Hülle, und sie selbst betrachtete sich von ausserhalb. Sie sah sich ins Auto steigen, mechanisch, unnatürlich. Und dann winkte ihre Hand ganz automatisch, bis der Hof hinter der letzten Kurve verschwand. Sie befanden sich endgültig auf dem Weg nach Watchet.

In den nächsten vier Stunden gab es für sie nur die Strasse vor ihnen. Sie unterhielten sich kaum, nur einmal machten sie kurz an einer Raststätte Halt, um zu Mittag zu essen. Hailey versuchte, etwas zu schlafen, doch sie konnte nicht, also beschränkte sie sich darauf, aus dem Fenster zu starren. Die Landschaft veränderte sich kaum, es flogen immer die gleichen braun-grünen Wiesen mit den Steinmauern und Holzzäunen vorbei. Ab und an entdeckte sie einige grasende Schafe oder Kühe. Einzig die vereinzelten Baumgruppen wuchsen gelegentlich zu etwas dichteren Wäldern.

Sie trafen erst gegen sieben Uhr auf dem Gut des Grafen ein. Es lag ein Stück ausserhalb von Watchet und war von einem eigenen kleinen Wald umgeben, worauf ihre Mutter sie stolz aufmerksam machte. Sie fuhren über eine hell gekieste Zufahrtsstrasse, die von hohen Linden gesäumt war. Hailey sah staunend aus dem Fenster. Vor ihnen erhob sich ein mächtiges goldenes Tor, dass das Wappen des Grafen trug, einen Adler und ein Schwert auf rotem Grund. Wie aus dem Nichts tauchte ein livrierter Bediensteter auf. Hailey fühlte sich sofort um etwa hundert Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt.

"Ich dachte, die gibt es nur in Filmen", flüsterte sie ihrer Mutter zu, sobald der Bedienstete verschwunden war, um ihnen das Tor zu öffnen. Caroline lachte über diese Bemerkung.

Wie von Zauberhand öffneten sich die schweren Torflügel. Hinter dem Tor erstreckte sich die Kiesstrasse von Hecke gesäumt und verschwand in der Ferne in dem Waldstück. Caroline manövrierte den Wagen weiter die Auffahrt entlang. Für Hailey fühlte sich die Fahrt wie eine Ewigkeit an, bis der Wald sich schliesslich lichtete und den Blick auf einen weiten Hof freigab. Vor ihnen türmten sich mächtige, uralte Mauern auf, die ein Schloss wie aus einem Märchenbuch bildeten. Es hatte mehrere Stockwerke und unzählige Fenster, die sich über einen imposanten Mittelteil mit spitzen Türmen und zwei etwas niedrigere, schlichtere Seitenflügel erstreckten. Auf beiden Seiten des Hofes zweigten Wege ab, die vermutlich zu weiteren Nebengebäuden führten.

Caroline bog in eine Einfahrt zu ihrer Linken ein, die um das Schloss herum führte. Durch die an dieser Stelle lichter stehenden Bäume erkannte Hailey hinter dem Schloss eine gewaltige Aussenterrasse, von der geschwungene Treppen zu gigantischen Parkanlagen führten. Schliesslich kamen sie zu mehreren kleinen Bungalows neueren Baujahres, hübsche zweistöckige Häuschen mit hellen Mauern und grauen Dächern. Dunkle Holztüren und Fenster mit blauen Läden rundeten das Bild ab. Einige Häuschen waren mit roten oder rosafarbenen Blumen und Buchsbäumchen in Blumenkästen und grossen Töpfen geschmückt.

Caroline parkierte am Rande des schwach beleuchteten Vorplatzes.

"Was ist das hier?", fragte Hailey.

"Die Quartiere der Angestellten. Es gibt noch ein paar kleinere Apartments im Schloss unter dem Dach. Siehst du dort ganz rechts? Das ist unseres!" Caroline deutete auf das äusserste Gebäude. Hailey stieg aus dem Auto und verharrte staunend neben der Tür. Caroline machte sich daran, die Koffer und Sporttaschen auszuladen. Vom Schloss her kam plötzlich eine Gestalt den Zufahrtsweg entlanggeeilt. Sie entpuppte sich als eine kleine rundliche Frau mit einem offenen, freundlichen Gesicht, die in eine taupenfarbene Strickjacke gehüllt war, die sie vor der Brust überkreuzt hatte.

"Mrs Steinfeld?", fragte sie vorsichtig.

"Guten Abend, Mrs Hennessy", begrüsste Caroline sie. Das Gesicht der Frau hellte sich auf. "Ich habe Sie schon erwartet. Das Appartement ist fertig möbliert und für Sie beide bezugsbereit. Ich nehme an, Sie haben noch nicht zu Abend gegessen. Falls Sie möchten, die meisten Angestellten essen jeweils gemeinsam im Schloss, Sie dürfen sich gerne dazu begeben. Dann lernen Sie gleich Ihre Kollegen kennen."

Hailey brummte von all diesen Ankündigungen der Kopf. Sie hätte sich gerne einfach in ein Bett gelegt und geschlafen. Doch ihre Neugierde überwog, und so begleitete sie Mrs Hennessy und ihre Mutter zurück zum Schloss. Sie betraten das Gebäude jedoch nicht durch den Haupteingang, sondern wurden zu einem kleineren Tor beim linken Flügel geführt. Dahinter lag ein kahler marmorner Gang.

„Da links liegt die Küche“, erklärte Caroline, als sie eine Tür zu ihrer Linken passierten. „Ich muss sie dir einmal zeigen, es ist überwältigend! Und gegenüber sind die Vorratskammern und weitere Nebenräume.“

Der Gang endete an einer weiteren Tür, durch die sie in einen weiten Raum mit gefliestem Fussboden kamen. Die Wände waren mit dunklem Mahagoni verkleidet, auf kleinen Tischchen standen ausladende Vasen, manche von ihnen hielten Blumensträusse. Alles war ganz in Königsblau und Gold gehalten, was sich wunderbar mit dem Rotton des Holzes kontrastierte. Beleuchtet wurde der Raum von gigantischen Kronleuchtern, in denen jedoch ganz modern kleine Glühbirnen anstelle von Kerzen steckten. Von dieser Halle bogen sie durch eine weitere Flügeltür in ein gemütliches Esszimmer ein, wo etwa ein halbes Dutzend Angestellter über ihren Tellern sass. Neben einem älteren Herrn in Butler-Uniform waren es drei junge Dienstmädchen, kaum älter als Hailey, und zwei klein gewachsene Männer im Freizeittenue.

Der ältere Herr erhob sich sofort und kam auf sie zu, um ihnen die Hand zu schütteln. „Sehr erfreut“, begrüsste er sie. „Nun haben wir hoffentlich endlich wieder einen fähigen Koch im Schloss!“ Er neigte den Kopf. „Verzeiht mir, ich bin James Mornington. Meine Familie dient dem Earl of Outmoor schon seit sechs Generationen. Ich bin der Butler des Lords.“

„Es freut mich ebenfalls. Caroline Steinfeld. Das ist meine Tochter Hailey.“ Caroline legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter.

„Ich bin entzückt!“ James beugte sich vor, um Hailey die Hand zu küssen. Diese musste sich auf die Lippen beissen, um nicht loszulachen. James schien ihr wie ein Relikt aus alten Zeiten, doch er machte einen sehr netten Eindruck.

Die beiden Männer hatten inzwischen fertig gegessen und verabschiedeten sich mit einem Nicken, als sie an ihnen vorbei zur Tür hinaus verschwanden.

Mrs Hennessy befahl Hailey und Caroline, sich hinzusetzen, dann wandte sie sich an eines der drei Mädchen: „Olivia, geh und sag Thomas Bescheid, dass wir noch zwei Teller brauchen.“ Die Angesprochene erhob sich und ging ebenfalls zur Tür.

Das zweite Mädchen glitt auf den Sitz neben Hailey. „Hi, ich bin Sophia.“

„Hailey“, antwortete sie und musterte Sophia. Sie musste tatsächlich erst sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein, es erstaunte Hailey, dass sie in so einem Job arbeitete.

„Du bist erst gerade angekommen, oder? Wo kommst du her?“ Sophia hatte eine helle, fröhliche Stimme, die irgendwie perfekt zu ihren goldblonden Haaren passte, die sie streng zurück gebunden trug.

„Newhaven in Sussex.“

„Ach, das kenne ich sogar. Meine Schwester lebt dort. Und, wie gefällt es dir bisher hier?“

„Ich bin… überwältigt“, gestand Hailey und erntete dafür ein Lachen.

„So ging es mir auch, als ich zum ersten Mal hier war“, entgegnete Sophia beruhigend.

„Wohnst du hier?“, erkundigte sich Hailey.

Sophia nickte. „Meine Mutter arbeitet ebenfalls hier im Haushalt. Ich helfe ab und zu aus. Es ist ein angenehmer Job. Die meisten meiner Freunde jobben in Cafés oder in der Bibliothek, aber hier hab ich meist wesentlich weniger zu tun, und die Bezahlung ist auch nicht schlecht. Das da ist übrigens Jennifer“, sie deutete auf das dritte Mädchen, „sie wohnt drüben in Watchet und arbeitet seit letztem Jahr auch hier.“

Jennifer hob kurz den Kopf von ihrem Teller und nickte Hailey zu. Dieser schwirrte der Kopf nur umso mehr nach all diesen Informationen.

In diesem Moment kehrte Olivia mit zwei dampfenden Tellern Suppe zurück, was Hailey eine weitere Konversation für den Moment ersparte. Sie rührte in der Flüssigkeit und fühlte sich plötzlich so müde, dass sie am liebsten den Kopf auf die Tischplatte gelegt und einen Moment die Augen zugemacht hätte. Sie schob den ersten Löffel Suppe in den Mund in der Hoffnung, wieder etwas wacher zu werden. Es war so heiss, dass sie sich die Zunge verbrannte, doch sie war so hungrig, dass sie einfach weiter ass. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus, sodass sie sich nur noch müder fühlte als zuvor. Dass Olivia kurz darauf den Hauptgang brachte, bekam sie schon gar nicht mehr mit.

Kapitel 3

 

Die Decke roch angenehm nach Weichspüler und war so unglaublich warm und gemütlich, dass Hailey sie bis zu den Schultern hoch zog und sich wohlig in ihr Kissen kuschelte. Bis ihr plötzlich auffiel, dass es gar nicht ihr Bett war, in dem sie lag. Ebenso hatte sie keine Ahnung, wie sie hierher gekommen war.

Sie sah auf und blickte an eine Decke mit hübschen Stuckverzierungen. Verwirrt rieb sie sich die Augen, dann sah sie sich in dem Zimmer um. Es war etwa drei auf vier Meter gross. An der schmalen Seite direkt links neben dem Bett befand sich ein grosses Fenster mit weissen Holzrahmen und zartblauen Vorhängen, die zugezogen waren. Im schwachen Sonnenlicht, das durch sie hindurch fiel, erkannte sie an der Wand ihr gegenüber einen mächtigen Schrank aus dunklem Holz. Ihre Sporttasche und die drei Umzugskisten mit ihren einzigen Besitztümern hatte jemand davor gestellt. Daneben befand sich ein Schreibtisch aus dem gleichen Holz.

Hailey schwang die Beine aus dem Bett und blieb einen Moment an der Kante sitzen. Es war eines dieser breiten Betten mit den hohen Holzwänden an Kopf- und Fussende, die mit kunstvollen Rosen-Schnitzereien verziert waren.

Sie berührte mit ihren nackten Zehen den Parkettboden. Das Zimmer war so anders als ihres zuhause in Newhaven. Zuhause…

Entschlossen stand sie auf und griff nach den Vorhängen, um sie zur Seite zu ziehen. Es war nicht Haileys Art, auf ihre Mutter wütend zu sein wegen ihrer Entscheidung, oder ihrem alten Zuhause lange nachzutrauern. So sehr es sie schmerzte, sie konnte nichts daran ändern, also konnte sie geradeso gut das Beste daraus machen.

Das Fenster blickte auf den kleinen Hof, wo sie gestern ihr Auto parkiert hatten. Der Platz war umgeben von Eichen und anderen hohen Bäumen, die leicht im Wind wehten. Hailey kam nicht umhin, den Ausblick zu geniessen. Plötzlich bekam sie Lust, das Gelände zu erkunden.

Rasch band sie sich die dunkelblonden Haare zu einem lockeren Zopf und suchte sie aus ihrer Tasche eine frische Jeans und ein rosa-weiss gestreiftes Top. Ein Paar Sneakers in der Hand schlüpfte zur Tür hinaus. Vor ihr erstreckte sich ein heller Gang mit verschiedenen Türen zu beiden Seiten, der an einer Holztreppe endete. Hailey stieg die Stufen hinunter und fand sich in einem Raum wieder, der die gesamte Fläche des unteren Stockwerks einzunehmen schien und auf der einen Seite von einer offenen Küche mit dunklen Granitflächen und grauen Schränken eingenommen wurde. Der restliche Bereich bot Platz für einen Esstisch und eine gemütliche Couchgarnitur, die um einen niedrigen Glastisch angeordnet und zu einem riesigen Flachbildfernseher ausgerichtet war. Hailey sah sich staunend um, ging hinüber zur Küche, um mit der Hand über die glatte Arbeitsfläche zu fahren, warf einen neugierigen Blick in den üppig gefüllten Kühlschrank und liess sich dann in die weiche Couch fallen. Einen Moment lang genoss sie es einfach nur, in den Kissen zu liegen, obwohl sie gerade erst aufgestanden war. Lange hielt sie es jedoch nicht aus, es zog sie nach draussen.

Hailey trat vor die Tür und schlüpfte in ihre Schuhe. Es war ein herrlicher warmer Morgen. Als erstes entschied sie sich, den Weg zurück zum Schloss einzuschlagen. Jetzt im Sonnenlicht kam ihr die Strecke viel kürzer vor als gestern Abend. Der Ausblick, der sich ihr jetzt auf das Schloss bot, war gigantisch, sodass sie kurz bewundernd inne hielt, bevor sie den Platz vor der ausladenden Treppe zum Haupteingang überquerte und den rechten Weg wählte. Hailey folgte der Strecke durch eine Baumgruppe, ohne dass ihr jemand begegnet wäre, bevor sich das Gewächs lichtete und sie zum ersten Mal einen hervorragenden Blick auf die Parkanlagen hatte. Blumenbeete, kunstvoll geformte Buchsbäumchen und Springbrunnen erstreckten sich soweit das Auge reicht. In der Ferne meinte Hailey sogar, einen Tennisplatz und einige weitere Gebäude erkennen zu können. Links und rechts waren die Rasenflächen von gepflegten Hecken gesäumt.

Der Weg führt sie aussen an den Hecken entlang zu einer Ansammlung von Gebäuden. Neugierig ging sie darauf zu, als sie plötzlich ein Wiehern hörte. Zuerst dachte sie, sich geirrt zu haben, doch dann fing sie an, schneller zu laufen und stand plötzlich inmitten von drei u-förmig angeordneten Stallungen aus roten Backsteinen, in die jeweils ein grosses Tor eingelassen war. Durch die offenen Fenster erkannte Hailey helle Boxen, in denen verschiedene Pferde standen. Inmitten der Gebäude befand sich eine gedeckte Führmaschine, ebenfalls umgeben von gepflegten Blumenbeeten, in der drei Pferde bewegt wurden.

Es herrschte ein geschäftiges Treiben, Pferde wurden hin und her geführt, Stallburschen in hellen Reithosen und jagdgrünen Poloshirts schoben Mistkarren über den Hof. Neugierig beobachtete Hailey die Pferde. Es waren hochgewachsene, elegante Tiere mit unverkennbarem Vollbluteinschlag. Entsprechend temperamentvoll verhielten sie sich auch an der Hand ihrer Führpersonen.

„Kann ich dir helfen?“ Mit einem Mal stand ein älterer, kleingewachsener Herr vor ihr. Er trug zu der Stalluniform eine schiefergraue Weste und eine Kappe auf dem Kopf und hatte ein Zaumzeug über die Schulter gehängt.

„Ich, ähm…“, stotterte Hailey. Sie war sich unsicher, ob sie überhaupt das Recht hatte, hier zu sein. „Ich hab mich nur umgesehen. Meine Mutter und ich sind gestern Abend hier angekommen. Ich habe die Pferde gehört, und na ja… Entschuldigung, falls ich gestört habe!“ Sie wollte sich schon umdrehen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

„Nun renn doch nicht gleich wieder weg. Du bist also die Tochter der Köchin, ja?“

Hailey nickte scheu. „Ich bin Hailey.“

Der Mann lachte. „Ich beisse dich nicht. Ich bin George.“ Er reichte ihr die Hand. „Verstehst du was von Pferden?“

„Ich bin zuhause immer geritten. Springreiten“, fügte sie rasch hinzu.

„Soso. Nun, Springpferde haben wir hier auch ein paar, allerdings wirst du nur wenige davon finden“, meinte George mit einem Schmunzeln. „Wir züchten hier vor allem Rennpferde.“

Hailey hob überrascht die Augenbrauen. „Rennpferde?“, wiederholte sie begeistert.

George nickte. „Der Graf ist berühmt für seine Galopper. Na, komm, ich zeige dir den Stall.“

„Wirklich?“

George machte eine einladende Handbewegung, und Hailey folgte ihm fasziniert. Er führte sie zum rechten Stallgebäude und hielt ihr mit einem Lächeln das Tor auf. Gespannt schlüpfte Hailey hinein. Zu beiden Seiten erstreckten sich an die zwanzig Boxen, in den meisten von ihnen standen Pferde, die gespannt ihre Köpfe über die geschwungenen Türen streckten, als sie die Besucher bemerkten.

„Hier stehen die meisten unserer aktiven Rennpferde und die Deckhengste. Die Stuten sind im anderen Stall untergebracht, dort gibt es auch einen Bereich, der allein der Fohlenaufzucht vorbehalten ist. Derzeit haben wir hier knapp siebzig Pferde. Die meisten sind Jungtiere, die gerade auf ihre Karriere vorbereitet werden oder bereits ihre ersten Renneinsätze hinter sich haben. Viele sind auch schon erfahrene Rennpferde, und ein kleiner Bestandteil sind solche, die ihre beste Zeit schon hinter sich haben“, fing George an zu erklären. Hailey mochte seine offene Art sofort.

„Was passiert mit ihnen?“, hakte sie nach.

„Sofern sie eine gute Abstammung haben und sich in ihrer Laufbahn bewiesen haben, gehen sie in die Zucht. Die Wallache und einige andere allerdings werden zu Reitpferden ausgebildet und dann verkauft. Oder sie bleiben einfach und dienen dazu, die Youngsters im Training zu unterstützen und verdienen sich so ihr Gnadenbrot. Der Graf ist überzeugt davon, dass jedes Pferd eine Aufgabe braucht, um sich so sein Futter zu verdienen.“ Er wies sie zu einer Box ganz am Ende des Ganges. „Ich schlage vor, wir verlegen die Jungspunde auf später und fangen mit unseren Champions an.“

In der Boxe befand sich ein imposanter Fuchshengst. Er überragte Hailey bei Weitem mit seinen langen, sehnigen Beinen und dem muskulösen Körper, doch trotz dieses einschüchternden Aussehens wandte er sich ihnen mit einem freundlichen Brummeln zu.

„Darf ich vorstellen: Legendary Warcry. Eines unserer besten Rennpferdes und geht direkt auf den berühmten Eclipse zurück. Er läuft die 2000m unter zwei Minuten. Als Dreijähriger hat er alle drei Classic Races gewonnen und ist damit der letzte Triple Crown Sieger in England. Und eine Schmusekatze“, fügte George lachend hinzu, als der Hengst anfing, an Haileys Haaren herumzunuscheln. Beherzt fing sie an, ihn zwischen den Ganaschen zu kraulen. Er streckte den Hals und zog eine Schnute. George lachte. „Sieht aus, als hättest du seine Lieblingsstelle entdeckt.“

Hailey lächelte und machte mit dem Mähnenansatz hinter seinen Ohren weiter. Das viele Fachchinesisch faszinierte sie, auch wenn sie vieles noch nicht verstand.

„Legend, du alter Charmeur, hast du wieder ein Opfer gefunden?“, erklang plötzlich eine Frauenstimme. Die Stallgasse entlang kam eine Frau Mitte zwanzig mit flammend roten Haaren, wie Hailey sie noch nie gesehen hatte. Ihre Jeans und kurzen Reitstiefel waren schlammbespritzt, das hellblaue T-Shirt war nass vom Schweiss. In der Hand schlenkerte sie locker eine Reitkappe mit dunkelblauem Bezug und eine kurze Gerte.

„George, hast du Tim gesehen? Der Nichtsnutz macht wieder alles ausser zu arbeiten. Dabei muss ich heute noch mit zwei Pferden raus.“

Haileys Begleiter schüttelte den Kopf. „Wo der nur wieder steckt… Carla, darf ich dir Hailey vorstellen?“

Carla streckte Hailey die Hand hin. „Freut mich!“ Ihr Händedruck war ebenso forsch wie ihr Auftreten, sie gefiel Hailey sofort.

„Sie ist die Tochter von Caroline Steinfeld und scheint sich besonders für unsere Vierbeiner zu interessieren“, erklärte George.

Die Frau musterte Hailey interessiert. „Von dir habe ich schon gehört. Kannst du auch mit Pferden umgehen?“ Als diese nickte, fuhr sie fort: „Dann kannst du mir ja gleich zur Hand gehen. Wenn du Lust hast, könntest du mir beim Satteln helfen.“

Hailey sah sie ungläubig an. „Wahnsinnig gerne!“ Dann zögerte sie. „Nur… Ich habe noch nie ein Rennpferd gesattelt!“

Carla sah sie amüsiert an. „Das kriegen wir hin.“

„Dann muss die Führung wohl bis später warten. Du wirst sie ja nachher sicher mit zur Bahn nehmen. Ich lasse euch zwei arbeiten. Bis später, Hailey!“ George hob grüssend die Hand. Hailey winkte ihm hinterher. Dann wandte sie sich zu Carla um, die ihr anbot, ihr als erstes die Sattelkammer zu zeigen. Sie erfuhr ebenfalls, dass Carla zu den Jockeys gehörte, die fest hier auf dem Hof angestellt waren und die Pferde neben den Rennen meist auch im Training ritten.

Neben der Boxe von Legend befanden sich zwei Türen, eine in der Verlängerung des Ganges und eine links im rechten Winkel dazu. Carla führte sie durch die erstere. In der Mitte des Raumes dahinter stand ein Tisch, an dem drei Männer sassen und Kaffee tranken. In einem von ihnen erkannte Hailey einen der Männer vom Abendessen. Sie nickten ihr knapp zu.

Die Wand ihnen gegenüber war gepflastert mit Sattelhaltern. Auf den meisten davon befanden sich leichte Rennsättel. Zwei Reihen ganz rechts schienen den blank polierten Sätteln für Rennen vorbehalten zu sein. Zuunterst gab es einige wenige Vielseitigkeits- und Westernsättel, die jedoch schon bessere Zeiten gesehen hatten. An einer zweiten Wand hing eine ganze Reihe von Zaumzeugen, alle mit Namensschildern versehen. Die freien Wände wurden von Regalen eingenommen, wo neben einigen Kisten mit allem möglichen Zubehör verschiedene Pokale und gerahmte Bilder standen. Hailey trat näher und beugte sich staunend vor, um die Inschriften zu studieren.

„Ich zeige dir nachher den Trophäenraum, da kannst du dich satt sehen“, meinte Carla vergnügt. Hailey sah auf. „Es gibt einen Trophäenraum?“

Carla beantwortete die Frage nur mit einem Nicken. Dann drückte sie Hailey ein Zaumzeug in die Hand. „Das ist für City.“ Dem Zaumzeug folgte einer der Rennsättel, der noch leichter war, als Hailey es je vermutet hätte. Carla schnappte sich ein Halfter und scheuchte Hailey wieder aus der Sattelkammer.

Sie betraten eine der Boxen in der Mitte, die auf dem Messingschild mit „Simplicity“ angeschrieben war. City entpuppte sich als ein hagerer brauner Junghengst mit einer schmalen Blesse, der jedoch einen gutmütigen Eindruck machte.

„Ich überlasse dir das Satteln, ich bringe nur kurz mein nächstes Pferd nach draussen in die Führmaschine“, verkündete Carla und war auch schon verschwunden. Etwas hilflos blickte Hailey auf den Sattel in ihren Händen. Auf der Stallgasse entdeckte sie niemanden, der ihr hätte helfen können. Zaghaft legt sie erst die Unterlagen auf den Rücken des Hengstes, dann folgte der Sattel. Es war schwierig, herauszufinden, ob der Sattel richtig lag, doch schliesslich hatte sie ein recht gutes Gefühl und zog den Sattelgurt an. Aufgetrenst hatte sie das Pferd schnell.

Etwas ratlos stand sie kurz herum, entschied sich dann dafür, City nach draussen zu führen. Auf dem Hof kam ihr schon Carla entgegen. Beeindruckt sah sie Hailey an. „Nicht schlecht, ich hätte nicht gedacht, dass du das alleine so schnell hinkriegst. Sieht gut aus! Na komm, du kannst mich zur Bahn begleiten.“

Sie überliess es Hailey, City zu führen, als sie vom Hof weg zur Trainingsbahn hinüber gingen. Vor ihnen lag eine ovale Rennbahn mit zwei Spuren, einer mit einem Sandbelag und einer mit normalem Rasen. Auf der Sandstrecke fochten gerade ein Grauschimmel und ein Brauner einen heissen Zweikampf aus. Die beiden Pferde schenkten sich keinen Zentimeter, immer schob sich der eine, dann der andere ein Stück nach vorne.

Carla machte Hailey auf einen Mann aufmerksam, der auf einem Turm in der Mitte der Bahn stand und durch ein Fernglas, die Stoppuhr in der Hand, die beiden Pferde beobachtete. „Das ist Brian O’Donnell, der Trainer. Lass dich von ihm nicht einschüchtern, er ist eigentlich aber ganz in Ordnung.“

Brian hatte die beiden in diesem Moment entdeckt und kletterte die steile Treppe zum Turm hinunter, um zu ihnen zu kommen.

„Wie macht sich Royal?“, erkundigte sich Carla. Der Trainer verdrehte die Augen. „Wenn sie noch langsamer galoppiert, könnte sie das Rennen rückwärts laufen.“

Hailey betrachtete die beiden Pferde, deren Reiter sie jetzt langsam auslaufen liessen. In ihren Augen hatten die beiden ein unglaubliches Tempo drauf gehabt.

„Das kommt schon noch“, entgegnete Carla zuversichtlich. „Bis Ascot ist sie sicher fit. Ist doch dasselbe mit Tara, im Training macht sie einer Schnecke Konkurrenz, und im Rennen packt sie plötzlich der Ehrgeiz. Scheint bei ihrer Tochter nicht anders zu sein.“

Brian brummelte missmutig etwas vor sich hin. Hailey war sich nicht sicher, wie sie ihn einordnen sollte. Er war sicher nicht viel älter als Carla und schien ihr ziemlich jung für einen Trainer in so einem bedeutenden Stall. Doch charakterlich war er das komplette Gegenteil von ihr.

„Wer ist das?“, fragte Brian plötzlich, und die Frage klang erschreckend scharf.

„Hailey. Sie würde heute gerne zusehen.“

Brian musterte sie aus zusammengekniffenen, stechend blauen Augen. „Na gut“, meinte er schliesslich, und Hailey fiel ein Stein vom Herzen. Sie war unter seinem Blick wie zu Eis erstarrt. Sie wusste jetzt, was Carla gemeint hatte.

Carla überprüfte kurz den Sattelgurt, dann legte sie die Hände auf den Sattel und winkelte das linke Bein an. Brian trat zu ihr und warf sie ohne sichtbare Anstrengung aufs Pferd. Während Carla City abwendete, um ihn ein paar Runden auf der Bahn warmzureiten, bedeutete Brian Hailey, ihm auf den Turm zu folgen.

Von dort oben hatte man einen perfekten Ausblick über die gesamte Rennbahn. In einiger Entfernung erkannte Hailey das Schloss, das sich vom dunklen Wald und den helleren Rasenflächen abhob.

Brian hatte sich schon wieder mit seinem Fernglas und der Stoppuhr an seinen Posten gestellt. Hailey wäre gerne zu ihm hingegangen, in der Hoffnung, dass er ihr die eine oder andere Sache erklären würde. Sie solle sich nicht einschüchtern lassen, hatte Carla gesagt. Das entpuppte sich als gar nicht so einfach. Zu ihrem Erstaunen drehte Brian sich plötzlich zu ihr um. "Warst du schon einmal an einem Pferderennen?"

Hailey schüttelte den Kopf. "Nein", antwortete sie, unsicher, ob sie ein förmliches Sir anhängen sollte oder nicht. Aufgrund der lockeren Art, wie Carla mit ihm umgegangen war, entschied sie sich jedoch dagegen.

"Dann weisst du wohl auch nicht viel über das Training von Galoppern", stellte er nüchtern fest, und Hailey verneinte erneut. Sie fragte sich, was das Verhör sollte. Brian wandte sich wieder um und blickte durch sein Fernglas. "Wir bereiten ihn gerade auf die längeren Rennen vor. Siehst du den Unterschied zu dem Grauen von vorhin? Viel kleiner, viel muskulöser. Ein Pferd, dass auch auf langen Distanzen ein hohes Tempo laufen kann. Wir gehen heute über dreitausend Meter mit ihm, mit zwei schnellen Laps." Er drehte sich nicht zu Hailey um, während er ihr das erklärte, sondern hielt seinen Blick vollkommen auf Carla gerichtet, die City jetzt locker die Bahn hinunter auf sie zu galoppierte. Sie stand locker in den Steigbügeln, die Haltung jedoch noch viel aufgerichteter, als Hailey das von den Bildern kannte, und ging lässig in der Bewegung des Pferdes mit.

Unter dem Turm hielt sie an, um Brians knappe Anweisungen entgegenzunehmen. Brian wiederholte das, was er vorhin schon Hailey erzählt hatte, nur dieses Mal wesentlich komplizierter, sodass Hailey kaum mitkam.

Carla wendete den Hengst dann wieder Richtung Bahn, rückte ihre Schutzbrille zurecht und sortierte die Zügel, dann nickte sie Brian zu. Dieser gab das Kommando zum Start, und der Hengst stob davon. Carla kauerte wie eine Katze auf seinem Rücken, mit einer Hand hielt sie sich in der Mähne fest.

Mit langen Galoppsprüngen setzte Simplicity über die Sandbahn. Hailey trat näher ans Geländer und legte die Hände auf die Holzumrandung. Der Anblick des Pferdes war überwältigend. Sie kannte Rennpferde bisher nur aus Filmen. Die kraftvollen Bewegungen des Tieres jetzt aus nächster Nähe zu sehen, kam dem nicht im Mindesten gleich.

Brians Blick wandte sich immer von der Stoppuhr durch das Fernglas und wieder zurück. Das Paar war jetzt am Ende der Kurve angekommen. Carla trieb den Hengst mit ihrem ganzen Körper an. Citys Galoppsprünge wurden noch länger, als der Hengst sich streckte und immer schneller wurde. Hailey hielt unbewusst den Atem an. Erst als Carla das Pferd wieder zügelte, konnte sie wieder aufatmen.

"Wow", flüsterte sie nur und erntete einen Seitenblick von Brian.

Ein Stück weiter die Bahn hinunter fing Carla im Bogen an, auf die lange Seite hin nochmals Tempo aufzunehmen. City machte ansatzweise einen übermütigen Bocksprung und schüttelte den Kopf, bevor er den Kommandos seiner Reiterin nachkam. Brian verzog missmutig das Gesicht ab dieser Aktion und kontrollierte ein weiteres Mal die Stoppuhr.

Am Ende der Strecke bremste Carla den Junghengst dann endgültig ab und liess ihn locker auslaufen, bevor sie im Trab zu ihnen zurück kam und sich die Brille aus dem geröteten Gesicht zog. Brian stieg vor Hailey die Treppe auf die Bahn hinunter.

"Könnte besser sein!", kommentierte er Carlas Runde. "Und diese Spielereien müssen wir ihm endlich abgewöhnen." Damit wandte er sich schon dem nächsten Reiter zu, der gerade die Bahn betreten hatte. Hailey bemerkte, dass er beim Davongehen leicht hinkte.

"Das bedeutet eigentlich, dass er die Runde nicht schlecht fand. Brian ist nie zufrieden", übersetzte Carla die Bemerkung des Trainers. Sie bemerkte Haileys fragenden Blick, und als könne sie Gedanken lesen, fügte sie hinzu: "Niemand weiss genau, was mit ihm passiert ist. Er muss anscheinend einmal einen schlimmen Unfall gehabt haben, als er selbst noch Jockey gewesen ist. So negativ war er aber angeblich schon vorher."

Hailey sah dem Trainer nach. So alt war Brian noch gar nicht, der Unfall musste also gar nicht so lange her sein. Carla riss sie aus ihren Gedanken, indem sie ankündigte, dass sie wieder zum Stall zurück mussten.

"Weisst du, es war gar nicht so übel mit ihm", sinnierte Hailey, als sie den Rückweg antraten. "Er hat mich gefragt, was ich über das Renntraining weiss, und hat mir danach erklärt, was ihr heute machen werdet."

"Da kannst du dich aber von nennen", lachte Carla. "Normalerweise begegnet er Besuchern mit eisigem Schweigen."

Hailey schwieg einen Moment. "Es sind alle so unglaublich nett hier! Ich hätte nicht gedacht, dass man in so einem Stall mit solcher Offenheit behandelt wird. George hat mich so selbstverständlich empfangen und mir gleich alles gezeigt. Wer ist er überhaupt?"

"George? Er ist der oberste Stallmeister! Er gehört zu diesen Leuten, die dir einen Tag lang Geschichten über Pferde erzählen können, und du findest sie immer noch spannend. Es gibt nichts, was er nicht weiss und nicht erlebt hat!" Carla warf ihr einen Seitenblick zu. "Aber auch wenn er eigentlich sehr offen ist, normalerweise lädt er nicht wildfremde Leute, die auf den Hof gestolpert kommen, zu einer Stalltour ein." Sie zwinkerte Hailey scherzhaft zu.

Vom Hof kam ihnen ein junger Mann im Stallburschen-Tenue mit verwuschelten blonden Haaren entgegen. Er führte einen Fuchs hinter sich her, der ihm diese Aufgabe alles Andere als einfach machte, da er sich regelrecht hinterher ziehen liess. Der Mann verwarf hilflos die Arme. "Tut mir leid, Carla", rief er ihnen schon von Weitem zu.

"Sieh an, Tim, du kannst also doch deinen Job machen!", entgegnete Carla leicht spöttisch. "Ich frage nicht, wo du gesteckt hast." Sie tauschte mit ihm die Pferde. "Hailey, wir sehen uns nachher. Wenn du noch bleiben möchtest, schau dich ruhig um, vielleicht triffst du George irgendwo. Wir sehen uns sicher später noch!" Sie verschwand mit dem Fuchs zurück Richtung Rennbahn.

Hailey stand etwas ratlos in der Gegend herum.

"Ähm, hi!", begrüsste Tim sie verlegen. "Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet."

"Kaum, ich bin erst seit gestern hier", antwortete Hailey. Sie wusste nicht, wie oft sie sich heute schon vorgestellt hatte oder vorgestellt worden war.

"Ach so!" Tim nickte. "Kommst du mit zurück? Ich muss mich wieder an die Arbeit machen."

Hailey begleitete ihn zum Hof zurück. Mit einem Mal fiel ihr allerdings siedend heiss ein, dass sie ihrer Mutter gar nicht Bescheid gesagt hatte, dass sie weg war. Es mussten schon mehrere Stunden vergangen sein.

"Wie spät ist es?"

Tim warf einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. "Kurz nach halb zehn. Warum?"

"Ich sollte gehen! Wenn du George siehst, grüss ihn von mir."

"Mach ich." Er hielt inne. "Hailey, richtig?"

Hailey nickte, und schenkte ihm ein Lächeln. Dann drehte sie sich um und rannte zurück zum Schloss.

Kapitel 4

 

Sie fand ihre Mutter nirgends in ihrem neuen Häuschen, ihr nächster Weg führte daher wieder zu dem Nebeneingang, hinter dem die Küche lag. Kaum hatte sie den Gang betreten, hallten ihr schon geschäftiges Töpfe-Klappern und ein vertrautes Zischen von angebratenem Fleisch entgegen. Ein angenehmer Geruch lag in der Luft, der Hailey bewusst werden liess, dass sie heute noch gar nichts gegessen hatte.

Sie betrat die Küche, wo ein Teil des Küchenpersonals schon mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt war, und entdeckte ihre Mutter, die an einer der vier freistehenden Kochinseln in der Mitte des Raumes mit Pfannen hantierte. Aus ihrer Hochsteckfrisur kringelten sich einige lose Strähnen um ihr gerötetes Gesicht. Sie trug eine weisse Hose und hellblaue Bluse, darüber eine dünklere Schürze.

"Oh, Hailey!" Sie hatte aufgesehen und ihre Tochter bemerkt, die sich staunend umsah. "Ich dachte mir schon, dass du mich sicher finden würdest. Hast du dir die Anlage angesehen?"

Hailey nickte. "Ich war schon ziemlich früh wach, und es war so ein schöner Morgen, also bin ich etwas herumgelaufen."

"Hast du den Stall gesehen?"

Hailey war einen Moment sprachlos. "Du wusstest davon? Wieso hast du mir das nicht früher erzählt?"

"Ich hatte es völlig vergessen", gestand Caroline. "Mrs Hennessy hat es bei unserem ersten Treffen nur kurz erwähnt."

