In jeder Welt und in jedem Land gibt es Gut und Böse, doch wenn das Böse die Überhand gewinnt und man nicht mehr auf die Führung vertrauen kann, so muss man sich selbst aufrichten, auch wenn es gegen alle ist. Man wird Jemanden finden, der an seiner Seite kämpft und auch wenn der Kampf schon verloren scheint, so sollte man nie aufgeben das Urteil umzukehren. Mit der Kraft der Reinheit und der guten Seele kann alles bezwungen werden, wie groß es auch sein mag und wenn man das bewahren will, was man liebt und schätzt so ist kein Weg zu weit , keine Mauer zu hoch um das Gute wieder an die Macht zu bringen. Das Leben ist immer das, was du daraus machst.
Ihr Atem gefror in der Luft und bildete kleine Dampfwölkchen. Man spürte, dass der Winter noch gar nicht allzu lange zurück lag, denn auch der nahende Frühling konnte den Morgen noch nicht wärmen.
Sie wischte ihre Hände, die noch feucht vom Waschen waren, an ihrer ledernen Kniehose ab, stopfte das Leinenhemd noch einmal fest in den Bund, dann zog sie das fellgefütterte Wams eng um ihren Körper und lief auf das im Dunkeln liegende Stallgebäude zu.
Angenehme Wärme hüllte sie ein, als sie die Tür aufstiess. Die Pferde nahe des Eingang s hoben verschlafen die Köpfe und blinzelten die morgendliche Besucherin an.
"Schlaft ruhig noch ein bisschen weiter", meinte sie liebevoll zu ihnen, dann ging sie weiter die Stallgasse entlang. Der hintere Teil des Stalls lag schwarz vor ihr, doch sie konnte spüren, dass dort jemand war.
"Vater?", fragte sie vorsichtig. Es kam keine Antwort. Sie streckte die Hand vor sich aus mit der Handfläche nach oben und murmelte: "Éador." Sofort flammte in ihrer Hand ein blau schimmerndes Licht auf. Zufrieden lächelte sie. Das lange Üben hatte sich also doch gelohnt.
Aus der hintersten Box erklang ein leiser Fluch. Sie trat an die Boxentür. Sofort wandte der Rapphengst dahinter ihr seinen hübschen Kopf zu und wieherte leise zur Begrüssung. Sie kraulte ihm mit der freien Hand die Stirn.
Hinter dem Rücken des Pferdes tauchte jetzt ein hochgewachsener, älterer Mann auf. "Sayina! Du bist wie deine Mutter!", schimpfte er. Das Mädchen lächelte in sich hinein, drehte die Hand mit dem Licht um, woraufhin es erlosch. Sie wusste, dass ihr Vater es nicht mochte, wenn sie oder ihre Mutter in seiner Nähe Magie anwendeten, mehr noch, es jagte ihm Angst ein. Weshalb er dann eine Elfe zur Frau genommen hatte, hatte sie nie so recht verstehen können.
"Tut mir leid", antwortete Sayina, doch sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verwehren. "Es geht so am schnellsten, und ich muss doch üben bis zum nächsten Winter."
