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Inhalt

Prolog: Der Schattenmann

 

Kapitel 1: Die Begegnung

 

Kapitel 2: Die Berührung

 

Kapitel 3: Der Besucher

 

Kapitel 4: Der Begleiter

 

Kapitel 5: Die Befreiung

 

Epilog: Am Lichtstrand

Prolog: Der Schattenmann

Seit nunmehr einer Woche wurde Kristina vom Schattenmann heimgesucht. So hatte sie insgeheim das Wesen getauft, das Nacht für Nacht in ihren Träumen herumgeisterte. Kaum hatte sie abends im Bett ihre Augen geschlossen und war ins Land der Träume hinübergewandert, tauchte er auch schon auf der Bildfläche auf. Während der ersten sieben Nächte war er als bloßer Schatten an der ihrem Bett gegenüberliegenden Wand erschienen. Ruhig, bewegungslos, innehaltend. Ohne sich zu rühren oder auch nur mit der Wimper zu zucken – falls er denn überhaupt Augen und Wimpern besaß. Kristina konnte aufgrund seiner Schattenhaftigkeit ja nur seinen Umriss erkennen: Etwa einen Meter fünfundachtzig groß, breite Schultern, kräftige Statur. Auf seinem Kopf trug er einen Hut, eine Melone, wie es vor gut hundert Jahren Mode gewesen war. Seine Gestalt wurde allem Anschein nach von einem langen Mantel umhüllt, in dessen Taschen er seine Hände vergraben hatte. Kristina musste aufgrund seiner Erscheinung unweigerlich an die alten Kriminalfilme in schwarz-weiß denken, die sie sich in ihrer Jugend so gerne angeschaut hatte. Doch welche Rolle spielte dieser Mann auf der Leinwand ihres Schlafzimmers: Den Detektiv oder den Ganoven? Seiner Aufmachung und seinem Verhalten nach zu urteilen, käme beides in Frage. Bislang hatte er sich Kristina nicht genähert – davon abgesehen, dass er sich jede Nacht in ihre Träume schlich und ihr von der Zimmerwand entgegenstarrte. Welche Absicht verbarg sich dahinter? Warum beobachtete er sie so eindringlich? Ging es ihm darum, ein wachsames Auge auf sie zu legen, um sie, vor was auch immer, zu beschützen? Oder wartete er nur auf einen günstigen Moment, um zuzuschlagen? Nämlich dann, wenn Kristinas Aufmerksamkeit abgelenkt war und sie nicht hinsah…

 

Generell wurde Kristina nur sehr selten von Alpträumen heimgesucht. Und auch diesen ihren stetig wiederkehrenden Traum nahm wie eher nicht als Alptraum wahr. Der Schattenmann tat ihr ja nichts zu Leide. Eigentlich strahlte er auch gar nichts Bedrohliches aus. Eher wirkte er auf sie wie ein Mysterium, das es noch zu ergründen galt. In erster Linie hielt sie ihn für geheimnisvoll, undurchschaubar, hintergründig – nicht aber für gefährlich. Auch wenn sie sich eines leisen Gefühls der Beklemmung nicht erwehren konnte. Interessanterweise trat dieses Gefühl des Unbehagens aber nie in besagten Träumen selbst auf, sondern erst nach dem Aufwachen, und war allein darauf begründet, dass sie das Motiv für die nächtlichen Besuche des Schattenmanns nicht kannte.

 

Kristina hatte ihr Leben lang Träume, denen das gleiche Thema zu Grunde lag. So träumte sie seit gut zehn Jahren immer wieder von Bahnhöfen und Zugfahrten. Mal war ihr im Traum die Bahn vor der Nase weggefahren. Oder sie saß in einem Bus, der in die falsche Richtung unterwegs war und sie daher nicht ans gewünschte Ziel beförderte. Manchmal war zwar der Zug der richtige, aber die anderen Fahrgäste verhielten sich auf irgendeine Weise unangenehm. Oder Kristina wusste nicht, in welche Richtung sie überhaupt fahren sollte. Kurzum: Es ergab sich so manche nächtliche Irrfahrt daraus, die aber immerhin voller Abenteuer und Überraschungen steckte. Und, welch Wunder: Es kam mitunter sogar vor, dass Kristina den Ort der Bestimmung komplikationslos erreichte. Aber, so oft diese Träume sich auch im Laufe der Jahre wiederholten, so glich doch nie einer haargenau dem anderen. Die Bahnhöfe, Züge, Busse, Fahrgäste – all diese Einzelheiten wiesen von Traum zu Traum gravierende Unterschiede auf. Ganz im Gegensatz zu den Träumen über den Schattenmann, die sich in allen Details, wie nach Drehbuch, wiederholten. Als würde jemand Nacht für Nacht denselben Film in Kristinas Traumkino abspielen. Hinzu kam noch, dass dieser Traum sieben Nächte in Folge auftrat. Von Bahnhöfen und Zugfahrten träumte Kristina zwar immer wieder mal, aber niemals mehrere Nächte am Stück. Insbesondere die Häufung der Besuche des Schattenmanns innerhalb solch einer kurzen Zeitspanne löste bei Kristina ein mulmiges Gefühl aus. Was hatte es mit dem Schattenmann auf sich? Diese Frage spukte Kristina während der gesamten Woche tagsüber im Kopf herum. Im Traum allerdings spielte dies keinerlei Rolle für sie. Während sie im Bett lag und die Konturen des Schattenmanns an der Zimmerwand betrachtete, war sie frei von Gedanken und Ideen. Was auf eine gewisse Art schade war. Andernfalls hätte ihr ja in den Sinn kommen können, ihren nächtlichen Besucher nach den Gründen für sein Erscheinen zu befragen. Ob er ihr wohl antworten würde? So schweigsam, wie er sich bislang gegeben hatte.