"Wie konntest du? Du müsstest doch wissen, wie spannend das für mich ist!"

"Na, aber wie es scheint, hast du es jetzt ja selber herausgefunden." Caroline sah sie an. "Reich mir mal das Fleischmesser aus dem Block da drüben."

Hailey fischte es hervor. "Das habe ich tatsächlich! Ich habe schon ein paar Leute getroffen. Zuerst George, den Stallmeister. Er hat mir den Stall gezeigt! Dann kam Carla dazu, sie ist Jockey dort..."

"Was ist denn ein Jockey?", unterbrach ihre Mutter.

"Das sind die Leute, die die Rennpferde reiten."

"Klingt ziemlich gefährlich." Caroline runzelte die Stirn.

"Ist es wahrscheinlich auch. Weisst du noch, die beiden Männer gestern beim Abendessen? Die sind auch Jockeys. Jedenfalls, ich durfte ihr beim Vorbereiten der Pferde helfen, und dann hat sie mich zum Training mit auf die Bahn genommen. Ich hab den Trainer kennen gelernt. Und einen der Stallburschen. Die sind alle so super nett, ich hatte anfangs ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich einfach auf den Hof spaziert bin, aber die hatten überhaupt nichts dagegen."

Caroline lächelte in sich hinein. Es freute sie, ihre Tochter so im Element zu sehen.

"Und wie war dein Tag bisher?", erkundigte sich Hailey, und liess ihren Blick durch die grossräumige Küche schweifen.

"Ganz gut. Eigentlich müsste ich heute ja noch nicht arbeiten, aber jemand ist krank geworden, also bin ich eingesprungen. Die Leute hier sind alle sehr nett, was ich vom ersten Eindruck her so sagen kann. Hast du eigentlich gefrühstückt?", fragte sie unvermittelt. Hailey schüttelte den Kopf.

"Guck mal da drüben, dort hat es einen Brotkorb, und in dem grossen Kühlschrank findest du noch Butter und Orangenmarmelade."

Hailey durchquerte den Raum, holte sich eine Scheibe des geschnittenen, frisch duftenden Brotes aus dem Korb und durchsuchte den Kühlschrank nach einem Belag. "Weisst du", meinte sie, als sie mit dem Marmeladenglas und einem Block gesalzener Butter zurückkehrte, "hier ist alles so anders als zuhause. Ich verstehe, warum du unbedingt herkommen wolltest! Aber Hannah und Sugar fehlen mir schon am ersten Tag." Sie seufzte. Caroline nickte bloss.

 

Nachdem sie abends zusammen mit ihrer Mutter zum ersten Mal gemeinsam in der neuen Küche gekocht hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück, um endlich auszupacken. Sie hatte den Nachmittag damit verbracht, den Park zu erkunden und jeden Winkel ihres neuen Zuhauses zu erforschen. Neben dem grossen Wohnbereich im Erdgeschoss verfügte das Haus über drei Zimmer im oberen Stock, sowie ein grosses Badezimmer direkt neben Carolines Zimmer, das mit einer gigantischen Wanne ausgestattet war, und ein kleineres nur mit Dusche in der Nähe von Haileys Zimmer. Diese war fasziniert von dem Luxus, über ein eigenes Badezimmer zu verfügen. In Newhaven hatte sie sich ein Bad mit ihrer Mutter geteilt, das in dieses hier zwei Mal hineingepasst hätte.

In ihrem Zimmer gab es noch nicht viele Möbel, doch da Hailey ohnehin nicht viele Sachen besass, die sie hätte verstauen müssen, passte das perfekt. Von ihrer Einrichtung, sofern man die wenigen Möbelstücke so hatte nennen können, hatten sie kaum etwas mitgebracht.

Der Kleiderschrank war so gross, dass sie neben ihren Klamotten den Schuhen ein eigenes Abteil darin zugestehen konnte, und die leeren Fächer füllte sie mit den mitgebrachten Büchern. Ihre Bilder und die wenigen Erinnerungsstücke, die ihr am Herzen lagen, drapierte sie auf dem Schreibtisch und dem kleinen Schränkchen neben dem Bett. Die Umzugskisten waren schnell ausgepackt, zuletzt platzierte sie ihren uralten Laptop auf dem Schreibtisch. Als sie ihre Sporttasche verstauen wollte, fiel ihr Hannahs Hufeisen in die Hände. Sie hatte es völlig vergessen. Eine Möglichkeit, es aufzuhängen, hatte sie allerdings nicht, also bekam es vorerst ebenfalls einen Platz auf dem Nachttisch.

 

Am nächsten Morgen machte sich Hailey wieder auf den Weg zu den Stallungen, in der Hoffnung, George oder Carla anzutreffen. Einer der Stallburschen teilte ihr mit, dass Carla gerade beim Training und George bei den Fohlen auf der Weide draussen war. Einen Moment lang fragte sich Hailey, ob sie einfach gehen und Carla auf der Bahn suchen sollte, doch sie wusste nicht, was Brian davon halten würde, wenn sie einfach dort auftauchte. Ratlos stand sie in der Stallgasse herum, bis plötzlich Tims blonder Haarschopf aus einer der Boxen auftauchte.

"Tim!", rief Hailey ihm hinterher. Er drehte sich um, und seine Miene erhellte sich. "Guten Morgen!"

"Ich war eigentlich auf der Suche nach George, aber der scheint ja nicht da zu sein", bemerkte Hailey etwas enttäuscht.

"Und ich dachte schon, du wärst wegen mir gekommen." Tim zwinkerte ihr zu. Hailey lachte.

"Aber mal im Ernst: dann hast du gerade nichts zu tun? Ich wäre um ein zweites Paar Hände froh", gestand Tim und sah sie flehend an.

Hailey zuckte bereitwillig mit den Schultern. "Klar doch! Ich bin hier, da kann ich mich auch nützlich machen. Was kann ich tun?"

"Red und Night müssten noch gesattelt werden. Die Sättel liegen schon bereit, du musst nur noch die Trensen aus der Sattelkammer holen. Kannst sie danach einfach in der Boxe angebunden lassen."

"Alles klar, Chef!" Hailey drehte sich um und machte sich auf den Weg zur Sattelkammer. Heute sass niemand an dem Tisch, sodass Hailey in Ruhe die Zaumzeuge heraussuchen konnte. Es dauerte einen Moment, bis sie die Aufschriften "Dark Night" und "Red Jewel" fand. Noch umständlicher wurde es allerdings, die Boxen der dazugehörigen Pferde zu finden. Red entpuppte sich nicht als ein Fuchs, wie sie erwartet hätte, sondern als Schimmel. Wie Tim gesagt hatte, hing sein Sattel bereits auf der aufklappbaren Halterung vor der Box.

Der Wallach schien absolut phlegmatisch, liess sich nur ungern von Hailey aufhalftern und von seinem Heu wegbewegen. Sie band in neben der Tür an und fing an, ihn zu satteln, wobei sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie es bei City gemacht hatte. Es brauchte zwei Anläufe, weil ihr einmal die Sattelunterlagen komplett verrutschten, aber schliesslich gelang es ihr. Als sie gerade zum Zaumzeug greifen wollte, ging die Stalltüre auf. Hailey dachte zuerst, es wäre George, doch herein kam ein junger Mann in massgeschneiderten Reitstiefeln, auf die er ungeduldig eine Springgerte klatschen liess. Hailey sah ihn zuerst nur von hinten, doch er kam ihr seltsam bekannt vor. Sie hatte die dunklen Haare und die sportliche Figur schon einmal gesehen, dessen war sie sicher. Auch an seine ganze Haltung konnte sie sich irgendwoher erinnern. Als er sich umdrehte, verschlug es ihr den Atem und der Mund blieb ihr offen stehen. Vor sich erkannte sie Alexander! Eben jenen Alexander, den sie auf dem Turnierplatz kennen und zu verabscheuen gelernt hatte.

Zu allem Übel hatte er sie nun entdeckt und kam auf sie zu. Hailey hätte sich am liebsten versteckt.

"Es gibt hier einen Dress Code", herrschte er sie an. "Wo sind deine Stiefel? Hast du keine Arbeitskleidung erhalten?"

Verwirrt sah Hailey ihn an. Sie brachte noch immer keinen Ton heraus.

"Beim nächsten Mal bist du ordentlich gekleidet. Und ich wünsche, dass mein Pferd gesattelt wird! Sofort!" Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und verliess den Stall. Hailey liess sich gegen die Boxenwand sinken. Anscheinend hatte er sie nicht erkannt, sondern für ein Mitglied des Stallpersonals gehalten. Sie fragte sich, was sie jetzt tun sollte. Wäre Tim in der Nähe gewesen, hätte er sicher handeln können. Kurz überlegte sie, Alexanders Pferd ausfindig zu machen und für ihn bereitzustellen, verwarf die Idee aber gleich wieder. Schliesslich war sie nicht hier angestellt und musste auch keine Befehle von ihm entgegen nehmen. Noch dazu widersagte es ihr, für jemanden wie Alexander den Laufburschen zu spielen.

Sie sattelte Red fertig und ging dann weiter zu Nights Boxe. Der Dunkelbraune liess sich durch ihre Anwesenheit ebenfalls kaum stören, und Hailey konnte ihn in Ruhe satteln und auftrensen. Danach setzte sie sich vor die Box, um erst einmal auf Tim zu warten. Es vergingen jedoch keine zehn Minuten, da tauchte Alexander wieder im Stall auf.

"Mein Pferd ist noch nicht gesattelt! Ich hatte doch eine klare Anweisung gegeben. Dir ist hoffentlich klar, was das für einen Ärger für dich bedeuten kö..."

"Alexander!"

Hailey purzelten ganze Felsbrocken vom Herzen, als sie George erkannte, der gerade den Stall betreten hatte und Alexander unterbrach. "Was geht hier vor?"

"Ich hatte sie vor mehr als einer Viertelstunde angewiesen, mein Pferd fertig zu machen. Als ich zurückkam, stand Princeton noch immer ungesattelt in seiner Box! Die Arbeitsmoral in diesem Stall lässt wirklich zu wünschen übrig."

George lachte leise. Hailey sah ihn entgeistert an. Sie konnte sich nicht im Mindesten vorstellen, was an der Situation lustig sein sollte. Auch Alexander sah leicht irritiert aus.

"Nun, dann muss ich wohl etwas klarstellen: das Mädchen arbeitet nicht hier. Alexander, darf ich vorstellen: Hailey Steinfeld, die Tochter der neuen Köchin. Sie macht sich freundlicherweise hier ein wenig nützlich. Es ist nicht im Geringsten ihre Pflicht, Euer Pferd zu satteln. Doch wenn ich mich recht erinnere, hat Euer Vater doch ohnehin angeordnet, dass Ihr euch selber um Euer Pferd kümmert." Trotz der freundlichen Umgangsform hatte Georges Stimme einen scharfen Unterton. "Bevor Ihr Euch also über die hier herrschende Arbeitsmoral beschwert..."

Doch Alexander schien den letzten Teil von Georges Predigt gar nicht mehr mitbekommen zu haben. Verblüfft starrte er Hailey an. "Ich wusste doch, dass ich dich irgendwoher kenne! Du bist die Kleine aus Sussex."

Hailey wäre am liebsten im Boden versunken. Es war ihr lieber gewesen, dass Alexander sie für ein Stallmädchen gehalten hatte, anstatt dass er sich daran erinnerte, woher er sie wirklich kannte. Er verzog das Gesicht zu einem amüsierten Grinsen. "Nun, dann sehen wir uns sicher noch." Ohne George noch grosse Beachtung zu schenken, verliess er den Stall. Hailey war noch immer sprachlos.

Geroge seufzte. "Nimm ihn nicht ernst. Alexander ist... schwierig. Seit seine Mutter gestorben ist, ist es noch schlimmer."

"Was für ein arrogantes Arschloch!", brummte Hailey missmutig.

"Sei nicht zu streng zu ihm! Er hatte es nicht immer einfach..."

"Ja, das merkt man", kam die sarkastische Antwort.

"Mir gefällt auch nicht, wie er sich aufführt. Aber versuch, hinter die Mauern zu blicken, vielleicht verstehst du es eines Tages! So, und nun, zurück an die Arbeit. Sofern dir die Lust nicht völlig vergangen ist?"

Hailey nickte. Es war ihr ganz willkommen, dass das Thema Alexander gegessen war.

"Dann schlage ich vor, ich zeige dir erst mal noch den Rest der Anlage."

George stellte ihr einige weitere vielversprechende Bewohner des Hengststalls vor, darunter auch Simplicity, den sie gestern auf der Bahn gesehen hatte. Danach machten sie sich auf den Weg zum Trakt, wo die Stuten untergrebacht waren. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre, die Tiere schienen viel gelassener und friedlicher. Auch wenn die Hengste ihre Rivalität nicht offen zeigten, man spürte doch immer eine gewisse Spannung im Umgang mit ihnen. George bestätigte Hailey diesen Gedanken. "Unsere Jungs lassen sich leben, solange keine Stuten in der Nähe sind. Der einzige Ort, wo sie eine Stute im alltäglichen Betrieb zu sehen bekommen, ist die Rennbahn, und dort sind sie viel zu ehrgeizig und auf ihre Aufgabe fixiert."

Hailey machte im Stutenstall unter Anderem Bekanntschaft mit Chariot, der Mutter von Legend, sowie einigen Nachfahren von berühmten Rennhengsten wie Man O'War oder Eclipse, die sogar ihr ein Begriff waren. Eine Stute, eine zierliche Schwarz-Braune namens Snowwhite, hatte es Hailey besonders angetan. Sie hatte einen hübschen Keilstern auf der Stirn und einen eleganten, fast araberhaften Kopf mit grossen, wachen Augen und weiten Nüstern. Als die beiden Besucher zu ihrer Boxe traten, begrüsste sie sie mit einem Schnauben und legte Hailey vertraut die Nase in die Hand.

"Das ist unser Prinzesschen. Eine ziemlich heikle junge Dame. Hat ihren eigenen Kopf, aber wenn wir die mal soweit haben, wird sie ein fantastisches Rennpferd abgeben. Sie ist eine Enkelin von Secretariat. Von dem hast du sicher schon mal gehört?", vergewisserte sich George.

Hailey nickte. "Das hat wohl jede pferdebegeisterte Person."

Der Stallmeister lachte. Sie setzten ihren Rundgang fort, George macht Hailey mit den Fohlen bekannt. Die meisten waren bereits im Januar geboren, was ihnen bei den Rennen als Zweijährige einen Vorteil verschaffte, waren also schon ein halbes Jahr alt, doch es gab auch einige Nachzügler, die erst vor wenigen Wochen zur Welt gekommen waren. Hailey flippte fast aus vor Entzücken über die winzigen Vierbeiner. Neben dem Stutenstall gab es einen grosszügigen Laufstall mit einem Aussenbereich für die Absetzer und die Jungpferde, die noch nicht im Training waren, und unter der Obhut zweier älterer Stuten ihre Kinderstube genossen.

Im letzten Stall zeigte ihr George schliesslich die Reitpferde. Die meisten davon gehörten dem Grafen und waren umgeschulte Rennpferde. Daneben gab es Boxen für die Pferde, die die Angestellten mitgebrachten hatten. Zuhinterst im Stall standen drei elegante, grossrahmige Warmblüter, ein Schimmel und zwei Braune. In dem Schimmel erkannte Hailey Princeton, Alexanders Pferd. George erklärte ihr, dass alle drei Pferde Alexander gehörten. Um die Warmblüter fühlte sich Hailey etwas vertrauter, hier schien nicht alles nach anderen Regeln zu laufen wie in den Ställen, die den Rennpferden vorbehalten waren. Die Ehrfurcht, die sie um die Galopper empfunden hatte, fiel hier vollständig von ihr ab, sie trat auf die Pferde zu, studierte Namenstafeln, tätschelte hier einen Hals und kraulte da eine Stirn.

George schien Haileys Gefühle zu erraten. "Ich sehe schon, dass hier ist eher dein Metier. Ich werde mal mit dem Grafen reden, da lässt sich sicher was machen."

Hailey war sich nicht ganz sicher, was diese Worte bedeuten sollten, doch sie traute sich nicht zu fragen.

Zum Abschluss der Führung zeigte George ihr die restlichen Trainingsanlagen. Neben der grossen Rennbahn gehörten zum Hof ein Dressurviereck, eine Reithalle, ein Springplatz sowie ein Geländeparcours. George erklärte ihr auch, dass es eine weitere Rennstrecke ein Stück ausserhalb gab, die man von hier nicht sehen konnte. Dafür bot sich Hailey ein wundervoller Ausblick auf die weitläufigen Koppeln, deren saftig grüne Wiesen sich vom Dunkel des umliegenden Waldes abhoben.

"Falls du keine anderen Pläne hast, darfst du dich morgen gerne wieder nützlich machen", meinte George schliesslich mit einem Augenzwinkern. "Tim wäre über deine Hilfe sicher erfreut."

Hailey konnte nicht verhindern, dass sie leicht errötete. "Ich komme gern", entgegnete sie und ignorierte die letzte Bemerkung.

"Sagen wir, fünf Uhr zur Morgenfütterung?", meinte George, liess sie jedoch mit einem Zwinkern verstehen, dass es als Scherz gemeint war. Hailey lachte, doch in Gedanken stellte sie schon den Wecker...

Kapitel 5

 

Pünktlich zum Mittagessen kehrte Hailey wieder zur Schlossküche zurück. Im Esszimmer der Angestellten traf sie erneut auf Sophia und Olivia, die beiden Mädchen, die sie an ihrem ersten Abend kennen gelernt hatte. Sophia winkte ihr erfreut zu, als Hailey mit einem Tablett den Raum betrat.

"Hi Hailey", begrüsste sie sie. "Na, schon eingelebt?"

"Ich finde mich so langsam zurecht. Es ist alles so anders als in meinem vorherigen Zuhause", gestand Hailey.

"Erzähl mal, wie ist es so in Sussex?"

Hailey bereute ihr Bemerkung augenblicklich. Wovon sollte sie erzählen? Von der winzigen, dunklen Gasse in Newhaven, wo sie mit ihrer Mutter eine Wohnung von der Grösse eines Schuhkartons gehabt hatte? Von den Freunden, die sie an der Schule nie gehabt hatte? Mit einem Mal war ihr ihr früherer Lebensstil unglaublich peinlich. Sie wollte nicht, dass Sophia gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft wusste, dass sie früher kaum einen Penny übrig gehabt hatten. Von den meisten Leuten erntete Hailey nur Mitleid oder Spott, so wie jeweils von Juliane.

"Die Landschaft unterscheidet sich ziemlich von Summerset. Aber viel habe ich auch noch nicht gesehen", antwortete sie rasch und stopfte sich eine grosse Gabel Salat in den Mund, um nicht weiterreden zu müssen.

"Das müssen wir ändern!" Sophia warf Olivia einen raschen Seitenblick zu. "Wir wollen morgen zum Einkaufen nach Watchet, willst du mit? Wir können dir ein paar schöne Plätze zeigen und die besten Cafés und Bars der Stadt. Und wenn die Zeit reicht, schaffen wir es vielleicht noch zum Meer runter."

"Das klingt wirklich spitze." Hailey schenkte Sophia ein Lächeln. Die Offenheit der beiden Mädchen überraschte sie.

"Watchet ist nicht so ein Kaff, wie es auf den ersten Blick scheint. Es gibt nette Läden", meldete sich Olivia erstmals zu Wort. "Warst du in Newhaven oft shoppen?"

"Es geht", antwortete Hailey wahrheitsgemäss.

"Olivia ist eine echte Shoppingqueen! Sie findet Teile, die du selber nicht einmal näher betrachten würdest, dir aber beim Anprobieren super stehen." Sophia lachte.

Olivia musterte Hailey nachdenklich. "Du hast eine tolle Figur und einen hübschen Teint. Damit kannst du so ziemlich alles tragen. Das wird ein Spass, wenn du morgen mitkommst!" Sie machte eine eifrige Geste mit den Händen. Ihre aufgekratzte Stimmung schien ansteckend. Trotzdem war Hailey etwas mulmig zu Mute beim Gedanken an den bevorstehenden Trip. Die beiden Mädchen schienen Shopping zu lieben und hatten einen erlesenen Geschmack, was Hailey zweifellos an Olivias ärmellosem Rollkragentop zu einem hoch geschnittenen Rock, der an der Taille sass und eine Hand breit über den Knien endete, und Sophias lässigem beigen Oversize-Shirt zu den ausgefransten dunklen Hotpants sah, die diese heute gegen ihre Uniform eingetauscht hatten. Wenn sie dagegen an sich selbst hinunter sah, fühlte sie sich direkt langweilig. Graues Top und ihre stinknormalen Jeans, dazu wieder die Sneaker von gestern. Sie fragte sich, wie sie mit den beiden mithalten sollte, noch dazu hatte sie kaum Taschengeld gespart, von dem sie sich Klamotten würde bezahlen können.

Doch Sophia lenkte sie rasch von dem Gedanken ab, indem sie ein anderes Thema ansprach. "Wo wirst du nach den Sommerferien eigentlich zur Schule gehen?"

"In Watchet auf die Grammar School."

"Da gehe ich auch hin! Vielleicht haben wir Kurse zusammen", meinte Sophia erfreut.

"Gehst du auch da zur Schule?", erkundigte sich Hailey bei Olivia. Diese schüttelte den Kopf.

"Ich bin seit letztem Jahr fertig mit der Schule. Seither arbeite ich hier. Ich will nächstes Jahr Theaterwissenschaften in London studieren, dafür möchte ich mir schon mal ein bisschen was zusammen sparen."

"Theater?"

"Ich hatte immer eine besondere Schwäche dafür", gestand Olivia mit einem Augenzwinkern.

"Ich möchte Jura studieren und Staatsanwältin werden", sinnierte Sophia. "Vielleicht an der Harvard."

"Träum weiter", neckte Olivia sie. "Was ist mir dir, Hailey?"

"Ich weiss es noch nicht so genau. Es ist beeindruckend, dass ihr euch schon entscheiden konntet. Ich habe keine Ahnung, was für mich in Frage käme."

"Dir bleibt ja noch etwas Zeit, das herauszufinden", meinte Sophia. Dann sah sie auf ihre Uhr. "Ich muss los! Wir treffen uns morgen gegen drei vor den Bungalows, ja, Hailey?"

Diese nickte, und schon war Sophia aufgesprungen und zur Tür hinaus.

 

George schien nicht gross erstaunt, als Hailey pünktlich zur Morgenfütterung im Stall auftauchte. Sie hatte heute aus praktischen Gründen die Jeans in ihre Reitstiefel gestopft, und trug über dem grauen Top ein leichtes Karo-Hemd.

Der Stallmeister drückte ihr zwei beschriftete Futtereimer in die Hand, und Hailey machte sich an die Arbeit.

Im Stall herrschte trotz der frühen Stunde schon reges Treiben. Es waren vor allem Pfleger, die Heu und Kraftfutter verteilten, und die Pferde vor dem Training schon mal striegelten. Doch dazwischen tauchte immer mal wieder ein verschlafener Jockey auf und bahnte sich seinen Weg zur Kaffeemaschine in der Sattelkammer.

"Guten Morgen! Ich habe dich gestern gar nicht mehr gesehen."

Hailey, die gerade in den Anblick von Snowwhite versunken gewesen war, drehte sich um. Tim stand vor ihr und grinste sie unter seinem blonden Haarschopf breit an.

"Hi Tim." Hailey lächelte zurück.

"George hat mir schon gesagt, dass du helfen möchtest. Wie siehts aus, teilen wir uns die Arbeit? Ich miste die Boxen aus, du kannst die Pferde fürs Training bereit machen. Es gibt im Moment doppelt so viel zu tun, weil wir zwei Leute weniger sind."

"Ok, das ist ein Deal!"

"In der Sattelkammer hängt ein Plan, welche Pferde wann auf die Bahn müssen und wer für sie zuständig ist. Du kannst die vorbereiten, die mir zugeteilt sind." Tim schnappte sich eine Mistgabel. "Alles klar? Wenn du Hilfe brauchst, ist sicher jemand in der Nähe. Ich bin drüben im Stutenstall." Mit einem letzten Lächeln zog er von dannen.

Hailey ging erst einmal hinüber zur Sattelkammer. Diese war wesentlich voller als die letzten Male, gut ein halbes Dutzend Jockeys sass in verschlafener Stimmung in dem Raum herum. Hailey wünschte ihnen etwas schüchtern einen guten Morgen, ihr wurde jedoch kaum Beachtung geschenkt.

Die Liste hatte sie schnell gefunden, sie hing neben der Kaffeemaschine an der Wand. Die Pferde waren alle in bunten Farben markiert, sodass sie Tims Pferde in hellem Grün auf einen Blick ausfindig machen konnte.

Den ganzen Morgen war sie damit beschäftigt, Pferde fertig zu machen, die dann von ihren Jockeys abgeholt worden. Manche bedankten sich höflich, während andere ihr nur brummlig die Zügel aus der Hand nahmen. Auch die Pferde, mit denen sie zu tun hatte, waren nicht alle angenehme Kandidaten. Hailey holte sich aus Unachtsamkeit eine blaue Zehe, weil ihr einer der Wallache auf den Fuss trat. Sie trug es mit Fassung, und der Schmerz verebbte rasch wieder.

Ihr letztes Pferd war erfreulicherweise Snowwhite, die hübsche Stute, die sie am Tag zuvor kennen gelernt hatte. Kaum hatte Hailey ihre Boxe betreten, wurde sie erst einmal misstrauisch beäugt.

"Nanu, was ist denn, meine Schöne? Gestern waren wir doch noch beste Freunde." Sie bot der Stute die ausgestreckte Hand an. Snowwhite machte den Hals lang, beschnupperte sie und machte dann doch einen Schritt zu. Hailey begann, sie am Hals zu kraulen, was die Stute offensichtlich genoss. Dann war das Eis gebrochen. Snowwhite liess sich von Hailey ohne Probleme satteln und folgte ihr wie ein Hündchen über den Hof, wo ihr Jockey sie entgegen nahm.

Hailey sah der Stute einen Moment hinterher, dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Es war bereits kurz vor zwölf. Sie hatte über der Arbeit gar nicht gemerkt, wie rasch die Zeit vergangen war. In drei Stunden war sie mit Sophia und Olivia verabredet. Sie überlegte kurz, Tim im Stutenstall zu suchen, doch da tauchte George vor ihr auf. Er führte einen braunen Vollblüter neben sich, der jedoch klassisch mit einem Springsattel gesattelt war.

"Hier." Er hielt Hailey eine Reitkappe entgegen, die diese verblüfft entgegen nahm. "Ich dachte mir, du hast eine kleine Belohnung verdient für die grossartige Hilfe, die du hier geleistet hast." Der Reitkappe folgten die Zügel des Braunen. "Das hier ist Ragazzo. Der Graf hat erlaubt, dass du ihn ausprobierst."

Hailey sah sprachlos zwischen dem Pferd und George hin und her. Auf dem Gesicht des alten Stallmeisters breitete sich ein Lächeln aus. "Na komm, wir gehen hinüber auf den Springplatz."

Er führte sie vom Hof weg zu den Anlagen. Auf dem grosszügigen Sandplatz liess George sie erst einmal mit Ragazzo allein, um sich zum Zuschauen an die Umrandung zu stellen. Ein bisschen nervös machte Hailey sich daran, die Steigbügel richtig einzustellen. Sie wusste nicht, ob sie mit dem Pferd klar kommen würde und ob ihre Reitkünste auch unter Georges kritischem Blick bestehen würden. Rasch überprüfte sie den Sattelgurt, dann stellte sie den Fuss in den Steigbügel und zog sich in den Sattel. Der Springsattel fühlte sich sofort vertraut an, sie setzte sich zurecht und trieb den Wallach an.

Hailey merkte schnell, dass Ragazzo sehr fein an den Hilfen stand und exzellent geritten war. Nur schon im Schritt reagierte er auf die geringsten Gewichtsverschiebungen. Es machte ihr augenblicklich Spass, dass Pferd zu reiten und die Nervosität legte sich rasch.

Eine ganze Weile lenkte sie ihn um die kreuz und quer stehenden Hindernisse, um ihn weich zu machen und ein Gefühl für die Hilfen zu bekommen, bis sie sich getraute anzutraben. Ragazzo hatte traumhaft weiche Gänge, im Trab schien er zu schweben, und ohne grosses Zutun von Hailey wölbte er den Hals und trat locker ans Gebiss. Hailey war im siebten Himmel.

Sie fragte einige einfache Dressurlektionen wie Schenkelweichen und Traversalen ab, die der Wallach eifrig und sehr zur Zufriedenstellung seiner Reiterin ausführte.

Schliesslich galoppierte sie ihn auf beiden Händen noch ein paar Runden, ritt Galoppverstärkungen und wagte schliesslich sogar einen fliegenden Wechsel. Sie wusste nicht, ob der Wallach die Lektion kannte und ihre Hilfen verstand, doch kaum hatte sie ihr Gewicht etwas verlagert und nahm das neue äussere Bein zurück, sprang Ragazzo sofort in einer einzigen fliessenden Bewegung um.

Begeistert parierte Hailey zum Schritt durch und lobte das Pferd ausgiebig. Sie liess ihn am langen Zügel zurück zu George gehen.

"Was für ein fantastisches Pferd!", rief sie ihn schon von Weitem zu. Der alte Mann lächelte. "Er war lange völlig unterfordert. Der Graf hat im Moment kaum Zeit, selber in den Sattel zu steigen, und die Pfleger haben auch sonst schon genug Arbeit."

Hailey klopfte Ragazzo den Hals. "Wie schade! Er ist unglaublich zu reiten."

"Das freut mich. Wieso probierst du nicht ein paar Sprünge? Ihr scheint ja ganz gut miteinander klar zu kommen", schlug George vor.

Haileys Augen leuchteten auf. "Wirklich?" Sie sah sich um. Die Sprünge schienen ihr ziemlich hoch für ein fremdes Pferd, die Stangen lagen bestimmt auf L-Höhe. Hailey war mit Sugar selten auf dieser Höhe gesprungen. Leicht zweifelnd sah sie zu George, doch dieser nickte ihr nur ermutigend zu. Also nahm Hailey die Zügel wieder auf, wendete ab und galoppierte Ragazzo an.

Als erstes steuerte sie ein etwas tieferes Kreuz an. Ragazzo spitzte gespannt die Ohren und begann anzuziehen. Hailey sass tief ein, gab Paraden und ging im richtigen Moment in den leichten Sitz über. Der Wallach hob ab und ging weich über den Sprung. "Guter Junge", lobte Hailey leise und nahm ihn nach rechts auf einen Steilsprung zu. Dieses Mal wartete Ragazzo auf ihre Signale, ohne schneller zu werden. Hailey zählte die Sprünge und kam perfekt auf das Hindernis. Wieder überwand es der Wallach ohne Schwierigkeiten.

Hailey wiederholte diese beiden Sprünge noch einmal, bevor sie sich an einen Oxer wagte, eines der höheren Hindernisse auf dem Parcours. Die rot-weissen Stangen sahen sehr einladend aus, auch wenn das Hindernis durchaus nicht zu unterschätzen war. Hailey ritt etwas dicht an den Sprung, doch Ragazzo half ihr aus der kniffligen Situation. Kraftvoll drückte er vom Boden ab und übersprang auch dieses Hindernis fehlerfrei. Hailey wählte noch einen weiteren, etwas höheren Steilsprung, den sie dieses Mal ohne Probleme schafften.

Als sie durchparierte, wurde sie sich plötzlich Gewahr, dass George nicht mehr ihr einziger Zuschauer war. Neben dem Stallmeister stand Brian und verfolgte stumm ihre Bewegungen. Hailey wurde mit einem Mal wieder nervös. Was dachte der kritische Trainer über ihren Ritt?

Sie näherte sich den beiden Männern und brachte Ragazzo vor dem Zaun zum Stehen, um abzusteigen. Brian bedachte Hailey mit einem seltsamen Blick, den sie nicht deuten konnte, nickte ihr knapp zu und ging, ohne ein Wort gesagt zu haben.

Erstaunt sah sie ihm nach. "Was war das eben?"

Der Stallmeister betrachtete Hailey nachdenklich. "Du bist wirklich hervorragend geritten! Ich denke, ich darf dir mit gutem Gewissen zugestehen, Ragazzo jederzeit aus dem Stall zu holen und ihn zu reiten. Er steht zu deiner freien Verfügung!"

Mjt einem Schlag war Brians seltsames Verhalten aus Haileys Gedanken gewischt. "George!" Sie fiel dem alten Mann stürmisch um den Hals.

"Ich hoffe doch, dass wir weiterhin auf deine fabelhafte Mithilfe zählen können", warf George mit einem Lachen ein. Hailey nickte begeistert.

„Na dann, kühl den Burschen noch etwas aus, wir sehen uns nachher am Stall.“ Er hob zwei Finger grüssend an die Mütze, dann liess er sie mit Ragazzo allein. Hailey stieg wieder in den Sattel und liess den Wallach noch ein paar Runden am langen Zügel Schritt gehen. Gerade, als sie den Platz jedoch verlassen wollte, kam Alexander mit Princeton vom Stall her in ihre Richtung. Haileys Laune erreichte sofort wieder den Gefrierpunkt.

Ohne sie gross zu beachten machte Alexander sich an seinen Steigbügeln zu schaffen. Erst, als er aufgesessen war, wandte er sich unvermittelt an sie. „Wer hat meine Sprünge umgestellt?“ Die Frage kam so scharf, dass Hailey innerlich zusammen zuckte. Sie versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen, wandte sich um und entgegnete kühl: „Du musst wohl ein Kurzzeitgedächtnis haben, die Sprünge sind unverändert – jedenfalls von mir. Ich habe sie genauso gebraucht, wie sie da gestanden sind.“

„Das kann wohl kaum sein, sehe ich aus, als würde ich L-Höhe trainieren? Und jemand Anderes hat die Hindernisse wohl kaum gebraucht. Also stell sie gefälligst zurück!“, herrschte Alexander sie ungeduldig an.

Hailey starrte ihn wütend an. „Ich bin doch nicht dein Bediensteter! Wenn du deine Sprünge anders haben willst, dann mach es doch selber.“ Sie stieg von Ragazzo, nahm seine Zügel und marschierte mit ihm vom Platz, ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen. Doch sie konnte spüren, wie Alexanders wütender Blick ihr förmlich ein Loch in den Rücken brannte.

 

Pünktlich um drei Uhr traf Hailey sich mit Sophia und Olivia zum verabredeten Shoppingtrip. Sie hatte geduscht und dunkle Röhrenjeans und ein weisses Spitzentop zu Ballerinas angezogen, so ziemlich das höchste der Gefühle, was sich in ihrem Schrank an chicen Klamotten befand. Ihre Mutter hatte sich zu Haileys Erstaunen sofort bereitschlagen lassen, ihr Geld zu geben, sodass Hailey zum ersten Mal nach Lust und Laune ein paar Teile erstehen konnte.

Olivia, die bereits ihren Führerschein hatte, nahm die Mädchen in ihrem uralten Ford mit nach Watchet. Sie trug heute einen ärmellosen Einteiler aus hellem Leinen mit kurzen Hosen, den man um die Taille mit einem Band zusammenraffen konnte. Dazu klimperte eine ganze Sammlung bunter Armreifen an ihrem Handgelenk. Sophia dagegen war ähnlich gekleidet wie Hailey, Jeans, graues T-Shirt und eine lockere rostbraune Weste darüber.

Die bevorstehende Tour mit den beiden machte Hailey noch nervöser als der Ritt auf Ragazzo, doch Sophia und Olivia versprühten so viel Freude und waren so locker, dass Hailey sich gleich viel wohler fühlte. Besonders Sophia war ihr ausgesprochen sympathisch. Auf der Fahrt nach Watchet machte sie Hailey immer wieder auf irgendwelche Besonderheiten in der Landschaft aufmerksam, erzählte eine lustige Anekdote nach der anderen und brachte Hailey immer wieder durch beiläufig eingeworfene Bemerkungen zum Lachen.

Watchet entpuppte sich als eine lebendige kleine Stadt, die aller Erwartungen zum Trotz vor Leben pulsierte. Es wehte ein kräftiger Seewind, und der unverkennbare, salzige Meeresgeruch lag in der Luft. Nachdem Olivia das Auto in einer Seitenstrasse abgestellt hatte, führten die Mädchen Hailey erst einmal die Hauptstrasse entlang zum Hafen.

"Ich schlage vor, wir holen uns erst einmal ein Eis! Da gibt es diese kleine Gelateria, die ihr Eis selber macht. Etwas Besseres hast du noch nie gegessen!" Sophia sprach das Wort 'Gelateria' gekonnt mit italienischem Akzent aus.

„Du musst das mit Wassermelone probieren“, empfahl Olivia. Sie schlenderten zu einer Plattform, von der man den ganzen Hafen überblicken konnte. Darauf befand sich ein kleiner Stand, an dem sie sich jeder eine Tüte holten. Sie setzten sich erst einmal auf eine Bank am Rande der Plattform.

Hailey genoss die Aussicht über die anlegenden Boote. Das Meer roch ganz anders als in ihrem alten Zuhause in Newheaven. Wehmütig dachte sie an die weitläufige Landschaft, die Jurassic Coastline, den kleinen Aussichtspunkt hoch über den Klippen, wo sie so gern hingegangen war… Es war so viel passiert in den letzten Tagen, dass Hailey kaum dazu gekommen war, an Newheaven zu denken. Und Hannah und Sugar.