Leorn winkte ab. "Schon gut. Ich hoffe, das lohnt sich am Ende auch." Er runzelte die Stirn. "Sei's drum, beeile dich!" Er führte den Rappen aus seiner Box auf den Hof. Sayina folgte den beiden. Sie liess sich von ihrem Vater beim Aufsitzen helfen, dann sortierte sie die Zügel und ritt eilig vom Hof. Leorn sah ihr nach, bis sie am Waldrand verschwunden waren, dann wandte er sich mit einem Kopfschütteln wieder dem Stall zu.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Stallfenster fielen, huschte Sayina bereits über den Hof zurück zum Wohnhaus, in der Hoffnung, dass noch niemand aufgestanden war und sie sehen würde. Hastig polterte sie sehr undamenhaft die Treppe hoch und den Gang entlang, bis sie bei ihrem Zimmer angekommen war. Bevor sie jedoch die Tür aufreissen konnte, wurde sie von innen geöffnet. Eine schlanke Gestalt trat aus dem Raum. Sie war gekleidet in ein schlichtes, hellblaues Kleid aus Seide, das an ihrem zierlichen Körper hinabfloss. Über ihren Rücken fielen lange blonde Haare, die im Nacken von einer schmalen Silber-Schliesse zusammen gehalten wurden. Ihre feinen, makellosen Züge blickten ernst und unergründlich. Obwohl von geringer Grösse strahlte Anjali Selbstbewusstsein und eine ruhige, zurückhaltende Überlegenheit aus, die Sayina immer wieder erstaunten. Das Auffälligste an ihr waren jedoch ihre spitzen Ohren und die tiefblauen Augen, in denen man sich so leicht verlieren konnte, wenn man sie zu lange ansah. So, wie alle Elfen sie hatten.
"Da bist du ja. Hat dich auch niemand gesehen?" Besorgt blickte sie Sayina an. Ihre helle Stimme klang wie ein Glockenspiel.
"Nein, ich glaube nicht", antwortete Sayina. Sie traten zurück in das Zimmer, Sayina zog die Tür hinter sich zu.
"Du warst reichlich spät dran, ich fürchtete schon, du wärst nicht vor Sonnenaufgang zurück. Sei in Zukunft vorsichtiger. Du kennst die Regeln. Als Frau ist dir das Reiten nicht erlaubt", beschwor Anjali sie eindringlich.
"Warum?", fragte Sayina trotzig. "Ich verstehe das einfach nicht. Es macht doch keinen Sinn!"
Anjali seufzte. "Regeln sind Regeln, ob sinnvoll oder nicht. Und es ist manchmal besser, sich daran zu halten." Sie fuhr sich müde mit der Hand durch die Haare. In den letzten Tagen schien sie um Jahre gealtert, obwohl das körperliche Alter den Elfen normalerweise nicht anzusehen war. "Zieh dich um, und dann komm runter in die Bibliothek, ich habe neue Schriftrollen von Fannar erhalten, sie werden dich interessieren." Sie verliess den Raum.
Sayina sah ihrer Mutter noch einen Augenblick nach, dann wandte sie sich mit einem Seufzen zu dem Sichtschutz im hinteren Teil des Raumes um, über dem bereits ihr dunkelblaues Tageskleid bereit hing. Rasch schlüpfte sie hinein, dann setzte sie sich an ihren Spiegeltisch und begann, ihre langen, dunkelbraunen Locken zu kämmen. Sie betrachtete ihr Spiegelbild. Zwei grosse, grau-blau Augen blickten ihr entgegen, in einem kindlichen Gesicht mit einer feinen Nase, die mit Sommersprossen bedeckt war, und einem zierlichen Mund. Nur die leicht spitz zulaufenden Ohren verrieten ihre nicht ganz menschliche Herkunft, wenn sie auch noch lange nicht ausgeprägt waren wie bei ihrer Mutter oder den anderen Elfen.
Sayina war eine der seltenen Halbelfen, die aus Verbindungen zwischen Elfen und Menschen entstammten, was vielleicht alle hundert Jahre vorkam. Doch Sayina war selbst für eine Halbelfe noch etwas Besonderes. Sie hatte die magischen Fähigkeiten ihrer Mutter geerbt, ihres Zeichens eine der mächtigsten Zauberinnen von Avoran. Es hatte bisher erst drei Halbelfen mit Zauberkraft gegeben, und Sayina war ohne Zweifel die Mächtigste von ihnen.
Wie mächtig, das wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings noch niemand, nicht einmal sie selbst. Niemand konnte ahnen, was für eine grosse Rolle Sayinas Kräfte im Kampf um Avoran noch spielen würden...