 

In der achten Nacht schließlich sollte sich etwas am Verlauf dieses unaufhaltsam wiederkehrenden Traums ändern…

Kapitel 1: Die Begegnung

Kristina befand sich auf dem Weg zum nahegelegenen Supermarkt, um ein paar Besorgungen zu erledigen. Es war Freitagabend und sie hatte sich einiges für das bevorstehende Wochenende vorgenommen. Morgen würde sie einen Mann treffen, den sie im Internet kennengelernt hatte. Daniel. Er war mit seinen vierunddreißig Jahren ein wenig älter als sie und sah unfassbar gut aus: Groß, sportlich, dunkles Haar, strahlend blaue Augen. Und ein süßes Lächeln. Für viele Frauen war er mit Sicherheit der Traumtyp schlechthin. Und Kristina hatte in der Tat schon ein paar Mal von ihm geträumt - nur die wunderschönsten Sachen natürlich. Bis die Träume über den Schattenmann anfingen, ihren Lauf zu nehmen. Seitdem war Daniel gar nicht mehr in Kristinas Träumen aufgetaucht, was sie sehr schade fand. Aber da konnte man wohl nichts machen. Außerdem würden sich die beiden ja bald in der echten Welt begegnen – schon morgen war es soweit!

 

Ein wenig bange war Kristina allerdings vor diesem Treffen. Obwohl Daniel und sie sich prächtig miteinander verstanden, gemeinsame Interessen teilten und auch schon mehrmals miteinander über mehrere Stunden telefoniert hatten, fürchtete sie sich davor, als Partnerin von ihm abgelehnt zu werden. Auch wenn die Beiden ganz offensichtlich auf derselben Wellenlänge surften, so hielt sie sich nicht für attraktiv genug für Daniel. Mit ihrem äußeren Erscheinungsbild war sie an sich sehr zufrieden und verspürte nicht den Wunsch, etwas daran ändern zu wollen. Aber so jemand wie Daniel, der konnte doch sicher jede Frau haben, die er wollte, auch viel hübschere als sie. Was sollte er also ausgerechnet mit einer Durchschnittsfrau wie ihr? Dieses Thema hatte sie, nachdem sie all ihren Mut zusammengenommen hatte, sogar ganz offen bei ihm angesprochen, zumal sie sich wunderte, dass er schon seit Jahren Single war. Er versicherte ihr darauf, dass sie ihm sehr gefalle, und dass mit den Frauen, denen er in den letzten Jahren begegnet sei, die Chemie einfach nicht gestimmt habe. Es wären zwar sehr hübsche dabei gewesen, aber allein darauf käme es ihm nicht an. Schließlich suche er keine Dekoration für sein Wohnzimmer, sondern eine Seelengefährtin. Na gut. Seine Worte hatten Kristina dann doch etwas beruhigt und sie noch neugieriger auf Daniel gemacht. Morgen würden sie sich zu einem Spaziergang im Stadtpark treffen, vielleicht zusammen ein Eis essen und miteinander über Gott und die Welt plaudern. Heute waren aber erst einmal der Einkauf und der Wohnungsputz angesagt. Denn am Sonntag würde ihre Freundin Tanja, die Kristina aus dem Yoga-Kurs kannte, vorbeikommen. Bis dahin mussten ihre Gemächer glitzern und glänzen.

 

Der Supermarkt war zu dieser späten Stunde fast leer. Nur noch drei weiteren Kunden begegnete Kristina, während sie ihren Einkaufswagen durch die Gänge schob. In der Backwarenabteilung versuchte eine junge Mutter gerade, ihr Baby zu beruhigen, das zu weinen anfing. Eben noch hatte es seelenruhig und traumversunken im Kinderwagen gelegen – im nächsten Moment war es aufgewacht. Hatte es wohl vom Schattenmann geträumt? Bei diesem Gedanken spürte Kristina auf einmal ein unangenehmes Gefühl im Rücken, so, als würde sie jemand von hinten anstarren. Blitzschnell drehte sie sich um und hätte schwören können, dass sich etwas bewegt hatte. Eine Gestalt war im Bruchteil einer Sekunde um die Ecke gehuscht, um sich vor Kristinas Blicken zu verstecken. Doch diese Gestalt war kein Mensch – sondern ein Schatten. Kristina wurde von Unruhe gepackt. Was war das nur? Wer hatte sein Auge eben so eindringlich auf sie geworfen? Für einen winzigen Moment rangen Furcht und Neugier in ihr. Schließlich siegte der Mut und sie eilte, ihren Einkaufswagen stehenlassend, in den Gang, wohin die Gestalt verschwunden war.