Bevor sie weiter ihren Gedanken nachhängen konnte, zog es Olivia schon wieder weiter, und sie scheuchte Sophia und Hailey hoch. Ihr nächster Weg führte die drei zu einem Kleiderladen zurück an der Hauptstrasse. Während Hailey etwas ratlos die Kleiderständer durchwühlte, häuften Sophia und Olivia eifrig Kleider über ihre Arme und verschwanden bald Richtung Umkleidekabinen. Hailey hatte keine Ahnung, was für Teile sie anprobieren sollte. Sie wählte eine helle Jeans und nahm wagemutig eine weinrote Hose mit, bei deren Anblick Sophia begeistert in die Hände klatschte.

"Dazu suchen wir dir noch ein paar hübsche Oberteile, ja?"

Mit Sophia die Regale zu durchkämmen, war einiges interessanter. Immer wieder hängte sie Hailey ein Top über den Arm und nickte oder schüttelte den Kopf, wenn Hailey ein Teil in die Höhe hielt. Sophia hatte schnell gemerkt, dass Hailey wenige Klamotten besass und kaum Erfahrung in Sachen Shopping hatte, ohne dass diese gross etwas zu sagen brauchte.

"Du brauchst unbedingt noch Hotpants und Röcke!", verkündete sie, während Hailey sich in der Umkleide durch die Oberteile probierte. "Los, zeig das nächste!"

Hailey zupfte das luftige hellblaue Top zurecht und zog den Vorhang zurück. Sophia nickte anerkennend. "Das musst du unbedingt haben! Was hältst du von beigen Hosen? Ich suche mal welche." Schon war sie von dem kleinen Sofa aufgesprungen und wieder im Ladenlokal verschwunden. Mit einem Kopfschütteln zog Hailey den Vorhang wieder zu.

Nach über zwei Stunden verliessen die Mädchen mit Tüten bepackt den Laden. Hailey war todmüde vom ständigen Anprobieren, doch sie konnte nicht anders als sich über die Ausbeute zu freuen. Olivia hatte der Gallerie von Hosen und Oberteilen in den verschiedensten Farben und Schnitten zwei hübsche kurze Kleider und einen Rock beigefügt. Fast das gesamte Geld war dafür drauf gegangen, und Hailey hatte fast ein bisechen ein schlechtes Gewissen.

"Quatsch", beruhigte Sophia sie, "deine Mutter hätte es dir bestimmt nicht gegeben, wenn du es nicht hättest ausgeben dürfen." In diesem Punkt musste Hailey ihr Recht geben.

"Ausserdem", fügte Olivia hinzu, "die Sachen stehen dir so toll, sie wird einfach begeistert sein!"

Sophia musste über den Kommentar lachen. "So viele tolle neue Outfits schreien fast nach neuen Schuhen. Was meint ihr? Wir finden sicher noch was, das im Budget liegt."

Die drei spazierten die Hauptstrasse zurück auf einen kleinen Schuhladen zu, der in einem uralten Gebäude mit hohen Bogenfenstern untergebracht war. Plötzlich stiess Olivia Sophia mit dem Ellbogen an. "Guck mal."

Hailey folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Arm und entdeckte auf der anderen Seite der Strasse Alexander, den Sohn des Grafen. Sofort krampfte sich ihr Magen zusammen, die unliebsame Begegnung steckte ihr noch immer in den Knochen. Er hatte den Arm um eine hübsche Blondine gelegt, in der Hailey bei näherem Hinsehen Juliane erkannte.

Sophia rümpfte die Nase. "Da schau her. Unser Traumpärchen! Was der an dieser Zimtzicke findet..."

"Er ist aber nun auch nicht gerade Mutter Teresa", entgegnete Olivia.

"Die beiden passen zusammen wie die Faust aufs Auge", kommentierte Hailey trocken. Die beiden anderen sahen sie erstaunt an. "Kennst du Juliane?"

"Leider!" Hailey seufzte. "Ich bin eine Weile Turniere gegen sie geritten. Eine der Bekanntschaften auf die ich gerne hätte verzichten mögen. Aber ich wusste bisher nicht, dass sie Alexanders Freundin ist."

"Die beiden hängen öfter zusammen herum. Keine Ahnung, wie viel dahinter steckt. Aber sie verkehren ja in den gleichen Kreisen, mit ihrem lieben Daddy als angesehenem Bankdirektor..."

Sophia unterbrach sie energisch. "So, genug getratscht. Lassen wir uns von denen nicht den Tag verderben, wir wollten schliesslich noch ins Schuhgeschäft, und die Läden schliessen in einer halben Stunde."

Sie setzten ihren Weg die Strasse entlang fort, doch Hailey kam nicht umhin, Alexander und Juliane einen kurzen Blick über die Schulter nachzuwerfen.

Kapitel 6

„Am Mittwoch fahren wir rüber zur Rennbahn nach Bath. Hast du Lust mitzukommen?“ Carla gab ihrem Pferd einen Klaps auf die Kruppe und schloss die Boxentür, bevor sie hinüber zu Hailey kam und sich ihr gegenüber an die Wand lehnte.

Hailey hielt beim Putzen von Snowwhite inne. „Wahnsinnig gern! Was ist denn der Anlass?“

„Wir fahren zum Training ab und an hin. Am Wochenende sind Rennen und die Pferde müssen an Umgebung gewöhnt werden. Wenn wir Brian sagen, dass du als Betreuer mitkommst, ist er sicher einverstanden. Es gibt Zimmer da für das Personal, nichts Besonderes, aber man ist eh den ganzen Tag draussen auf der Bahn. Was meinst du?“

Es verschlug Hailey beinahe die Sprache. „Das wäre fantastisch! Hoffentlich sagt er ja!“

Carla lachte. „Alles klar, dann kläre ich das mit ihm. Rede du mal mit deiner Mum, ob das für sie auch ok ist, wenn du mitkommst.“

„Das wird ich.“

„Na dann, gehen wir wieder an die Arbeit.“ Carla verliess den Stall und Hailey machte sich daran, das nächste Pferd zu satteln. Sie hatte ein etwas mulmiges Gefühl. Ihre Mutter wäre sicher für die Aktion zu haben. Caroline freute es, dass ihre Tochter sich so gut mit den Leuten verstand und erlaubte ihrer Tochter seit dem Umzug einige Freiheiten. Sorgen bereitete Hailey allerdings Brian. Auch wenn Hailey seit ihrem ersten Besuch auf der Trainingsbahn öfter mit Carla da gewesen war, hatte sie mit dem Trainer kein Wort mehr gewechselt. Er tolerierte sie, wenn Carla sie mitbrachte, mehr aber auch nicht. Meist setzte Hailey sich auf die Zuschauertribüne, um ihm aus dem Weg zu gehen. Sie konnte Brians schroffe Art nur sehr schwer einschätzen, auch wenn sie Carlas Menschenkenntnis vertraute. Daher hatte sie auch keine Ahnung, wie er auf Carlas Idee reagieren würde.

Irgendwann tauchte Tim auf. Mit dem jungen Stallburschen hatte Hailey sich in den letzten Tagen immer mehr angefreundet. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, jeden Morgen pünktlich zur Fütterung im Stall zu stehen, wo sie sich dann jeweils mit Tim die Arbeit teilte. George teilte ihnen dafür immer ein paar Pferde mehr zu. „Es wird Zeit, dass wir wieder jemand Neues einstellen“, beklagte sich Tim bei dieser Gelegenheit ständig. Hailey dagegen gefiel es, eine Aufgabe zu haben. Wenn sie gegen Mittag fertig damit war, die Pferde fürs Training zu satteln, ritt sie meist Ragazzo und hing danach mit Sophia herum oder erledigte anfallende Arbeiten im Stall, wie das Sattelzeug zu putzen.

Das gesamte Stallpersonal kannte Hailey inzwischen. George hatte das Mädchen schnell ins Herz geschlossen und sie unter seine Fittiche genommen, sodass sie überall akzeptiert wurde. Ausser von Alexander. Mit dem Sohn des Grafen hatte Hailey in den letzten Tagen die eine oder andere unliebsame Begegnung gehabt, auf die sie gerne hätte verzichten mögen. Alexander liess keine Gelegenheit aus, sie herumzukommandieren und mit seinen Sprüchen zu schikanieren. Zumindest, solange George nicht in der Nähe war. Sie hatte mehrmals versucht, herauszufinden, was der Grund für Alexanders Verhalten ihr gegenüber war, doch sie war immer nur zum Schluss gekommen, dass er einfach von Natur aus ein reicher, verzogener Bengel war.

Anlass zur Freude gab dafür, dass sie inzwischen mit den Jockeys viel vertrauter geworden war, den einen oder anderen kannte sie sogar ziemlich gut, sodass sie oft morgens vor dem Training zusammen mit ihnen Kaffee trank oder im Vorübergehen einen scherzhaften Spruch zugeworfen bekam. Wann immer einer von ihnen Zeit fand, erzählten sie ihr Geschichten von der Rennbahn und den berühmten Pferden, die sie schon geritten hatten. Hailey war fasziniert von dem ganzen Rennzirkus, und bei manchen Erzählungen hatte sie das Gefühl, als würde sie das Adrenalin, dass den Jockeys bei den Rennen ins Blut schoss, selber spüren. Sie ertappte sich öfter dabei, wie sie sich vorzustellen versuchte, was das für ein Gefühl sein mochte: in den Steigbügeln zu stehen, nichts als die offene Bahn vor sich, und einfach zu fliegen, die Kraft des galoppierenden Pferdes unter sich zu spüren, den Wind im Gesicht.

„Bist du fertig für heute?“, riss Tim sie aus ihren Gedanken und stellte seine Mistgabel an die Wand.

„Gleich. Ich muss nur noch Dorian satteln, dann hab ich‘s. Kommst du mit zur Sattelkammer?“

„Ich dachte mir, dass wir vielleicht eine Runde ausreiten könnten? Ich muss noch zwei von den Reitpferden bewegen, und George hat sicher nichts dagegen, wenn du den einen übernimmst.“ Tim sah sie fragend an.

Hailey nickte. „Gern. Du kannst ja schon mal satteln gehen, ich bin in einer Minute bei dir.“

Tim schenkte ihr ein erfreutes Lächeln und zog davon. Hailey beeilte sich, Dorian fertig zu machen, bevor sie hinüber in den Stall mit den Reitpferden ging, wo Tim beide Pferde bereits fertig hatte.

„Du bist schnell.“ Hailey schnappte sich ihren Reithelm vom Regal gegenüber den Boxen.

„Ich habe mein Leben lang nichts Anderes gemacht“, entgegnete Tim. „Hier. Darf ich vorstellen, Chestnut!“ Er reichte ihr die Zügel einer hübschen Fuchsstute. „Lass dich nicht täuschen, sie ist eine kleine Zicke.“

„Wir werden schon klar kommen.“ Hailey lachte und streichelte Chestnut die Stirn. „Wollen wir los?“

Tim führte sein Pferd, einen grossen Braunen, der Ragazzo glich, zum Tor hinaus, Hailey folgte mit Chestnut. Sie sassen im Hof auf, und Tim schlug einen Weg von den Stallungen weg ein, den Hailey noch nicht kannte. Er führte sie aussen um die Reitanlagen herum auf weite Felder hinaus.

„Ich kenne das Gelände hier noch gar nicht so recht. Mit Ragazzo war ich immer nur auf dem Reitplatz, weil ich die Wege nicht kannte“, gestand Hailey.

Ihr Begleiter sah sie erstaunt an. „Dann wird es Zeit, dass wir das ändern!“

Sie wählten einen Feldweg, der sie mitten zwischen hoch stehenden Gerstenfeldern hindurch führte. Ein leichter Wind kam auf und strich über die Pflanzen, sodass sie Wellen schlugen wie ein bewegtes Meer. Hailey streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen.

„Wir haben echt Glück mit dem Wetter. So sonnig ist es selten“, stellte Tim fest.

„Ist das jetzt ein angestrengter Versuch, Konversation zu machen?“, fragte Hailey keck und lachte.

„Da fällt mir schon was Besseres ein“, entgegnete Tim. „Aber erzähl doch mal. Was hast du bisher so gemacht, also, bevor ihr hierhergekommen seid?“

Hailey lenkte rasch ab. „Da vorne wäre doch eine tolle Strecke für einen Galopp. Und die Dame hier benötigt etwas Auslauf.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, trieb sie Chestnut an. Tim folgte verwirrt. Obwohl Hailey ihre Stute frei laufen liess, hatte Tim schnell zu ihr aufgeschlossen. Sie galoppierten ein ganzes Stück gleichauf, und Hailey konnte nicht anders, als den Ritt zu geniessen. Die sonnenbeschienen Kornfelder, ein Traumpferd unter dem Sattel, ein netter Begleiter an ihrer Seite…

Als sie wieder zum Schritt durchpariert hatten, fasste Hailey sich ein Herz und begann, Tim von ihrem Leben in Newhaven zu erzählen. Der Stallbursche hörte sich geduldig alles an, lächelte über das Strahlen in Haileys Gesicht, als sie von Sugar erzählte, wurde aber wieder ernst bei der Geschichte von der winzigen Wohnung und dem unmöglichen Job von Hailey Mutter in der Kantine.

„Ich weiss nicht, ob es jetzt einfacher oder schwieriger ist. Wir hatten nicht viel vorher, aber dank Sugar und Hannah mochte ich mein Leben. Und es war niemand da, der eine schlechte Meinung von einem hätte haben können. Das hier ist eine ganz andere Welt. Ich habe zum ersten Mal so etwas wie Freunde. Aber ich weiss nicht, wie viel ich ihnen erzählen kann. Ich brauche weder ihren Spott noch ihr Mitleid.“

Tim schwieg einen Moment. „Das kann ich nachvollziehen“, sagte er schliesslich. „Als Stallbursche verdiene ich auch nicht viel. Versteh mich nicht falsch, ich liebe meinen Job, ich arbeite gern mit den Pferden. Sie sind die einzige Konstante in meinem Leben. Und auch wenn der Graf besser bezahlt als meine früheren Arbeitgeber, man wird doch nicht reich dabei. Dabei wollte ich mal Veterinärmedizin studieren und Tierarzt werden. Nur habe ich ohne Ausbildung keine Aussichten auf einen besser bezahlten Job, also wird das mit dem Studium wohl auch nicht klappen. Mein Dad hat mich rausgeworfen, als ich achtzehn war. Seither schlage ich mich irgendwie durch. Die Stelle hier war ein echter Glückstreffer! Aber ich weiss auch nie, wie Fremde reagieren würden, wenn ich ihnen das alles erzählen würde.“

Nachdenklich starrte Hailey auf Chestnuts Mähne. Tim schien sie ehrlich zu verstehen und sich auch kein Urteil zu bilden. Es freute sie, dass es so ehrlich mit ihr war und ihr seinerseits auch etwas anvertraut hatte.

„Was ist mit deiner Mutter?“, hakte sie nach. Tim zuckte nur die Schultern. „Sie hat meinen Vater verlassen, als ich noch klein war. Ich kann es ihr nicht verübeln. Solange ich mich erinnern kann, war mein Vater immer nur betrunken. Wenn er mal einen Job hatte, hat er seinen gesamten Lohn gleich wieder versoffen. Wahrscheinlich kann ich von Glück reden, dass ich jetzt selbstständig bin.“

Hailey schluckte leer und wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Tim rettete sie aus der Klemme. „Und dein Vater?“

„Ich hab ihn auch nie kennen gelernt. Meine Mutter hat nie von ihm geredet, ich weiss nicht einmal, ob er gestorben ist oder uns verlassen hat. Im Grunde interessiert es mich auch nicht. Ich glaube, meine Mutter hat einen guten Job gemacht, mich allein grosszuziehen. Einen Vater habe ich nie vermisst. Vielleicht werde ich mich irgendwann auf die Suche nach ihm machen. Vielleicht auch nicht. Ändern wird es nichts.“ Sie sah Tim von der Seite an und lächelte. Trotz des ernsten Themas hatte ihr Gespräch eine gewisse Leichtigkeit.

„Es ist toll, so mit dir reden zu können“, gestand Hailey.

Tim richtete seinen Blick nachdenklich in die Ferne, bevor er sie wieder ansah. „Geht mir genauso.“

Sie schwiegen einen Moment, dann rief Hailey herausfordernd: „Los, lass uns da vorne nochmals galoppieren. Wer zuerst an dem Baumstrunk am Waldrand ist.“

 

Wie erwartet sagte Caroline sofort ja, nachdem Carla ihr versichert hatte, dass sie gut auf Hailey Acht geben würde und die Tochter in besten Händen wäre. Brian dagegen schien nicht begeistert, da George jedoch sein Einverständnis gab und keiner der anderen Pfleger sich darum riss mitzufahren, erlaubte er es schliesslich auch.

Am Mittwochmorgen fuhr einer der Pfleger den grossen LKW vor, mit dem die Pferde nach Bath transportiert werden sollten. Neben Simplicity, den Carla an Haileys erstem Tag auf dem Hof geritten hatte, kamen zwei weitere Jungstuten mit, zwei Hengste und ein etwas älterer, erfahrener Wallach namens Skyline. Der LKW bot neben Ständen für acht Pferde eine geräumige Sattelkammer und einen Wohnraum, der neben Liegen sogar mit einer kleinen Küche und einem Badezimmer ausgestattet war.

Der zweite Pfleger, der gleichzeitig auch als Fahrer fungierte, hiess Thomas Mills. Hailey hatte ihn bisher noch nicht kennen gelernt, doch er erwies sich als freundlicher, redseliger Mann, der Hailey während der Fahrt so dies und das erklärte. Ausserdem wurden sie von einem der Jockeys begleitet, die Hailey dazumal beim Abendessen kennen gelernt hatte, Ben Scott. Er und Carla sollten die Pferde in Bath reiten und auch im Rennen vorstellen.

Die zweistündige Fahrt verging schneller, als Hailey es erwartet hatte. Sie erreichten die Rennbahn gegen zehn Uhr, doch es herrschte schon einiger Betrieb auf der Anlage. Hailey war sich das inzwischen schon vom Gut in Outmoor gewohnt, doch die Geschäftigkeit faszinierte sie.

„Alles ist so viel grösser und aufregender, als ich es mir ausgemalt hatte“, gestand sie Carla, nachdem sie ausgestiegen waren, was diese zum Lachen brachte.

„Daran wirst du dich gewöhnen müssen.“ Sie zwinkerte Hailey zu.

„Trödelt nicht herum, das ist kein Kaffeekränzchen!“, kommandierte Brian, der soeben hinter ihnen aus der Führerkabine geklettert war.

Carla verdrehte die Augen. „Sehr wohl, Chef! Na los, Hailey, holen wir erst mal die Vierbeiner raus.“

Sie holten die Pferde heraus, und Carla und Thomas brachten sie zusammen mit Hailey zu den Ställen.

„Da vorne sind unsere Boxen.“ Carla deutete auf eine Reihe von Türen, wo bereits Schilder mit dem Wappen des Grafen, eingerahmt vom Schriftzug „Outmoor Stables“, hingen.

„Ich schlage vor, dass wir als erstes einmal unser Gepäck aufs Zimmer bringen. Danach werden wir wohl auf die Bahn gehen. Ich zeige dir danach alles“, meinte Carla. Während Thomas die restlichen Pferde versorgte, holten Hailey und Carla ihre Taschen und bahnten sich den Weg zum Gebäude mit den Unterkünften. Ihr Zimmer lag im ersten Stock am Ende des Flurs. Wie Carla bereits angekündigt hatte, war es schlicht eingerichtet, reichte für die paar Tage jedoch völlig aus. Es gab zwei Betten, einen Wandschrank sowie einen Schreibtisch. Eine Tür führte in ein angrenzendes Bad. Auf dem Tisch stand eine Wasserflasche bereit, daneben lag schon das Rennprogramm sowie eine Übersicht der Anlage.

„Da wären wir.“ Carla liess ihre Sporttasche mitten im Raum auf den Boden fallen und begann, darin nach ihrer Reitausrüstung zu suchen. „Ach, das habe ich ja ganz vergessen!“, rief sie plötzlich aus und hielt inne. Aus der Tasche förderte sie eine helle Reithose und ein grünes Poloshirt zu Tages, das Outfit, das die Pfleger in den Stallungen in Outmoor immer trugen. „Damit gehörst du nun offiziell dazu!“

Hailey staunte nicht schlecht, als Carla ihr die Klamotten reichte. Während diese sich in ihr Trainingsdress warf, probierte Hailey ihr neues Stalloutfit an. Das T-Shirt war etwas zu gross, doch da sie es ohnehin in die Hose stopfte, fiel es niemandem auf.

Statt dem Poloshirt trug Carla ein schlichtes, weisses Oberteil, darüber jedoch eine leichte Weste im gleichen Grün wie Hailey Shirt, ebenfalls mit dem Logo des Stalles bestickt.

„Na dann, legen wir los!“ Carla liess Hailey kaum gross Zeit in ihrer neuen Bleibe, sondern schleppte sie gleich wieder nach draussen zu den Ställen, wo sie Brian bereits erwartete. Er musterte Hailey kurz, dann wandte er sich an Carla: „Wir fangen am besten mit Ellen an. Argentina und City kommen danach. Ben müsste eigentlich auch gleich hier sein.“

Das nahm Hailey als Stichwort. Sie hatte sich fest vorgenommen, Brian zu beweisen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, sie mitzunehmen, indem sie sich richtig ins Zeug legte und keine Wünsche offen liess.

Thomas hatte in der Zwischenzeit schon die Ausrüstung ausgeladen und zeigte Hailey die Sattelkammer. Der Raum, der sich zwischen den Boxen befand, lag komplett im Dunkeln, da es keine Fenster gab. Hailey tastete neben der Türe nach einem Lichtschalter. Eine einzelne Glühbirne an der Decke entflammte und hüllte den Raum in ein gemütliches, gelbes Licht. Es war keine Sattelkammer wie die, die Hailey in Outmoor kennen gelernt hatte. Sie war schlicht, mit einigen wenigen Schränken und Sattelböcken, wo schon die Rennsättel bereit lagen.

„Gehst du oft mit an die Rennen?“, fragte Hailey Thomas, während sie sich die Ausrüstung holten, um die Pferde fertig zu machen. Thomas nickte. „Ich bin praktisch jedes Mal dabei. Die meisten reissen sich nicht gerade um den Job, weil es zuhause meist viel ruhiger zu und her geht, wenn Brian ausser Haus ist.“

Hailey musste über den Kommentar lachen, was Thomas ein Grinsen entlockte. „Los, gehen wir an die Arbeit.“

 

Wenn Hailey die Ställe in Outmoor immer für ihr geschäftiges Treiben bewundert hatte, übertraf die Rennbahn das noch bei Weitem. Es wimmelte nur so von Trainern, Pferdebesitzern, Jockeys, Pflegern und vor allem Reportern, obwohl kein Renntag war. Als Hailey Blue Ellen zur Bahn brachte, liefen dort schon einige Pferde ihre Runden, am Zaun lehnten alle möglichen Schaulustigen. Brian und Carla standen unter ihnen und unterhielten sich mit einem grossgewachsenen Mann mit silbergrauem Haar, der einen sportlichen Anzug trug. Unsicher, ob sie die beiden stören sollte, wartete sie am Eingang zur Bahn. Glücklicherweise entdeckte Carla sie und winkte ihr zu.

„Na, alles klar?“ Carla kam zu ihr hinüber. Hailey nickte. „Alles bestens.“

„Dann lass uns loslegen.“ Sie setzte den Helm auf, den sie in der Hand getragen hatte, legte die Hände auf den Sattel und liess sich von Hailey aufs Pferd helfen. Inzwischen war auch Brian zu ihnen gekommen. „Du kannst gleich das nächste Pferd bereit machen“, wies er Hailey kurz angebunden an.

Enttäuscht wandte Hailey sich ab. Sie hatte gehofft, dass Brian sie würde beim Training zusehen lassen. Aber so war es wohl, sie war zum Arbeiten mitgekommen und nicht, um sich zu amüsieren.

Sie schlenderte mit in die Hosentaschen geschobenen Händen zum Stall zurück und versuchte, sich von Brian nicht die Laune verderben zu lassen. Es würde sich sicher eine Gelegenheit ergeben, und Carla hatte ihr versprochen, ihr nachher alles zu zeigen und zu erklären. Der Gedanke besserte ihre Stimmung etwas.

Gerade wollte sie in den Weg zu den Stallungen einbiegen, als sie plötzlich mit jemandem zusammen prallte und unsaft zu Boden ging.

„Vorsicht!“, hörte sie eine Stimme, dann streckte ihr die Person eine Hand hin. „Alles ok?“

Hailey sah auf und sah in das Gesicht eines jungen Mannes mit dunkelblonden Haaren. Viel mehr konnte sie in dem blendenden Sonnenlicht kaum erkennen. Sie liess sich von ihm aufhelfen. „Ja, alles in Ordnung. Tut mir leid, ich… ich habe nicht aufgepasst!“

Erst jetzt konnte Hailey sehen, in wen sie eigentlich hinein gelaufen war. Der Mann mochte um die zwanzig sein und erinnerte sie entfernt an Alexander, abgesehen von der Haarfarbe. Er hatte leuchtend blaue Augen, die Hailey sofort faszinierten, und sah unverschämt gut aus.

„Kein Problem, war doch meine Schuld! Ich hätte auch schauen können, wo ich hinlaufe. Und du hast dir auch wirklich nichts getan?“, erkundigte er sich besorgt.

„War doch halb so schlimm“, wehrte Hailey ab.

„Darf ich dich zur Entschädigung trotzdem auf einen Kaffee einladen?“

Hailey glaubte, sich verhört zu haben. Sie starrte ihn verwundert an. Es war das erste Mal, dass ein Typ sie auf einen Kaffee einlud. Und sie musste zugeben, es war ein unverschämt gutes Gefühl. Bis ihr einfiel, wozu sie eigentlich hier war.

„Ich muss an die Arbeit“, meinte sie mit einem Seufzen. Sie wusste nicht so recht, ob sie ihn fragen sollte, ob er später Zeit hatte, oder ob das zu forsch war. Doch er nahm ihr die Entscheidung ab. „Wie sieht’s denn später aus?“

Sie schenkte ihm ein Lächeln. „Ich glaube, da kann ich etwas Zeit erübrigen.“

„Gut! Sagen wir um vier Uhr in der Lounge?“

Hailey konnte nur nicken. Er lächelte und ging dann, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen und ihr zuzuwinken. Hailey war völlig hingerissen. Gedankenverloren setzte sie ihren Weg zu den Boxen fort, um Argentina vorzubereiten. Immer wieder warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Es war erst kurz vor Mittag, noch mehr als vier Stunden. Sie beschloss, sich in die Arbeit zu stürzen. Vielleicht würde die Zeit dann schneller vorbei gehen.

Als sie Argentina zur Bahn brachte, um Ellen in Empfang zu nehmen, warf Carla ihr einen bedauernden Blick zu. „Tut mir Leid wegen Brian. Keine Ahnung, auf was für einem Trip der wieder ist, eigentlich hättest du zuschauen können!“

Hailey winkte ab. „Ich wurde mehr als entschädigt“, verriet sie geheimnisvoll.

„Aha, aha!“ Carla sah sie neugierig an, als ahnte sie bereits, was in der Zwischenzeit passiert war. Doch lange Zeit für Erklärungen blieb nicht, da Brian sich den beiden bereits wieder näherte. „Ich erzähle dir alles später“, versprach Hailey und nahm Ellen mit zurück zum Stall.

In Gedanken ging sie den Zusammenstoss nochmal durch. Es beschäftigte sie nichts Anderes mehr, und die Erwartung des Treffens erfüllte sie mit einer kribbelnden Aufregung. Ihr fiel plötzlich auf, dass sie nicht mal wusste, wie er hiess oder was er hier machte. Er hatte kein offizielles Outfit getragen wie das meiste andere Personal, bloss Jeans und Sneaker. Sie musste sich wohl bis um vier Uhr gedulden, um mehr über den Typen zu erfahren, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.

 

„Viel Glück!“ Carla zwinkerte Hailey verschwörerisch zu, als sie Hailey an der Tür zur Lounge verliess, um sich zu den anderen Jockeys zu gesellen. Hailey wischte sich nervös die Hände an ihren Jeans ab. Sie hatte ihr Stalloutfit gegen Röhrenjeans und ein violettes Top mit Wasserfall-Ausschnitt eingetauscht, das sie in weiser Voraussicht in letzter Minute in ihre Tasche gestopft hatte, die blonden Locken kringelten sich in einem Pferdeschwanz über ihre Schulter.

Die Lounge war voller Trainer und Pferdebesitzer in Anzügen, die sich an der Bar tummelten und Gin Tonic oder Wein tranken. Die Jockeys konnte man von ihnen auf einen Blick an der Grösse und dem viel lässigeren Auftreten unterscheiden.

Hailey fühlte sich plötzlich völlig deplatziert, als sie sich ihren Weg durch die Menschen bahnte und Ausschau nach ihrer Verabredung hielt. Plötzlich tippte sie jemand an der Schulter an. Hailey drehte sich um und sah direkt in seine strahlend blauen Augen, die sofort von einem Lächeln erhellt wurden. „Hi! Freut mich, dass du es geschafft hast.“

„Hi“, entgegnete Hailey schwach. Es hatte ihr wieder beinahe die Sprache verschlagen. Reiss dich zusammen, ermahnte sie sich selber.

„Was meinst du, wollen wir hier was trinken oder lieber irgendwo anders hin gehen? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so voll ist.“ Er sah sie entschuldigend an.

„Mir ist eh nicht so nach Kaffee. Lass uns doch wieder raus gehen.“

Sie gingen zurück zum Ausgang. Ihr namenloser Begleiter schlug den Weg Richtung Tribüne ein. Hier war kaum ein Mensch, vereinzelte Reporter sassen noch auf den Bänken mit ihren Stoppuhren und Notizblöcken. Er reichte Hailey ganz selbstverständlich die Hand und half ihr galant die Treppe hoch. Seine Finger legten sich warm und angenehm um ihre. Er führte sie bis ganz nach oben zur hintersten Sitzreihe. Sie lag so weit unter dem Dach, dass man gerade gut stehen konnte und einen herrlichen Blick über das gesamte Gelände hatte.

„Herrlich hier oben!“ Hailey setzte sich auf die Bank und stütze die Füsse auf die Lehne vor ihr. Ihr Begleiter tat es ihr gleich.

„Wie heisst du eigentlich?“, fragte er.

„Hailey.“

„Nur Hailey?“ Er lachte und sah sie interessiert an.

„Hailey Steinfeld“, vervollständigte sie.

„Nun denn, ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Steinfeld. Man kennt mich unter dem bescheidenen Namen Luke Hall.“ Er reichte ihr die Hand. Die Berührung liess Haileys Haut kribbeln. Jetzt kannte sie also seinen Namen.

Sie ging auf sein Spielchen ein. „Sagt, Mr Hall, was ist Euer Metier?“

„Ich gehöre zu jenen mutigen Recken, die täglich Kopf und Kragen aufs Spiel setzen für Ruhm und die Bewunderung schöner Damen, wie Ihr eine seid.“

Hailey spürte, wie sie rot wurde, und überging die Bemerkung eilig. „Dann bist du ein Jockey?“

Er nickte. „Schon mein ganzes Leben.“

„Wie bist du dazu gekommen?“

„Mein Vater ist Trainer. Ich habe schon früh mit Ponyrennen angefangen, und mit vierzehn sass ich zum ersten Mal auf einem Vollblut. Ich wusste immer, dass ich nichts Anderes machen will, also hab ich bald angefangen, bei einem Kollegen von meinem Dad zu arbeiten. Tja, nun bin ich hier.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und du? Du arbeitest für Outmoor, oder?“

„Wenn man das Arbeiten nennen kann… Meine Mum ist seit kurzem Köchin dort, und ich bin per Zufall im Stall gelandet. Jetzt helfe ich da einfach bei der Stallarbeit mit und bereite die Pferde vor. Mit Galoppern hatte ich vorher nicht viel am Hut. Aber der ganze Rennzirkus ist ziemlich faszinierend.“

Luke sah sie erstaunt an. „Du bist kein Jockey? Ehrlich, ich hatte gedacht, du würdest auch reiten.“

„Nur in meinen Träumen.“ Hailey lachte verlegen. „Ich bewege da jeweils das eine oder andere der Reitpferde.“

„Hast du noch nicht daran gedacht, auch Jockey zu werden? Du hättest die perfekte Statur.“

Nachdenklich beobachtete Hailey Luke. Der Gedanke war ihr tatsächlich schon gekommen, aber sie hatte ihn wieder verworfen und als unrealistisch abgestempelt. „Ich habe doch keine Ahnung von Rennpferden“, wehrte sie ab.

„Das muss nichts heissen! Ein paar meiner Kollegen sassen noch nie auf einem Pferd, bevor sie Jockey wurden. Du solltest mal mit eurem Trainer reden.“

Hailey lachte trocken. „Brian? Na, dann werde ich ganz bestimmt kein Jockey.“

„Ach, Brian O’Donnell? Der ist nicht so schlimm, wie es den Anschein machte!“, meinte Luke zuversichtlich.

Sie erinnerte sich an ihr erstes Treffen mit Brian. Damals hatte Carla zu ihr gesagt, dass er eigentlich gar nicht so übel wäre. Bisher hatte Hailey nicht viel davon gemerkt. „Ich weiss nicht“, entgegnete sie zweifelnd. „Er ist immer so abweisend. Ich habe das Gefühl, ich kann nichts richtig machen. Manchmal macht es wirklich den Anschein, als wäre es ihm am liebsten, ich würde mich in Luft auflösen.“

„Vielleicht interpretierst du ihn einfach falsch? Brian ist kein einfacher Charakter. Und er konnte noch nie gut mit Menschen. Er lebt voll und ganz für die Pferde.“

„Du kennst ihn wohl gut?“

Luke sah hinunter auf die Bahn. „Es geht. Mein Vater ist ziemlich gut befreundet mit ihm. Aber das heisst für mich, dass er kein ungerader Mensch ist. Möglicherweise schätzt du ihn völlig falsch ein, und er könnte dir helfen.“

Plötzlich musste Hailey an den Tag denken, als sie Ragazzo geritten hatte und Brian mit einem Mal aufgetaucht war. Sein seltsamer Blick war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen, auch wenn sie aufgehört hatte, darüber nachzugrübeln. Vielleicht könnte Brian ihr tatsächlich helfen, einen Traum zu verwirklichen.

„Als ich klein war, habe ich manchmal davon geträumt, Jockey zu werden. Ich bin mit meiner Tante mal an einem Pferderennen gewesen. Danach gab es für mich nichts Anderes mehr, es war mein sehnlichster Wunsch“, gestand Hailey. Ihr war plötzlich danach, Luke davon zu erzählen. „Ich hab mir ausgemalt, dass ich das schnellste Pferd in ganz England besässe und mit ihm jedes Rennen gewinnen würde.“

Luke lächelte. „Dann sind wir ja schon zwei, die diesen Traum hatten.“

„Und du lebst ihn jetzt.“ Sie seufzte. „Aber das ist so lange her, damals hatte ich überhaupt keine Ahnung, was es überhaupt bedeutet zu reiten, und inzwischen weiss ich gar nicht mehr, was ich später einmal machen will. Jockey scheint so ein unrealistischer Berufswunsch. Aber wenn ich höre, wie die Jockeys bei uns im Stall von den Rennen erzählen, diese Momente auf der Bahn, für die sie leben... Dann frage ich mich, ob es vielleicht das ist, was ich auch will.“

Ganz intuitiv griff Luke nach ihrer Hand. „Du könntest diesen Traum auch leben! Ich bin sicher, es gibt Leute, die bereit sind, dir zu helfen.“

Hailey hielt den Atem an. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, Luke schon lange zu kennen. Ihr gefiel seine aufgestellte, motivierende Art. „Du bist ein ganz schöner Optimist.“

„Das Leben wäre ansonsten doch manchmal ziemlich düster, nicht? Man muss die guten Seiten sehen!“

Sie schwiegen einen Moment lang beide. Luke hielt immer noch Haileys Hand, und sie liess es einfach zu.

Luke räusperte sich verlegen. „Was machst du eigentlich sonst so?“

„Hobbies?“, fragte Hailey.

„Ist die Frage so absurd?“

Hailey schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht! Aber nun ja, da gibt es nicht viel zu erzählen… Ich lese gerne und fotografiere manchmal. Ich schätze, ich bin eine ziemlich langweilige Person!“

„Gehört fremden Typen auf verlassenen Tribünen Kinderwünsche eingestehen auch dazu?“

„Machst du dich lustig über mich?“, fragte Hailey verunsichert.

Er sah sie erschrocken an. „Natürlich nicht, so war das nicht gemeint! Tut mir leid, der Kommentar war dumm. Ich finde es süss. Es gefällt mir, dass wir so offen reden, obwohl wir uns kaum kennen. Das können nicht viele Mädchen. Ich bin nicht so der Smalltalk-Typ.“

„Schon gut, ich auch nicht. Ich lerne nicht so oft neue Leute kennen.“

„Das glaub ich dir nicht! Du bist so offen und ehrlich.“

„Da bist du auch der Einzige, der das bisher so sieht.“ Hailey seufzte. „An meiner alten Schule war ich ein absoluter Aussenseiter. Das lag wahrscheinlich auch an mir, ich bin das totale Mauerblümchen und komme kaum aus meinem Schneckenhaus heraus. Dabei sollte ich vielleicht mal etwas wagen!“ Sie schluckte leer. Das war vielleicht nichts, was sie einem fremden Typen einfach so erzählen sollte. Noch dazu einem so hübschen, interessanten wie Luke.