„Herein!“, erklang Anjalis Stimme, als Sayina an die schwere Dairholz-Tür klopfte. Sie schob sie einen Spalt breit auf und schlüpfte in den Raum. Sofort umfing sie der Geruch von Büchern, altem Papier, längst verblichener Tinte und Staub. Sayina atmete tief ein. Obwohl viele sie als einen Wildfang beschrieben, konnte sie stundenlang die Zeit über Büchern und Schriftrollen verbringen, versunken in Berichte und Erzählungen aus längst vergessenen Zeiten und Ländern. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie die Wintermonate mit ihrer Mutter in der Elfenstadt Ellindúra verbracht, wo sie zusammen mit den anderen Elfenkindern ihre magische Ausbildung absolvierte. Sie wurden zudem in der Geschichte Avorans unterwiesen wie auch in der Kampfkunst, dem Umgang mit dem Schwert und Pfeil und Bogen. Ihr Vater war anfangs dagegen gewesen, hatte irgendwann jedoch nachgegeben und endlich auch Sayinas Wunsch zugestimmt, sie heimlich in der Reitkunst zu unterweisen.
„Setz dich!“ Anjali deutet auf den Stuhl neben sich. Sie sass an dem grossen Tisch in der Mitte des Raumes, den Rücken zu ihr gewandt mit Blick zu der westseitigen Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke reichte und einen unglaublichen Ausblick über das Land bot. Abends konnte man hier die herrlichsten Sonnenaufgänge beobachten.
Der Tisch war bedeckt mit Papieren und Schriftrollen, die meisten davon sahen alt aus, waren teilweise an den Rändern verkohlt oder eingerissen. Sie alle trugen das Siegel der Bibliothek des Grossen Rates von Ellindúra.
Sayina liess sich auf den Stuhl sinken, während ihre Mutter Tee in zwei Tassen eingoss. „Du wirst begeistert sein. Fannar hat mir ein paar Dokumente zum Trobanischen Krieg und dem Handelsabkommen mit Sinran senden lassen. Er lässt dir seine besten Grüsse zukommen. Ausserdem hat er einige Erklärungen zu neuen Zaubern beigelegt, die du üben kannst, bis wir wieder nach Ellindúra fahren.“ Sie stellte Sayina eine Tasse hin. „Der Tee ist von Líada.“
Sayina betrachtete das Getränk nicht länger, ihre Aufmerksamkeit galt schon längst den Schriftrollen. Sie griff nach der, die ihr am nächsten lag, und öffnete ungeduldig das Band, das sie zusammen hielt.
Der Pfeil sirrte durch die Luft, schwankte leicht und blieb am Rande des aufgemalten roten Kreises im Baumstamm stecken. Sayina liess den Bogen sinken und runzelte die Stirn. „Er war nicht sauber ausbalanciert“, beschwerte sie sich bei ihrem Begleiter.
„Natürlich“, antwortete Lonán ironisch. Sayina funkelte ihn böse an. „Was willst du damit andeuten?“
„Nichts, nichts.“ Er grinste sie an und stütze sich halb auf seinen Bogen. „Wetten, dass du keine neun von zehn Pfeilen triffst?“
Sie sah ihren besten Freund herausfordernd an. „Und wenn doch?“
Er zuckte die Schultern. „Soweit muss es erst einmal kommen.“
Sayina reckte herausfordernd das Kinn, zog einen Pfeil aus dem Köcher, der auf der Bank neben ihnen lag und legte ihn an. Mit einer für ihre zierliche Gestalt erstaunlichen Leichtigkeit spannte sie die Sehne. Sie schloss das linke Auge, mit dem rechten fixierte sie den Kreis. Die Umgebung verschwamm, ihr Blick war nur noch auf ihr Ziel gerichtet, das klar und deutlich vor ihr erschien. Eine einzige, fliessende Bewegung, und der Pfeil schoss los. Noch bevor Sayina den Bogen wieder absetzen konnte, traf er inmitten des roten Kreises auf den Baumstamm. Zufrieden trat sie vor, um ihn aus dem Holz zu ziehen. „Siehst du?“
„Das war einer“, meinte Lonán nur und reichte ihr bereits den nächsten Pfeil, als sie zurück an die Abschusslinie trat. Sayina sah ihn einen Augenblick mit funkelnden Augen an, dann schnappte sie sich den Pfeil aus seiner Hand. Lonán lächelte mit einem Kopfschütteln.