 

Als sie um die Ecke bog, sah sie dort tatsächlich jemanden. Und ihr rutschte direkt das Herz in die Hose: Vor ihr stand doch tatsächlich Daniel! Ausgerechnet jetzt, wo sie überhaupt nicht darauf vorbereitet war. Sie trug einen alten Jogginganzug, ihr langes, blondes Haar hing ihr mehr schlecht als recht gekämmt über die Schultern und ihre weißen Turnschuhe wiesen braune Flecken auf. Na wunderbar. Schlechter hätte das Timing kaum sein können. Kristina wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Was machte Daniel hier überhaupt? Sie ging schon seit Jahren in diesem Supermarkt einkaufen und war ihm noch nie begegnet. Ja, war er es denn auch wirklich? Kristina war schon oft Menschen begegnet, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen. Vielleicht war dies auch jetzt wieder der Fall und sie erlag einem Irrtum? Das wäre natürlich die beste der möglichen Optionen. Und die Chance darauf bestand durchaus, zumal sie Daniel bislang nur von Fotos her kannte. Auch Kristina selbst war schon oft mit anderen Frauen verwechselt worden. Sei es drum, vielleicht hatte sie ja Glück. Der junge Mann schaute kurz auf und warf ihr einen fragenden Blick zu. Im nächsten Moment veränderten sich seine Gesichtszüge. Er schien nachzudenken, sich zu erinnern. Mist, war es womöglich doch Daniel? Ging es Kristina durch den Kopf. Sie machte auf der Stelle kehrt, um zu retten, was noch zu retten war, und begab sich mit schnellen Schritten zu dem Gang, wo sie ihren Einkaufswagen stehen gelassen hatte.

 

Die Frau mit dem Baby war inzwischen verschwunden. Auch sonst stand niemand im Gang. Das Meiste, was Kristina vorhatte, einzukaufen, lag bereits im Wagen. Ein paar Kleinigkeiten fehlten noch. Doch Kristina beschloss, darauf zu verzichten und sich aus dem Staub zu machen, für den Fall, dass sie eben in ihrer schrecklichen Aufmachung doch Daniel begegnet war und sie einander in den nächsten Minuten ein weiteres Mal über den Weg laufen würden. Morgen würde sie sich so richtig aufbrezeln, damit der gute Mann keinerlei Verbindung zwischen der ungepflegten Frau im Supermarkt und ihr selbst herstellen würde.

 

Kristina eilte zur Kasse und bezahlte. Vor ihr stand niemand an, und die freundliche Verkäuferin verrichtete schnell und effektiv ihr Werk, so dass Kristina den Laden in Windeseile verlassen konnte. Kaum hatte sich die automatische Tür hinter ihr geschlossen, blieb sie einen Moment in der Abenddämmerung stehen, ließ ihre Augenlider zufallen und atmete erleichtert aus. Als sie ihre Lider jedoch wieder aufschlug, stand plötzlich jemand vor ihr. Der Mann aus dem Supermarkt. O nein!

 

„Ähm, sag mal, kennen wir uns vielleicht?“ Fragte er etwas zaghaft.

 

Aus der Nähe betrachtet, sah er ihrem morgigen Date sogar noch ähnlicher. Es konnte nur Daniel sein. Mist!

 

„Ich weiß nicht so recht…“ Stammelte Kristina.

 

„Hmm, also ich könnte schwören, dass wir uns mal im Urlaub begegnet sind. Tina, richtig?“

 

Tina? O je, das war die Kurzform ihres Namens. Und so wurde sie tatsächlich von vielen Menschen genannt. Aber von welchem Urlaub sprach er? Kristina war ihr Leben lang nicht viel in der Welt herumgekommen. Ihre Urlaube verbrachte sie für gewöhnlich zu Hause.

 

„Welchen Urlaub meinst du denn?“ Fragte sie neugierig.

 

„Vor drei Jahren in Griechenland. Kreta.“

 

Kreta. Nein, da war sie noch nie gewesen. Griechenland kannte sie bisher nur aus Büchern und Filmen. Aber sie hatte mal von Kreta geträumt. Das musste etwa drei Jahre her sein. Kristina interessierte sich bereits seit ihrer Kindheit für Traumwelten und führte seit etwa fünfzehn Jahren ein Traumtagebuch, in das sie die Träume, die sie besonders berührt hatten, mit Datum notierte. Manchmal verwendete sie sogar Stifte, um ein Bild ihrer Traumlandschaften aufzuzeichnen. Sie würde zu Hause nachschlagen und die entsprechende Seite heraussuchen, um sich alle Details ihres Kreta-Traums in Erinnerung zu rufen. Doch der junge Mann sprach wohl von einem Ereignis, dass in der physischen Welt, nicht in einem Traum, stattgefunden hatte. Dennoch wagte Kristina einen Versuch.