Lukes Antwort ging unter in einem gewaltigen Regenschauer, der wie aus dem Nichts auf das Dach über ihren Köpfen prasselte. Hailey zuckte vor Schreck zusammen. Während sie geredet hatten, hatten die beiden die dunklen Wolken nicht bemerkt, die sich rasant zusammen gezogen hatten. Die Tropfen knallten so laut auf das Dach, dass man sich nicht mehr denken hören konnte.

Mit dem Regen kam ein kräftiger Wind auf, der den Regen fast bis zu ihnen auf die Tribüne trieb. Feine Tropfen sprühten ihnen ins Gesicht. Luke stand er auf, breitete die Arme aus und lachte laut. Hailey konnte nicht anders, seine Lebensfreude zauberte auch ihr ein Lächeln ins Gesicht.

„Geniales Wetter!“, schrie Luke ihr gegen den Wind zu. Hailey schüttelte amüsiert den Kopf. Plötzlich wandte er sich mit einem unternehmungslustigen Blick zu ihr um. Hailey ahnte, was er vorhatte. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er auch schon wieder ihre Hand genommen und sie vom Sitz gezogen.

Hand in Hand rannten sie die Stufen der inzwischen menschenleeren Tribüne hinunter. Innert kürzester Zeit war sie bis auf die Haut nass. Doch zu ihrem eigenen Erstaunen machte es ihr nichts aus. Es war ein eigenartiges Gefühl, doch gleichzeitig befreiend. Der Regen fühlte sich kein bisschen kalt an. Sie drückte Lukes Hand. Er blieb stehen und sah sie mit einem Lächeln an. Hailey fing an zu lachen.

„Herrlich!“, rief sie laut. Er nickte begeistert. Hailey liess seine Hand los, breitete die Arme aus und drehte sich um sich selbst, das Gesicht dem Regen entgegen gestreckt. Luke beobachtete sie mit einem breiten Lächeln. Hailey hielt inne und sah ihn lange an. Sie trat ganz dicht vor ihn in und legte ihm die Hand auf die Brust. Im nächsten Moment hatte Luke ihr Gesicht in beide Hände genommen und küsste sie. Sie schloss die Augen und liess sich einfach fallen. Alle Gefühle waren so intensiv, sie durchströmten Hailey wie eine warme Welle.

Viel zu schnell war der Augenblick vorbei. Luke löste sich von ihr, behielt ihr Gesicht jedoch in seinen Händen und sah sie einfach nur an. „Als würden wir uns schon ewig kennen“, murmelte er. Hailey nickte und lächelte. Einen Moment standen sie einfach da, seine Finger streichelten über ihre Wange.

„Na komm, wir müssen aus den nassen Klamotten raus!“ Luke liess ihr Gesicht los und legte ihr stattdessen den Arm um die Schultern. Sie rannten hinüber an den Stallungen vorbei zu den Unterkünften und bahnten sich triefend nass unter den entgeisterten Blicken des Mannes an der Rezeption ihren Weg zum Lift.

„Welches Stockwerk?“, fragte Luke.

„Erstes“, antwortete Hailey und er drückte den Knopf. Als der Lift anhielt, stieg er mit ihr aus und begleitete sie durch den Flur zu ihrem Zimmer. Atemlos lehnte Hailey sich gegen die Wand. Luke beugte sich vorne über, ihm schien genauso die Luft zu fehlen. Schliesslich richtete er sich wieder auf und räusperte sich verlegen. „Ich würde dich heute Abend ja gerne zum Essen ausführen, nachdem wir den Kaffee ausgelassen haben, aber ich hab leider schon eine Verabredung. Ich denke, wir sehen uns morgen irgendwo auf der Bahn?“

Dieser Abschied kam ernüchternd für Hailey. Sie wusste nicht genau, was sie sich erhofft hatte, aber nach dem Kuss im Regen… Oder fiel die Situation genau deswegen so krampfig aus? „Ja, sieht so aus.“

„Also, dann…“ Er wollte sich umdrehen und gehen, doch Hailey hielt ihn zurück. Vielleicht war endlich mal an ihr, ihrem Schicksal einen Stupser in die richtige Richtung zu geben, und sie war nicht bereit, eine weitere Chance ungenutzt zu lassen.

„Warte! Gibst… gibst du mir deine Handynummer? Vielleicht sehen wir uns ja aus irgendeinem Grund nicht mehr, und es wäre toll, wenn wir in Kontakt bleiben könnten.“

Er fasste sich an die Stirn. „Natürlich! Warum habe ich nicht daran gedacht? Hast du etwas zu schreiben?“

Rasch schloss Hailey die Tür auf und trat ein. Carla lag lang ausgestreckt auf ihrem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Bei Haileys Anblick liess sie schockiert das Heft sinken. „Was ist denn mit dir passiert?“

„Erklär ich dir gleich. Hast du was zu schreiben?“

„Da drüben bei meiner Tasche sind ein Block und ein Kugelschreiber.“ Carla deutete zum Schreibtisch. Rasch riss Hailey eine Seite vom Block ab und kehrte zu Luke an der Tür zurück.

„Danke!“ Er schrieb an die Wand gestützt seine Nummer auf den Zettel und setzte seinen Namen darunter, dann faltete er das Blatt sorgfältig und reichte es ihr. „Auch wenn ich doch sehr hoffe, dass wir uns nochmals sehen. Der Nachmittag war schön!“ Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange, dann schlenderte er den Gang zurück zum Lift.

Hailey schloss die Tür hinter sich, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete tief durch.

„Du hättest mir auch sagen können, dass dein Date Luke Hall ist!“ Carla war aufgestanden und warf Hailey einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Ich wusste ja bis vorhin selber nicht mal, wer er ist“, gab Hailey zurück. „Und es war gar kein Date!“

„Nein, natürlich nicht!“ Carla schnaubte ironisch. „Wie nennst du es denn, wenn der heisseste Typ des gesamten Rennzirkus dich zu einem Kaffee einlädt, nachdem du ihn über den Haufen gerannt hast?“

„Ein unverfängliches Treffen als Entschädigung?“

Carla schüttelte den Kopf. „Und wie das ein Date war! Habt ihr euch geküsst?“

Hailey lächelte verlegen. „Ja, haben wir.“

„Siehst du!“, meinte Carla triumphierend. „War es wenigstens gut?“

„Gut ist noch untertrieben!“ Hailey machte sich daran, sich aus ihren durchnässten Klamotten zu schälen, während Carla wieder hinüber zu ihrem Bett ging und sich darauf fallen liess.

„Luke meinte, ich soll Brian darauf ansprechen, dass… Na ja, wir haben darüber geredet, ob ich nicht Jockey werden könnte“, wechselte Hailey das Thema. Sie hatte darauf gebrannt, Carla danach zu fragen. Noch dazu kam, dass ihr der neue Gesprächsstoff ganz gelegen kam, da sie nicht alle Einzelheiten über Luke vor Carla ausbreiten wollte. Dafür schien sie Hailey kaum die Richtige.

„Du willst Jockey werden?“ Carla sah sie erstaunt an. „Du hast nie etwas erwähnt!“

„Das weiss ich noch nicht so recht! Es war nur mal so eine wirre Idee…“

Doch Carla fuhr ihr sofort ins Wort. „Ich finde sie grossartig! Wieso denn nicht? Du magst Pferde, du reitest laut George ganz passabel, und das Business hast du in den letzten Wochen auch schon ein bisschen kennen gelernt. Wenn du das möchtest, warum nicht?“

Carlas Ermutigung verwunderte Hailey. „Meinst du wirklich?“

„Leute sind schon mit weniger Jockey geworden. Es ist kein einfacher Job, ich will dir nichts vormachen. Die Arbeit mit den Pferden ist anstrengend, und beim Rennreiten wirst du nicht immer nur grosse Siege erringen. Im Grunde gibt es mehr Enttäuschungen als Erfolge! Aber wenn du mit vollem Herzen dabei bist, wird dir der Beruf auch viel Freude bereiten.“

Nachdenklich spielte Hailey mit ihren nassen Haaren. Luke schien Recht zu behalten, es gab wohl doch mehr Leute, als sie gedacht hätte, die ihre Idee nicht ganz so abwegig fanden. Vielleicht sollte sie einen weiteren seiner Ratschläge befolgen und auf Brian zugehen.

Kapitel 7

 „Na, Mädel, morgen ist dein grosser Tag.“ Hailey klopfte Argentinas Hals und beobachtete Carla, die gerade City locker auslaufen liess. Die beiden hatten eine super Trainingseinheit hinter sich, und das ganze Team war gespannt, wie der Hengst sich im Rennen schlagen würde. Doch Haileys persönlicher Liebling war Argentina, die grosse Grauschimmelstute, die ebenfalls ihr erstes Rennen bestreiten würde am nächsten Tag, und ihrem Lauf fieberte sie noch mehr entgegen als dem von City.

Carla trabte mit City zum Zaun, wo Thomas und Hailey mit Argentina standen. „Die letzte für heute“, verkündete sie mit einem Blick auf Argentina. Auch wenn Hailey und Thomas mit den sechs Pferden, die sie dabei hatten, einen relativ gemütlichen Job hatten, waren die Tage auf der Bahn für die beiden Jockeys Carla und Ben einiges anstrengender, da sie sich zusätzlich von anderen Trainern hatten verpflichten lassen und mit verschiedenen Pferden ins Training mussten.

Sie tauschten die Pferde. „Lass mal, ich versorg den Grossen schon“, bot Thomas grosszügig an und ging mit City zurück zum Stall, während Hailey sich wieder an den Zaun lehnte und ihre Aufmerksamkeit Argentina und Carla zuwandte.

„Hailey?“                        

Hailey fuhr herum, als sie Brians Stimme hinter sich hörte. Der Trainer war wie aus dem Nichts bei ihr aufgetaucht. „Ja?“

„Kannst du Skyline noch ein paar Längen locker auslaufen lassen? Dann kann Ben schon aufs nächste Pferd.“

Sie glaubte, sich verhört zu haben. „Ich soll Skyline reiten? Hier, auf der Bahn?“

Statt einer Antwort winkte der Trainer Ben zu sich heran. Hailey schwirrte der Kopf. Sie wusste nicht, woher die plötzliche Anwandlung kam. Ahnte er etwas?

Brian drückte ihr eine Reitkappe und eine Schutzbrille in die Hand, die Hailey mit zittrigen Fingern aufsetzte, während Ben abstieg. „Danke schön, Hailey, mir ist wirklich geholfen damit. Brian, wir sehen uns nachher.“

Bevor Hailey wusste, wie ihr geschah, hatte der Jockey ihr schon die Zügel des riesigen Schimmels in die Hand gedrückt.

„Bereit?“ Brian wies sie mit einer Handbewegung an, sich zum Aufsteigen bereit zu machen. Mit einem flauen Gefühl im Magen legte Hailey die Hände auf den Rücken des Pferdes und winkelte ihr linkes Bein an, wie die Jockeys es immer machten. Brian fasste ihren Knöchel und hob sie ohne grosse Anstrengung aufs Pferd.

Hailey hatte Mühe, ihre Füsse in die kurzen Steigbügel zu kriegen. Sie fühlte sich wie eine Heuschrecke auf dem winzigen Rennsattel.

„Lass ihn einfach eine Runde locker galoppieren. Du musst ihn nicht gross treiben, einfach damit er sich noch ein bisschen die Beine vertreten kann. Die letzte Länge kannst du im Trab machen. Stütz dich auf dem Hals ab, bleib schön im Gleichgewicht und feder die Bewegung aus den Knien ab, wie beim Springen“, gab Brian ihr Anweisung. Hailey erstaunte der lockere Umgangston, den der Trainer ihr gegenüber plötzlich anschlug. Rasch zeigte er ihr, wie sie die Zügel richtig hielt, dann schickte er sie auf die Bahn hinaus.

Sie war die einzige Reiterin, kein anderes Pferd befand sich mehr auf der Bahn. Hailey atmete tief durch, dann trieb sie Skyline an. Der Wallach sprang sofort in den Galopp. Hailey ging in den leichten Sitz und stützte sich mit der Hand auf dem Hals des Pferdes ab. Es erstaunte sie, wie einfach es war. Nach ein paar Galoppsprüngen hatte sie eine gute Balance gefunden. Brians Anweisungen im Ohr bemühte sie sich, aus den Knien in der Bewegung der langen Galoppsprünge mitzugehen.

Obwohl sie ihn nicht besonders schnell galoppieren liess, war das Gefühl, das Hailey durchströmte, dennoch überwältigend. Vor ihr lag nichts als die weite Grasbahn, über die der Wallach zu fliegen schien. Die Länge hatten sie schneller hinter sich gebracht als erwartet. Hailey liess Skyline im Bogen dicht an der inneren Rail gehen und nahm das Tempo noch etwas weiter zurück. Der Wallach reagierte hervorragend auf ihre Kommandos, auch wenn er ganz anders zu reiten war wie die normalen Reitpferde, die Hailey kannte.

An der nächsten langen Seite liess den Wallach wieder sein eigenes Tempo laufen. Er legte ein bisschen zu, behielt jedoch den gleichen ruhigen Rhythmus bei. Skyline war angenehm zu reiten, er kannte seinen Job, sodass Hailey sich ganz darauf konzentrieren konnte, ruhig zu sitzen und ihn nicht zu stören.

Als der Schimmel unter ihr über die Bahn galoppierte, wusste sie plötzlich, was sie wollte. Carla hatte Recht gehabt, Jockey war sicherlich kein einfacher Beruf, aber man lebte für Momente wie diesen. Ihr war mit einem Mal bewusst, dass sie nichts Anderes tun wollte. Es war magisch.

Viel zu schnell kamen sie in den zweiten Bogen, an dessen Ende Hailey Skyline zum Trab durchparierte. Der Wallach schnaubte zufrieden ab und liess den Hals fallen. Sie klopfte seinen Hals und kehrte im Trab zu Brian zurück, der mit verschränkten Armen am Eingang zur Bahn stand. Sie meinte tatsächlich, so etwas wie ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. Und neben ihm stand Luke, mit einem breiten Grinsen.

Hailey zügelte das Pferd vor den beiden und zog sich die Brille aus dem Gesicht. Brian nickte ihr zu. „Wenn wir wieder zuhause sind, werden wir uns an die Arbeit machen.“ Mit diesem Kommentar drehte er sich um und ging hinüber zu seinen Trainerkollegen. Hailey sah ihm sprachlos nach. Dann fiel ihr Blick auf Luke. „Gib es zu, du steckst da doch irgendwie mit drin.“

Luke zuckte die Schultern. „Gut möglich, dass ich die eine oder andere Bemerkung gemacht habe…“

„Du bist unglaublich!“ Hailey sprang von Skylines Rücken und nahm die Zügel vom Hals. Luke legte ihr beiläufig den Arm um die Schultern. „Aber es hat sich gelohnt, nicht? Du hast unglaublich ausgesehen da draussen! Als würdest du schon dein ganzes Leben nichts Anderes machen.“

„Ich habe mich auch unglaublich gefühlt!“, gestand Hailey mit einem Lachen. Gemeinsam kehrten sie zum Stall zurück. Luke hatte seinen Arm immer noch um Hailey gelegt. Sie fragte sich, ob es sich so anfühlte, verliebt zu sein. Es war schwierig, in Worte zu fassen, wie dankbar sie Luke war dafür, was er getan hatte. Wobei sie ihn erst wenige Stunden kannte und trotzdem das Gefühl hatte, ihm so viel von sich preisgegeben zu haben.

„Was hältst du davon, wenn wir heute Abend essen gehen?“, fragte Luke unvermittelt. Hailey blieb stehen und sah ihn erstaunt an. „Essen?“

„Ja, du weisst schon, man geht an einen Ort, wo Leute in uniformähnlichen Klamotten einem Nahrungsmittel servieren“, nahm Luke sie hoch.

Hailey schüttelte grinsend den Kopf. „Ich glaube, da klingelt was.“

Sie waren inzwischen vor dem Stall angekommen. Hailey führte Skyline in seine Boxe, um ihm die Trense abzunehmen.

„Aber im Ernst: hättest du Lust? Es gibt im Ort ein paar nette kleine Restaurants. Wäre doch mal was Anderes, als hier auf der Rennbahn zu essen.“ Luke sattelte Skyline ab und klopfte dem Schimmel auf die Kruppe, der sich sofort seinem Heu zuwandte.

Hailey verriegelte sorgfältig die Boxentüre. „Klingt gut. Ich bin dabei!“

Luke machte ein Gesicht, als würde er gleich in die Hände klatschen oder einen Luftsprung machen. „Gut, ich hole dich um sieben im Hotel ab!“

 

„Oh Gott, Carla, was mach ich nur! Das lila Oberteil war das einzig Date-taugliche Teil, das ich eingepackt habe.“ Nervös tigerte Hailey durch den Raum, während sie sich zum etwa zehnten Mal die Haare von Neuem hochsteckte.

„Relax!“ Carla wühlte im Kleiderschrank, wo sie ihre Klamotten verstaut hatte, zog mit einem Stirnrunzeln ein paar Stoffstücke hervor und stopfte sie kopfschüttelnd wieder zurück, bis sie gefunden zu haben schien, wonach sie gesucht hatte. „Hier.“

Hailey fing das hellblaue Kleidungsstück auf, was Carla ihr zuwarf. Es entpuppte sich als ein schlichtes, luftiges Kleid mit Spaghettiträgern. Carla förderte dazu ein paar schwarze Ballerinas und ein kurzes Jäckchen zutage.

„Carla, das ist fantastisch!“ Hailey hielt sich das Kleid vor die Brust und trat vor den Spiegel.

„Siehst du, es gibt für jedes Problem eine Lösung“, meinte Carla optimistisch und zwinkerte ihr zu. „Na los, schlüpf rein.“

Rasch entledigte sich Hailey der Jogginghose, die sie nach dem Duschen übergestreift hatte, und zog Carlas Kleid an. Wie durch ein Wunder passte es wie angegossen. Der Rock fiel ab der Taille luftig nach unten und endete knapp über den Knien. Carla trat zu ihr, um ihr mit dem Reissverschluss zu helfen, dann musterte sie Hailey von oben bis unten. „Es ist perfekt!“

„Du bist ein Schatz!“ Hailey umarmte Carla impulsiv. Diese lachte und warf dann einen Blick auf ihre Uhr. „Na los, es ist schon beinahe sieben.“

Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel machte Hailey sich auf den Weg in die Lobby. Die meisten Gäste waren zum Essen ausgeflogen, daher war der Raum menschenleer, bis auf den Mann an der Rezeption, der sie mit einem freundlichen Nicken begrüsste.

Luke wartete bereits, er stand lässig an die Wand gelehnt da, eine Hand in Hosentasche geschoben, und checkte gerade sein Handy. Als er sie bemerkte, sah er auf und lächelte ihr entgegen. Er kam auf sie zu und küsste sie zur Begrüssung auf die Wange, was Hailey etwas ernüchterte. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber das war es wohl nicht gewesen.

„Du siehst bezaubernd aus!“ Luke war zwei Schritte zurück getreten, um sie zu mustern. Hailey rang sich ein Lächeln ab. „Du hast dir aber auch Mühe gegeben.“ Tatsächlich sah Luke wieder unverschämt gut aus, er trug ein Hemd, dass er lässig in eine dunkle Jeans geschoben hatte, und schwarze Lederschuhe.

„Man tut, was man kann. Wollen wir?“ Er bot ihr galant seinen Arm und führte sie nach draussen. Auf dem Parkplatz stand ein dunkelgrauer Sportwagen, den Hailey als Jaguar zu identifizieren glaubte. Zu diesem lenkte Luke sie jetzt. „Lass dich nicht täuschen, er gehört meinem Vater.“ Er zwinkerte ihr zu, was Hailey nun doch zum Lachen brachte.

Luke hielt ihr die Beifahrertür auf und Hailey liess sich auf den kühlen Ledersitz sinken. Sie konnte spüren, wie ihr Herz bis zum Hals schlug, und sie wünschte sich, sie hätte Jeans getragen, an denen sie sich ihre Hände hätte abwischen können. Luke schien es zu bemerken, er war inzwischen auch eingestiegen und warf ihr einen kurzen Blick zu. „He, kein Grund, nervös zu sein. Das ist keine Prüfung oder so.“

Hailey sah ihn erschrocken an. „Merkt man mir das so deutlich an?“, fragte sie kläglich.

Er nickte mit einem leisen Lachen. „Atme mal tief durch. Du bist heute zum ersten Mal auf der Rennbahn geritten, ein Essen mit mir sollte dagegen ein Klacks sein“, versuchte er, sie aufzumuntern, was ihm auch halbwegs gelang.

„Wo gehen wir hin?“, fragte Hailey, während Luke den Motor anliess.

„Lass dich überraschen“, entgegnete er. „Ich bin ziemlich sicher, dass es dir gefallen wird.“

Luke lenkte den Wagen die Einfahrt zum Renngelände hoch. Sobald sie die Strasse erreicht hatten, gab er Gas. Es dauerte kaum zehn Minuten, bis sie Baths Innenstadt erreicht hatten. Luke stellte den Wagen auf einem von Bäumen gesäumten Parkfeld ab. Beim Aussteigen öffnete er Hailey wieder die Tür und half ihr aus dem Wagen.

„Von hier ist es nicht mehr weit“, verkündete er.

Inzwischen war die Dämmerung angebrochen. Es würde zwar noch eine Stunde dauern, bis es ganz dunkel war, doch der Himmel leuchtete jetzt bereits in allen möglichen Rosa- und Lilatönen.

Luke führte sie quer durch die malerische Altstadt. Sie begegneten nur wenigen Menschen, obwohl das traumhafte Wetter, das sich nach dem Gewitter gezeigt hatte, noch immer anhielt, sodass der Abend förmlich lockte, nach draussen zu gehen.

Wie Luke versprochen hatte, mussten sie nicht weit gehen, bis an einer Strassenecke ein hell erleuchtetes, kleines Café auftauchte. Ganz Gentleman liess Luke Hailey zuerst eintreten. Das Café war nicht sonderlich gross und nicht so laut und überfüllt, wie man es von den meisten Restaurants erwartet hätte. Es war mit einfach Holztischen ausgestattet, das Licht gedämpft, was dem Lokal eine gemütliche Atmosphäre verliehen.

Hinter der Theke zu ihrer Rechten, über der schwarze Menütafeln prangten, kam jetzt ein junger Kellner in einem schwarzen Hemd auf sie zu.

„Luke! Mann, schön dich zu sehen! Ist eine Weile her.“ Die beiden begrüssten sich mit Handschlag. Er musterte Hailey kurz und nickte ihr zu. „Herzlich willkommen!“

„Kannst du laut sagen“, entgegnete Luke. „Wie sieht’s aus, ich hoffe doch, du hast einen Tisch für uns.“

„Für dich immer!“ Der Kellner machte eine einladende Handbewegung und wies sie zu einem Tisch am Fenster, wo er die Kerze anzündete, dann rückte er den Stuhl für Hailey zurecht. „Was darf ich euch bringen?“

Luke warf Hailey einen prüfenden Blick zu. „Darf ich für dich bestellen?“

Hailey lachte. „Der Ort hier war schon ein Volltreffer, da lasse ich mich gern weiter von dir überraschen“, entgegnete sie, und liess ihren Blick durch das Café wandern. Die zur Hälfte holzgetäfelten Wände waren gefüllt mit verschiedenen Schwarz-Weiss-Fotos und Collagen, was zu einem 60er-Jahre-Stil beitrug. Luke hatte ihren Geschmack voll und ganz getroffen. Sie fühlte sich hier wesentlich wohler, als sie es in einem Sterne-Restaurant getan hätte, was beim Anblick des Sportwagens ihre erste Befürchtung gewesen war.

Der Kellner redete kurz mit Luke, dann verschwand er.

„Ich komme immer hierher, wenn ich in Bath bin“, erklärte Luke und nickte hinüber zu dem Kellner. „Kevin und ich sind früher zusammen zur Schule gegangen. Er ist auch eine Weile geritten, aber dann hat er sich entschieden, dass er lieber studieren will.“

Es war erfrischend, dass Luke einfach redete, worüber ihm als Nächstes in den Sinn kam. Hailey hatte immer Angst gehabt, ihre Dates würden total verkrampft ablaufen, weil niemand wusste, was er sagen sollte, doch Luke liess diese Situation überhaupt nicht erst aufkommen.

Bis Kevin mit zwei Krügen Bier und herrlich duftenden Brötchen zurückkehrte, unterhielt er sie mit Geschichten über seinen Heimatort, seinen älteren Bruder, den Stall, in dem er trainierte, und eine kurze Episode, als er fünfzehn gewesen war und beinahe das Reiten aufgegeben hatte, um mit Kevin eine Band zu gründen.

Das Bier entpuppte sich als süsses Cider für Hailey, während Luke sich selber einen Krug von dem schweren, dunklen Ale gönnte, was hier typisch war. Hailey hatte nie viel Alkohol getrunken, doch dass Cider prickelte angenehm auf ihrer Zunge und schmeckte herrlich erfrischend. Luke beobachtete sie grinsend. „Normalerweise trinkst du sowas nicht, was?“

Hailey sah ihn erstaunt an. „Woher…“

„Dein Blick spricht Bände.“

Forsch streckte Hailey die Hand nach seinem Krug aus. „Lass mich mal probieren.“

Breitwillig schob Luke ihr sein Ale hin. Hailey nahm einen Schluck, während ihre Augen über dem Rand des Glases auf seinem Gesicht ruhten. Das Ale war kein Vergleich zu dem süsslichen Alkohol, den sie bisher getrunken hatte. Der bittere Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, sodass sie schnell herunter schlucken musste und dennoch zu husten anfing. Luke brach in ein herzhaftes Lachen aus, als sie ihm den Krug zurück gab.

„Nicht dein Geschmack, was?“, zog er sie auf.

„Wie kann einem sowas nur schmecken?“, fragte Hailey entgeistert. Luke grinste als Antwort nur.

In diesem Moment brachte Kevin ihnen Salatteller, die mit Ziegenkäse, Paprikaschoten und Tomaten verziert waren. „Mit unserem Hausdressing“, verriet Kevin mit einem Augenzwinkern. „Guten Appetit!“

Dem Salat folgten Rühreier mit Räucherlachs und englischen Muffins, die so lecker schmeckten, dass Hailey sie jedem Gourmetmenü vorgezogen hätte. Zum Nachtisch bestellte Luke den besten Cheesecake, den Hailey je gegessen hatte.

Über dem Essen ging der Abend rasend schnell vorbei. Es war schon halb elf, als Luke schliesslich fragte: „Na, wollen wir?“

Eigentlich wollte Hailey den Abend nicht schon enden lassen, doch ihr war klar, dass sie auch nicht ewig hier sitzen konnten.

Luke bat nach der Rechnung und sie verabschiedeten sich von Kevin. „Wenn du wieder mal in Bath bist, hoffe ich doch sehr, dass du vorbei kommst“, meinte dieser mit einem Lächeln zu Hailey. „Und du lass gefälligst wieder einmal von dir hören. Viel Glück morgen!“ Er klopfte Luke auf die Schulter.

„Danke, Kev! Man sieht sich.“ Die beiden verliessen das Café und schlenderten zurück in Richtung von Lukes Auto. Es war dunkel geworden draussen, nur die Strassenlaternen und einige erleuchtete Fenster warfen ihren Schimmer auf die Strasse.

„Ich will gar nicht, dass der Abend schon vorbei ist“, gestand Hailey bedauernd.

„Dann müssen wir ihn ja auch noch nicht enden lassen“, entgegnete Luke und lächelte sie verschwörerisch an. „Ich hab eine Idee.“

Sie fuhren mit dem Auto aus der Stadt heraus und ein Stück weit nach Süden, bevor Luke am Strassenrand parkierte. „Wir müssen ein Stück weit laufen, ist das ok?“

Von der Strasse weg führte ein Kiesweg über eine Wiese in einen Park, in dem riesige, uralte Bäume standen. Schweigend folgten sie dem Pfad ein gutes Stück, bis das Gelände plötzlich abzufallen begann, und sich vor ihnen eine weite Fläche auftat, die von Bäumen gesäumt war. Über den Wipfeln konnte man die Lichter der Stadt erkennen. Der Ausblick, der sich ihnen bot, war märchenhaft.

„Luke!“, stiess Hailey atemlos hervor. „Das ist ja wunderschön!“

„Warte, bis du das Beste gesehen hast“, entgegnete er begeistert, griff nach ihrer Hand und führte sie die Wiese hinunter, bis sie vor der Baumgruppe einen kleinen Fluss erkennen konnten, über den eine alte palladianische Brücke führte. Hailey fühlte sich wie um fünfhundert Jahre in die Vergangenheit versetzt.

Der Pfad führte sie direkt zu der Brücke. Sie wurde von einem Dach überspannt, das von Steinsäulen getragen wurde. Hailey trat vor und lehnte sich über das Geländer. Das Wasser glitzerte im schwachen Schein einer einzelnen Strassenlampe, die aussah wie die Laterne aus Narnia. Luke stütze sich neben ihr auf die Ballustrade.

"Das hier ist einer meiner Lieblingsorte. Auch wenn es tagsüber völlig überfüllt ist und von Touristen nur so wimmelt. Aber wenn man spät herkommt, ist es einer der idyllischsten Plätze, die ich in diesem Land kenne."

"Du hast eine ziemlich romantische Ader, was?" Hailey beugte sich vor, um ihn anzusehen. Luke lächelte. "Sieht so aus."

"Wie hast du überhaupt Zeit für sowas? Neben den Rennen und dem Training..."

Er zuckte die Schultern. "Die Abende sind meist ziemlich langweilig und einsam, wenn man nicht gerade auf den Businesstalk der Pferdebesitzer steht. Ich sage dir, sowas kann einem den Appetit verderben. Oh, warte nur, das wirst du auch noch erleben", warnte er sie, als Hailey herzhaft über seinen Kommentar lachte. "Also suche ich mir eben andere Beschäftigungen. Dabei lernt man so manche interessante Leute kennen und entdeckt die unglaublichsten Orte. Es stimmt schon, bei dem Job kommt man ziemlich in der Welt rum. Aber man hat halt auch keine Gelegenheit, dauerhafte Freundschaften zu knüpfen und sich irgendwo einzurichten." Er warf ihr einen Blick zu, in dem Hailey meinte, Bedauern zu lesen.

"Dasselbe ist es mit Beziehungen. Ich habe bisher kein Mädchen ausserhalb des ganzen Rennzirkus gefunden, das Verständnis für meinen Lebensstil hätte aufbringen können. Na ja, wer kann es ihnen verübeln. Und mit jemandem aus der Szene gibt es irgendwann auch Spannungen, die der totale Beziehungskiller sind. Man kann keine Rennen gegeneinander reiten. Oder dann fängt man an, bei verfeindeten Ställen zu arbeiten. Auf Dauer funktioniert das auch nicht."

Hailey schluckte leer. Luke sagte das so beiläufig, als wäre es nichts Besonderes, dass er anscheinend schon ein Dutzend Mädchen vor ihr gehabt hatte. Irgendwie versetzte es ihr einen Stich und machte sie nervös. Sie fragte sich, was er von ihr erwartete, und kam sich gleichzeitig albern und unreif vor.

Wieder einmal mehr schien Luke ihre Gedanken zu lesen. "Entschuldige, darüber hätte ich vielleicht nicht reden sollen."

Verlegen strich Hailey eine lockere Haarsträhne zurück. Luke trat dicht neben sie, um ihr den Arm um die Hüfte zu legen. Sie erschauerte bei der Berührung.

"Geniessen wir noch die restliche Zeit, die uns bleibt", murmelte er dicht an ihrem Ohr. Im nächsten Moment spürte sie seine Lippen an ihrem Hals. Sie waren warm und weich und jagten Hitze und Kälte zugleich durch ihren Körper, wie Luke damit sanft über ihre Haut fuhr und sie schliesslich über dem Schlüsselbein küsste. Hailey wandte sich zu ihm um. Sein Gesicht lag im Dunkeln, sodass sie es nicht sehen konnte, doch bevor sie wusste, wie ihr geschah, lag sein Mund wieder auf ihrem. Das explodierende Gefühl in ihrem Inneren war vergleichbar mit dem, was sie bei ihrem Ritt auf Skyline gespürt hatte: unbändige Freude, Geborgenheit, Lebendigkeit. Luke schien genau zu wissen, was er tat, seine Hände wanderten gezielt auf ihren Rücken und streichelten sie sanft.

Als Luke schliesslich von ihr abliess, war ihr mit einem Mal schwindelig, und sie war froh, dass er sie fest im Arm hielt.

"So ungern ich das hier beende", meinte er mit einem Seufzen, "aber wir sollten langsam zurück! Morgen wird ein anstrengender Tag."

Hailey nickte bloss, unsicher, ob sie ihrer Stimme zutrauen konnte, einen vollständigen Satz hervorzubringen. Sie traten den Rückweg an, wobei Luke den Arm wieder ohne zu zögern um ihre Schultern legte. Viel zu schnell kamen sie bei der Stelle an, wo Luke den Jaguar parkiert hatte. Die Fahrt zurück verlief grösstenteils schweigend, doch Hailey hatte nicht das Gefühl, dass die Stille störte. Im Gegenteil. Ihr Blick lag ruhig auf Lukes Gesicht, im regelmässig aufflammenden Licht der Strassenbeleuchtung musterte sie seine Züge. Der fein geschnittene Mund, die leicht geschwungene, aristokratische Nase, die stahlblauen Augen, die konzentriert auf die nächtliche Landstrasse starrten. Plötzlich schien er zu bemerken, wie sie ihn musterte, seine Aufmerksamkeit wandte sich von der Strasse zu ihr. Er lächelte und legte beiläufig die rechte Hand auf ihr Knie. Hailey wusste einen Moment lang nicht, was sie davon halten sollte, liess ihn jedoch gewähren. Er liess seine Hand dort ruhen, bis sie beinahe schon am Hotel angekommen waren, erst dann zog er sie zurück, um sie ans Steuer zu legen, was Hailey fast ein wenig bedauerte.

"Warte, ich bringe dich hoch", bot Luke an. Gemeinsam betraten sie die Lobby. Der Rezeptionist nickte ihnen zur Begrüssung zu, wandte sich dann wieder der Zeitschrift in seinen Händen zu. Luke drückte im Lift den Knopf für Hailey Stockwerk. Tatsächlich begleitete er sie bis vor ihre Zimmertür.

Etwas verlegen sah Hailey zu Boden und räusperte sich. Wie immer rettete Luke sie. "Also, ich hoffe, dir hat der Abend auch gefallen. Für mich war er perfekt!"

Sie sah auf und fand seinen Blick. Wieder lächelte er sie an, und sie erwiderte sein Lächeln. "Ja, das war er."

"Nun, wir sollten schlafen gehen. In ein paar Stunden müssen wir schon wieder raus." Er beugte sich vor, um sie noch einmal zu küssen, wobei Hailey schon wieder die Knie weich wurden. "Drück mir die Daumen für morgen!"

Er schlenderte lässig den Gang zurück, drehte sich jedoch noch einmal um, um ihr zuzuwinken. "Gute Nacht!"

"Gute Nacht!", entgegnete Hailey und wartete, bis er um die Ecke verschwunden war, dann schloss sie die Zimmertür auf. Es war stockfinster, Carla schlief tief und fest. Ohne Licht zu machen zog Hailey sich aus und hängte das Kleid sorgfältig über einen Stuhl. Sie war plötzlich so erschöpft, dass sie im Stehen hätte einschlafen können. Obwohl ihre Gedanken in ihrem Kopf Karussell fuhren und sie über vieles gerne noch ein bisschen nachgedacht hätte, überwog die Müdigkeit, und es dauerte nicht lange, bis sie unter ihre Decke gekuschelt einschlief.

Kapitel 8

 

"Was ist DAS?"

Entgeistert fuhr Hailey zu Carla herum, ihre Zahnbürste noch im Mund. Bevor Hailey überhaupt fragen konnte, was sie meinte, war Carla zwei eilige Schritte auf sie zugetreten und schob ungefragt ihre Haare zur Seite. Dann fing sie an zu lachen.

Hailey drehte sich zum Badezimmerspiegel um, um ihren Hals zu untersuchen. An der Stelle, wo Luke sie gestern Abend im Park geküsst hatte, leuchtete in den schillerndsten Rot- und Violetttönen etwas, das aussah, als hätte sie sich gestossen. Im Spiegel konnte sie Carlas breites Grinsen sehen. "So, so, Luke hat dir also auch ein Andenken verpasst."

Wortlos putzte Hailey sich die Zähne fertig. Carla verliess mit einem amüsierten Kopfschütteln das Bad. Als sie weg war, tastete Hailey vorsichtig erneut nach der Stelle. Es würde eine ordentliche Menge Concealer brauchen, um den Knutschfleck irgendwie zu verstecken. Sie fragte sich, was Brian denken würde. Ganz zu schweigen von den Reaktionen der anderen.

Doch trotz Concealer schimmerte der Fleck noch immer leicht lila und sprang einem sofort ins Auge. So gut es ging drapierte Hailey ihren Pferdeschwanz darüber und verliess dann mit einem Seufzen das Bad.

Carla hatte schon auf sie gewartet, sie trug bereits ihre weisse Reithose und ein enges Top, über das sie die Seidenbluse fürs Rennen tragen würde. Der Blick, den sie Hailey zuwarf, liess diese nur die Augen verdrehen. "Na komm, wir haben ein Rennen zu gewinnen!"

 

Im Stall herrschte noch mehr Betrieb als in den vergangenen Tagen. Jockeys und Pfleger eilten hektisch umher, Trainer brüllten Anweisungen über den Hof. Hailey war gerade dabei, Argentina für das erste Rennen vorzubereiten. Die Stute schien die Ruhe selbst, als wäre ihr völlig egal, was draussen vor sich ging.