Sayina spannte den Bogen erneut, zielte, und wieder verfehlte der Pfeil den Kreis nicht. Sie lächelte. Sie war eine gute Bogenschützin, das wusste sie. Lonán und sie hatten seit sie Kinder waren fast täglich auf dieser Wiese mit Pfeil und Bogen geübt, seit Sayina ihren ersten Unterricht in Ellindúra erhalten hatte. Lonán hatte das Bogenschiessen von seinem Vater gelernt, bevor er als Junge auf den Hof gekommen war. Leorn sagte immer, dass er sofort gesehen habe, dass Lonán ein Händchen für Pferde habe, weshalb er ihn damals eingestellt hatte. Sein Vater war darüber sehr froh gewesen, da er mit seiner eigenen Arbeit kaum genug verdiente, um den Rest der Familie zu ernähren.
Lonán war wie ein Bruder für Sayina gewesen. Sie waren praktisch zusammen aufgewachsen. Er gehörte zu ihren Vertrauten, kannte sie praktisch besser als sie sich selbst. Er war einer der wenigen, die von ihren Reitstunden und ihrer Ausbildung in Ellindúra wussten.
„Dir fehlen immer noch sieben“, kommentierte er herausfordernd. Sayina nahm sich ohne Antwort den nächsten Köcher aus dem Pfeil, legte an, zielte, schoss. Pfeil um Pfeil traf mit tödlicher Genauigkeit den Baumstamm, nicht einer verfehlte sein Ziel um einen Millimeter. Der Langbogen war ihre liebste Waffe. Wunderschön und elegant, und gleichzeitig so genau und tödlich.
Lonán nickte anerkennend und lachte. „Gar nicht schlecht, Kleines.“
„Das ‚Kleines‘ überhöre ich jetzt mal grosszügig“, antwortete Sayina und begann, ihre Pfeile einzusammeln. Lonán half ihr dabei und steckte sie zurück in den Köcher. Er schulterte beide Bögen und hängte die Köcher über die andere Schulter, dann machten sie sich auf den Weg zurück zum Hof.
Es war am frühen Nachmittag, Lonán striegelte vor dem Stall eines der Pferde, Sayina sass auf der Bank und sah halb dabei zu, halb las sie in einem Buch, als eine elegante Kutsche auf den Hof gefahren kam. Der Kutscher brachte die vier Braunen direkt vor dem Stallgebäude zum Stehen und rief zu Lonán hinüber: „He, Bursche, komm her und hilf mir mit den Pferden!“
Lonán legte den Striegel weg und ging zu den vordersten Pferden, um sie am Zügel zu nehmen, während der Kutscher an die Tür trat und seinen Passagier aussteigen liess. Sayina sprang sofort auf und knickste vor dem korpulenten Mann, dessen Kleidung auf seinen hohen Stand hinwies.
„Willkommen auf Gut Braeden, Feir. Ich werde sofort meinen Vater über Eure Ankunft informieren.“
Der Mann nickte nur und liess seinen Blick wachsam über das Gelände schweifen.
„Darf ich Euch ins Haus bitten?“, fragte Sayina und versuchte, ihre Neugier zu verbergen. Es kamen eher selten Gäste auf das Gut, und wenn, dann verschwand ihr Vater meist eine Weile mit ihnen in seinem Arbeitszimmer und wollte nicht gestört werden, bevor sie wieder abreisten.