 

„In Griechenland war ich noch nie. Zumindest nicht in der echten Welt. Aber ich habe mal von Kreta geträumt.“

 

Der Mann überlegte. „Geträumt? Hmm, das ist höchst sonderbar. Ich könnte schwören, dass wir uns damals im Urlaub begegnet sind und einige Male zusammen schwimmen waren. Aber nicht im Traum, sondern im Hier und Jetzt. Du heißt doch Tina, oder?“

 

„Eigentlich Kristina. Aber die Meisten nennen mich Tina.“

 

„Dann musst du es sein! Aber wie kommt es dann, dass du nie in Griechenland warst? Außer in deinem Traum, meine ich…“

 

„Vermutlich liegt einfach eine Verwechslung vor. Wie heißt du denn eigentlich?“

 

„Tom. Na ja, ich werde dich mal nicht weiter stören. Hab noch einen schönen Abend!“

 

Schon schlenderte er über den Supermarkt-Parkplatz davon. Kristina sah ihm eine Zeit lang, in sich selbst versunken, nach. Irgendwas hatte diese seltsame Begegnung in ihr ausgelöst, angestoßen - sie wusste nur noch nicht, was genau es war und wo es hinführen würde.

Kapitel 2: Die Berührung

Zuhause angekommen verstaute Kristina die Lebensmittel, die sie eingekauft hatte. Das Obst wusch sie sorgfältig ab und richtete es in einer Schale auf dem Küchentisch hübsch an. Paprika, Gurken, Tomaten, Milch, Joghurt, Käse fanden den Weg in den Kühlschrank. Nudeln, Reis und Müsli räumte sie in den Küchenschrank. Als sie einen letzten prüfenden Blick in die Einkaufstüte warf, stutzte sie: Auf deren Boden lag eine Muschel. Kristina holte sie heraus und nahm sie in Augenschein. Von Perlmutt überzogen schimmerte sie im Licht der untergehenden Sonne. Die Betrachtung der Muschel löste bei Kristina ein Déjà-vu aus. Irgendwo hatte sie so eine - oder sogar genau diese -Muschel schon einmal gesehen. Nur wann? Und wo? Und auf welchem Wege war sie nun in ihre Einkaufstüte gekommen?

 

Mit der Muschel in der Hand begab Kristina sich ins Schlafzimmer, wo sie eine Schublade ihres Schreibtisches öffnete, in der sich ihre Traumtagebücher befanden. Es waren einfache Büchlein mit leeren Seiten zum Beschreiben, wie man sie in jedem Schreibwarenladen findet. Manche der Cover zierten Abbildungen von Schmetterlingen und Blumen, andere Motive von Meerestieren. Weitere wiederum waren schlicht und einfarbig gehalten. Kristina hatte auf jeweils jedem Büchlein mit einem Stift das Jahr eingetragen, in welchem sich besagte Träume abgespielt hatten. Nun nahm sie das Büchlein mit der Jahreszahl 2012 zur Hand, dessen Cover eine Palme zeigte, in deren Krone mehrere exotische Vögel Platz genommen hatten, und schaute das Inhaltsverzeichnis durch, das sie eigens dazu angelegt hatte, um sich besser in dem Sammelsurium ihrer notierten Träume zurechtzufinden. Jeden Traum versah sie mit einem Titel, ehe sie ihn wie eine Geschichte niederschrieb. „Abgetaucht in Kreta“ – das musste er sein! Sie blätterte bis zur letzten Eintragung und las, was sie seinerzeit dort zu Papier gebracht hatte:

 

„Ich liege am Strand und blicke auf das weite Meer hinaus, in dessen Wasser sich das leuchtende Blau des Himmels widerspiegelt. Ringherum ist es ruhig und fast windstill. Nur hin und wieder streift mir der Wind durchs Haar und kühlt meine von der Sonne erhitzte Haut. Jemand berührt mich am Arm. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und schaue hoch. Neben mir steht ein junger Mann. Er lächelt mich an und fordert mich auf, mit ihm ins Wasser zu gehen. Ich stehe auf, ergreife seine Hand und wir rennen los, dem Meer entgegen. Um die Wette schwimmen wir gemeinsam hinaus, lachend und einander überholend. Manchmal taucht er ab und an einer anderen Stelle wieder auf. Es macht Spaß, nach ihm Ausschau zu halten und zu erraten, wo sein Kopf wieder zum Vorschein kommen mag. Doch beim siebten oder achten Mal bleibt er länger unter Wasser als sonst, woraufhin ich es mit der Angst zu tun bekomme. Ist er womöglich ertrunken? Panisch blicke ich mich nach allen Seiten um und rufe nach ihm. Doch das ändert nichts an der Situation. Er bleibt weiterhin untergetaucht. Ich beginne zu weinen und zu schluchzen. Im nächsten Moment packt mich etwas von unten am Fuß. Eine Art Tentakel von einem Oktopus? Glitschig und unnachgiebig schlingt es sich um meine Beine und reißt mich in die Tiefe hinab. Ich wache mit Herzrasen und Atemnot auf.“