"Bereite mir keine Schande, Süsse", murmelte Hailey der Stute zu, als sie ihren Schopf über dem Zaumzeug zurecht zupfte. Brian kam zu ihnen. "Seid ihr soweit? Dann raus mit euch in den Führring."

Argentina hob interessiert den Kopf. Hailey führte die Stute hinunter zum Führring. Dort wurden bereits einige der gegnerischen Pferde von ihren Pflegern im Schritt im Kreis geführt. Sie reihte sich mit Argentina hinter der Nummer 2 ein, einer grossen schwarzbraunen Stute, die unruhig tänzelte und ihrer Pflegerin ordentlich zu tun gab.

Auf dem Rasen in der Mitte tummelten sich bereits allerlei Herren in modischen Anzügen, die mit Damen in pastellfarbenen Kleidern und Hüten so gross wie Wagenräder Champagner tranken und angeregt mit ihnen plauderten. Im Vorbeigehen musterte Hailey sie, bis sie einen Blick auf ein unliebsam bekanntes Gesicht erhaschte. Das Champagnerglas in der einen Hand, die andere lässig in die Hosentasche seines dunklen Anzugs geschoben stand mitten unter der bunten Gesellschaft Alexander. Zu seiner Linken stand ein gross gewachsener Mann, etwa zwanzig Jahre älter und mit einer viel imposanteren Ausstrahlung. Dies musste zweifellos der Graf sein. Obwohl er Alexander wie aus dem Gesicht geschnitten war, hatten sie in ihrem Auftreten keinerlei Ähnlichkeit miteinander. Verblüfft konnte Hailey nicht anders, als ihn ununterbrochen anzustarren, bis Alexander sie bemerkte und sie mit einem eisigen Lächeln bedachte.

Glücklicherweise trat in diesem Moment Carla zu ihr. „Na, ist sie fit?“ Als Hailey nicht antwortete, folgte sie ihrem Blick und entdeckte Alexander ebenfalls. „Ignorier ihn. Alexanders einziger Lebensinhalt besteht seit dem Tod seiner Mutter daraus, anderen Leuten das Leben schwer zu machen. Da stehst du drüber.“

Hailey erinnerte sich an Georges Worte nach ihrer ersten Begegnung mit Alexander auf Outmoor. Damals hatte er etwas Ähnliches gesagt. „Woran ist sie gestorben?“

„Ein Reitunfall. Ich habe damals noch nicht für den Grafen gearbeitet. Na los, hilf mir hoch“, beendete sie das Gespräch und wandte sich Argentina zu. Hailey half ihr beim Aufsteigen.

Es dauerte nicht lange, bis sie auch schon zur Bahn gerufen wurden. Hailey beobachtete aus dem Augenwinkel, wie der Graf, Alexander und Brian sich auf den Weg in Richtung Tribüne machten.

Am Rande der Grasbahn hatten sich schon eine ganze Menge Zuschauer eingefunden. Durch eine Gasse zwischen ihnen wurden sie auf die Bahn geleitet.

„Viel Glück, ihr beiden“, wünschte Hailey, als sie die Führleine aus Argentinas Trense ausklinkte.

Carla nickte ihr zu, dann liess sie die Stute angaloppieren. Hailey blieb einen Moment neben der Pflegerin von der braunen Stute mit der Nummer 2 stehen, um den Pferden nachzusehen, bis sie plötzlich eine Stimme in ihrem Rücken hörte. „Na, für mich keine Glückwünsche?“

Sie drehte sich um und erkannte Luke in einem blau-weiss gestreiften Seidenhemd. Er sass im Sattel einer langbeinigen Fuchsstute und blickte mit seinem üblichen Lächeln auf sie hinunter.

„Wieso denn, du gehörst doch zur Konkurrenz“, entgegnete Hailey keck.

„Ach, und deswegen mögen wir uns jetzt nicht mehr?“

Hailey grinste. „Der sportlichen Fairness halber: Viel Glück.“

„Zu gütig“, brummte Luke in gespielter Verstimmung, dann zwinkerte er ihr zu und galoppierte davon. Kopfschüttelnd trat Hailey zurück hinter die Absperrung.

Die Pferde hatten inzwischen die Startboxen erreicht und wurden von Helfern hineingeführt. Der Speaker nutzte die Gelegenheit um jedes Pferd und seinen Reiter dem Publikum vorzustellen. Gespannt lehnte Hailey sich auf das Geländer und spähte nach vorne zu den Startboxen. Das erste Rennen an diesem Tag war ganz den jungen Stuten vorbehalten, die noch nie ein Rennen gewonnen hatten. Für Argentina als Nachzügler war es das erste Rennen überhaupt.

Es wurde still auf der Tribüne, alle warteten gespannt auf den Startschuss, der im nächsten Moment fiel. In dem Getümmel nach dem Start hatte Hailey für einen kurzen Moment Mühe, die graue Stute zu erkennen, doch dann tauchte sie aus dem Pulk auf und setzte sich direkt hinter der Fuchsstute, Carmelia, die Luke ritt, an die Spitze des Feldes.

Nervös trommelte Hailey mit den Fingern auf die Absperrung. Die Pferde näherten sich jetzt dem ersten Bogen. Es kam ihr so vor, als würde das Rennen noch ewig dauern. Carla behielt Argentina direkt hinter der Fuchsstute dicht an den inneren Rails. Im Moment war der Rest des Feldes noch dicht auf, das Pferd hinter Argentina, Bluebelle, hatte keine Länge Abstand.

„Sie sind mit einer ordentlichen Pace unterwegs, sieht so aus, als würden Argentina und Carmelia Tempo machen“, verkündete der Sprecher. „Die Pferde kommen jetzt in die zweite Gerade, Carmelia mit Argentina noch immer vorne, dahinter Bluebelle, Fleur Zilia und zuletzt Jurana und Out Of Control, die den Anschluss inzwischen wieder gefunden haben.“

Auf der Geraden schien Carmelia plötzlich an Geschwindigkeit zuzulegen und setzte sich eine gute Länge vom Feld ab, doch Carla behielt Argentina weiter hinten. So kamen sie auf den zweiten Bogen. Von aussen kam Bluebelle jetzt an Argentina heran und galoppierte ein Stück weit an ihrer Seite. Gegen Ende des Bogens liefen die beiden Stuten Kopf an Kopf, Carmelia lag noch immer eine Länge vor ihnen.

„Oh, komm schon, Mädel“, flehte Hailey und ballte die Hände zu Fäusten.

Wie wenn Argentina sie gehört hätte, verlängerte die Stute plötzlich ihre Galoppsprünge, angetrieben von Carla. Sie liess Bluebelle förmlich stehen und hatte schnell zu Carmelia aufgeschlossen.

„Das wird ein spannendes Finish, meine Damen und Herren, Argentina nun beinahe wieder auf gleicher Höhe mit Carmelia, Bluebelle fällt weiter zurück…“

 Es waren nur noch wenige Meter zu laufen, auf denen sich das Rennen entscheiden würde. Fast sah es so aus, als hätte Argentina keine Chance mehr, Carmelia zu überholen, doch plötzlich schien die Fuchsstute einzubrechen und an Tempo zu verlieren. In nur zwei Galoppsprüngen hatte Argentina sich nach vorne geschoben und lief mit nur einem knappen Vorsprung als Erste durchs Ziel.

Hailey schrie vor Begeisterung laut auf, was jedoch in dem allgemeinen Jubel und Applaus gar nicht weiter auffiel. Die Jockeys liessen ihre Pferde locker auslaufen und parierten erst kurz vor dem Bogen vollends durch, um dann im Trab – angeführt von Carla, die mit einem breiten Lächeln ins Publikum winkte – zum Eingang zurückzukehren.

Die Helfer öffneten die Bande, um die Pfleger zu den Pferden durchzulassen, und Hailey trat vor, um die Führkette wieder an Argentinas Trense einzuhängen. Die Stute tänzelte und war noch ganz aufgekratzt vom Rennen, unter ihrem dunkel geschwitzten Fell traten hart die Adern hervor. Carla klopfte ihr begeistert den Hals, als Hailey sie hinüber zum Siegerbereich vor der Tribüne führte, wo bereits Brian, der Graf und Alexander warteten, umringt von Gratulanten und Reportern. Hailey schien durch die nächsten Minuten zu schweben wie in einem Traum. In kürzester Zeit war die Pokalübergabe vorbei, das Siegesfoto gemacht, und sie wurden von einem Helfer zum Stall zurück gewiesen.

Während Carla gleich Richtung Wägestelle verschwand, um sich wägen zu lassen und auf das nächste Rennen vorzubereiten, kühlte Hailey Argentina aus und machte sich dann mit Thomas daran, die beiden Junghengste, Argo und Stetson, vorzubereiten, die im dritten Rennen an diesem Tag laufen würden. Danach standen für den Outmoor-Stall nur noch ein kleineres Rennen mit Skyline und das Hauptrennen mit Simplicity an. Für Hailey war der Tag nach Argentinas Sieg ohnehin schon perfekt, doch das gesamte Team fieberte diesem letzten Rennen umso erwartungsvoller entgegen. Dabei stand Simplicity harter Konkurrenz gegenüber, da war Pageant, ein Hengst aus dem Stall von Lukes Trainer, der in dieser Saison noch kein Rennen verloren hatte, und ein Wallach namens Lost, der zwar aus einem relativ unbedeutenden Stall kam, jedoch im Training ähnliche Zeiten wie Pageant und Simplicity gelaufen war.

Argo und Stetson dagegen hatten in ihrem Rennen keine nennenswerten Gegner, jedoch war es wie bei Argentina das erste Rennen der beiden, und man wusste nicht genau, wie die beiden sich trotz aller Vorbereitung unter echten Rennbedingungen halten würden.

Bevor Hailey Argo zu den Ständen neben dem Führring brachte, wo er gesattelt werden sollte, trat Brian zu ihr. "Da will dich jemand sprechen." Er nickt hinüber zu dem Rasen in der Mitte des Führrings. Hailey folgte seinem Blick. "Der Graf?"

Brian nickte. "Schau nicht so entsetzt, er frisst dich nicht", kommentierte er Haileys entgeisterten Gesichtsausdruck, während sie den Grafen und Alexander anstarrte, die sich wieder auf der Fläche eingefunden hatten.

Hailey schluckte leer und machte sich auf den Weg zu ihnen. Sie war unsicher, wie sie sich dem Grafen vorstellen sollte. Knicksen? Oder ganz normal grüssen? Kaum hatte der Graf sie jedoch bemerkt, sah er auf und winkte sie zu sich. "Du musst sicher Hailey sein." Seine Stimme war warm und angenehm, und er sah aus der Nähe noch sympathischer aus, trotz seines imposanten Auftretens.

"Äh, ja, Herr Graf...", stotterte Hailey.

Alexander gab ein süffisantes Lachen vor sich und warf ihr einen der für ihn typischen, herablassenden Blicke zu. "Weisst du denn nicht, dass man einen Earl mit Seine Lordschaft anspricht?"

"Na, na, lass gut sein, Alexander, wir müssen das ja nicht so eng sehen", meinte der Graf jedoch gleich. "Nun denn, ich habe George in höchsten Tönen von dir reden hören. Du scheinst in unseren Stallungen eine grossartige Hilfe zu sein, und ich habe vernommen, dass es auch keineswegs eine Fehlentscheidung war, dir Ragazzo anzuvertrauen."

Hailey spürte, wie sie rot wurde. "Danke, Eure Lordschaft." Ohne es zu sehen, konnte sie förmlich spüren, wie Alexander nur die Augen verdrehte.

"Und von Brian habe ich auch nur das Beste gehört. Ich denke, wir müssen zu gegebenem Zeitpunkt die Art deines Engagements bei uns genauer besprechen."

"Grossartig, dann kann sie wenigstens nicht mehr so tun, als müsste sie meine Anordnungen nicht ernst nehmen", warf Alexander mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus ein. Doch sein Vater ignorierte die Bemerkung einfach. "Ich würde mich sehr freuen, wenn du offiziell für uns arbeiten würdest." Er lächelte ihr wohlwollend zu und erklärte das Gespräch mit einem weiteren Nicken für beendet.

Auf dem Weg zurück zu Brians hätte Hailey am liebsten Luftsprünge gemacht. Die wenigen Worte, die der Graf mit ihr gewechselt hatte, hatten wahre Begeisterungsstürme in ihr ausgelöst. Brian schien zu ahnen, was vorgefallen war, er hatte sogar ein kleines Lächeln für sie übrig.

"Er will, dass ich offiziell auf Outmoor arbeite! Oh, das ist fantastisch!", rief sie aus.

"Dann wird es wohl Zeit, dass wir auch wirklich zu arbeiten anfangen, sobald wir zurück sind", entgegnete er geheimnisvoll und liess Hailey mit Argo zurück. Verwirrt sah sie ihm nach. Brian O'Donnell wurde immer schwieriger zu deuten für sie.

 

"Und wir kommen nun zum letzten Rennen dieses Tages. Die ersten Pferde sind bereits zum Aufgalopp auf der Bahn, wir sehen mit der Nummer eins..." Die Ansagen hallten über die Bahn und gingen beinahe im Stimmengewirr der vielen Zuschauer unter. Hatte Hailey geglaubt, dass es morgens bei den Maiden Races schon viele gewesen waren, hatte sich ihre Zahl jetzt am Nachmittag beinahe verdoppelt.

Simplicity schien ordentlich nervös, er tänzelte und sprang immer wieder zur Seite. Carla nahm das Theater jedoch gelassen und sass ganz locker im Sattel bei seinen Kapriolen.

"Ihr zwei schafft das", meinte Hailey aufmunternd, als sie die Führkette löste.

"Danke!" Carla lächelte ihr zu, dann nahm sie die Zügel auf und liess den Hengst im lockeren Galopp über die Bahn gehen. Hailey versuchte, einen Blick auf Pageant und Luke zu erhaschen, doch die beiden mussten schon vor ihnen auf die Bahn gekommen sind, denn sie konnte sie nirgends entdecken.

Der Ansager hatte die Vorstellung der Pferde, die gerade in die Startboxen geführt wurden, inzwischen beendet. Hailey stellte sich an den Rand der Bahn, von wo sie den besten Blick auf das Finish hatte.

Es herrschte Totenstille auf der Tribüne, als alle Pferde in den Boxen waren und man gespannt auf den Start wartete. Bis endlich die Glocke erklang, und die Pferde aus den Metallgattern schossen. Pageant und Lost setzten sich unverzüglich an die Spitze, der schwarze Riese und der Goldfuchs waren kaum zu übersehen, Carla dagegen hielt Simplicity eine Pferdelänge dahinter an der Spitze des Pulks. Lange änderte sich nichts an dieser Ausgangslage, bis zum Ende des ersten Bogens, als ein Pferd aus dem hinteren Feld plötzlich dazu ansetzte, City zu überholen, was Carla um ihre gute Position gebracht hätte. Gezwungenermassen trieb sie den Hengst an und setzte ihn dicht hinter Pageant und Lost, die immer noch Kopf an Kopf das Feld anführte.

Die Stimmung in der Menge war gewaltig und Hailey liess sich einfach von den Emotionen mitreissen. Alle jubelten und feuerten die Pferde an, die jetzt in den zweiten Bogen kamen, City noch immer dicht an den beiden führenden Pferden.

Sie kamen auf das Ende des zweiten Bogens, und plötzlich schien Lost an Tempo zu verlieren und fiel auf die Höhe von City zurück. Das war Carlas Chance, sie trieb den Hengst an, der auf ihre Aufforderung hin seine Galoppsprünge verlängerte und zu Pageant aufholte. Hailey sah, wie Luke sich kurz zu City umwandte und dann seinerseits anfing, sein Pferd anzutreiben.

"Das wird wieder ein spannendes Finish, Simplicity und Pageant vorne, sie schenken sich keinen Meter. Simplicity kämpft sich weiter nach vorne, doch Pageant behält das Tempo bei", kommentierte der Ansager durch die Lautsprecher.

"Komm schon, City", murmelte Hailey und hämmerte mit den Fingern ungeduldig auf die Bande. Simplicity schob sich Centimeter um Centimeter nach vorne, doch er kam nicht an das Tempo vonPageant heran, der Rappe behielt immer die Nase vorne.

"Und es ist Pageant, meine Damen und Herren, Pageant gewinnt das letzte Rennen dieses perfekten Tages vor Simplicity“, schrie der Ansager, kaum dass die Pferde die Ziellinie passiert hatten.

Enttäuscht liess Hailey sich gegen die Bande sinken. Sie alle hatten gehofft oder besser geglaubt, dass Simplicity dieses Rennen gewinnen würde. Schon von weitem sah sie, wie Carla gleichmütig mit den Schultern zuckte. Hailey konnte sich schon vorstellen, was George zu sagen hatte: dass das eben das Renngeschäft war, manchmal gewann man ein Rennen, manchmal verlor man. Auch Pferde hatten schlechte Tage.

Luke kam zu ihnen zurück getrabt und winkte der ihn bejubelnden Menge zu, mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Hailey beobachtete ihn mit gemischten Gefühlen. Ihr war klar, was er gemeint hatte, als er ihr von den Schwierigkeiten mit seinen früheren Freundinnen erzählt hatte. Und es war kein angenehmes Gefühl. Doch als er schliesslich vor ihr anhielt und sie von Pageants Rücken anstrahlte, konnte sie nicht anders als sich von seiner Freude anstecken zu lassen. Er stoppte Pageant direkt vor ihr und sprang aus dem Sattel, um Hailey in den Arm zu nehmen. Noch bevor sie recht wusste, wie ihr geschah, hatte er sie an sich gezogen und küsste sie vor der versammelten Menge. Das Toben der Zuschauer ging in dem Rauschen in ihren Ohren unter.

Kapitel 9

 

Mit einem lauten Klatschen landete die Zeitschrift vor ihr auf dem Tisch. Hailey zuckte zusammen und liess vor Schreck das Zaumzeug fallen, dass sie gerade geputzt hatte. Beim Aufschauen erkannte sie Alexander, der das Heft mit einem süffisanten Grinsen vor sie hingeworfen hatte.

„So, so, du stehst also auf grosse Auftritte. Muss ein tolles Gefühl sein, wenn man gleich nach seinem ersten Tag auf der Rennbahn als Flittchen vom Dienst Karriere macht.“

Entnervt sah Hailey ihn an. „Wovon redest du bitte?“

„Seite 8“, entgegnete er bloss und verschwand mit einem gutgelaunten Pfeifen, seine Reitgerte in der Hand schlenkernd. Kaum war er weg, schnappte Hailey sich die Zeitschrift und blätterte zu der Seite.

„So ein…“, entfuhr es Hailey, als sie auf dem Hochglanzpapier ein Foto von sich und Luke auf der Rennbahn entdeckte, das sich über die halbe Seite erstreckte. Mit einem Seufzen liess sie die Zeitschrift wieder zuklappen und vergrub das Gesicht in den Händen. So hatte sie ganz bestimmt nicht Schlagzeilen im Rennzirkus machen wollen!

Mit einem Seufzen schlug sie die Zeitschrift erneut auf. Bei dem Artikel zu dem Foto handelte es sich um ein Bericht vom letzten Rennen, wobei Luke klar im Vordergrund stand. Und sie als der rätselhafte Niemand an seiner Seite. Natürlich wurde sich über ihre Identität ordentlich das Maul zerrissen.

„Steh drüber“, erklang über ihr eine Stimme, und im nächsten Moment riss ihr jemand die Zeitschrift aus der Hand. „Du hast wichtigere Dinge, auf die du dich jetzt konzentrieren musst, als den Klatsch und Tratsch, den die Zeitung wieder über Luke verbreitet. So ist das eben; wenn du ein Jockey sein willst, gewöhn dich dran!“, wies Carla sie ungerührt zurecht.

Hailey griff sich an die Stirn. „Haben die nichts Besseres zu tun, als über mich zu urteilen? Die kennen mich nicht mal."

"Oh, sie werden deinen Namen noch früh genug erfahren", schmunzelte Carla. "Wenn du bereit bist, an die Arbeit zu gehen. Brian wartet auf dich." Sie hielt ihr Reitstiefel, Kappe und Gerte entgegen. Verblüfft starrte Hailey sie an.

"Na los, willst du reiten oder Wurzeln schlagen?" Carla grinste sie auffordernd an, und Hailey beeilte sich, ihre Turnschuhe gegen die Stiefel auszutauschen, dann machte sie sich mit Carla auf den Weg. Zu ihrem Erstaunen führte Carla sie jedoch nicht zur Trainingsbahn, sondern hinüber zur Reithalle. Dort stand Brian und unterhielt sich mit einem Pfleger, der Flying Dutchman, einen der älteren Wallache, die ihre glorreichen Tage schon hinter sich hatten, an der Hand hielt.

"Wir haben schon auf dich gewartet“, konstatierte Brian.

„Was tun wir hier?“, fragte Hailey und sah sich um.

Brian wandte sich zu Dutch um. „Bevor wir dich auf die Bahn lassen, wirst du erst einmal die Basics lernen. Na dann, hoch mit dir.“

Ohne grosse Umschweife half er Hailey aufs Pferd. Bevor er sie jedoch losreiten liess, korrigierte er erst einmal ihre Haltung, gab Anweisungen und positionierte ihre Hände und Knie entsprechend. Hailey liess die Prozedur ungeduldig über sich ergehen, bis Brian endlich zufrieden war.

„Wir fangen an im Schritt auf der ganzen Bahn. Ich möchte gern, dass du dich anfangs nur auf deinen Sitz konzentrierst und ein Gefühl für die Ausrüstung und die Bewegung bekommst.“ Er entliess sie in die Halle und Hailey lenkte Dutch wie angewiesen auf den Hufschlag. Obwohl sie das Gefühl hatte, nicht viel falsch zu machen, hatte Brian ständig etwas an der Position ihrer Fersen, ihrer Schultern, der Haltung ihrer Hände oder was er sonst noch so fand auszusetzen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis er sie endlich anwies, Dutch anzutraben und in den leichten Sitz zu gehen.

Sie war kaum eine halbe Runde getrabt, als Brian ihr zurief: „Parier durch und komm erst mal her!“

Hailey wendete den Wallach ab und lenkte ihn auf Brian zu, sie konnte kaum verbergen, wie genervt sie inzwischen war, und Brian bemerkte das natürlich augenblicklich. „Was stimmt nicht?“

„Ich komme mir vor wie ein Anfänger, der zum ersten Mal auf einem Pferd sitzt!“, machte Hailey ihrem Ärger Luft. „Wie soll ich lernen, was ich da draussen zu tun habe, wenn du mich nicht einmal eine ganze Runde im Trab durch die Reithalle reiten lässt! Und du scheinst nie zufrieden zu sein, wir sind schon seit einer halben Stunde hier, und es gab keine Minute, in der du nicht irgendwas an mir auszusetzen hattest.“

Brian schwieg und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Gelassenheit verunsicherte Hailey, plötzlich befürchtete sie, dass sie einen Schritt zu weit gegangen war.

„Ich verstehe ja, dass ich gewisse Grundlagen lernen muss“, fuhr sie im Versuch einzulenken fort, als Brian immer noch nichts sagte. „Aber ich habe nicht das Gefühl, dass das hier etwas bringt, und ich weiss nicht, was du damit bezwecken willst.“

„Ich weiss, dass ich streng bin und dass dich das frustrieren mag. Aber du wirst da draussen dein Leben riskieren. Es geht nicht immer alles glatt, und du musst in die Fähigkeiten deines Körpers vertrauen können. Vielleicht übertreibe ich es, aber ich wünsche mir, jemand hätte es damals mit mir so genau genommen, als ich damals angefangen habe mit der Rennreiterei. Dann würde ich wahrscheinlich noch immer Rennen reiten. Erfahrung macht den grössten Teil aus, aber was du jetzt lernst, musst du nicht nachher auf der Bahn schmerzlich erfahren. Das hier unterscheidet sich komplett von dem Reiten, wie du es bisher kennst. Such es dir selbst aus, sollen wir jetzt auf die Bahn gehen und ich erkläre dir, was es bedeutet, wenn ich dir sage, du sollst eine Lap in einem Drei-Viertel-Tempo gehen. Oder wir bleiben hier und machen es auf meine Art, auch wenn das etwas mehr Arbeit und Geduld von dir verlangt. In Bath habe ich dich ins kalte Wasser geworfen, um zu sehen, wo wir stehen, aber jetzt will ich, dass du von Grund auf das Handwerk lernst.“

Hailey schluckte, ihre Finger krampften sich um die Zügel. „Nein, ich möchte es auf deine Art machen.“

Brian nickte. „Gut, also zurück auf die ganze Bahn im Trab.“

 

„Und, noch immer kein Lebenszeichen von deinem Loverboy?“, fragte Alexander mit seinem üblichen süffisanten Grinsen, als er mit Princeton auf den Springplatz kam, wo Hailey gerade Ragazzo auskühlte.

„Was interessiert dich das?“, gab sie distanziert zurück.

„Ich wundere mich nur“, bemerkte er mit einem Schulterzucken und machte sich an seinen Steigbügeln zu schaffen.

Mit einem Kopfschütteln konzentrierte sich Hailey wieder auf Ragazzo. Alexander war nach wie vor ein grosses Mysterium für sie. Aber was er sagte, nagte doch an ihr, denn er hatte mit seinem Kommentar nicht ganz unrecht. Seit ihrer Rückkehr aus Bath vor einer Woche hatte sie nichts mehr von Luke gehört. Ihn selber anzurufen, traute sie sich kaum, und das Schweigen seinerseits verunsicherte sie. Der Abschied war eher zurückhaltend ausgefallen, er hatte sie auf die Wange geküsst und ihr versprochen, sich so bald wie möglich zu melden. Sie hatte es bisher einfach darauf geschoben, dass er zu beschäftigt war mit seiner Reiterei, und doch sass sie wie auf glühenden Kohlen und wartete darauf, dass ihr Handy klingelte. Doch es blieb still. Sophia, der Hailey gleich nach ihrer Rückkehr in aller Länge ihr Leid geklagt hatte, hatte nur verächtlich geschnaubt und gemeint, Hailey solle zur Tagesordnung übergehen. Wenn er sie so schnell wieder hängen liesse, wäre er es auch nicht wert.

Während sie ihren Gedanken nachhing, hatte Alexander Princeton aufgewärmt und fing an, ihn über einzelne Sprünge zu lenken. Hailey beobachtete die beiden nachdenklich. Die Leichtigkeit, mit der Alexander den Schimmel über die Sprünge lenkte, faszinierte sie, zwischen den beiden schien eine unsichtbare Bindung zu bestehen, die jegliche andere Form von Kommunikation unnötig machte. Wie sich eben dieser arrogante, streitsüchtige Alexander mit einem anderen Wesen in vollkommener Harmonie bewegen konnte, war Hailey ein Rätsel. Wenn er auf dem Pferd sass, schien er ein anderer Mensch zu sein.

Eine ganze Weile beobachtete sie, wie Alexander einzelne Sprünge und Kombinationen ritt, dann stieg er ab, um die Stangen höher zu stellen und setzte dann an, den ganzen Parcours zu reiten. Der Anfang gelang den beiden perfekt, doch am sechsten Hindernis nahm Princeton mit der Hinterhand die oberste Stange mit. Alexander parierte durch und wendete das Pferd mit einem Stirnrunzeln ab.

„Warte, ich leg sie wieder hoch“, bot Hailey nach kurzem Zögern an und stieg aus dem Sattel. Die Geste schien Alexander noch mehr zu verwirren als sie selbst, doch sie meinte, etwas wie ein gemurmeltes „Danke!“ von ihm zu hören.

Er ritt das Hindernis ein zweites Mal an, doch wieder passierte ihm der gleiche Fehler, ebenso beim nächsten Versuch.

„Deine Linie stimmt nicht“, kommentierte Hailey. „Du brauchst entweder einen Galoppsprung mehr oder weniger, aber so passt die Distanz nicht.“

„Als wüsste ich das nicht selber“, herrschte er sie an.

„Wieso änderst du dann nichts daran?“, entgegnete Hailey gleichmütig. Daraufhin wusste er nichts mehr zu entgegnen. „Was hast du überhaupt noch hier zu suchen?“

Hailey verdrehte bloss die Augen, nahm Ragazzo am Zügel und liess Alexander allein auf dem Springplatz zurück.

 

Die Trainingseinheiten mit Brian waren die ganze Woche über immer gleich verlaufen. Er liess sie immer nach dem gleichen Muster mindestens eine halbe Stunde lang durch die Bahn reiten, korrigierte ihren Sitz und erklärte ihr Bewegungsabläufe. Auch wenn die Kritik gegenüber dem Anfang eher abnahm, hatte Hailey dennoch nicht das Gefühl, dass Brian wirklich zufrieden mit ihr war. Doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und arbeitete umso härter, nachdem sie versprochen hatte, es auf Brians Art zu machen.

Anfangs der zweiten Woche jedoch sprach Brian sie darauf an. „Du bist unzufrieden mit mir“, stellte er fest, nachdem sie wieder eine Trainingseinheit beendet hatten.

„Ich komme mir immer noch wie ein Idiot vor. Und ich weiss nicht ganz, was das Ziel von dem hier ist oder was du eigentlich von mir willst.“ Sie macht eine hilflose Handbewegung.

Brian schmunzelte. „Ich habe sicherlich viel an dir herumkritisiert. Aber was du dabei nicht merkst, und das ist wohl auch mein Fehler, du hast dich in dieser einen Woche schon extrem gesteigert. Dein Sitz ist ausbalancierter, deine Haltung stabiler. Du fängst an, mit dem Pferd und deiner Ausrüstung zu verschmelzen. Ich bin mir sicher, du hast auch schon gespürt, dass du langsam beginnst, Dinge automatisch zu tun.“

Verwundert sah Hailey ihn an.

„Ich habe schon junge Lehrlinge erlebt, die in einem Monat nicht so viel gelernt haben wie du in dieser einen Woche. Du arbeitest hart, und das zahlt sich aus. Auch wenn dir mein Stil nicht so ganz zusagt.“ Er legte Hailey die Hand auf die Schulter, eine Geste, die für ihn völlig neu war. „Hör zu, ich werde ein paar Tage nicht auf dem Gut sein, da ich ein paar Dinge zu erledigen habe. Ich möchte, dass du in dieser Zeit alleine weiter arbeitest. Ich werde George bitten, ein Auge auf dich zu haben, keine Sorge. Und wann immer du Zeit hast, geh zur Bahn und beobachte die Jockeys bei der Arbeit. Du sollst dir jedes Detail ihres spezifischen Stils einprägen und dann versuchen umzusetzen, was für dich auch passen könnte. Verstehst du, was ich meine? Wenn ich zurück bin, werden wir sehen, ob du reif für die Trainingsbahn bist. Das war gute Arbeit heute!“ Mit diesen Worten liess er sie mit Dutch alleine. Mit einem Lächeln liess Hailey sich gegen den Wallach sinken. Anscheinend war also doch nicht alles umsonst. In bester Stimmung kehrte sie zum Stall zurück, um Dutch zu versorgen.

Bei ihrer Rückkehr in ihrem Bungalow fand sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter vor. Doch sie war nicht von Luke, wie sie mit Enttäuschung feststellte. Dafür war sie von Hannah. „Hailey, Liebes, wie geht’s dir so? Kommst du klar da oben? Wir vermissen dich hier! Ich hoffe, du weisst, dass du jederzeit hier willkommen bist und gerne vorbeischauen kannst, wenn dich mal das Heimweh packt. Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass du bei all der Aufregung Zeit dafür hast. Caroline hat mir bereits von der ganzen Sache mit der Rennreiterei erzählt, das ist unglaublich! Ich bin stolz auf dich und kann es kaum erwarten, alles von dir zu hören, wenn wir uns das nächste Mal sprechen. Fühl dich gedrückt und liebe Grüsse von Sugar und Champagn.“

Einen Moment lang wartete Hailey darauf, dass das Heimweh sie wieder erfasste. Doch seltsamerweise war von dem schmerzlichen Gefühl, das sie in ihren ersten Tagen in der Grafschaft begleitet hatte, nur noch ein verblassender Eindruck übrig. Ihr fiel auf, wie wenig sie in den letzten Wochen über Hannah und Sugar nachgedacht hatte, und mit einem Mal fühlte sie sich schuldig. Sie war völlig aufgegangen in ihrem neuen Leben, etwas, das sie anfangs für unmöglich gehalten hatte. Trotzdem war die Sehnsucht danach, die beiden wiederzusehen, plötzlich wieder da.

Entschlossen machte Hailey sich auf den Weg zur Schlossküche, um nach ihrer Mutter zu suchen. Sie fand Caroline alleine in der Küche, wo sie gerade Inventur machte und die Einkaufsliste zusammenstellte.

„Hailey! Wie war das Training?“, begrüsste sie sie mit einem Lächeln.

„Gut, Brian sagt, dass wir nächste Woche vielleicht auf die Bahn können“, berichtete Hailey und fischte sich einen Apfel vom Tisch, an dem Caroline sass.

Ihre Mutter lächelte kläglich. „Mir ist ein wenig unwohl bei dem Gedanken, dass du dich dermassen in Gefahr bringst.“

„Du kannst ganz beruhigt sein, Brian sorgt schon dafür, dass mir nichts passiert. Und ich könnte genauso gut beim Springreiten vom Pferd stürzen und mir dabei den Schädel einschlagen. Wirklich, Mum, mach dir keine Sorgen! Ich freue mich so unglaublich darauf, endlich auf die Bahn zu dürfen, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“

„Das beruhigt mich tatsächlich ungemein“, entgegnete Caroline sarkastisch, und Hailey musste grinsen.

„Hannah hat vorhin angerufen. Sie wollte wissen, wie es mir so geht, und dabei ist mir der Gedanke gekommen, dass wir sie ja mal besuchen könnten. Du hast mir ja selber einmal gesagt, dass ich mal hinfahren könnte, und ich dachte, wir könnten an deinem freien Tag hin, wenn wir früh losfahren, dann schaffen wir es sogar am gleichen Tag noch zurück.“ Hailey sah ihre Mutter bittend an.

Caroline dachte kurz nach, dann entgegnete sie: „Warum eigentlich nicht? Das müsste passen, ich habe an dem Tag nichts vor.“

Hailey fiel ihr spontan um den Hals. „Danke, danke, danke! Das wird klasse, ich werde Hannah sofort anrufen!“

Kapitel 10

 

Die Aussicht auf den bevorstehenden Trip liess Hailey ihre Gedanken um Luke in den Hintergrund rücken. Hannah war hoch erfreut über die Nachricht und konnte es kaum erwarten, ihre Nichte wiederzusehen. Für Hailey zogen sich die Tage endlos lange hin, das Training mit Dutch und ihre täglichen Ritte mit Ragazzo konnten sie kaum von ihrer Ungeduld ablenken, und auch Carla und Sophia hatten keinen wirklichen Erfolg.

Dafür war Hailey die ganzen Tage über in einer absoluten Hochstimmung, der nicht einmal Alexanders spitze Bemerkungen einen Dämpfer verpassen konnte. Doch Caroline konnte es. Am Vorabend des grossen Tages, den Hailey so sehr herbei gesehnt hatte, kehrte sie mit einer düsteren Miene von der Arbeit zurück, und Hailey hatte sofort ein mieses Gefühl.

„Es tut mir so leid, Hailey“, entschuldigte sich Caroline verzweifelt. „Ich weiss, wie gerne du Sugar und Hannah gesehen hättest. Aber ich kann morgen nicht weg, in der Küche geht es drunter und drüber, ein Koch ist ausgefallen und es werden Gäste erwartet. Wir müssen ein anderes Mal fahren.“

Entgeistert starrte Hailey sie an. Sie war unfähig, ein Wort hervorzubringen. Caroline sah sie bedauernd an, doch in diesem Moment war sie einfach nur wütend und enttäuscht. Ohne etwas zu antworten stürmte sie zur Tür hinaus. Draussen war es bereits stockdunkel und ziemlich kühl, doch sie bemerkte es in ihrem Ärger kaum. Automatisch trugen ihre Beine sie in Richtung Stallungen, und als sie dort ankam, war sie komplett ausser Atem und musste sich erst einmal vorne über beugen, um wieder Luft zu bekommen.

Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass sie nicht alleine war. Normalerweise machte George um neun Uhr seinen Kontrollgang und danach herrschte Nachtruhe im Stall, und es war bereits nach zehn. Doch auf dem Hof sass Alexander im Staub und schraubte im Lampenschein an einem schwarzen Motorrad herum, völlig versunken in seine Arbeit. Hailey war sicher, dass er sie nicht bemerkt hatte und wollte sich unauffällig wieder aus dem Staub machen, doch im Dunkeln stiess sie gegen eine Schubkarre, die jemand an die Wand gelehnt hatte.

Alexander fuhr zu ihr herum. Im Stillen verfluchte sie sich. „Was machst du hier?“, fragte er argwöhnisch.

„Dasselbe könnte ich dich fragen. Ist ja nicht gerade die übliche Uhrzeit für so etwas.“ Sie blickte auf das Motorrad.