Er schien sich ihrer plötzlich wieder gewahr zu werden, nickte und murmelte etwas wie: „Natürlich.“ Er folgte ihr über den Vorplatz zum Haus, wo Nurina, die erste Haushälterin, ihn von der Vorhalle in das Empfangszimmer an der rechten Seite führte, während Sayina an eine der hinteren Türen neben der Treppe, die ins obere Stockwerk führte, klopfte. Ihr Vater brummte sein übliches, halb abwesendes „Herein!“, wie immer, wenn er tief in irgendetwas versunken war. Sayina öffnete die Tür. „Vater? Da ist soeben jemand für Euch angekommen. Er wartet im Empfangszimmer.“
Ihr Vater sah von den vor ihm liegenden Papieren auf. „Ach ja… Er soll zu mir ins Arbeitszimmer kommen. Und sag Nurina, wir hätten gerne etwas Tee. Ansonsten keine Störungen.“
Wie üblich. Sayina unterdrückte ein Seufzen und schloss die Tür hinter sich. Sie ging hinüber zu einer kleineren Tür unter der Treppe, die halb verborgen zu einer weiteren Treppe führte, von der man in die grosszügige, gemütliche Küche kam. Sayina raffte ihre Röcke und stieg eilig die Stufen hinunter. Nurina stand an dem Tisch inmitten des Raumes und ordnete Gebäckstücke auf einem Teller an, während sie mit ihrer ruhigen Stimme den drei anderen Mädchen im Raum Anweisungen gab. Ein viertes in der Dienstmädchentracht des Hauses sass neben Nurina und malte gelangweilt Muster auf die Tischplatte.
Als die Haushälterin Sayina bemerkte, blickte sie auf und lächelte. „Wohl wie immer Tee?“
Sayina nickte und liess sich auf einen Stuhl fallen. Eines der Mädchen brachte ihr ein Stück Sméor-Beeren-Kuchen.
„Greif zu. Ich habe ihn heute Morgen frisch gebacken“, forderte Nurina sie auf. „Síne, sitz hier nicht so nutzlos herum. Sag unserem Gast Bescheid, dass Maistir Leorn ihn erwartet und nimm gleich den Teller mit dem Gebäck mit. Nachher kannst du den Tee holen.“
Das Dienstmädchen sprang auf, zupfte ihren Rock zurecht und griff nach dem Teller.
„Aber dass du ihn nicht wieder fallen lässt wie beim letzten Mal“, ermahnte Nurina sie in gutmütigen Tadel. Síne nickte und stieg die Treppe hinauf, darauf bedacht, dass kein Gebäckstück vom Teller rutschte.
Nurina wischte sich die Hände an der dunkelblauen Schürze ab, die sie immer trug, wenn sie in der Küche beschäftigt war. Sie steckte geschickt den Knoten, zu dem sie ihre von grauen Strähnen durchzogenen, schwarzen Haare gebunden hatte, wieder fest und begann dann, den Inhalt der Speisekammer fein säuberlich auf einem Blatt Papier aufzulisten.
Sayina sah ihr eine Weile dabei zu, bis sie ihren Kuchen fertig gegessen hatte. Sie lehnte sich zurück und seufzte. Nurina warf ihr einen Blick zu. „Was bedrückt dich?“
Sayina stützte sich mit dem Ellbogen auf die Tischplatte. „Das Leben hier ist so langweilig. Ich meine, ich mag das Gut und alles. Aber der Sommer hier ist immer so öde. Nie passiert etwas Spannendes. Jeden Tag derselbe, eintönige Ablauf. Und wenn einmal ein Gast ankommt und etwas Abwechslung verspricht, dann kommt mein Vater mit seiner Geheimniskrämerei. Und alles wird nur noch schlimmer“, sprudelte Sayina hervor und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
Nurina bedachte sie mit einem seltsamen Blick. Die Haushälterin kannte Sayina schon seit ihrer Geburt, sie war wie eine zweite Mutter für sie und hatte geholfen, sie aufzuziehen. „Was würdest du denn anders haben wollen?“
„Ich will einmal etwas Anderes sehen als nur das Gut und die Strasse, die wir fahren, wenn wir im Winter in die Heimatstadt meiner Mutter fahren.“ Sayina warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem kleinen Fenster, das so hoch oben in die Mauer eingelassen war, dass man nur den Himmel sehen konnte von hier unten. Er war strahlend blau und versprach Freiheit, erzählte von der Verlockung der Abenteuer, die Sayina gerne erfahren würde.