 

Nachdem Kristina diesen Eintrag gelesen hatte, musste sie erst einmal tief Luft holen. Dieser Traum hatte es wirklich in sich gehabt, war keiner von der angenehmen Sorte gewesen. Sie konnte sich noch gut an ihn erinnern und nachfühlen, was er in ihr ausgelöst hatte. Ein Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit und Panik war über sie hereingebrochen. Sie hatte sich dem Kraken völlig ausgeliefert gefühlt. Mit Herzrasen und Atemnot war sie aufgewacht, und es brauchte mehrere Anläufe, bis sie wieder Luft bekam. Was war mit dem jungen Mann im Traum passiert? Hatte der Oktopus auch ihn erwischt und mit sich in seine finsteren Gefilde gezogen? Sie hatte ihn noch deutlich vor Augen: Er war Tom wie aus dem Gesicht geschnitten. Und Daniel ebenfalls, der gut und gerne als Toms Doppelgänger durchgehen konnte, wenn man sich aufgrund der Fotos, die Kristina von ihm erhalten hatte, ein Bild von ihm machte.

 

Wie konnte es sein, dass Kristina und Tom sich allem Anschein nach von einem gemeinsamen Urlaub her kannten, den Tom allerdings in der realen Welt erlebte, während Kristina ihn nur geträumt hatte? Fast genauso mysteriös war die verblüffende optische Ähnlichkeit zwischen Tom und Daniel. Handelte es sich möglicherweise um dieselbe Person? Gab sich Tom als Daniel aus oder Daniel als Tom? Oder trug der Mann, der hinter alldem steckte, einen komplett anderen Namen und spielte ein böses Spiel mit Kristina? Höchst sonderbar war ja bereits, dass sie ihm ausgerechnet heute, einen Tag vor ihrem vereinbarten Date, im Supermarkt begegnet war. Hatte er das geplant? War er ihr aufgelauert? Hatte sie einen Stalker?

 

Da fiel ihr auf einmal der Schatten ein, der im Geschäft um die Ecke verschwunden war, als sie sich umdrehte. Dabei handelte es sich mit Sicherheit nicht um ein menschliches Wesen. In dem Gang, in den sich der Schatten davongemacht hatte, entdeckte sie Tom. Gehörte der Schatten zu Tom? Oder war Tom der Schatten in Person und konnte seine Gestalt bei Bedarf ändern? „Du hast eindeutig zu viele Horrorfilme geguckt.“ Schalt sich Kristina selbst. Was kamen ihr da nur für abstruse Einfälle?

 

***

 

Der Schattenmann machte indes in der achten Nacht eine Transformation durch. Inzwischen hatten seine Konturen feste Gestalt eingenommen. Von nun an war er mehr als nur ein Schattengespenst. Langsam löste er sich von der weißen Wand ab und trat aus ihr heraus, schritt auf Kristinas Bett zu, während diese wie gelähmt darin lag, ohne sich rühren zu können. Noch immer hatte der Schattenmann kein Gesicht. Und doch schien er sie aus unsichtbaren Augen heraus aufmerksam anzuschauen. Beschützend, behütend? Oder doch eher mit einem finsteren, bösartigen Lächeln auf den Lippen? Das konnte Kristina beim besten Willen nicht erkennen, so sehr sie sich auch bemühte.

 

Seine in den ersten sieben Nächten in tiefe Schwärze gehüllte, schattenartige Erscheinung hatte nun, wo er plastisch vor ihr im Raum stand, einen Grauton angenommen. Bedächtig zog er eine seiner großen Hände aus der Tasche seines Mantels und lüftete, wie zur Begrüßung, kurz seinen Hut. Manieren hatte er immerhin. Dann holte er seine andere Hand hervor und führte sie an Kristinas Hand heran, die reglos neben ihrem Körper auf dem Bett lag. Gleich würde er sie berühren, und Kristina wusste nicht, was sie davon halten sollte. Es ging alles so schnell, und die Eindrücke, welche die sonderbaren Ereignisse in ihr auslösten, überschlugen sich. Doch wie dem auch war, Kristina konnte ohnehin nichts tun, nicht ins Geschehen eingreifen. Sie war dem, was sich in diesem Augenblick hier, in ihrem Schlafzimmer abspielte, das bislang immer ein Ort der Ruhe und Geborgenheit für sie gewesen war, machtlos ausgeliefert. Ihr Körper lag da wie ein Brett, unfähig, sich auch nur um einen Millimeter zu bewegen. Sie konnte nur hoffen, dass alles gut ging und sie mit heiler Haut davonkam.