„Das alles hier gehört mir, ich bin dir wohl kaum Rechenschaft schuldig.“ Sein Blick hing an ihrem Gesicht hängen. „Weinst du?“

Die Frage brachte Hailey aus dem Konzept. Hastig wischte sie sich mit der Hand über die Augen. „Nein.“ Die Antwort kam schärfer als beabsichtigt, doch Alexander zuckte nur die Schultern. „Ich frage ja nur.“

„Entschuldige“, brachte sie kleinlaut hervor. „Ich… Eigentlich wollte ich morgen meine Tante besuchen, in Newhaven. Und mein Pferd,das heisst, ihr Pferd, aber das Pferd, was ich immer geritten bin früher. Aber meine Mutter muss arbeiten und kann mich nicht fahren, obwohl sie mir damals versprochen hat, ich könnte ja dort zu Besuch gehen.“ Indem sie das alles so erzählte, hatte sie plötzlich das Gefühl, sich unglaublich kindisch anzuhören, und Alexander nur neue Grundlagen für Sticheleien zu geben. Anstatt jedoch sie wie erwartet damit aufzuziehen, entgegnete er bloss: „Ich hatte auch nicht den besten Tag. Sagen wir mal, mein Vater und ich haben einfach unterschiedliche Ansichten zu gewissen Themen, und manchmal fällt einem in diesem alten Klotz die Decke auf den Kopf.“ Er nickte zum Schloss hinüber.

„Also bist du hier draussen und machst… das“, konstatierte Hailey.

„Es hilft mir, wieder runter zu kommen und meine Gedanken zu ordnen. Andernfalls…“ Er schwieg einen Moment, dann sah er Hailey zum ersten Mal direkt an. In seinem Blick lag nicht der übliche Abscheu und die tiefe Abneigung, mit der er ihr sonst begegnete. „Weisst du was“, begann er vorsichtig, „ich glaube, mir würde es ganz gut tun, hier mal raus zu kommen. Ich kann dich ja fahren.“

Hailey glaubte, sich verhört zu haben. Oder zu träumen. Ob es ein guter oder ein schlechter Traum war, konnte sie jedoch nicht wirklich sagen. Für einen kurzen Moment war sie misstrauisch, ob das nur wieder eines seiner üblichen Spielchen war, doch dann willigte sie ein.

„Newhaven also. Das können wir in vier Stunden schaffen. Vielleicht dreieinhalb, wenn du nicht Schiss davor hast, ein bisschen schneller als erlaubt unterwegs zu sein.“ Er grinste sie mit einem Funkeln in den Augen an. „Dann also morgen früh, sechs Uhr, in der Auffahrt.“

 

Vor Aufregung hatte Hailey das Gefühl, die ganze Nacht kein Auge zu machen zu können. Kurz vor fünf hielt sie es endgültig nicht mehr im Bett aus, sie stand auf, um erst einmal ausgiebig zu duschen. Danach hatten ihre Nerven sich etwas beruhigt. Ohne, dass sie es wollte, vermochte Alexander doch, sie unglaublich nervös zu machen. Nach wie vor wusste sie nicht recht, was sie von der Sache halten sollte, doch um Hannah und Sugar zu sehen, würde sie sogar mit seiner Gegenwart vorlieb nehmen.

In der Küche bestrich Caroline sich gerade einen Toast mit gesalzener Butter und Orangenmarmelade. Als Hailey die Treppe hinunter kam, zog sie eine Augenbraue hoch. „Wo willst du denn hin?“

„Zu Hannah. Keine Sorge, ich habe dich schon verstanden gestern“, warf sie rasch ein, als Caroline protestieren wollte, „aber ich habe eine andere Möglichkeit gefunden. Alexander fährt mich.“

Caroline hielt erstaunt inne. „Alexander? Habe ich richtig gehört? Ich denke, ihr hasst euch.“

Hailey zuckte die Schultern. „Er hat es mir angeboten, und ich wäre ja dumm, so ein Angebot auszuschlagen. Drück mir nur die Daumen, dass ich ihn unterwegs nicht doch erwürge.“

„Dann wünsche ich euch viel Spass. Oder… was auch immer von Nutzen wäre.“

Hailey grinste. Sie konnte ihrer Mutter nicht wirklich böse sein, doch der Fahrt mit Alex sah sie immer noch mit gemischten Gefühlen gegenüber.

„So, ich gehe jetzt rüber. Bis heute Abend. Ich stelle dir noch was in den Kühlschrank, falls du noch etwas essen willst, wenn du zurück kommst. Bei mir wird es wohl spät.“

„Ist gut, danke. Ich mache mich auch gleich auf den Weg.“ Hailey packte sich ihre Umhängetasche und verliess das Haus in Richtung Auffahrt. Anstatt dem Weg entlang zu laufen, lief sie quer über den Rasen in Richtung Tor, obwohl der Gärtner wieder einen Herzinfarkt bekommen hätte, hätte er sie dabei erwischt. Durch die Bäume konnte sie bereits die hell gekieste Zufahrtsstrasse erkennen, doch weit und breit war kein Auto zu entdecken. Sie zwängte sich durch die Büsche auf die Strasse und folgte ihr in Richtung des Eingangstores. Von Alexander war keine Spur, dabei war es bereits nach sechs, wie Hailey mit einem Blick auf ihre Uhr feststellte. Die Zweifel nagten an ihr. Was, wenn Alexander sich nur wieder einen der üblichen Scherze erlaubt hatte und gar nicht kommen würde?

Sie war bereits versucht, wieder zurück zu gehen, als sie plötzlich das tiefe Brummen eines Motors hörte. Das Geräusch wurde lauter, und Hailey erkannte einen schwarzen Sportwagen, der mit übertrieben hoher Geschwindigkeit auf sie zukam und rasant vor ihren Füssen zum Stehen gebracht wurde. Das Symbol am Kühlergrill identifizierte den Wagen als einen Aston Martin, wie selbst Hailey mit ihren beschränkten Kenntnissen über Autos feststellen konnte. Ebenso schwungvoll wie er angehalten hatte, öffnete Alexander die Autotür und nahm lässig die dunkle Sonnenbrille ab. „Guten Morgen!“

Während Hailey ein verwundertes „Guten Morgen!“ murmelte, kam Alexander um den Wagen herum, um ihr die Beifahrertür aufzuhalten. Ehrfürchtig liess Hailey sich in den Sitz sinken und hielt den Atem an. Sie wusste nicht, was sie mehr einschüchterte, die Armaturen aus lackiertem Walnussholz, mit denen das Auto ausgestattet war, oder Alexanders Benehmen. Er schlug die Tür zu, sodass sie bei dem Geräusch zusammenzuckte. In Gedanken ermahnte sie sich, sich endlich zu beruhigen und sich normal zu verhalten.

Alexander stieg auf der Fahrerseite ein und setzte seine Sonnenbrille wieder auf. Mit einem Grinsen zu ihr hinüber trat er das Gaspedal durch und liess den Motor aufheulen, dann fuhr er los auf das Tor zu, das sich vor ihnen öffnete. Hailey merkte schnell, dass der draufgängerische Fahrstil völlig seinem Wesen entsprach. Es dauerte nicht lange, bis sie die Ortschaft hinter sich gelassen und die Autobahn erreicht hatten, und dort drehte Alexander erst richtig auf. Bisher hatten sie kein Wort gewechselt, nur gelegentlich verstohlene Seitenblicke ausgetauscht. Zu ihrem Erstaunen stellte Hailey fest, dass sie sich neben ihm kein bisschen unwohl fühlte. Den meisten Fahrern hätte sie bei dieser Geschwindigkeit wohl nicht vertraut, doch bei Alexander im Auto fühlte sie sich sicher.

„Also“, durchbrach er plötzlich das Schweigen, „Hannah ist also deine Tante?“

„Ja, die Schwester meiner Mutter“, bestätigte Hailey.

„Und sie ist dir wohl sehr wichtig?“

Die Frage erstaunte Hailey. „Das kann man wohl sagen“, entgegnete sie nach kurzem Nachdenken mit einem Lächeln. „Als ich von ihr weg musste, war es die Hölle für mich. Hannah war wohl gleichermassen eine Mutter für mich wie meine eigene und gleichzeitig meine beste Freundin. Sie hat mir alles beigebracht, was ich über Pferde weiss. Und eigentlich auch praktisch alles, was ich über das Leben generell weiss. Keine Ahnung, wo ich heute ohne sie wäre.“

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Alexanders Hände sich um das Lenkrad krampften, sodass die Knöchel weiss hervor traten. Ihr war schleierhaft, was sie gesagt haben könnte, das ihn aus der Fassung brachte.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

Er schenkte ihr keinerlei Beachtung, sein Blick war stur geradeaus gerichtet, und er beschleunigte nur noch weiter. Nach einer Weile gab Hailey es auf, auf eine Antwort zu warten. Stattdessen starrte sie aus dem Fenster und versuchte, Besonderheiten, die ihr von der Hinreise bekannt waren, in der vorüber fliegenden Landschaft auszumachen.

„Kann ich das Radio einschalten?“, traute sich Hailey irgendwann zu fragen.

„Wenn du willst“, gab Alexander gleichgültig zurück. „Der Knopf unten links.“

Hailey hielt überrascht inne, als eine CD anlief und sie die ersten Töne von Sharp Dressed Man erkannte. „ZZ Top?“

Alexander schien mindestens genauso verwundert. „Das hast du erkannt?“

„Bei uns zuhause läuft praktisch nur Old School Rock. Ich hätte nie gedacht, dass du sowas hörst!“ Sie drehte sich im Sitz zu ihm um und hielt inne. Bis vor wenigen Minuten hätte sie nie gedacht, dass es irgendetwas gab, was sie an Alexander interessieren könnte. Das zu realisieren brachte sie zum Schmunzeln. „Welches ist deine Lieblingsband?“

„Scorpions. Aber mein Lieblingssong ist von The Police. Every Breath You Take.“ Er warf einen kurzen Blick zu ihr hinüber und entdeckte ihr breites Grinsen. „Was?“

Hailey lachte auf. „Ich liebe dieses Lied! Hättest du gedacht, dass wir tatsächlich etwas gemeinsam haben?“

Alexander musste ebenfalls schmunzeln. „Oder dass wir uns wie normale Leute über Musik unterhalten können. Drück ruhig weiter, wenn dir etwas nicht gefällt, ist eine Mix-CD, selbst gebrannt.“ Er wies auf den CD-Player. Dann fragte er unvermittelt: „Sag mal, hast du eigentlich schon gefrühstückt?“

Sie verneinte, und Alexander lenkte den Wagen bei der nächsten Ausfahrt von der Autobahn zu einem Rastplatz mit einem Coffee Shop. „Warte hier.“

Er griff nach seiner Brieftasche, stieg aus dem Wagen und ging hinüber zu dem Coffee Shop. Hailey atmete einmal tief durch, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Situation wurde immer eigenartiger, und sie wusste nicht genau, wie die Freundlichkeit, mit der sie sich begegneten, zu deuten war. Wie gern hätte sie jetzt Sophia angerufen, aber sie wusste nicht, ob diese schon auf war, und wann Alexander zurück kommen würde. Nur zu gut konnte sie sich Sophias Gesicht vorstellen, wenn sie ihr von seinem plötzlichen Sinneswandel erzählte.

Um sich abzulenken, drehte sie das Radio auf. Es dauerte auch nicht mehr lang, dass Alexander wieder zurück kam und ihr zwei Becher mit Kaffee und eine Tüte mit duftenden Brötchen reichte. „Du darfst Becherhalter sein“, kommentierte er mit seinem üblichen süffisanten Grinsen, doch dieses Mal schien es, als würde er es kein bisschen herablassend meinen.

„Wie grosszügig“, konterte Hailey spöttisch und erntete dafür einen raschen Seitenblick.

Alexander startete den Motor und fuhr zurück auf die Autobahn. Er trat wieder aufs Gas und hatte die erlaubten 70 Meilen rasch überschritten, doch das schien ihn nicht im Mindesten zu stören. Stattdessen bat er seelenruhig um seinen Kaffee und liess sich von Hailey ein Brötchen auseinander brechen.

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte er nach einer Weile plötzlich.

„Ich weiss gar nicht so recht, was ich sagen soll“, gestand Hailey. „Du musst zugeben, das hier ist mehr als seltsam!“

Er lachte auf. „Wäre doch langweilig anders.“

Darauf wusste Hailey nichts zu sagen. In ihr keimte die Frage auf, ob das sie beide jetzt zu Freunden machte. Und ob der ewige Spiessrutenlauf mit Alexander nun ein Ende finden würde. Realistischer erschien ihr bei weitem noch immer die Erklärung, dass das Ganze bloss ein Traum war. Ob ein guter oder ein schlechter vermochte sie nicht zu sagen.

„Wie lange reitest du eigentlich schon?“

Hailey musterte ihn argwöhnisch. „Ist das ein angestrengter Versuch, Konversation zu machen? Du musst dich nicht mit mir unterhalten.“

„Also soll ich nur deinen Chauffeur spielen?“ Er zuckte die Schultern. „Eigentlich interessiert es mich wirklich.“

„Seit ich zehn bin“, antwortete Hailey schnell, und mit einem Mal tat ihr ihr Misstrauen leid. „Damals sind wir in Hannahs Nähe gezogen, und ich habe viel Zeit bei ihr verbracht, während meine Mutter gearbeitet hat. Und du?“

Alexander schwieg kurz, bevor er ihr antwortete. „Meine Mutter hat es mir beigebracht. Schon als ich noch ganz klein war, hat sie mich immer mit in den Stall genommen, dann hat sie mich immer vor sich auf den Sattel gesetzt und mit mir ein paar Runden gedreht. Sie war so unglaublich talentiert. Und sie hat gelebt für den Springsport. Bis sie diesen Unfall hatte…“ Er brach ab und räusperte sich. „Danach… Wäre George nicht für mich da gewesen, würde ich wahrscheinlich nicht mehr reiten. Er hat mich praktisch gezwungen, wieder aufs Pferd zu steigen.“ Ein müdes Lächeln glitt über sein Gesicht.

„Hat er dich danach unterrichtet?“

Ein Nicken war die Antwort. „Ich kenne niemanden, der so viel von Pferden versteht wie George. Du kannst dir ziemlich viel darauf einbilden, was er auf deine Reitkünste hält.“

Hailey wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. Stattdessen bemerkte sie: "Das Reiten liegt euch anscheinend im Blut. Wenn deine Mutter nur annähernd so sehr aussah, als würde sie in den Sattel gehören, wie du..." Hailey brach ab und befürchtete, sich gerade furchtbar dämlich anzuhören. Alexander hielt überrascht inne, was sie in ihrem Gefühl zu bestätigen schien.

"Ich wünschte nur, ich hätte ihre Geduld und ihre Ausdauer... Oder deine! Schau nicht so! Ich hab dich gesehen, wie du Tag für Tag geschuftet hast, um Brian zufrieden zu stellen. Du scheinst das so sehr zu wollen. Das ist... beeindruckend." Er sprach langsam, wählte seine Worte mit Bedacht. "Diese Leidenschaft kann dich in dem Sport noch weit bringen, glaub mir."

Diese Aussage zauberte ein Lächeln auf Haileys Gesicht.

"Du hattest übrigens recht neulich", meinte er dann mit einem Stirnrunzeln, als ob es ihm schwer fallen würde, das zuzugeben. Hailey verstand anfangs nicht, was er meinte, bis er erklärte: "Mit der Distanz."

Haileys Grinsen wurde breiter. "Ach, manchmal sieht man von aussen einfach mehr. Was glaubst du, wie oft es mir schon so ging!"

"Wir sollten mal zusammen trainieren."

"Ja, sollten wir vielleicht."

Mutig geworden fragte Hailey: "Was hat es mit dem Motorrad auf sich? Eine weitere Leidenschaft?"

"Könnte man so sagen. Wir haben nicht nur ein Faible für schnelle Pferde." Es war das erste Mal, dass Hailey wirklich das Gefühl hatte, dass sein Humor nicht ironisch war, und die Leichtigkeit liess das Gespräch viel weniger seltsam wirken. "Das habe ich gemerkt", kommentierte sie trocken. "Wenn man einen Chauffeur hat, kann man es sich ja auch leisten, wenn einem der Führerschein entzogen wird."

"Mit 70 Meilen pro Stunde kommt ja kein Mensch ans Ziel!" Alexander schnaubte verächtlich. "Apropos Ziel, da vorne ist unsere Ausfahrt. Jetzt musst du mir erklären, wo's lang geht."

 

Hannah stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben, als Alexander den Aston Martin vor ihrem Haus parkierte und ausstieg, um Hailey die Tür zu öffnen. Sein galantes Benehmen rundete den eigenartigen Charakter dieses Ausflugs für Hailey ab. Doch sobald sie Hannah erblickt hatte, waren alle Gedanken um Alexander weggeblasen. Sie fiel ihrer Tante in die Arme. Wie immer hatten Hannahs Klamotten den altbekannten Duft nach frischem Heu, ein Geruch, den Hailey über alles liebte. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, dass sie Hannah zuletzt gesehen hatte.

"Ich habe mich schon gefragt, wann du ankommst. In der Küche warten Scones, sie müssten noch warm sein. Ihr müsst hungrig sein nach der langen Fahrt. Aber erst einmal musst du mir deinen Begleiter vorstellen." Neugierig blinzelte Hannah zu Alexander hinüber, der sich höflich im Hintergrund gehalten hatte. Aus ihr unerfindlichen Gründen wurde Hailey rot. "Ach, Alexander..."

Doch Hannah bemerkte es gar nicht, sie war bereits auf Alexander zugegangen, um ihn zu begrüssen.

"Alexander von Outmoor. Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen", meinte Alexander und reichte ihr die Hans, nachdem Hannah ihn willkommen geheissen hatte. "Ich habe gerade Ihr Anwesen bewundert. Es gibt nicht viele alte Gebäude, die so gut erhalten und so gekonnt restauriert worden sind."

Das Kompliment schien seine Wirkung zu tun, Hannah warf Hailey einen anerkennenden Blick zu. Die Erwähnung seines Titels tat sein Übriges. Hailey war schon wieder kurz davor, genervt die Augen zu verdrehen. Vor allem hatte sie angenommen, dass Hannah Alexander als den arroganten Schnösel vom Turnierplatz in Erinnerung hatte, aber das schien nicht der Fall zu sein. Vielleicht war es auch besser so, denn das hätte nur komplizierte Fragen aufgeworfen, die Hailey zu diesem Zeitpunkt nicht einmal sich selber beantworten konnte.

"Ich will auch gar nicht weiter stören, ich lasse Sie und Hailey allein, ich bin sicher, Sie beide haben viel zu besprechen. Ich würde so gegen fünf Uhr wieder vorbei kommen, damit wir uns auf den Heimweg machen können", fuhr Alexander fort.

Hannah zog überrascht die Augenbrauen hoch. "Nicht doch!", rief sie aus. "Erstens ist hier kein Platz für Förmlichkeit, es gibt keinen Grund, sich so steif zu benehmen. Und zweitens bist du willkommen hier. Ich hatte eigentlich meine Schwester erwartet, aber nun muss uns eben jemand anders mit den ganzen Scones helfen. Wer soll denn sonst alles essen?"

Hailey hätte es ganz gern gesehen, wenn Alexander nicht geblieben wäre. Auch wenn sie sich auf der Fahrt doch ganz gut verstanden hatten, ihn mit hierher zu nehmen war für sie etwas noch Persönlicheres, als wenn sie ihn zu sich nach Hause eingeladen hätte. Doch sie kannte Hannah zu gut, sie würde nicht eher Ruhe geben, bis Alexander einwilligte, sich wenigstens für eine Stunde zu ihnen zu gesellen.

"Nun, ich möchte wirklich nicht aufdringlich sein, ich kann mich bestimmt eine Weile hier in der Gegend beschäftigen...", warf Alexander ein, doch Hannah unterbrach ihn: "Den ganzen Tag? Oh nein, das möchte ich niemandem zumuten. Wir werden uns erst mal hinsetzen und etwas essen, danach kann Hailey dir den Stall zeigen. Ich bin mir sicher, du willst eigentlich viel lieber Sugar sehen als mich", fügte sie an Hailey gewandt hinzu. Ohne weiteren Protest der beiden zuzulassen, schob sie die beiden vor sich her aufs Haus zu. Hailey fragte sich insgeheim, was Alexander mit seiner arroganten, wenn auch sehr manierlichen Art von ihrer Tante halten würde, doch sie verwarf die Frage gleich wieder. Im Grunde war es absolut unwichtig.

In der Küche roch es noch nach den warmen, süsslichen Scones, die ofenfrisch auf einem grossen Teller auf sie warteten. Hailey merkte, dass sie inzwischen doch wieder ziemlich hungrig war, das Brötchen von der Raststätte hatte als Frühstück nicht wirklich ausgereicht. Alexander neben ihr schien es ähnlich zu gehen. "Es riecht fantastisch! Das Talent fürs Kochen scheint in der Familie zu liegen."

"Oh, ich bin eher die Bäckerin", wehrte Hannah ab, "mit grossen Menüs hatte ich es nie. Das war immer Charlottes Fachgebiet."

Ohne lange zu fackeln, holte Hailey Teller und Besteck aus dem Küchenschrank. Sie war hier mit allem so vertraut wie in ihrem eigenen Zuhause.

Während dem Essen fragte Hannah Hailey über ihre Mutter, das neue Haus und vor allem die Pferde auf Outmoor aus. Sobald sie von ihrer neuen Passion reden konnte, war Hailey in ihrem Element. Sie berichtete Hannah in allen Einzelheiten von ihrem Trip nach Bath, von den ganzen neuen Erlebnissem, ihrem Ritt auf Skyline. Nur den Teil mit Luke liess sie aus. Auch Alexander musste Hannah Rede und Antwort stehen, was er bereitwillig zu tun schien. Wenn Hannah bei der Eröffnung, dass Alexander ebenfalls Springreiter war, endlich gemerkt hatte, wo sie ihn früher schon gesehen hatte, liess sie sich jedenfalls nicht das Geringste anmerken. Die beiden unterhielten sich über Schloss Outmoor, die Rosengärten, zwischendurch immer mal wieder über Pferde, was für Hailey wenigstens ebenfalls spannend war, und natürlich liess Alexander es sich nicht nehmen, erneut die Scones zu loben.

Irgendwann entschied Hailey sich, dass sie sich genug gelangweilt hatte und stand auf. "Ich gehe zum Stall rüber. Wenn du möchtest, kannst du mitzukommen", fügte sie habherzig an Alexander gerichtet hinzu, der zu ihrem Leidwesen sofort aufstand.

"Gute Idee", meinte Hannah auch sofort. "Kümmert euch nicht um mich, falls ihr ausreiten oder in den Garten wollt, ich habe hier noch etwas zu erledigen. Neben dem Tor sind noch Stiefel."

Hailey führte Alexander aus dem Haus und hinüber auf die Scheune zu. Bei diesem Wetter waren die Pferde bestimmt draussen auf der Weide, also schlugen sie den Weg um das Gebäude herum zu den dahinter liegenden Feldern ein.

"Deine Tante ist nett", kommentierte Alexander.

"Manchmal redet sie ein bisschen viel. Ihr schient euch ja gut zu verstehen", entgegnete Hailey mit einem beiläufigen Schulterzucken, von dem sie hoffte, dass es den Eindruck machte, als interessiere sie seine Meinung nicht gross. Daraufhin schwieg er und sie setzten ihren Weg fort, ohne noch etwas zu sagen, bis sie das grosse Weidetor erreicht hatten. Hailey trat vor und pfiff laut. Es dauerte keine Minute, bis ein Wiehern zur Antwort erklang, und Sugar, gefolgt von Champagn, über die Kuppe eines Hügels auf sie zu kam. Die Stute wiederzusehen, war für Hailey, wie einen lange verschollenen Freund zurück zu bekommen. Sie hatte nicht realisiert, wie sehr ihr Sugar in den letzten Wochen gefehlt hatte. Sugar wieherte erneut und kam auf das Tor zugaloppiert, um mit einer abrupten Bremsung vor Hailey und Alexander anzuhalten. Aufgeregt beschnupperte sie Haileys Hände, die sie ihr hinhielt, und schnaubte.

"Hallo, mein Mädchen", flüsterte Hailey. Rasch stieg sie über das Tor, um die Stute zu umarmen, und vergrub das Gesicht in ihrer Mähne. Auch wenn sie den einen oder anderen Liebling auf Outmoor hatte, Sugar war einfach etwas Besonderes. Sie war ganz versunken, sodass sie nicht bemerkt hatte, dass Alexander auf die andere Seite des Kopfes der Stute getreten war, und jetzt ganz dicht neben ihr stand. Andächtig strich er der Stute über die Stirn. Die Geste überraschte Hailey. Sie wartete und beobachtete stumm, wie er Sugar weiterhin mit Streicheleinheiten verwöhnte. Ihr fielen seine Hände auf, perfekte Hände, mit eleganten, schlanken Fingern, und mit einem Mal durchzuckte sie der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn er sie mit diesen Händen berühren würde. Innerlich schüttelte sie den Kopf über sich selber.

„Sie ist wirklich hübsch“, lobte Alexander, und Hailey verkniff sich mit Mühe einen ironischen Kommentar. Sie hatte nicht mitgezählt, wie oft er und Juliane sich auf Turnieren über sie und die Stute lustig gemacht hatten.

Stattdessen wandte sie sich zu Champagn, um auch den Fuchswallach zu begrüssen. „Na, alter Junge, wie geht es dir?“ Während sie den Wallach streichelte, warf sie einen verstohlenen Blick zu Alexander und stellte fest, dass er sie musterte. Sie konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde. „Gehen wir ausreiten?“, fragte sie eilig, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Alexander nickte breitwillig, und die beiden halfterten die Pferde auf, um sie zurück zum Stall zu bringen.

 

Alexander streckte sich genüsslich, die Zügel in einer Hand, und liess den Blick anerkennend über die weitläufige Landschaft schweifen. „Ich war noch nie in dieser Gegend. Jedenfalls nicht so nahe an der Küste. Es ist schön hier.“

Nanu, plötzlich so gesprächig. Hailey konnte sich den sarkastischen Gedanken nicht verkneifen. Überhaupt schien Alexander wie ausgewechselt, erst recht jetzt, da sie den Hof verlassen hatten. Die Anspannung, die vorhin im Auto noch auf ihm gelegen hatte, schien jetzt völlig von ihm abgefallen. Beinahe hatte Hailey Mühe, sich an den arroganten Sohn des Grafen von Outmoor zu erinnern, von dem sie nichts als herablassende Sprüche und Demütigungen kannte. Trotzdem konnte sie ihr Misstrauen nicht vollends ablegen.

„Ich habe gerne hier gewohnt. Das Reitgelände in Watchet ist nicht mit dem hier zu vergleichen!“, gab Hailey zu. „Wenn man weiss, wie man den Touristen ausweichen kann, kann man hier stundenlang unterwegs sein mit der herrlichsten Aussicht, ohne einer Menschenseele zu begegnen.“

„Klingt verlockend.“ Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.

Hailey stand in den Steigbügeln auf und spähte ein Stück weiter vorne auf den Weg. „Wie siehts aus, bereit für ein kleines Rennen? Das heisst, wenn du mit schnellen Pferden nicht nur auf dem Papier klar kommst.“ Sie grinste ihn frech an, doch dann sah sie für einen kurzen Moment den Ärger in seinen Augen aufflackern. Doch das legte sich sofort wieder, und im nächsten Augenblick nahm er die Bemerkung mit dem Humor, auf den Hailey gezielt hatte. Anscheinend ging es ihm mit dem Misstrauen ähnlich.

„Ich sollte mich ja hüten, gegen einen Jockey ein Rennen reiten zu wollen. Wobei, warte, du bist ja noch gar keiner.“ Er antwortete ihr in demselben kecken Tonfall.

Statt einer Antwort drückte Hailey die Schenkel zu und liess Sugar praktisch aus dem Stand angaloppieren. „Bis zum Brunnen. Pass auf die Hindernisse auf!“

Sie warf einen kurzen Blick zurück und konnte gerade noch Alexanders grimmigen Blick erkennen, als er Champagn antrieb. Hailey ging in den leichten Sitz und forderte die Stute durch ein leichtes Schnalzen auf, schneller zu werden. Ganz automatisch falteten ihre Hände die Zügel, wie Brian es ihr gezeigt hatte. Sie lächelte, als es ihr auffiel. Das Rauschen des Windes war das einzige Geräusch, was sie hörte, alles Andere hatte sie komplett ausgeblendet. Sie spürte nur die gleichmässige Bewegung und die kräftigen Atemstösse der Stute unter sich.

Vor ihr tauchte eine niedrige Steinmauer auf, von denen es hier nur so wimmelte. Sie nahm Sugar etwas zurück, um sie auf den Sprung vorzubereiten. Auf ihr Kommando hin drückte die Stute ab und segelte über die Mauer, und Hailey genoss die vertraute Bewegung. Sie liess Sugar einfach laufen, passte sich ihrem Rhythmus an und brauchte sie nur zu untersützen, wenn es auf ein Hindernis zu ging. Erst, als der Brunnen vor ihr auftauchte, den sie zur Ziellinie erkoren hatte, sah sie sich nach Alexander um. Er war gute fünfzig Meter hinter ihr und trieb Champagn vorwärts. Der Fuchs streckte sich und bemühte sich, der Forderung seines Reiters entgegen zu kommen, doch bis Hailey den Brunnen erreicht hatte, blieb den beiden keine Chance mehr, noch zu ihnen aufzuholen. Hailey konnte nicht anders, als Alexander mit einem triumphierenden Grinsen zu empfangen. „Anscheinend solltest du auch gegen angehende Jockeys keine Rennen reiten.“

Er lachte laut auf, dann beugte er sich vor, um Champagn ausgiebig den nassen Hals zu klopfen, was der Wallach mit einem Schnauben quittierte. Von allen möglichen Reaktionen hatte Hailey diese am wenigsten erwartet.

Im Schritt machten sie sich auf den Rückweg zu Hannahs Hof, damit die Pferde unterwegs wieder auskühlen konnten.

„Der Bursche hier ist ganz schön schnell“, kommentierte Alexander mit einem Blick hinunter auf sein Pferd. „Aber ihr beiden seid richtiggehend geflogen! Das war fantastisch!“

„Danke“, murmelte Hailey, das Lob machte sie plötzlich scheu.

Der Rest des Rittes verlief mehr oder weniger schweigend, und zurück im Stall sattelten sie ihre Pferde ab. Alexander warf einen besorgten Blick auf seine Uhr. „Wir sollten langsam an den Rückweg denken. Wir waren doch länger unterwegs, als ich gedacht hätte.“

Hannah tauchte in der Scheune auf. „Na, hattet ihr einen schönen Ritt?“

„Genau wie ich es in Erinnerung hatte.“ Hailey kraulte Sugar liebevoll am Genick. „Wir müssen uns leider schon wieder verabschieden. Vor uns liegt noch eine lange Fahrt.“

„Ja, beim nächsten Mal musst du gleich ein ganzes Wochenende bleiben. Wenn du dafür in Zukunft überhaupt noch Zeit hast“, meinte Hannah mit einem Augenzwinkern. „Ich war so frei und hab euch Sandwiches für den Rückweg eingepackt. Viel gegessen habt ihr ja nicht.“

Hailey lachte. „Du denkst auch an alles.“ Wehmütig verabschiedete sie sich von ihrer Tante und den beiden Pferden. Alexander schüttelte Hannah die Hand. „Danke für alles, das war ein netter Tag.“

Sie konnte nicht genau sagen, weshalb, doch die Beschreibung nett versetzte Hailey einen Stich. Sie versuchte, es zu ignorieren, während sie Hannah ein letztes Mal umarmte, bevor sie sich wieder auf den Beifahrersitz von Alexanders Aston Martin setzte, zu dem er ihr die Tür aufhielt.

 

„Hailey, wach auf, wir sind zuhause.“ Eine Hand an ihrer Schulter weckte sie aus dem Schlaf. Verwirrt strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und sah sich um. Als sie das lackierte Wahlnussholz erkannte, war sie mit einem Schlag wach. „Oh Gott, ich bin eingeschlafen? Das tut mir furchtbar leid!“

„Muss es nicht. Ich werde auch immer müde, wenn ich nicht selber fahren kann. Ich dachte, ich lasse dich schlafen.“ Alexanders Lächeln hatte etwas Beruhigendes.

„Danke“, nuschelte Hailey verlegen.

Alexander machte eine Handbewegung nach draussen, wo es bereits dunkel war. „Wir sind direkt vor eurem Haus.“

Hailey spähte nach draussen und versuchte, in der Dunkelheit die Umrisse der Gebäude auszumachen, als die Haustür aufging und eine Gestalt hinaus trat. Rasch öffnete Hailey die Autotür und stieg aus dem Wagen in der Erwartung, dass es sich um ihre Mutter handle.

Erst als sie eine unerwartete, aber vertraute Stimme „Hailey?“ sagen hörte, war ihr klar, wer auf sie gewartet hatte.

Kapitel 11

„Luke?“, fragte sie ungläubig. Im nächsten Moment hatte er sie auch schon in seine Arme geschlossen, und sie fühlte die vertrauten Lippen auf ihren. Doch es fiel ihr schwer, sich auf den Kuss zu konzentrieren, die Überraschung überwog. Sie löste sich von ihm und fragte erstaunt: „Was machst du hier?“

Er trat einen Schritt zurück, um sie ansehen zu könne. „Es tut mir so leid, dass ich mich nicht gemeldet habe! Ich war die ganze Zeit seit Bath in Frankreich und habe mit unserem Trainer Pferde ausprobieren müssen. Und als er dann meinte, dass der Graf auch einen interessanten Zweijährigen hätte, den sich jemand ansehen muss, war das die perfekte Gelegenheit, persönlich vorbeizukommen und dich zu überraschen!“

„Das ist dir gelungen“, murmelte Hailey.

„Welchen Zweijährigen denn?“, meldete sich jetzt Alexander zu Wort. Hailey zuckte zusammen, für einen Moment hatte sie ganz vergessen, dass er dort stand.

„Hallo, Alexander“, wandte sich Luke kühl an ihn. „Smart Dexter? Dieser Smart Strike-Sohn.“

Alexander nickte nur. „Ich werde ihn dir morgen gerne vorführen lassen.“ Trotz des höflichen Angebotes war die Stimmung zwischen den beiden eisig.

„Das wäre sehr freundlich. Nun, dann sehen wir uns morgen.“ Luke legte den Arm um Haileys Schulter und führte sie zurück zum Haus. Die Geste hatte etwas Besitzergreifendes, und Hailey fühlte sich mit einem Mal unbehaglich. Auf halbem Weg drehte sie sich noch einmal zu Alexander um, der gerade wieder ins Auto steigen wollte. „Gute Nacht, Alexander! Vielen Dank für alles! Es war… nett.“

Er hielt einen Moment überrascht inne und sah sie an, dann nickte er knapp, glitt auf den Fahrersitz und schlug die Autotüre hinter sich zu. Hailey folgte Luke ins Haus, der mehr oder weniger geduldig auf sie gewartet hatte.

"Ihr versteht euch wohl nicht besonders gut", kommentierte sie.

Luke zuckte die Schultern. "Alexander von Outmoor und ich... wir waren nie beste Freunde. Du dürftest ja selber gemerkt haben, dass er nicht gerade der einfachste Charakter ist." Im schwachen Licht des Eingangsbereiches konnte Hailey sein Stirnrunzeln erkennen. "Was habt ihr beiden überhaupt gemacht?"

"Ich war meine Tante besuchen, und Alexander hat mich gefahren." Hailey war nicht sicher, ob sie eine Spur Argwohn in seiner Stimme hören konnte. Oder war es Eifersucht? In ihr keimte das schlechte Gewissen auf. Die ganze Zeit, in der sie mit Alexander unterwegs gewesen war, hatte sie keinen einzigen Gedanken an Luke verschwendet. Sie hoffte, dass er im Halbdunkel nicht sehen konnte, wie sie errötete. Andererseits hatte Luke sich in der ganzen Zeit nicht gemeldet. Und jetzt stand er plötzlich vor ihrer Tür.

"Frankreich hin oder her, du hättest trotzdem mal anrufen können. Oder lag das Gestüt in den Bergen ohne Stromanschluss?", fragte sie und konnte nicht verhindern, dass eine Spur von Ärger in ihrer Stimme mitschwang.

„Ich weiss…“ Er zögerte. „Ich kann dir nicht einmal eine gute Erklärung liefern! Es tut mir wirklich so unglaublich leid, und du hast jedes Recht, sauer auf mich zu sein.“

Hailey wusste nicht so recht, was sie sagen oder tun sollte. Ein Teil von ihr war sofort bereit, Lukes Entschuldigung anzunehmen und sich in seine Arme zu werfen, doch der andere Teil zögerte und wollte ihn gerne beleidigt stehen lassen. Luke musterte sie aufmerksam. Schliesslich stiess sie mit einem genervten Seufzen die Haustür auf. „Komm erstmal rein!“

„Ich habe deine Mutter übrigens schon kennen gelernt, als ich auf dich gewartet habe.“

Es verschlug Hailey erneut die Sprache. „Was hast du ihr gesagt?“, fragte sie scharf.

Zu ihrer Überraschung lachte Luke leise. „Ganz ruhig, ich habe ihr nichts erzählt. Bestimmt nicht! Sie glaubt, wir sind Kollegen. Stimmt ja auch, oder?“

Erleichtert atmete Hailey auf. Sie war sich nicht sicher, wie ihre Mutter reagiert hätte, wenn plötzlich ein Fremder vor der Haustüre gestanden und ihr eröffnet hätte, Haileys Freund zu sein. Wobei, war er das überhaupt? Unsicher sah Hailey zu ihm auf. Bisher hatte sie keine Ahnung, wie sie überhaupt zueinander standen. Machte ihr Date und die Küsserei sie zu einem Paar?