„Pst, Sayina!“
Kaum hatte Sayina die Tür hinter sich geschlossen, hörte sie schon, wie jemand leise nach ihr rief, und entdeckt Lonán, der an der Tür zum Arbeitszimmer stand und am Schlüsselloch horchte. Sie trat näher. „Hat dir niemand beigebracht, dass es unhöflich ist, zu lauschen?“, fragte sie scherzhaft, konnte jedoch kaum ihre Neugierde verbergen, was wohl hinter der Tür vor sich gehen mochte. Er winkte sie zu sich. Sie bückte sich und legte ihr Ohr an das glatte Holz.
„Wie war das mit dem Lauschen?“, formten Lonáns Lippen lautlos. Sayina musste sich ein Grinsen verkneifen.
„Der Tee ist hervorragend, wo habt Ihr ihn her?“ Das war die gedämpfte Stimme des Fremden. Sayina warf Lonán einen ungläubigen Blick zu, doch der lauschte so konzentriert, dass er es nicht bemerkte. Sie zogen sich zurück, um über Tee zu reden?
„Ein Geschenk an meine Frau“, antwortete Leorn. Eine Weile war nichts mehr zu hören, Sayina meinte, einmal das Klappern einer Tasse auf dem Unterteller zu erkennen, ansonsten blieb es still.
„Doch sagt, was führt Euch zu mir? Ihr scheint in grosser Eile gewesen zu sein.“
Wieder herrschte Schweigen hinter der Tür. Dann begann der Fremde zögerlich: „Nun, es sieht danach aus, als hätten wir ein Problem. Wie Ihr wisst, ist es vor kurzem unseren Spionen gelungen Karten mit den Truppenbewegungen einzusehen. Auf Euren Befehl hin haben wir sofort Mathúin Dochartan losgeschickt, um diese Informationen Earlen nach Feoras zu überbringen. Er trug Kopien der Pläne bei sich.“
Sayina bemerkte, Lonán sich neben ihr bei der Erwähnung des Namens versteifte. Sie sah prüfend zu ihm hinüber, doch er horchte jetzt noch gebannter als zuvor. Sayina richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gespräch.
„Und weiter? Ihr erzählt mir nichts Neues“, drängte Leorn seinen Besucher.
„Zwei Tage nach seinem Aufbruch wurde Dochartans Leiche gefunden. Der arme Kerl war übel zugerichtet. Wir vermuten, dass es Wegelagerer waren, die es auf seine Geldbörse abgesehen haben.“
Lonán richtete sich auf einmal auf. Er war leichenblass.
„Die Pläne sind natürlich verschwunden. Wir wissen nicht, was damit geschehen ist.“
Sayina konnte sich kaum noch darauf konzentrieren, was hinter der Tür gesprochen wurde. Erschrocken starrte sie in Lonáns verstörtes Gesicht. „Was…?“, setzte sie an, doch er sprang auf und stürmte zur Haustür. Keine Minute später fiel sie hinter ihm ins Schloss.
Verwirrt liess Sayina sich an der Wand zu Boden sinken. Es machte keinen Sinn für sie, was sie gehört hatte, noch konnte sie sich Lonáns Reaktion irgendwie erklären. Nachdenklich blieb sie eine Weile sitzen und liess ihre Gedanken schweifen, während der schwere, süssliche Duft der holzverkleideten Wand in ihre Nase stieg.
Schliesslich stand sie mit einem Seufzen auf, zupfte ihr Röcke zurecht und ging nach oben. Eigentlich wäre sie am liebsten Lonán nachgegangen, aber sie war sich nicht so recht sicher, ob er sie jetzt um sich haben wollte.