 

Als der Schattenmann seinen Zeigefinger ausstreckte und damit über Kristinas Handrücken strich, durchfuhr ihren Körper eine Art Stromstoß. Sie fühlte sich plötzlich am ganzen Leibe wie elektrisiert. Im gleichen Moment vernahm sie einen Schrei - gellend, tief und voll unbändiger Verzweiflung zugleich. Es war kein Mensch, der da schrie. Und auch kein gewöhnliches Tier. Es war ein Wesen, das tief auf dem Meeresgrund hauste und sich niemals an die Oberfläche wagte. Kristina wurde schlagartig bewusst: Der Oktopus hatte nach ihr gerufen!

Kapitel 3: Der Besucher

Der Samstagmorgen begrüßte Kristina mit einem strahlend blauen Himmel. Nach dem Aufstehen spülte sie die Erinnerung an den unheimlichen Traum von letzter Nacht unter der Dusche fort, so gut es ging. Sie wollte nicht mehr daran denken. Weder an den Schattenmann noch an den Oktopus. Heute stand ihr Treffen mit Daniel an. Sie würde gleich frühstücken, sich anschließend zurechtmachen und in den strahlenden Sonnenschein hinausgehen. Das Wetter war fabelhaft! Wie gemacht für ein Date im Park. Das Leben meinte es doch gut mit ihr.

 

Nachdem sie die Dusche verlassen hatte und in ihren flauschigen rosa Bademantel geschlüpft war, checkte sie kurz ihre Nachrichten: Daniel hatte ihr einen guten Morgen gewünscht und dahinter einen Kuss-Smiley gesetzt. Wie süß von ihm! Kristina bekam direkt Herzklopfen. Hoffentlich würde beim Treffen alles gut gehen. Sie war nun schon so lange Single, zwei Jahre, und fühlte sich zunehmend einsam. Klar, sie hatte ihre liebevolle Familie und tolle Freunde. Aber das war doch alles nicht dasselbe wie ein Partner. Es wäre ein Geschenk des Himmels, wenn es mit Daniel und ihr passte und die beiden ein Paar würden. Prompt sendete sie ihm einen Guten-Morgen-Gruß zurück. Daniel schrieb ihr daraufhin, dass er sich auf ihr Date schon sehr freue. Sie texteten noch kurz miteinander. Danach legte Kristina ihr Handy beiseite, brühte sich einen Kaffee auf und bereitete sich ein Marmeladenbrötchen zu, in welches sie mit großem Appetit biss. Sauerkirschmarmelade mochte sie am liebsten. Die schmeckte nach Sommer, Sonne und guter Laune.

 

Als nächstes zog sie sich das gelbe, knielange Sommerkleid aus fließendem Stoff, das sie sich für ihr Date zurechtgelegt hatte, über den Kopf und betrachtete sich kritisch im großen Spiegel, der im Wohnungsflur an der Wand lehnte. Sah sie gut genug darin aus? Würde sie Daniel gefallen? Als sie sich bückte, um die Riemchen an ihren goldfarbenen Sandalen zu schließen, und dabei einen kurzen Blick in den Spiegel warf, war ihr so, als wäre eine dunkle Gestalt hinter ihrem Rücken entlang gehuscht. Der Schattenmann? Beobachtete er sie nun etwa auch am helllichten Tage, während sie ihre Kleidung wechselte? Ja, womöglich sogar dann, wenn sie nackt unter der Dusche stand? Wenn ja, wäre das ganz schön unverschämt von seiner Seite. Allmählich hatte Kristina die Faxen dicke. Als würde es nicht schon genügen, dass er sich seit acht Nächten uneingeladen in ihren Träumen herumtummelte.

 

Auf einmal wurde Kristina bewusst, dass sie die Vorstellung, der Schattenmann könnte sich in ihrer Wohnung aufhalten, zwar peinlich berührte, ihr aber sonst gar keine Angst bereitete. Das fand sie direkt ein wenig seltsam. Immerhin handelte es sich bei seiner Person um ein übernatürliches Wesen. Eine Art Geist – nur in anderer Form. Vielleicht meinte er es doch gut mit ihr und wollte sie beschützen. Vor wem oder was? Möglicherweise vor dem Oktopus? Bei dem Gedanken an dessen fürchterlichen Schrei, den er in ihrem Traum von letzter Nacht ausgestoßen hatte, verkrampfte sich ihr ganzer Körper. Kristina fröstelte, obwohl ihr Digitalwecker achtundzwanzig Grad anzeigte, und hätte ihr dünnes Kleidchen am liebsten gegen einen Pelzmantel umgetauscht. O je, bloß nicht an den Oktopus denken! Nicht jetzt! Schließlich wollte sie nicht mit einem völlig verstörten Gesichtsausdruck bei ihrem Date aufkreuzen. Damit würde sie bei Daniel sicher keinen guten Eindruck hinterlassen.