„Hailey, da bist du ja wieder. Wir haben eine ganze Weile auf dich gewartet!“, rief Caroline ihr aus der Küche zu, wo sie gerade dabei war, Erdbeeren zu waschen. „Hattet ihr einen schönen Tag?“

Hailey ging zu ihr hinüber, um sich eine Erdbeere zu schnappen. „Ja, es war ganz gut. Hannah lässt dich grüssen, sie fand es schade, dass du nicht mitgekommen bist.“

Caroline seufzte. „Ich dachte schon, ich komme nie mehr aus dieser Küche raus.“ Dann nickte sie zu Luke hinüber. „Aber der Besuch war eine nette Überraschung.“

„Wie lange bist du überhaupt schon hier?“ Hailey wandte sich zu Luke um, der im Wohnzimmer stand und ein Bild an der Wand studierte. Es war eigenartig, ihn in ihrem Haus stehen zu sehen. Er verhielt sich so natürlich, als wäre er jeden Tag hier. Für ihn schien die Situation überhaupt nicht so verkrampft wie für Hailey, was sie mächtig einschüchterte.

Er lächelte sie an. „Ich bin etwa eine halbe Stunde vor dir gekommen. Carla meinte, ich würde dich hier finden. Deine Mutter war so nett, mir anzubieten, hier auf dich zu warten.“

Natürlich, Carla. Hailey runzelte die Stirn. „Worüber habt ihr euch unterhalten?“

„So dies und das. Luke hat mir ein paar interessante Dinge über Pferderennen erzählt.“ Caroline lächelte ihm anerkennend zu. Immerhin schienen die beiden sich gut zu verstehen. „Hast du noch Hunger?“ Als Hailey den Kopf schüttelte, schlug sie vor: „Zeig Luke doch noch den Rest des Hauses, ich muss gleich nochmal rüber in die Küche. Es hat übrigens heisses Teewasser, falls ihr noch Tee wollt.“

Mit gemischten Gefühlen führte Hailey Luke die Treppe hoch und den Gang zu ihrem Zimmer hoch. „Voila.“ Sie stiess die Tür auf und trat zurück, um ihn eintreten zu lassen. Er sah sich neugierig um, den Rücken zu ihr gewandt. Hailey lehnte sich an den Türpfosten und verschränkte die Arme, während sie ihn dabei beobachtete.

Schliesslich drehte er sich zu ihr um. „Du bist sauer.“

„Nein, ich bin nicht sauer. Gut, vielleicht ein bisschen. Ich bin… verwirrt“, gestand Hailey.

Luke zog eine Augenbraue hoch. „Verwirrt?“

Hailey nickte und überlegte, wie sie es am besten formulieren sollte. „Das alles hier verwirrt mich.“ Sie machte eine Geste mit den Händen. „Luke, das ist alles vollkommen neu für mich! Ich weiss sowieso nicht, was ich tun soll, und dann meldest du dich nicht, und ich weiss nicht, was du dir denkst, und dann stehst du plötzlich bei mir zuhause und unterhältst dich mit meiner Mutter! Überhaupt, was ist das hier?“

„Wie meinst du das?“

„Na ja…“ Sie fühlte sich furchtbar dumm, es aussprechen zu müssen. „Haben wir jetzt… eine Beziehung? Muss ich dich meiner Mutter als Freund vorstellen? Oder war unser Date nur das, ein Date… ohne Fortsetzung?“ Sie biss sich auf die Lippe.

Er starrte sie entgeistert an. „Hailey…“ Mit zwei Schritten war er bei ihr, nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände und sah sie liebevoll an. Sein Daumen strich über ihren Wangenknochen, dann beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie. „Wäre ich wohl hier, wenn ich keine Fortsetzung wollte?“, flüsterte er, seine Stirn an ihre gelehnt. „Ich weiss nicht, wieso, aber vom ersten Moment an wusste ich…“

Hailey traute sich kaum zu atmen. Ihr Ärger und die ganze Unsicherheit fielen mit einem Mal von ihr ab. Sie bekam sogar ein schwaches Lächeln zustande und beobachtete fasziniert das Leuchten in Lukes Augen, als er es entdeckte. Er schien es tatsächlich ernst zu meinen.

„Dann kriege ich eine zweite Chance?“

Jetzt verbreiterte sich ihr Lächeln. „Wie könnte ich nein sagen?“

Er zog sie in seine Arme. Es war ein angenehmes Gefühl, den Kopf an seine Schulter legen und einen Moment die Augen schliessen zu können. Sie spürte plötzlich, wie müde sie von der ganzen Aufregung war, der Tag hatte ein paar Überraschungen zu viel bereit gehalten. Mit Mühe unterdrückte sie ein Gähnen. Luke bemerkte es trotzdem. „Du gehörst ins Bett! Ich werde die nächsten paar Tag hier sein, wir haben also alle Zeit der Welt.“

„Wo übernachtest du?“ Hailey sah zu ihm hoch.

„Der Graf hat mir ein Gästezimmer im Schloss angeboten. Ich werde also hier auf dem Gut sein. Nun, ich nehme an, wir sehen uns morgen früh.“ Er lächelte sie an, dann beugte er sich zu ihr hinunter, um sie nochmals zu küssen. Seine Lippen waren warm, der Kuss so sanft und liebevoll, wie Hailey es bisher noch nicht erlebt hatte. Trotz ihrer Müdigkeit wünschte sie sich inständig, er würde bei ihr bleiben. Doch er löste sich langsam von ihr und hielt ihr die Zimmertür auf, sodass sie gezwungen war, vorzugehen.

Sie begleitete ihn bis zur Haustür, wo er ihr einen letzten Kuss auf die Wange gab. „Gute Nacht, träum süss!“

„Du auch“, hauchte sie, und dann war er zur Tür hinaus. Hailey schloss sie bedächtig hinter ihm, dann lehnte sie sich einen Moment dagegen. Luke war tatsächlich hier. Nach all den Gedanken, die sie sich gemacht hatte, war er einfach hier aufgetaucht und hatte sie einfach umgehauen. Die Aussicht, ihn noch ein paar Tage hier zu haben, zauberte erneut ein Lächeln auf Haileys Gesicht.

 

„Guten Morgen! Du scheinst ja blendender Laune heute.“ Tim grinste sie an, als er ihr die Zügel von Dutch reichte, den er für sie vorbereitet hatte.

„Kann man wohl sagen. Ist Alexander schon aufgetaucht?“, erkundigte sich Hailey und streichelte Dutch zur Begrüssung die Stirn. Sie hatte in den letzten Tagen jeden Morgen auf dem Wallach geübt, um Brian auch wirklich überzeugen zu können, wenn er zurückkehrte. Inzwischen hatte sich zwischen ihr und dem Pferd auch eine Art Freundschaft entwickelt, auch wenn Hailey längst nicht so eine tiefe Verbindung spürte wie mit anderen Pferden. Doch Dutch war ein guter und geduldiger Lehrmeister.

„Bisher noch nicht.“ Tim runzelte die Stirn. „Was hat er nun wieder abgezogen?“

Hailey schüttelte eilig den Kopf. „Gar nichts. Er will bloss einem Kunden ein Pferd zeigen, das will ich nicht verpassen.“

„Sie haben einen Interessenten für Dexter? Dann gehe ich besser und putze ihn nochmal kurz. Viel Spass beim Training!“ Er half ihr aufs Pferd, dann zwinkerte er ihr zu und verschwand im Stalltrakt. Hailey machte sich mit dem Wallach auf den Weg über den beschäftigten Innenhof zur Halle. Diese war wie immer leer, sie wurde vom Rennstall nur gebraucht, wenn im Winter die Jungpferde angeritten werden mussten. Jetzt im Sommer hatte Hailey sie ganz für sich.

Wie üblich wärmte sie Dutch kurz auf, dann drehte sie ein paar Runden mit ihm im Galopp. Sie merkte mit jedem Tag deutlicher, wie sie ein Gespür für den Wallach bekam, von Mal zu Mal reagierte er besser auf ihre Hilfen, und sie konnte ihn problemlos lenken, antreiben und wieder zurücknehmen. Auch wenn sie die langen Seiten der Halle dazu nutzte, ihn immer wieder vorwärts zu schicken, langsam sehnte sie sich danach, einmal sein volles Tempo auf der Bahn auszukosten. Gespannt erwartet sie Brians Rückkehr und vor allem sein Urteil, das darüber entscheiden sollte, ob es endlich soweit sein sollte.

„Was für ein Unterschied zum letzten Mal“, erklang plötzlich eine Stimme vom Tor her. Hailey fuhr herum, sie hatte sich allein gewähnt. Doch am Torpfosten lehnte Luke, die Arme verschränkt, und beobachtete sie mit dem üblichen, optimistischen Lächeln.

Sie ritt zu ihm hinüber. „Findest du?“

Seine Antwort war ein Nicken. „Wann lässt Brian dich wieder auf die Bahn?“

„Ich hoffe, sobald er zurück ist. Bisher habe ich dieses Training über mich ergehen lassen müssen.“ Hailey schnitt eine Grimasse, dann stieg sie vom Pferd und klopfte Dutch den Hals.

„Aber es scheint zu wirken.“ Luke trat zwei Schritte zu ihr, um ihr den Arm um die Hüfte zu legen. „Kriege ich auch noch ein ‚Guten Morgen‘?“

Hailey lachte. „Du bist hier doch einfach aufgekreuzt ohne mich zu begrüssen.“

„Stimmt. Guten Morgen.“ Er beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen. Seine Lippen schmeckten nach Marmelade und waren angenehm süss. Hailey hätte Luke ewig weiterküssen können, doch Dutch wurde es langsam leid, geduldig neben ihnen zu stehen, und fing an, herumzutänzeln.

„Hast ja recht, mein Junge, bringen wir dich zurück in deine Box.“

Gemeinsam schlenderten die beiden zurück zum Stall. „Hast du Alexander heute Morgen schon getroffen?“

„Bisher noch nicht. Aber das war direkt die passende Gelegenheit, dich noch ein wenig beim Training zu bewundern.“ Er lächelte sie verschmitzt an, und Hailey konnte nicht verhindern, dass sie unter seinem Blick rot anlief.

Hailey brachte Dutch in den Stall, um ihn abzusatteln, während Luke in der Stallgasse stand und sich die Pferde ansah. „Ihr habt eine beeindruckende Anlage! Alles ist so gross und hell…“

„Mein Vater hat auch weder Kosten noch Mühe gescheut“, unterbrach ihn eine zweite männliche Stimme, und Alexander kam auf sie zu, wie immer in seinen blank polierten Stiefeln, den Kragen seines Poloshirts lässig aufgestellt. „Nun, wollen wir?“

„Ich werde euch Dexter gleich nach draussen holen“, erbot sich Hailey rasch, doch Alexander winkte ab. „Lass Tim das machen.“

Verblüfft sah Hailey ihn an. Es war das erste Mal, dass Alexander eine Gelegenheit ausliess, sie wie ein Dienstmädchen zu behandeln, obwohl sie inzwischen eine ganze Weile regulär im Stall angestellt war. Seine Miene liess nicht erraten, was er dachte. „Carla müsste auch gleich dazukommen.“ Mit diesen Worten führte er Luke nach draussen, Hailey folgte stumm.

Tim hatte Dexter draussen bereits aufgestellt, der fuchsfarbene Hengste musterte unruhig seine Umgebung und wieherte immer wieder schrill nach seinen Artgenossen. Luke liess sich davon nicht beeindrucken, er musterte ihn kurz aus der Ferne, ging dann zu ihm und tastete mit fachkundigen Händen die Beine ab.

„Mit dem Stammbaum müsstest du ja vertraut sein, eine Liste seiner Trainingszeiten hat Brian dir sicherlich auch geschickt“, meinte Alexander.

„Keine Sorge, ich habe meine Hausaufgaben gemacht“, stichelte Luke zurück. Auch wenn sie nicht viele Worte wechselten, bemerkte Hailey sofort wieder die Spannung zwischen den beiden. Sie fühlte sich unbehaglich.

Luke fuhr konzentriert mit der Betrachtung des jungen Hengstes fort. „Er macht mir auf den ersten Blick einen guten Eindruck, also fackeln wir nicht lang, lass uns sehen, was er auf der Bahn kann.“

Wie aufs Stichwort kam Carla um die Ecke. „Ah, Luke, schön, dich zu sehen“, begrüsste sie ihn gut gelaunt. „Na, was hältst du von unserem Knaben?“

„Gleichfalls! Ich meinte gerade zu Alexander, dass ich bisher nichts zu beanstanden habe und ihn gerne unter dem Sattel sehen würde.“

„Na dann, wir gehen satteln“, warf Hailey eilig ein, kaum sah sie ihre Gelegenheit, der unangenehmen Atmosphäre zu entfliehen. Rasch packte sie den verwirrten Tim am Ärmel und zog ihn hinter sich her zum Stall. Sie hatte das Gefühl, Carlas amüsierten Blick im Rücken zu spüren, und sie konnte sich genau vorstellen, was sie dachte.

„Was war das denn?“ Tim zog eine Augenbraue hoch.

Hailey verdrehte nur die Augen. „Keine Ahnung, was die beiden für ein Problem miteinander haben, aber ich finde es nicht zum Aushalten.“

Tim grinste. „Kann es sein, dass mehr dahinter steckt, so, wie du dich darüber aufregst?“ Er band den Hengst in der Stallgasse fest und begleitete Hailey zur Sattelkammer, um die Ausrüstung zu holen. Jetzt war es an Hailey, verblüfft dreinzuschauen. Sie hatte nicht gedacht, dass man ihr das so deutlich ansah.

„Na komm, ein bisschen kenne ich dich inzwischen auch.“

Rasch sah Hailey sich um, ob niemand in der Nähe war. „Hör zu, das weiss noch niemand, und ich möchte, dass das vorerst so bleibt, weil ich weiss noch nicht so genau…“ Als Tim nickte und sie neugierig ansah, atmete sie tief durch und eröffnete ihm: „Luke und ich, wir… wir sind sozusagen zusammen. Wir waren in Bath zusammen aus und irgendwie… Und gestern war ich den ganzen Tag mit Alexander unterwegs, und als wir nach Hause gekommen sind, hat Luke auf mich gewartet. Die beiden waren gestern Abend schon total komisch, und ich werde das Gefühl nicht los, dass mehr dahinter steckt, dass die beiden so… kalt miteinander umgehen.“

Tim legte den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Irritiert sah Hailey ihn an.

„Tut mir leid, aber du bist so süss, wenn du das so erzählst“, neckte er sie, und Hailey lief wieder rot an. „Wieso du ausgerechnet mit Alexander aus warst, musst du mir aber erklären!“

„Na ja…“, druckste Hailey herum. „Ich wollte unbedingt Hannah besuchen, aber meine Mutter konnte mich nicht fahren. Und irgendwie bin ich gestern Abend spät am Stall auf Alexander getroffen, und er war auf einmal richtig nett zu mir. Ich meine, keine dummen Sprüche, kein herablassendes Getue, er war… ein richtiger Mensch!“ Diese Beschreibung brachte Tim erneut zum Lachen. „Und dann hat er mir einfach so angeboten, mich zu fahren. Ich fand es anfangs furchtbar, ich glaube, ich wusste gar nicht, auf was ich mich eingelassen hatte, vier Stunden mit Alexander im Auto… Aber es war erstaunlich lustig, und wir waren zusammen ausreiten. Nur dass Luke dann abends plötzlich aufgetaucht ist, war total komisch. Weil ich wusste nicht so recht, wie Luke und ich nach Bath stehen, und dann war sie Stimmung zwischen ihm und Alexander so eisig.“

„Mach dir keinen Kopf, ich glaube, die paar Male, bei denen ich erlebt habe, dass Luke und Alexander aufeinander getroffen sind, waren sie nie besonders freundlich miteinander. Wobei, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass das klassische männliche Rivalität ist“, meinte Tim altklug, während er Dutch aufzäumte.

Hailey hielt inne. „Ja, Tim, das MUSS es sein“, lachte sie ihn aus.

„Ich meine ja nur.“ Er gab Dutch einen Klaps. „Du solltest mit Alexander einfach verfahren wie bisher, zerbrich dir über die seltsamen Anwandlungen des guten Viscounts nicht den Kopf, was in seinem vorgeht, wird der Welt ohnehin ewige Rätsel aufgeben. Und nun lass uns gehen, die wundern sich bestimmt schon, wo wir so lange bleiben.“

Kapitel 12

„Bereit?“ Brian sah zu ihr hoch. Nervös nickte Hailey und zupfte die Schutzbrille zurecht. Ihre Hände zitterten, als sie den kurzen Steigbügel unter ihrem Fuss zurecht rückte.

„Hey!“ Plötzlich spürte sie Brians Hand an ihrem Bein. Die unerwartete Geste hatte etwas Beruhigendes. „Kein Grund, nervös zu sein. Beim letzten Mal hattest du keinerlei Erfahrung und hast deine Sache gut gemacht. Ich würde dich nicht wieder auf die Bahn lassen, wenn ich nicht denken würde, dass du soweit bist. Glaubst du mir das?“

Unfähig, ihrer Stimme zu trauen, nickte Hailey erneut. Brian tätschelte ihr ermutigend den Oberschenkel. Verblüfft sah Hailey dem Trainer nach, der jetzt lässig zu seinem Aussichtsturm schlenderte. Wieder einmal fiel ihr sein leichtes Hinken auf. Die Gedanken lenkten sie kurz von ihrer Aufregung ab. Erst, als Brian ihr von der Plattform aus zunickte, wurde das Flattern in ihrem Magen wieder spürbar. Ihr war schleierhaft, wieso sie auf einmal so nervös war. In Bath war es ihr so einfach vorgekommen, jetzt dagegen fühlte sie sich wie vor einer wichtigen Prüfung. Dabei kannte sie Dutch weit besser als Skyline und hatte inzwischen auch Übung mit dem Equipment. Oder wie Brian es nannte, sie hatte gelernt, mit dem Werkzeug umzugehen.

Automatisch legte Hailey die Zügel zurecht. Brians Unterricht in der Reithalle hatte tatsächlich seine Spuren hinterlassen. Ein Lächeln flog über Haileys Gesicht. Tu einfach, was du sonst auch tust. Sie atmete tief ein, dann trieb sie Dutch mit einem Schnalzen an und liess ihn in einen lockeren Galopp springen. Dieses Mal fiel es ihr von Anfang an leichter, ihre Balance zu finden. Dutch nahm einen gleichmässigen Rhythmus auf und galoppierte in ruhigem Tempo über die Sandbahn, sodass Hailey keine Mühe hatte, sich auf das zu konzentrieren, was Brian ihr beigebracht hatte. Ihr Finger glitten die breiten Zügel entlang, als sie sie ein Stück aufnahm, sich tiefer auf den Hals des Pferdes beugte, sodass die Mähne des Fuchses bei jedem Sprung ihr Gesicht streifte, und dann langsam anfing, das Pferd im Rhythmus seiner Sprünge mit ihren Händen und ihrem Körper vorwärts zu treiben. Der Wallach zuckte mit den Ohren und versuchte einen übermütigen Hüpfer, doch ein leichtes Wippen mit der kurzen Reitgerte genügte, um ihm die Faxen auszutreiben. Gemächlich kam er Haileys Aufforderung nach und verlängerte seine Sprünge.

Sie erreichten den ersten Bogen, und Brians Anweisungen folgend, lenkte Hailey Dutch dichter an die Rail. Es ging bei dem ersten Training nicht darum, für das Pferd zu profitieren, hatte Brian zu ihr gesagt, sondern darum, ihr ein Gespür für die Lenkung auf der Bahn zu vermitteln. Hailey merkte jetzt, warum Brian sie so lange in der Reithalle gequält hatte. So einfach und anstrengungslos es bei den erfahrenen Jockeys wirkte, ein Pferd bei hohem Tempo im schweren Sand zu lenken, war alles Andere als einfach – auch wenn es sich bei Dutch um ein erfahrenes Rennpferd handelte. Damals auf der Grasbahn in Bath war sie so aufgeregt gewesen, überhaupt auf die Bahn zu dürfen, dass ihr das gar nicht aufgefallen war. Jetzt mit Brians Unterricht wurde es ihr umso bewusster, und sie war froh, dass der Trainer so lange an Details herumgemäkelt hatte.

Wieder auf der Geraden trieb Hailey den Wallach wieder an und lenkte ihn in Richtung Mitte der Bahn. Dieses Mal folgte Dutch sofort ihrer Aufforderung, und es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Mit einem Ruck wurde Hailey zurück in den Sattel gedrückt und sie musste in die Mähne greifen, um sich halten zu können, als der Wallach jetzt weit ausgriff, die Ohren anlegte und kraftvoll abdrückte. Es dauerte einen Augenblick, bis Hailey ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte, und ihr Magen krampfte sich kurz angstvoll zusammen, doch das Gefühl verschwand sofort wieder, kaum stand sie sicher in den Bügeln über dem Sattel, ihre Arme schoben das vor Anstrengung und Aufregung schnaubende Pferd unter ihr im Takt vorwärts. Trotz Schutzbrille trieb der Wind ihr Tränen in die Augen, und alles, was sie hörte, waren der Rhythmus von Hufen und das schneidende Pfeifen des Windes, während der Sandboden unter ihnen dahinflog.

Erst, als sie den Aussichtsturm aus dem Augenwinkel an sich vorüber wischen sah, bremste sie den Wallach ab. Es dauerte einen Moment, bis er aus dem hohen Tempo abbremsen musste, und Hailey musste einiges an Kraft aufwenden, um in den Bügeln stehen zu bleiben und das Pferd halten zu können. Erst Anfang des Bogens hatte sie Dutch wieder durchpariert und wendete ihn, um im Trab zu Brian zurückzukehren, der sich seinen Weg die Treppe hinunter bahnte. Er erwartete sie an der Seite von Carla und Luke, die sie beide mit einem breiten Grinsen anschauten. Hailey konnte nicht anders, als zurück zu grinsen.

Brian hatte die Arme verschränkt und wendete den Blick nicht von ihr. Seine Miene war unleserlich, doch Hailey hatte das Gefühl, ein feines Lächeln um seine Mundwinkel spielen zu sehen. Sie brachte Dutch vor ihnen zum Stehen. Brian bedachte sie mit einem knappen Nicken. „Wir sehen uns morgen. Sechs Uhr.“

Damit wandte er sich ab und trat zum nächsten Reiter, der gerade die Bahn betreten hatte. Zu Hailey kam ein Pfleger, der eine Führkette in Dutchs Trense einklinkte. Hailey schluckte. Sie konnte nicht verhindern, dass Enttäuschung in ihr aufstieg. Eigentlich hatte sie von Brian mehr erwartet, einen Kommentar oder eine hilfreiche Kritik. Carla schien Haileys Unmut zu spüren, denn sie lächelte sie aufmunternd an. „Langsam solltest du mit seinen Launen doch vertraut sein. Er hatte nichts zu meckern, das ist doch gut! Und er will dich morgen beim Training sehen, da kannst du einiges drauf geben.“

„Wenn du mich fragst, du hast fantastisch ausgesehen!“, meldete Luke sich mit einem Augenzwinkern zu. Hailey grinste, schwang ihr Bein über den Hals des Pferdes, sodass sie wie von einer Rutschbahn in seine Arme gleiten konnte. Er küsste sie auf die Wange.

„Na, wenn du etwas Anderes behaupten würdest, müsste Hailey dich wohl in den Wind schiessen“, kommentierte Carla sarkastisch.

„Ich werde mich hüten“, grinste Luke zurück. Zu dritt machten sie sich auf den Weg zurück zum Stall, während der Pfleger Dutch führte.

Carla musterte Luke neugierig. „Und, weisst du schon, was du wegen Dexter machst?“

„Ich muss gestehen, ich bin unsicher. Er scheint ein gutes Pferd zu sein, läuft sehr solide und hat eine gute Abstammung. Aber irgendetwas fehlt mir an ihm… Ich werde ihn nachher selber einmal reiten, sofern Brian nichts dagegen hat. Vielleicht werde ich dann warm mit ihm.“ Er zuckte die Schultern. „Simon sucht seinen nächsten Champion, und auch wenn Dexter ein Kandidat ist, um auf die vorderen Plätze zu laufen, ich habe nicht das Gefühl, dass er das Ausnahmetalent ist, das Simon haben will.“

„Simon will wie immer die Stecknadel im Heuhaufen, was?“

„Er investiert aber auch die Zeit und das Geld dafür, diese Stecknadel zu finden. Und seien wir ehrlich, eigentlich sind wir alle immer auf der Suche nach diesem einen Pferd“, sinnierte Luke. Carla lachte. „Darum geht es doch in diesem Sport! Aber was Dexter anbelangt, da bin ich deiner Meinung, er ist ein nettes Pferd, nur der Funken springt nicht.“

Sie waren beim Stall angelangt, und Luke nahm mit einem Seufzen den Arm von Haileys Schultern. „So gern ich bei dir bleiben würde, ich muss mich darum kümmern, weswegen ich hier bin, und mit dem Grafen sprechen. Wir sehen uns nachher.“ Er küsste sie leicht auf die Lippen und lächelte ihr zu, dann verschwand er Richtung Schloss. Carla grinste Hailey wissen an, doch sie sagte ausnahmsweise nichts. Diese schüttelte bloss den Kopf.

Inzwischen war es kurz vor Mittag, die meisten Jockeys und Pfleger waren schon zum Mittagessen ins Schloss hinüber gegangen, sodass auf der Anlage kaum noch Betrieb herrschte. Hailey machte sich auf den Weg hinüber zum Reitpferdestall. Da Luke beschäftigt war und es sonst nichts für sie zu tun gab, beschloss sie kurzerhand, Ragazzo für einen Ausritt aus dem Stall zu holen. Neben dem Training und der ganzen Aufregung mit Luke war der Wallach in den letzten Tagen etwas zu kurz gekommen.

Er begrüsste sie schon mit seinem üblichen freundlichen Brummeln. Hailey tätschelte ihm den Hals, dann holte sie sein Sattelzeug. Mit geübten Handgriffen sattelte sie auf und legte ihm das Zaumzeug an. Ein Lächeln glitt über ihre Lippen, als sie wieder einmal realisierte, wie automatisch sie dies alles tat, so oft hatte sie schon Gurtstrippen geschlossen und Pferde aufgetrenst.

Sie sass im Hof auf und schlug den Weg ein, der durch das dichte Waldstück, das eine natürliche Grenze um das Gut bildete, hinaus auf die Felder führte. Hier konnte man meilenweit über die gelblichen Wiesen galoppieren, ohne irgendjemandem zu begegnen, ausser einigen Schafen und Kühen. Immer wieder durchschnitten niedrige Steinmauern und malerische Holzzäune die Landschaft, die zum Springen nur so einluden.

Sobald Ragazzo sich warm gelaufen hatte, liess Hailey ihn angaloppieren. Der Wallach schnaubte begeistert im Takt zu seinen Galoppsprüngen, und Hailey liess ihn sein Tempo laufen. Das Gras unter seinen Hufen raschelte leise bei jedem Schritt, der Wind rauschte in ihren Ohren. Es war dieses Freiheitsgefühl, das sie so liebte. Sie stellte sich in die Steigbügel und hielt auf eine Mauer zu, die Ragazzo ohne zu zögern übersprang. Ein Lächeln glitt über Haileys Gesicht. Das hatte sie vermisst!

Ihr Weg führte sie um einen sanften Hügel herum über eine grasbewachsene Ebene in Richtung Küste. Die Hindernisse, die immer wieder vor ihnen auftauchten, nahm Ragazzo, als wären sie gar nicht vorhanden. Der Wallach buckelte übermütig vor Freude, sodass Hailey ihn bremsen musste, doch das Lachen stand ihr ins Gesicht geschrieben. In der Ferne konnte sie bereits die steil abfallenden Klippen erkennen, dort, wo das Land einfach aufhörte und es zwanzig Meter in die Tiefe ging, direkt auf die bewegte See hinaus, die Hailey von hier aus sehen konnte. Am Horizont verschmolz das Meer mit dem stahlblauen Himmel.

Hailey parierte ihr Pferd durch und klopfte seinen verschwitzten Hals. „Du geniesst es auch, was?“

Ragazzo hob mit einem Mal den Kopf, spitzte aufmerksam die Ohren und stiess ein schrilles Wiehern aus. Als ein zweites Wiehern zur Antwort kam, wurde sich Hailey gewahr, dass sie nicht allein war. Sie fuhr im Sattel herum. Auf dem Hügel, den sie soeben umrundet hatte, stand – gleich einer Statue – ein imposanter Schimmel. Hailey kniff die Augen zusammen und erstarrte, als sie Princeton erkannte. Alexander sass regungslos im Sattel, den Kopf ihr zugewandt, und liess seinen Blick auf ihr ruhen. Zumindest hatte Hailey das Gefühl, genau erkennen konnte sie es auf diese Distanz nicht. Doch aus unerklärlichen Gründen jagte es ihr ein Schaudern über den Rücken. Sie traute ihren Augen kaum, als Alexander jetzt die Hand hob und ihr kurz zuwinkte. Die Geste hatte etwas Zögerliches, Angespanntes, und Hailey wusste für einen langen Augenblick nicht, ob sie sie erwidern sollte, doch dann hob sie ebenfalls grüssend die Hand.

Alexander verharrte einen Augenblick, dann wendete er Princeton ab und trabte in entgegengesetzte Richtung davon, bis er hinter dem Hügel aus Hailey Blick verschwunden war. Diese schüttelte verwirrt den Kopf. Alexander von Outmoor hörte einfach nicht auf, sie zu erstaunen.

 

Mit einem leichten Frösteln zog Hailey die Regenjacke enger um ihre Schultern. Draussen erwarteten sie Nebel und ein unangenehmer Nieselregen. Vom Sommer war nicht viel spürbar. Sie beeilte sich heute doppelt, in den schützenden Stall zu kommen, und bahnte sich ihren Weg zur Sattelkammer. Wie immer sassen die Jockeys über ihrem Kaffee, unter ihnen auch Ben Scott, Carla und Luke, bei dessen Anblick Haileys Herz einen aufgeregten Hüpfer machte. Er schenkte ihr sein übliches breites Lächeln, als sie eintrat.

„Guten Morgen“, grüsste sie in die Runde, ihre Laune besserte sich schlagartig. Carla drehte sich auf ihrem Stuhl zu ihr um und nickte zum Brett hinüber. „Brian hat heute anscheinend ganz schön was vor mit dir.“

Neugierig trat Hailey an die Tafel. Schon nach einem kurzen Blick setzte ihr Herz zum zweiten Mal an diesem Morgen für einen Schlag aus. Neben Dutch leuchteten ihr noch bei zwei weiteren Pferden gross und schwarz auf dem weissen Brett die Initialen HS entgegen – Hailey Steinfeld. „Das ist nicht sein Ernst?“

„Anscheinend doch.“ Mit einem Mal war Luke hinter ihr und küsste sie auf die Wange, die Hände an ihre Taille gelegt. Hailey hatte Mühe, sich zu konzentrieren, seine Nähe machte sie noch immer nervös. Wie er jetzt so dicht bei ihr stand, verlor sie immer wieder den Faden dabei, die Namen der beiden ihr zugeteilten Pferde herauszufinden. Dabei handelte es sich um Skyline, den Schimmelhengst, und eine Stute mit dem Namen Orchidea, die neu im Stall war. Mit ihr war sie gleich als Erste eingeteilt. Ein rascher Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie gerade noch eine halbe Stunde Zeit hat. In ihrem Magen breitete sich schon wieder das flaue Gefühl der Nervosität aus.

„Alles ok? Du bist ein bisschen blass um die Nase“, neckte Carla sie. Hailey schnitt eine Grimasse. „Ich werde mich dann mal mit der Dame bekannt machen.“ Rasch flüchtete sie aus der Sattelkammer, weg von den neugierigen Blicken der anderen Jockeys.

„Wirst du wohl auf mich warten?“, schimpfte Luke belustigt hinter ihr. Sie blieb stehen und drehte sich um. „Entschuldige!“

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen raschen Kuss auf die Lippen zu drücken. Luke grinste sie an. „So gefällt mir das schon besser.“

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg hinüber zum Stutenstall. Dort herrschte geschäftiges Treiben, die Pfleger waren gerade dabei, die Pferde zu putzen, damit sie für das morgendliche Training bereit wären. Orchideas Boxe stand halb offen, der Rennsattel hin bereits über der Türe bereit. In der Boxe neben der Stute stand Tim, das Putzzeug in der Hand, während er gerade mühsam ein Gähnen unterdrückte. Hailey verkniff sich ein Lachen. „Guten Morgen!“

„Guten Morgen. Du hast also die Ehre mit ihr?“

Hailey betrachtete misstrauisch die Dunkelbraune. „Du sagst das, als wäre es was Schlechtes.“

Tim hob beschwichtigend die Hände. „Wenn sie auf der Bahn genauso faul und phlegmatisch ist wie in der Box, wird das der gemütlichste Spazierritt deines Lebens.“ Er klopfte der Stute den Hals, die aus ihrem dösigen Halbschlaf aufschreckte und den beiden Neuankömmlingen gemächlich den Kopf zuwandte. Sie war keine Schönheiten mit dem leichten Ramskopf, der zu klein für ihren Körper schien, doch sie hatte ein freundliches Auge. Zumindest, soweit Hailey das erkennen konnte, denn Orchidea schloss die Augen so schnell wieder, wie sie sie geöffnet hatte.

Hailey unterdrückte ein Seufzen. Mit temperamentvollen Pferden war sie immer besser zurecht gekommen als mit solchen, aus denen man jeden Schritt heraus prügeln musste.

„Ihr zwei werdet bestimmt gut klar kommen“, meinte Luke zuversichtlich, was Hailey einerseits süss von ihm fand, doch der gespielte Optimismus nervte sie auch gewaltig. Doch Brian wollte es so, und an seinen Entscheidungen gab es kein Rütteln. Also liess Hailey sich die Stute von Tim satteln, der sie und Luke dann mit dem Pferd zur Bahn begleitete.

Brian wartete bereits in einer für ihn aussergewöhnlich guten Stimmung. „Fit?“

Die Nervosität breitete sich schon wieder in Hailey aus wie ein Strom. Sie nickte nur knapp, und Brian grinste, als würde er ihre Gedanken ahnen. Er bedeutete Tim mit einer Geste, ihr aufs Pferd zu helfen. Dieser grinste Hailey ermutigend an, als er ihr Bein nahm und sie kurzerhand aufs Pferd warf.

„Gut, dann wollen wir mal sehen, wie die Dame sich so macht. Sie hat ein wenig Motivationsprobleme, sieh erst mal zu, dass du sie auf Touren bekommst“, wies Brian an und machte sich dann wie üblich auf den Weg nach oben zu seiner Aussichtsplattform, begleitet von Luke.

Hailey hatte genauere Anweisungen erwartet, doch Brian schien das zu genügen. „Also, Hübsche, los geht’s.“ Sie wendete die Stute in Richtung Bahn und liess sie angaloppieren. Doch Orchidea liess sich kaum zu mehr als einem gemütlichen Schaukelgalopp überreden. Hailey runzelte die Stirn. Wie konnte so ein Pferd auf der Rennbahn zu gebrauchen sein?

Auch auf ihr aufforderndes Schnalzen und Treiben mit den Händen reagierte die Stute nicht, erst, als Hailey sie einmal sanft und zwei Mal fester mit der Gerte aufweckte, verlängerte sie ihre Sprünge ein wenig. „Dich würde ja Ragazzo überholen“, schimpfte Hailey mit dem Pferd. „Na, los, komm, Mädchen, komm!“

Es bedurfte ihres vollen Körpereinsatzes, um die Stute vorwärts zu bekommen, und bereits auf der zweiten Geraden war Hailey nass geschwitzt. Der Schweiss sammelte sich auf der Innenseite ihrer Schutzbrille und lief ihr in die Augen, doch Orchidea nahm ihre Bemühung kaum ernst. Erst bei der dritten Runde liess sie sich überreden, ein wenig mehr Tempo aufzunehmen, während Hailey ihre Oberschenkel bereits nicht mehr spürte.

Bis sie Orchidea endlich bei Brian durchparierte, erfüllte ein dumpfes, schmerzhaftes Pochen ihren Körper, das einen gewaltigen Muskelkater versprach. Brian erwartete sie, die Arme verschränkte, und um seinen Mund spielte tatsächlich ein Grinsen. „Gut. Ich hätte weniger erwartet. Wir sehen uns in einer halben Stunde mit dem nächsten Pferd.“

Hailey traute ihren Ohren kaum, doch um ihrem Frust Luft zu machen, fehlte ihr die Energie. Kraftlos liess sie sich vom Pferd gleiten und nahm den Helm ab, um sich die verschwitzten Haare zurück zu streichen. Die Aussicht, noch zwei weitere Pferde reiten zu müssen, entlockte ihr nur ein Stöhnen.

Luke gesellte sich zu ihr, den gleichen dümmlich-grinsenden Ausdruck im Gesicht wie Brian, als würde er sich über einen Insider-Witz amüsieren. Der wahrscheinlich ich bin, dachte Hailey frustriert. Doch Luke schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln, was sie gleich wieder versöhnlicher stimmte. „Glaub mir, du wirst nicht nur einfache Pferde zu reiten bekommen. Vor allem am Anfang wird es jede Menge Pferde wie Orchidea geben. Sieh es einfach als Übung!“

Hailey verzog das Gesicht. „Ich werde diese Übung noch wochenlang spüren.“ Die Bemerkung brachte Luke zum Lachen.

Kapitel 13

„Müde?“, fragte Luke mit einem hörbaren Grinsen.