Die Suppe tropfte vom Löffel zurück in den Teller und spritzte über den Rand hinaus, was Sayina einen tadelnden Blick ihrer Mutter einbrachte. Doch der Löffel verharrte noch immer in Sayinas Hand in der Luft, ohne dass sie sich regte.
„Sayina, iss endlich und hör damit auf“, bat Leorn schliesslich mit Nachdruck.
Sayina sah auf, als würde sie aus einer Trance erwachen. „Ja, Vater.“ Mit einem Seufzen legte sie den Löffel in den Teller zurück.
„Stimmt etwas nicht, Liebes?“, fragte Anjali besorgt.
„Nein, nein“, versicherte Sayina rasch. Sie konnte ihren Eltern schlecht erklären, dass sie sich Sorgen um Lonán machte, denn dann hätte sie erzählen müssen, dass sie an der Tür zum Arbeitszimmer gelauscht hatten. „Ich habe nur keinen Hunger.“
Anjalis Gesichtsausdruck war unergründlich, doch sie fragte nicht weiter, sondern konzentrierte sich wieder auf’s Essen. Eine schwere, drückende Stille lag in der Luft, in der das leise Geschirrklappern nur umso unerträglicher war, bis Síne, das Dienstmädchen, herein kam und begann, die Suppenteller abzuräumen, während Nurina den Hauptgang auftrug. Obwohl es Coinír-Braten mit frischem Gemüse gab, was normalerweise eines von Sayinas Lieblingsgerichten war, verursachte ihr der Geruch des Fleisches heute nur Übelkeit. Sie war fast erleichtert, als Nurina mit Faolán zurückkehrte.
„Maistir“, begann der alte Stallmeister zögerlich.
„Was ist, Faolán? Sprecht nur!“, forderte Leorn ihn auf und legte sein Messer neben den Teller.
„Es ist mir unangenehm, Euch beim Essen zu stören. Aber, nun ja, es ist von höchster Dringlichkeit…“
„Nun sagt mir endlich, was überhaupt los ist!“
Faolán fuhr sich mit der Hand über’s Gesicht und seufzte. „Fiachna ist verschwunden.“
Leorn sprang so heftig auf, dass der schwere Tisch beinahe ins Wanken geriet. „Was?“
Feolán senkte den Blick. „Lonán ist auch weg. Er war mit der Abendfütterung beauftragt. Als ich meinen Kontrollgang machte, hatten die Tiere kein Heu und waren halb hysterisch. Ich wollte zu Lonán, um ihn zur Rede zu stellen, doch er war nicht in seinem Raum. Also habe ich mit Tiarnán erst einmal die Pferde gefüttert. Dabei fiel mir auf, dass die Stute fehlt.“
Sayina heftete ihren Blick fest auf ihren Teller. Sie war den Tränen nah. Ihr war instinktiv klar, dass es sich beim Verschwinden ihres besten Freundes und dem der Stute nicht um einen Zufall handelte.
Was hatte Lonán dazu bewegt, einfach zu gehen?
Texte: Sämtliche Charaktere, Schauplätze und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten zu realen Geschehnissen sind nicht beabsichtigt.Die folgende Geschichte und ihre Teile sind urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung jeglicher Art ist ohne schriftliche Einverständniserklärung der Autorin ungültig und somit rechtswidrig. Jede Art einer solchen Handlung kann strafrechtlich verfolgt werden. Die Rechte liegen allein bei der Autorin.Das Copyright für das Cover liegt ebenfalls bei der Autorin. Die verwendeten Grafiken stammen von: angelsgirl.polyvore.com
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2009
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Für Jule, meine Fantasy-Tante! Danke für die tollen Tipps, die du mir immer gegeben hast, und dafür, dass du jedes Mal schon fast Mordgedanken gegen mich gehegt hast, wenn ich keine Fortsetzung hatte!