 

Dann klingelte es an der Wohnungstür. Nanu? Wer mochte das denn sein? Kristina eilte hin und schaute durch den Spion. Sie konnte ihren Augen kaum glauben. Da stand doch wahrhaftig Daniel! Oder war es Tom? Egal, wer von beiden – woher hatte er ihre Adresse? Daniel hatte sie zwar mitgeteilt, dass sie in der Nähe des Stadtparks wohnte, ihm jedoch nicht ihre genaue Anschrift genannt und auch ihren Familiennamen für sich behalten. Daniel hatte auch gar nicht danach gefragt. Und dass er von Haus zu Haus lief, sich von Tür zu Tür durchklingelte, bis er ihre Wohnung fand, hielt sie für höchst unwahrscheinlich. Was hätte er damit bezwecken wollen? Sie waren doch sowieso in einer Stunde miteinander verabredet. Und falls es gar nicht Daniel, sondern Tom war, der nun hinter der Tür im Treppenhaus stand – was würde er von ihr wollen? Und woher wusste er, dass sie hier wohnte? Kristina überlegte, ob sie die Tür wirklich öffnen sollte. Schließlich war die Situation, in der sie sich gerade befand, äußerst merkwürdig. Womöglich könnte es noch gefährlich für sie werden. Doch ihre Neugier ließ sich nicht länger als zehn Sekunden in Schach halten. Dann drückte der Mann erneut auf den Klingelknopf. Und Christina öffnete die Tür – allerdings mit angelegter Kette.

 

„Hallo Tina! Ich hoffe, ich störe dich nicht gerade?“ Der Mann schenkte ihr ein warmes Lächeln. Tom, Daniel – welcher von den beiden war es denn nun?

 

„Ähm, nein, alles gut.“ Kristina gab sich Mühe, möglichst gefasst und locker zu wirken.

 

„Weißt du, irgendwie geht mir unsere gestrige Begegnung im Supermarkt nicht aus dem Sinn. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dich schon sehr viel länger kenne. Damals aus dem Kreta-Urlaub. Und du hattest gestern von einem Traum gesprochen…“

 

Also war es Tom! Gut, diese Frage hatte sich schonmal von selbst beantwortet. Die andere wollte Kristina auf der Stelle geklärt haben, bevor sie dieses Gespräch fortsetzte.

 

„Tom, sag mal, woher hast du eigentlich meine Adresse?“ Platzte es aus ihr heraus.

 

Ertappt blickte ihr unangemeldeter Besucher drein. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Verlegenheit wieder.

 

„O je, das ist mir alles etwas peinlich, weißt du… Man könnte ja fast meinen, ich würde dich stalken, nicht wahr? Doch ich versichere dir, dass ich keine bösen Absichten hege. Deine Adresse hast du mir damals im Urlaub vor drei Jahren selbst gegeben. Wir wollten ja in Kontakt bleiben. Doch du hast dich dann nicht mehr bei mir gemeldet. Na ja, und ich wollte auch nicht allzu aufdringlich erscheinen. Nachdem ich dir drei Briefe geschrieben hatte und keine Antwort von dir darauf erhielt, gab ich auf. Damals wohnte ich noch woanders. Ich hätte natürlich auch schon früher bei dir klingeln können. Doch da ich in der Annahme lebte, dass du nicht mehr an mir interessiert bist, dachte ich mir, dass ich dich besser in Ruhe lasse. Als ich dich aber gestern für mich vollkommen unerwartet sah, musste ich dich einfach ansprechen. Weißt du, ich finde es nämlich sehr schade, dass unser Kontakt damals abgebrochen ist.“ In seiner Stimme lag Bedauern.

 

Das Ganze wurde immer merkwürdiger. Kristina verstand die Welt nicht mehr. Da stand dieser Mann namens Tom, der Daniels Zwillingsbruder hätte sein können, vor ihr, und behauptete, sie aus einem Urlaub zu kennen, der für sie selbst nur in ihrem Traum stattgefunden hatte. Zudem meinte er, sie hätte ihm ihre Adresse mitgeteilt. Daran konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Außerdem: Wer schrieb im Zeitalter der Handys und E-Mails überhaupt noch Briefe? Am liebsten wäre sie diesem Rätsel sofort auf die Spur gekommen. Doch die Zeit drängte. Die Minuten bis zu ihrem Date schmolzen nur so dahin. Und sie hatte sich noch nicht einmal geschminkt.

 

„Tom, hör zu, ich habe es gerade sehr eilig. Bin noch verabredet. Lass uns ein andermal darüber reden, okay? Gib mir am besten deine Handynummer und ich melde mich später bei dir, einverstanden?“

 

„Alles gut. Wir werden uns bestimmt ein andermal wiedersehen.“ Die Enttäuschung darüber, dass ihr Gespräch ein so abruptes Ende genommen hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Jedoch machte er keinerlei Anstalten, seine Handynummer herauszurücken.

 

„Also dann, mach´s gut.“ Kristina schloss die Tür.

 

Anschließend widmete sie sich den letzten Vorbereitungen für das anstehende Date und versuchte, währenddessen alle Gedanken, die nicht damit zu tun hatten, aus ihrem Kopf zu verbannen.