„Hmm“, brummte Hailey nur schläfrig, ohne die Augen zu öffnen. Es war ein angenehm warmer Nachmittag, sodass Luke und Hailey hatten nach dem Training kurzerhand beschlossen, mit einem Picknickkorb den Schlosspark zu erkunden. Hinter der Gartenanlage und den Golfplätzen waren sie an einen idyllischen kleinen See gelangt, der fernab von allem in völliger Stille lag, umgeben von einigen hohen Weiden. Hailey wusste nicht, wieso sie diesen Platz nicht schon früher entdeckt hatte, seit dem Park in Bath war es einer der schönsten Orte, die sie je gesehen hatte. Trotz ihrer schmerzenden Beine hatte sich der Marsch hierher gelohnt. Obwohl Skyline und Dutch ihr im Gegensatz zu Orchidea kaum Probleme bereitet hatten, fühlten ihre Beine sich nach dem dritten Pferd an wie Pudding, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Langsam ahnte sie, wieso Carla und die anderen Jockeys so viel Zeit neben dem Reiten mit Fitness- und Krafttraining zubrachten.

Mit einem wohligen Seufzen kuschelte sie sich tiefer in Lukes Arme. Es war ein schönes Gefühl, einfach mit ihm an den Baumstamm gelehnt dazusitzen, seine Wärme zu spüren und den gleichmässigen, beruhigenden Herzschlag zu hören. Es erstaunte sie immer wieder, wie schnell sie so vertraut miteinander geworden waren. Nachdem sie ihren ersten Ärger überwunden hatte, war es ihr leicht gefallen, plötzlich alles durch die rosa Brille zu sehen. Momentan kam ihr alles mit Luke neu, aufregend und wunderschön vor.

„Weisst du was? Sobald wir mal ein Wochenende Zeit haben, besuchen wir meinen Vater auf seinem Gestüt. Ich würde es dir zu gerne zeigen“, bemerkte Luke.

„Wenn wir mal ein Wochenende Zeit haben“, warf Hailey ein. Luke antwortete mit einem Seufzen. Hailey graute jetzt schon vor dem nächsten Tag, da ihr der Abschied von Luke bevorstand. Und sie hatte keine Ahnung, wann sie ihn wiedersehen würde. Sie erinnerte sich an seine Worte damals in Bath, dass es kein einfacher Lebensstil war, den er sich ausgesucht hatte. Wie recht er damit hatte, wurde ihr erst jetzt klar.

Er beugte sich über sie, sodass sie ihn ansehen konnte. „Wir werden uns die Zeit einfach nehmen. Mein erstes freies Wochenende gehört ganz dir!“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Hailey lächelte verzückt. Sie liebte es, wenn er das tat.

„Sonst werde ich einfach zu einem deiner Rennen kommen müssen.“

„Als mein Groupie?“ Luke grinste sie frech an. Hailey drehte sich um und boxte ihn spielerisch in den Oberarm. „Ich will doch hoffen, dass ich mehr als ein Groupie bin!“

Er lachte und sah sie verträumt an, sodass Hailey förmlich dahin schmolz. „Bestimmt!“

Zufrieden drehte sie sich wieder um und lehnte sich an seine Brust. Luke streichelte ihr sanft mit dem Daumen über die Hand. „Irgendwie funktioniert das schon. Ganz bestimmt!“

„Du ewiger Optimist!“, schalt Hailey ihn mit einem Lachen. Doch innerlich hoffte sie inständig, dass er recht hatte.

 

Der Abschied von Luke am nächsten Morgen fiel äusserst knapp aus, da er in aller Frühe los fuhr, und Hailey beinahe zu spät zum Training kam. Wahrscheinlich war es jedoch besser so, da Hailey so bereits einen Kloss im Hals hatte, und sie eigentlich schon am See Abschied genommen hatten. Sophia hatte zu ihr gesagt, dass das Beste wäre, sich mit Arbeit einzudecken und auf andere Gedanken zu kommen, und genau das war Hailey fest entschlossen zu tun.

Doch Orchidea verpasste ihrer neu gefundenen Motivation gleich in der ersten Minute einen Dämpfer. Die Stute schien Hailey heute noch schwieriger vorwärts zu bekommen als bei ihrem ersten Versuch, und trotz aller Bemühungen lief sie bis zum Ende des Trainings nur mässig schneller, was Hailey beinahe zur Verzweiflung brachte. Doch Brian schien das nicht wirklich zu kümmern, er nickte bloss mit demselben Grinsen wie am Tag zuvor und schickte sie von der Bahn.

Dutch und Skyline lernte Hailey dafür immer mehr zu schätzen, mit den beiden Pferden war das Training eine wahre Freude. Dutch war nach wie vor ihr Lehrpferd, auf dem Brian sie vor allem Lenkung und Hilfengebung üben liess, während sie bei Skyline konkretere Trainingsanweisungen von ihm erhielt. Der Schimmelwallach bereitete ihr den grössten Spass, obwohl erfahren, war er nicht ganz so abgeklärt wie Dutch und hatte doch ordentlich Temperament.

Die ganze Woche über liess Brian sie mit den drei Pferden arbeiten, bis er sie schliesslich eines Morgens ausgerechnet mit Orchidea für das Training mit zwei anderen Reitern einteilte. Hailey stöhnte nur, als sie davon erfuhr.

„Was hat er vor, soll ich lernen, wie man meilenweit hinter anderen Pferden zurück bleibt?“, seufzte sie genervt, während sie sich mit George auf den Weg zu den Ställen machte.

Dieser zuckte die Schultern. „Du wirst bald merken, dass Brian mit all seinen Aktionen irgendetwas bezweckt. Was, das erschliesst sich manchmal selbst mir nicht. Aber ich glaube, Orchidea könnte euch alle überraschen.“ Der alte Stallmeister schenkte ihr ein wissendes Lächeln und klopfte ihr auf die Schulter.

„Ich weiss nicht mal, was er genau damit bezweckt, mir dieses Pferd zum Reiten zu geben. Ganz offensichtlich passen wir einfach nicht zueinander, ich bekomme sie kein bisschen vorwärts“, beklagte sich Hailey.

George lachte. „Oh, nicht jedes Pferd, das du bekommen wirst, wird so ein Zuckerschlecken sein wie Skyline oder Dutch. Das ist die erste Lektion, die Brian dir durch Orchidea vermitteln will.“

Hailey dachte kurz über seine Worte nach. „Aber das müsste ich doch inzwischen gelernt haben. Warum muss ich mich weiterhin mit ihr abmühen?“

„Anscheinend hast du es doch noch nicht gelernt. Auf einfachen Pferden wirst du nicht reiten lernen“, kommentierte George. Sie wurden unterbrochen von Tim und einem weiteren Pferdepfleger, die Orchidea und Daisy Town, Ben Scotts Pferd, heran führten. Ben folgte, die Reitgerte locker in der Hand schlenkernd. „Morgen“, begrüsste er Hailey und George gut gelaunt und fügte dann an Hailey gewandt hinzu: „Wir haben heute also das Vergnügen?“

„Na, ob das ein Vergnügen wird, wird sich zeigen“, meinte Hailey sarkastisch.

„Lass es uns heraus finden!“

Hailey verabschiedete sich mit einem Winken von George und folgte Ben zur Bahn. Dort wartete ein weiterer Jockey auf sie, Juan, der bereits auf seinem Pferd sass. Hailey und Ben liessen sich ebenfalls auf ihre Pferde helfen. In der Zwischenzeit hatte sich Brian zu ihnen gesellt. „Wir wollen heute mal für ein wenig Konkurrenzkampf sorgen. Das sind alles Pferde, die ich im Training bisher nur alleine laufen gesehen habe, also will ich gerne sehen, wie sie sich mit anderen verhalten. Die ersten zwei Furlongs sind zum Aufwärmen, dann geht ihr über eine Meile mit einem schnellen Finish.“ Er wandte sich ab, bevor Hailey fragen konnte, wie das genau ablaufen würde. Konsterniert sass sie im Sattel zurück. Ben kam ihr zu Hilfe. „Keine Sorge, folge mir einfach, dann kann nichts schief gehen. Der Plan ist, dass wir auf den ersten zwei Furlongs etwa gleichauf bleiben und ein lockeres Tempo gehen, und beim Viertel-Meilen-Pfosten starten wir dann durch.“

„Danke!“ Hailey lächelte ihn erleichtert an und er nickte ihr zu. Juan warf ihnen einen ungeduldigen Blick zu. „Gehen wir endlich oder was?“

„Keine Eile, Juan“, beruhigte Ben ihn. Hailey lenkte Orchidea hinter Daisy Town auf die Bahn und liess die Stute angaloppieren. Ben und Juan liessen ihre Pferde so langsam laufen, dass Hailey vorerst kein Problem hatte, zu ihnen aufzuschliessen, obwohl Orchidea wie üblich kaum zu motivieren war. Doch anders als sonst fiel Hailey heute das unruhige Ohrenspiel der Stute auf. Sie ritt an der Innenseite, Ben neben ihr und Juan ganz aussen.

So kamen sie in den Bogen, der Pfosten kam immer näher, und Hailey spannte sich innerlich an. Orchidea schien es zu bemerken, ein nervöses Zittern lief durch den Körper der Stute.

Juan fing an, Tempo zu machen, er trieb seinen Fuchswallach als erstes an und schob sich vor Ben und Hailey. Auch Ben nahm Tempo auf und liess Hailey mit Orchidea allein zurück. Sie war unsicher, ob sie ebenfalls versuchen sollte, die Stute zu pushen, oder sie vorerst weiter ihr Tempo laufen lassen sollte. Doch Orchidea nahm ihr die Entscheidung ab. Mit immer längeren Galoppsprüngen setzte sie den beiden anderen Pferden nach und war schnell wieder an ihnen dran. Hailey nahm die Stute etwas zurück und konnte sich ein Grinsen nicht verwehren, als die Stute sich jetzt nur mit Widerwillen bremsen liess. Nie hätte sie gedacht, Orchidea einmal halten zu müssen.

Sie behielt die Strategie bei, sich etwas hinter Juan und Ben zu halten, obwohl Orchidea unter ihr vorwärts drängte. Die beiden anderen galoppierten jetzt dicht nebeneinander vor ihr an der inneren Bande und trieben ihre Pferde immer schneller vorwärts. Innen führte kein Weg an ihnen vorbei, wenn sie sich an die Spitze setzen wollte, musste Hailey also aussen herum. Lange Zeit änderte sich an dieser Konstellation nicht, bis sie schliesslich eine Meile erreicht hatten. Orchidea bebte jetzt förmlich vor Erregung, sie wartete förmlich darauf, endlich laufen zu dürfen. „Na dann, geh endlich, geh!“, forderte Hailey die Stute auf.

Mit gewaltigen Sprüngen holte Orchidea zu den anderen Pferden auf. Hailey lenkte sie nach aussen, sodass ihr der Weg an Ben vorbei frei war. Der wandte sich rasch im Sattel um und Hailey erkannte seinen überraschten Blick. Orchidea war mit wenigen Galoppsprüngen neben Daisy Town, die auf die Aufforderung ihres Reiters hin ebenfalls an Geschwindigkeit zulegte. Rasch hatten sie Juan hinter sich gelassen, es war nun zwischen Hailey und Ben, diesen Kampf auszufechten, und Hailey spürte, wie sich jeder Muskel im Pferd unter ihr anspannte. Das Adrenalin rauschte durch ihren Körper, sie fühlte sich, als würde sie fliegen. Es gab nur noch sie und ihr Pferd und die Bahn unter ihnen. Orchidea kämpfte um jeden Zentimeter, die Stute lief mit einem Tempo, das Hailey ihr niemals zugetraut hätte. Nie hatte sie bei Dutch oder Skyline so einen eisernen Willen gespürt wie jetzt bei Orchidea.

Doch Daisy blieb stetig an ihrer Seite, man hatte den Eindruck, dass es ihr keinerlei Mühe bereitete, Orchideas Geschwindigkeit zu halten. Hailey warf einen kurzen Blick zu Ben hinüber. Sie war sich nicht sicher, ob Orchidea das Tempo bis zum Schluss halten konnte. Die beiden Pferde blieben ein ganzes Stück gleichauf, bis Daisy sich schliesslich auf den letzten Metern nach vorne schob und mit einer halben Länge Vorsprung den Zielpfosten passierte.

Hailey drehte sich kurz nach Juan um, der ein ganzes Stück hinter ihnen galoppierte. Ben bremste Daisy langsam ab und liess sie im Trab auslaufen, Hailey tat es ihm gleich. Als sie wieder auf gleicher Höhe mit ihm war, drehte er sich im Sattel zu ihr um. „Das war ein Finish!“

Hailey konnte ihr Grinsen kaum verbergen und klopfte Orchidea den nassgeschwitzten Hals, während sie im Trab zu Brian zurückkehrten. Der Gesichtsausdruck des Trainers war unleserlich, Hailey fragte sich, was er wohl denken mochte. Sie parierten ihre Pferde bei ihm durch. Es musterte die beiden Reiter einen Moment, dann meinte er an Hailey gewandt: „Das war… unerwartet.“ Seine kühlen blauen Augen ruhten unverwandt auf ihr. „Weisst du, weshalb du verloren hast? Du hast es im entscheidenden Moment nicht genug gewollt. Orchidea war mit dir auf dem ganzen Weg, du hättest sie nur bitten müssen.“

Sprachlos starrte Hailey ihn an. Sie hatte eigentlich den Eindruck gehabt, ihre Sache nicht schlecht gemacht zu haben. Doch alles, was Brian ihr zu sagen hatte, war, dass sie verloren hatte. Sie schluckte das Gefühl von bitterer Enttäuschung mühsam herunter.

Brian wechselte ein paar Worte mit Ben, dann wandte er sich Juan zu.

„Gehen wir zurück?“, fragte Ben und lenkte Daisy Richtung Ausgang. Hailey folgte stumm.

 

„Der Graf will dich sprechen.“ Carlas feuerroter Haarschopf streckte sich um die Ecke.

„Mich?“, fragte Hailey erstaunt und hielt inne. Sie hatte gerade Ragazzo fertig geputzt, in Gedanken noch immer bei Brians Kritik. Carla nickte und zuckte gleichzeitig die Achseln. Hailey machte grosse Augen. „Wann? Wo? Muss ich etwas Anderes anziehen?“ Sie sah an ihren dreckigen Stallklamotten hinunter.

Carla winkte ab. „Geh nur so hin, wir machen das auch immer. Um diese Zeit findest du ihn immer in seinem Büro, geh einfach durchs Haupttor rein, von dort bringt dich jemand hin.“

Eilig legte Hailey ihr Putzzeug weg, zog ihr Poloshirt zurecht und wischte sich den gröbsten Staub von der Hose, bevor sie sich auf den Weg zum Schloss machte. Wie Carla sie angewiesen hatte, ging sie hinüber zum Haupttor, wo sie von einem livrierten Diener nach ihrem Anliegen gefragt wurde. Als sie es ihm erklärte, schickte dieser sofort nach James Mornington.

Der Butler des Grafen war wie immer ganz in schwarz gekleidet, im Gegensatz zum Rest der Dienerschaft, die das Jagdgrün des gräflichen Wappens trugen. Er lächelte Hailey freundlich zu, dann wies er sie mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen. Es ging verschiedene Treppen hoch und Korridore entlang, durch die eine oder andere Tür, bis James schliesslich an eine schwere Holztür klopfte, die er dann für Hailey öffnete. Zwei Schritte, und sie stand im Büro des Earl of Outmoor. Und kam aus dem Staunen kaum heraus. Es war mehr eine Bibliothek als ein Büro, die Wände zu beiden Seiten waren mit dunklen Holzregalen ausgekleidet, auf denen sich Buch an Buch reihte. Die meisten machten einen alten und äusserst kostbaren Eindruck. Der Boden war mit einem dicken, dunkelgrünen Teppich belegt, der ihre Schritte unhörbar machte.

James räusperte sich und kündete an: „Eure Lordschaft, Miss Hailey Steinfeld.“

Der Graf erhob sich aus seinem mit Samt gepolsterten Sessel hinter dem massiven dunklen Schreibtisch und winkte Hailey heran. Seine Gestalt hob sich dunkel gegen die ausladende Fensterfront in seinem Rücken ab. James zog sich diskret zurück. Etwas zögerlich ging Hailey auf den Schreibtisch zu. Dieser wirkte fast steril im Gegensatz zu den vollgepackten Regalen, einzig zwei Pokale und zwei fein gearbeitete Bilderrahmen zierten ihn. Dafür waren zu beiden Seiten auf langbeinigen Ständern Ölgemälde aufgestellt, beide zeigten elegante Vollblüter, das eine war ein langbeiniger Dunkelbrauner, im anderen erkannte Hailey Legendary Warcry.

„Hailey“, begrüsste der Graf sie. Sie fuhr schon bei der Erwähnung ihres Namens zusammen, so nervös war sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, was der Graf von ihr wollen konnte. Als sie die beiden hohen Ohrensessel erreicht hatte, die vor dem Schreibtisch standen, bemerkte sie, dass sie nicht allein waren. In einem der Sessel sass Brian. Augenblicklich schlug Haileys Nervosität in Angst um. Hatte sie etwas falsch gemacht?

Der Graf machte eine einladende Geste zu dem zweiten Sessel. „Bitte, setz dich. Wir haben einiges zu besprechen."

Nach kurzem Zögern liess Hailey sich in den Sessel neben Brian fallen. Dieser hatte entspannt die Beine übereinander geschlagen und musterte abwartend den Grafen. Hailey rutschte unbehaglich in dem gepolsterten Sessel hin und her.

„Ich hatte in Bath ja schon erwähnt, dass ich es gerne sehen würde, wenn du offiziell für uns arbeitest. Das beinhaltet natürlich auch eine ordentliche Entlohnung. Allerdings… Mir behagt nicht bei dem Gedanken, jemand mit deinem Talent als Stallmädchen anzustellen.“ Der Graf hielt inne und warf Brian einen Blick zu. „Wie ich vernommen habe, hat Brian angefangen, dich auf eine Laufbahn als Jockey vorzubereiten. Wir können immer junge, talentierte Leute brauchen. Und die ersten Versuche scheinen ja mehr als vielversprechend.“

Erstaunt sah Hailey zu Brian hinüber. Sie konnte sich nach seiner kritischen Bemerkung vom Morgen kaum vorstellen, dass Brian das gesagt haben sollte.

Der Graf fuhr fort: „Wenn du ernsthaft diesen Berufsweg anstreben solltest, dann müssen wir uns Gedanken um deine Ausbildung machen. Das heisst, du wirst eine Lizenz brauchen, um offiziell bei uns als Lehrling arbeiten zu dürfen und Rennen reiten zu können. Was wiederum bedeuten würde, dass du die nötigen Schulungen der British Racing School besuchen müsstest. Brian würde sich einverstanden erklären, danach dein Mentor zu werden, was ich vollkommen unterstütze. Natürlich solltest du dir sicher sein, dass es das ist, was du willst. Das würde bedeuten, dass du die Grammar School aufgeben müsstest. Für eine Lehrlingslizenz musst du nämlich bei einem Trainer in Festanstellung sein. Daneben wirst du keine Zeit für eine normale Schulbildung haben. Deine Mutter müsste selbstverständlich auch ihr Einverständnis geben, bevor irgendetwas entschieden wird!“

Hailey schwirrte der Kopf von all diesen Informationen. Das war so gar nicht das, was sie von dieser Unterhaltung hatte, und sie war erst einmal sprachlos.

„Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass das alles sehr überraschend kommt.“ Der Graf schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. „Es ist ein sehr grosser Schritt, du bist ja noch sehr jung und sollst jetzt schon entscheiden, in welche Richtung dein Leben später gehen soll. Ich verstehe, wenn du erst einmal Zeit brauchst, um dir alles durch den Kopf gehen zu lassen und mit deiner Mutter zu besprechen. Das hier war ja auch ein… ziemlicher Überfall.“

Langsam nickte Hailey. Ihr fiel auf, dass sie bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte, und sie kam sich ziemlich dumm vor. „Äh…“, brachte sie schliesslich hervor. „Das werde ich.“

Mit zufriedener Miene erhob sich der Graf, Brian folgte. Hailey sprang ebenfalls sofort auf ihre Füsse. Der Graf zog aus einer Schreibtischschublade einen Stapel Unterlagen, die er Hailey über den Tisch hinweg reichte. „Brian war so freundlich, dich mit allen Informationen zu versorgen, so kannst du in Ruhe alles studieren. Nimm dir ruhig die Zeit, die du brauchst. Wir sehen uns.“

Noch immer vollkommen verwirrt stolperte Hailey hinter Brian her zur Tür des Arbeitszimmers, die ihnen wie durch Zauberhand von James geöffnet wurde. Der Butler begleitete sie zurück zur Eingangshalle. Auf dem Weg fiel kein Wort, eingeschüchtert tappte Hailey neben Brian über die mit dicken Teppichen belegten Flure.

Erst, als James sie an der Türe verabschiedet hatte, wandte Brian sich zu ihr um. „So oder so, bis du dich entschieden hast, sollten wir mit dem Training fortfahren. Also, bis morgen.“ Er schenkte ihr eines der für ihn seltenen Lächeln, dann verschwand er Richtung Stallungen.

Kapitel 14

„Mir ist nach wie vor nicht wohl bei dem Gedanken.“ Caroline stützte sich auf die Arbeitsfläche und sah Hailey mit diesem beunruhigten Blick an, den sie als Mutter hervorragend beherrschte.

„Mum, deshalb gibt es ja auch diese Ausbildung. Damit ich lernen kann, wie ich unnötige Risiken vermeide und mich nicht unnötig in Gefahr bringe. Und Brian würde bestimmt nicht zulassen, dass mir etwas passiert, er ist so bedacht darauf, mir alles korrekt beizubringen“, argumentierte Hailey, die ihr gegenüber auf einem Stuhl an der Kücheninsel sass.

Caroline schüttelte den Kopf. „Wieso denn ausgerechnet Pferderennen… Dass Brian dich überhaupt da raus gelassen hat…“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Hailey. Sie musterte ihre Tochter. „Wieso kannst du dir nicht einen normalen Job suchen! Ich bin vor Angst schon immer beinahe gestorben, wenn Hannah dich zu diesen Springturnieren hat gehen lassen. Glaubst du, ich lese keine Zeitungen? Sie sind voll mit Berichten über diese grässlichen Unfälle bei diesen grässlichen Rennen…“

„Übertreib nicht! Mum, in jedem Sport und in jedem Job gibt es Risiken, mit denen man leben muss, aber ich weiss jetzt schon, dass ich nichts Anderes machen möchte. Bitte, Mum, es ist mein Traum! Ich könnte genauso gut auf irgendeiner Strasse unters Auto kommen oder eine Treppe runter fallen und mir das Genick brechen.“ Hailey hielt inne, erstaunt über die Leidenschaft, mit der sie ihrer Mutter ihr Anliegen präsentieren konnte. Jetzt bloss nicht einknicken! Ihr Traum war zum Greifen nah, nur das fehlende Einverständnis ihrer Mutter stand noch im Weg. „Wieso sollte ich dann nicht wenigstens meine Zeit mit etwas verbringen, was ich wirklich will? Ich hätte mir nie träumen mögen, dass ich etwas so sehr will, dass es schon fast weh tut! Komm doch mit zur Bahn, schau uns zu, wie wir arbeiten. Sieh es dir wenigstens an, bevor du einfach nein sagst und es mir verbietest.“

Caroline seufzte übertrieben. „Hailey, ich will es dir gar nicht verbieten! Nur… Ich habe Angst um dich! Das musst du auch verstehen. Es ist nicht einfach, wenn die einzige Tochter sich ausgerechnet so etwas Halsbrecherisches zum Lebenstraum erklärt. Ich hatte gehofft, dass es bei den paar Trainings mit Brian bleiben würde, aber dass du gleich auf die Idee kommst, das beruflich machen zu wollen… Dabei müsste ich dich eigentlich kennen, wenn du mal eine Idee im Kopf hast…“ Die Art, wie sie Hailey ansah, brachte diese dazu, aufzustehen, um die Arme um ihre Mutter zu legen. „Ich weiss!“

Für einen Moment glaubte sie, Tränen in Carolines Augen zu erkennen, doch rasch wischte sie sich über das Gesicht und meinte dann: „Also gut! Ich werde morgen mitkommen.“

Hailey drückte sie an sich. „Danke, danke, danke!“, rief sie überschwänglich.

„Das ist noch kein definitives Ja!“, wehrte Caroline ab, doch Hailey konnte das Lächeln in ihrer Stimme nicht überhören.

 

„Gut, gleiches Spiel wie gestern“, kündigte Brian an und rieb sich die Hände.

Hailey, die bereits im Sattel von Orchidea sass, warf einen nervösen Blick zum Aussichtsturm, wo ihre Mutter stand und ihnen zusah. Ihr war bewusst, dass sie nur diese eine Chance hatte.

Ben und Juan, die sich wieder zum Training mit ihr eingefunden hatte, lenkten ihre Pferde auf die Bahn, Hailey folgte. Sie war gespannt, ob sich das gleiche Spiel wie vom Tag zuvor wiederholen würde. „Du hast es im entscheidenden Moment nicht genug gewollt.“ Brians Worte hallten wieder durch ihr Gedächtnis. Sie biss sich auf die Lippe.

„Und, bereit für eine Revanche?“ Ben lenkte Daisy Town neben Orchidea und grinste sie aufmunternd an, als würde sie bereits voll und ganz dazu gehören. Ganz im Gegensatz zu Juan, der sie keines Blickes würdigte.

„Ich hoffe es“, murmelte Hailey.

Der Jockey lachte. „Keine Sorge. Das war doch ein guter Anfang gestern. Ich glaube, du hast gute Instinkte, denen du vertrauen kannst. Die Technik kann man erlernen, aber Gefühl kann dir niemand beibringen, und ich bin sicher, dass du das hast. Vertrau dir und deinem Pferd!“

Die Worte machten Hailey Mut. Fest entschlossen liess sie die Stute angaloppieren. Orchidea schien ihr wie ausgewechselt, sie kaute aufgeregt auf dem Gebiss und holte übermütig mit den Vorderbeinen aus. Hailey lächelte unwillkürlich und vergass für einen Moment ihre Mutter und die Übelkeit bereitende Nervosität, die sich wieder in ihr breit gemacht hatte. Orchidea hatte Blut geleckt, genau wie sie.

Die zwei Furlongs brachten sie in lockerem, flüssigem Galopp hinter sich, dann erreichten sie den Pfosten. Wie erwartet liess Juan sein Pferd als erstes gehen, Ben folgte sofort. Doch Hailey griff entschlossen in die Zügel und hielt Orchidea zurück. Die Stute wehrte sich und zerrte Hailey beinahe aus dem Sattel, ihre Oberarme brannten von dem unvermittelten Ruck. „So nicht, Mädel“, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Hailey hielt die Stute hinter den anderen beiden Pferden, sie wartete auf den Moment, wenn Ben Juan hinter sich lassen würde. Tatsächlich schien der Fuchswallach plötzlich einzubrechen, und das war für Hailey der Moment, Orchidea anzutreiben. Sie spürte, wie das vertraute Kribbeln sie durchflutete, als der Körper des Pferdes unter ihr sich anspannte wie eine Stahlfeder. Das Rauschen in ihren Ohren wurde lauter, je mehr sie an Tempo zulegte, und mit wenigen Galoppsprüngen hatte sie Juan hinter sich gelassen und war auf Höhe von Bens Flanke.

Vergessen waren ihre Mutter und Brian, es gab nur noch diese unbändige Freude in ihr, als Orchidea in mörderischem Tempo neben Daisy Town über den Sand galoppierte. Innert Sekunden hatten sie den Bogen hinter sich gelassen, die Zielgerade erstreckte sich vor ihnen.

Sie warf einen raschen Blick zu Ben hinüber, der zurück grinste und ihr über das Brausen hinweg zuschrie: „Vertrauen!“ Dann wandte er sein Gesicht wieder der Bahn zu und schob Daisy mit ganzem Körpereinsatz vorwärts. Das Pferd reagierte sofort und zog an Orchidea vorbei, doch es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Hailey folgte. Du musst es wollen! Sie wollte noch viele solcher wunderbarer Augenblicke erleben, auf einem schnellen Vollblüter über eine Bahn zu fliegen, die nur ihnen gehörte. Zweikämpfe auszufechten, um Ruhm und Ehre nach Hause zu bringen. Hier sollte ihr Weg noch nicht zu Ende sein!

Es Ben gleichtuend, trieb sie die Stute mit ihren Armen und ihrem Gewicht vorwärts. Sie spürte, wie ihre Oberschenkel zu brennen anfingen, ihr Rücken schmerzte von der Anstrengung und sie spürte ihre Gesicht kaum noch von dem Wind und dem herumfliegenden Staub. Doch ihre Augen waren bloss auf die Ziellinie gerichtet, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass ihr Wille sich auf ihr Pferd zu übertragen schien, als ob auch Orchidea die Zähne zusammen beissen und ungeahnte Kraftreserven mobilisieren würde. Gleich einem Schalter, der umgelegt wurde, liess Orchidea Daisy förmlich stehen, als sie ihre langen Beine ins schier Unendliche streckte.

Dieses Mal gab es kein Halten, und es war ein völlig neues Gefühl, das Hailey jetzt ergriff, kaum dass sie die Ziellinie überquert hatten. Es war nicht zu vergleichen mit der Freude, die sie empfunden hatte, wenn sie mit Sugar hatte eine Schleife in Empfang nehmen dürfen; der Triumpf, den sie jetzt spürte, war noch viel besser und intensiver.

Ben und Hailey parierten ihre Pferde durch. Auf gleicher Höhe mit ihr hielt er seine Hand in die Höhe, damit Hailey ihn abklatschen konnte. „Davon rede ich!“, rief er erfreut. Seine Euphorie war doppelt ansteckend, und Hailey konnte sich das breite Grinsen auf ihrem Gesicht nicht verwehren. Juan, der ein Stück weiter hinter ihnen seinen Pferd zum Halten gebracht hatte, musterte Hailey, doch nicht wie sonst mit Abschätzigkeit.

Im Trab kehrten sie zurück zu Brian. Erst jetzt wandte Hailey ihre Aufmerksamkeit wieder zum Turm, und ihr stockte für einen Moment der Atem. Neben den Gestalten ihrer Mutter und Brians erkannte sie noch drei weitere Personen. Eine von ihnen war Carla, unverkennbar an ihren roten Haaren. Die beiden anderen ähnelten sich in Grösse und Haltung, und Hailey wurde plötzlich mulmig zu Mute.

„Tja, Ben“, wandte sich Brian zuerst an den Jockey, kaum dass sie bei ihm angekommen waren. „Das hast du wohl dir selbst zuzuschreiben.“ Wie immer liess Brian die Absicht hinter seinen Worten nicht durchblicken. Hailey sah verwirrt von einem zum anderen, doch Ben grinste nur. „Ja, Coach.“

Dann war Hailey an der Reihe. „Erneut, ein unerwarteter Ausgang. Siehst du jetzt, was ich gemeint habe?“

Hailey nickte stumm.

„Gut zu wissen, dass du unter Druck nur umso besser arbeitest. Oder was meint Ihr, Lordschaft?“ Brian drehte sich um und sah zum Turm hoch. Hailey folgte seinem Blick und fand sich in ihrer Befürchtung bestätigt. Dort oben standen der Grad und neben ihm Alexander.

Der Graf jedoch schien mehr als zufrieden zu sein, denn er nickte mit einem breiten Lächeln. „Das will ich doch meinen! Eine sehr beeindruckende Vorstellung. Von Pferd und Reiterin“, fügte er hinzu. „Miss Steinfeld, verzeihen Sie mir meine Direktheit, aber es wäre eine Schande, ein Talent wie ihre Tochter der Rennwelt vorzuenthalten. Ganz zu schweigen vom Verlust für meinen Stall.“

Anscheinend hatte der Graf die gleiche Wirkung auf weibliche Wesen wie sein Sohn, mit Begeisterung beobachtete Hailey, wie ihre Mutter sichtlich herumdruckste, bis sie schliesslich hervorbrachte: „Das kann ich wohl schlecht zulassen, Eure Lordschaft.“ Sie sah zu Hailey hinunter. „Auch wenn meine Bedenken nicht restlos zerstreut sind… Ich fürchte, auf diese Entscheidung haben ich ohnehin keinen Einfluss mehr.“

„Ist das ein Ja?“, rief Hailey ungeduldig dazwischen und beobachtete mit Erleichterung, wie Caroline schliesslich nickte. „Das ist ein Ja.“

Im selben Moment, wie sie die Worte ausgesprochen hatte, kam Carla schon von der Tribüne gestürzt, um Hailey stürmisch zu umarmen, wobei sie sie beinahe vom Pferd zerrte. „Das ist fantastisch!“, rief sie immer wieder.

Der Graf, Alexander und Caroline folgten in etwas gesitteter Manier, wobei Hailey sich einbildete, doch tatsächlich so etwas wie ein Lächeln um Alexanders Lippen spielen zu sehen…

 

„Luke, es war so unglaublich! Du hättest da sein sollen!“ Hailey wirbelte sich in ihrem Zimmer herum, den Hörer am Ohr, und liess sich schliesslich ganz schwindlig auf ihr Bett fallen. Sämtliche Gliedmassen fühlten sich an, als würden sie ihr demnächst abfallen, doch sie fühlte sich noch immer so aufgeputscht, dass an Schlaf nicht zu denken war.

Vom anderen Ende der Leitung kam ein Lachen. „Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Du hast bestimmt fantastisch ausgesehen! Demnächst müssen wir uns wohl warm anziehen…“

„Ach, Quatsch!“, wehrte Hailey ab. „Das wird wohl noch eine ganze Weile dauern.“

„Ich freue mich darauf. Es wird toll, dich regelmässig auf der Bahn zu sehen.“ Lukes Worte brachten Hailey beinahe zum Schmelzen.

„Darauf freue ich mich auch. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, seit du hier weg bist. Ich verstehe langsam, was du mit ‚diesem Lebensstil‘ gemeint hast.“

Ein kurzes Schweigen war die Antwort, bevor Luke entgegnete: „Glaubst du noch daran, dass das alles irgendwie funktionieren wird?“

Hailey glaubte, sich verhört zu haben. „Bestimmt!“, rief sie aus. „Hast du etwa Zweifel?“

„Nicht, wenn es um dich geht“, gab er zurück, was schon mehr nach seinem optimistischen Selbst klang. „Nächstes Wochenende sind die International Stakes in York, du musst Brian bloss überreden, dass er dich wieder als Pfleger mitnimmt…“

„Bist du dir sicher, dass er überhaupt Pferde am Start hat? Er hat kein Wort erwähnt…“, zweifelte Hailey. Doch Luke zerstreute ihre Bedenken. „Das ist ein G1-Rennen, er wird sicher hin fahren! Und es gibt keinen Grund, warum er dich nicht wieder mitnehmen sollte. Es wird zwar ein stressiges Wochenende, aber irgendwo können wir sicher etwas Zeit herausschlagen…“

Die Aussicht war so verlockend, dass Hailey kaum zu hoffen wagte. „Das wäre wunderbar!“

„Dann solltest du Brian bearbeiten. Hailey, es ist schon fast elf, wenn du morgen Training hast – wovon ich doch stark ausgehe – sollten wir beide jetzt schlafen gehen. So sehr ich es hasse, auflegen zu müssen“, seufzte Luke. Hailey musste dagegen ankämpfen, sich die Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen. „Das bringt der tolle Lebensstil leider auch mit sich“, meinte sie bloss ironisch. „Also, ich melde mich, wenn ich etwas weiss…“

Sie zögerte, unsicher, was sie zum Abschied zu ihm sagen könnte. Beim letzten Mal hatte es nicht viele Worte gebraucht, doch übers Telefon erschien es Hailey einiges schwieriger. Wie verabschiedete man sich von seinem Freund?

„Tu das. Gute Nacht“, kam Luke ihr zuvor.

„Gute Nacht“, entgegnete Hailey lahm. Ohne noch etwas anzufügen, legte sie eilig auf. Sie rieb die verschwitzten Handflächen an ihrer Jogginghose trocken. Einen Moment lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ‚Ich liebe dich‘ zu Luke zu sagen, oder etwas in der Art. Doch sie war sich nicht sicher, ob es dafür der richtige Zeitpunkt war. Ihre Gefühle für Luke verwirrten sie, wie sie es bisher nicht gekannt hatte. Manchmal machte er sie beinahe noch nervöser als ein Ritt unter Brians strengen Augen.

Mit dem Beschluss, erst einmal ihr Wiedersehen in York abzuwarten, kuschelte sie sich ins Bett. Liebe wurde einem immer als etwas Einfaches, Klares, Wundervolles vorgegaukelt, dabei kam es ihr im Moment eher vor wie ein Mienenfeld, durch das sie einen Weg finden musste. Wahrscheinlich würde sie erst einmal Sophia um Rat fragen müssen. Beim Gedanken an Sophia fiel Hailey siedend heiss ein, dass sie ihr noch immer nicht von ihrem eigenartigen Trip mit Alexander erzählt hatte. Ihre Erinnerung wanderte weiter zum heutigen Morgen, als Alexander plötzlich an der Rennbahn aufgetaucht war, und sein seltsames Lächeln fiel ihr ein. Sie musste zugeben, dass es gar nicht so unangenehm war, von ihm angelächelt zu werden, zumal er sie seit ihrem Ausflug nach Sussex in Ruhe gelassen hatte. Doch im nächsten Moment schüttelte sie amüsiert über sich selbst bloss den Kopf. Alexander war und blieb ein arroganter Schnösel, und der einzige Typ, dessen Lächeln sie zu interessieren hatte, war Luke. Zumindest sollte es so sein…

Impressum

Texte: Melanie Karrer (Zitat: Bizler Atcıyız)
Bildmaterialien: Bizler Atcıyız
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Schwester, deren sehnlichster Wunsch es ist, einmal Jockey zu werden, für Marianne, die unsere Leidenschaft für Pferderennen geweckt hat, und natürlich für Mona, Jule, Rebecca und Leo, die mir immer mit ihren Ideen zur Seite gestanden haben, wenn ich mal hing!

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