Kapitel 4: Der Begleiter

Noch bevor Kristina den vereinbarten Treffpunkt erreichte, sah sie Daniel bereits am Parkeingang stehen. Er glich Tom tatsächlich bis aufs Haar, so dass Kristina sich nicht sicher war, mit wem von den beiden sie es denn nun wirklich zu tun hatte. Den einzigen Unterscheid konnte sie in der Kleidung erkennen: Daniel trug eine kurze Hose aus blauem Jeansstoff, dazu ein weißes T-Shirt, während Tom vorhin eine lange beige Stoffhose und ein hellblaues Hemd angehabt hatte. Doch Kleidung konnte man schließlich innerhalb weniger Sekunden wechseln.

 

Daniel erkannte Kristina und hob seine Hand zum Gruß. Sie winkte mit einem Lächeln zurück, während sie aufeinander zuschritten.

 

„Hey, da bist du ja! Schön, dich zu sehen.“ Auch seine Stimme war mit der von Tom absolut identisch.

 

Er nahm sie in seine Arme und schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. Das fing ja schon mal gut an, dachte sich Kristina. Anscheinend gefiel sie ihm. Bei diesem Gedanken bekam sie ganz weiche Knie. Nachdem sie sich schließlich doch voneinander gelöst hatten, schlenderten sie Seite an Seite durch den Park, auf der Suche nach einer im Schatten stehenden Bank.

 

Die Unruhe in Kristinas Innerem verstärkte sich von Minute zu Minute. Sie versuchte, sich zu beherrschen und diese unter Kontrolle zu halten, so gut es eben ging. Es fühlte sich für sie so an, als würde eine Achterbahn mit unzähligen Loopings durch ihren Körper rasen. Zum einen machte sie Daniels Nähe nervös. Bereits im Vorfeld, während sie in den letzten Wochen miteinander geschrieben und telefoniert hatten, schlichen sich erste Gefühle der Verliebtheit in ihrem Herzen ein. Und nun, wo er leibhaftig vor ihr stand, musste sie sich eingestehen, dass sie sich total in ihn verknallt hatte. So verliebt, wie er sie die ganze Zeit anschaute, hatte anscheinend auch sie seine Seele berührt, was sie noch mehr in Aufruhr versetzte. Doch das war längst nicht alles. Dass er Tom zum Verwechseln ähnlich sah, ließ in Kristina den Verdacht aufkommen, dass es sich bei den beiden entweder um Zwillingsbrüder handeln musste. Oder aber, hinter Tom und Daniel steckte ein und dieselbe Person, die ein seltsames und makabres Spiel mit Kristina und ihren Gefühlen trieb. Diese Möglichkeit verunsicherte sie zutiefst.

 

Als die Beiden auf einer Bank neben einer wunderschönen, alten Eiche Platz genommen hatten, fasste Kristina sich schließlich ein Herz und fragte geradeheraus:

 

„Daniel, hast du eigentlich Geschwister?“

 

Ein Schatten legte sich über Daniels Gesicht.

 

„Nicht mehr. Ich hatte einen Zwillingsbruder. Er ist vor drei Jahren tragisch verunglückt.“ Tränen traten in Daniels Augen.

 

„O je, das tut mir sehr Leid!“ Kristina nahm ihn tröstend in den Arm.

 

„Danke für dein Mitgefühl. Tom starb im Urlaub. Beim Tauchen. Auf Kreta.“

 

Kristinas Herzschlag setzte einen Moment lang aus.

 

„Auf Kreta, sagst du?“

 

„Ja. Er flog hin. Und kam leider nicht mehr lebend zurück. Er war ein sehr guter Schwimmer. Und das Meer war laut den anderen Badegästen, die sich zur gleichen Zeit wie er im Wasser aufhielten, ruhig. Bis heute kann sich niemand erklären, was damals passiert ist, warum Tom sterben musste.“

 

Doch Kristina wusste es längst: Der Oktopus hatte sich Tom geholt! Ihn mit seinen gewaltigen Tentakeln gegriffen und auf den Meeresboden herabgezogen. Sollte sie Daniel von ihrem Traum erzählen? Und davon, dass sie Toms Geist begegnet war?

 

Hilfesuchend schaute sie sich in der Umgebung um. Einige Menschen schlenderten auf den Wegen dahin. Manche schoben Kinderwagen, die anderen führten ihre Hunde aus. Auf der Wiese vor ihnen stand eine junge Frau, die das Jonglieren mit Softbällen übte. Mit zwei Bällen gelang es ihr mühelos. Ab dem dritten Ball gab es Probleme. Doch sie ließ nicht locker, übte fleißig weiter, blieb buchstäblich am Ball.

 

Dann wurde Kristina einer Bewegung zwischen den Bäumen am anderen Ende der Wiese gewahr. Jemand, der sich zuvor hinter einem Baumstamm versteckt gehalten hatte, trat hervor. Beige Hose, hellblaues Hemd: Eindeutig Tom. Er stand nur ruhig da und schüttelte langsam seinen Kopf, wie um Kristina zu bedeuten, dass sie Daniel nichts von ihrer Begegnung und dem Oktopus erzählen sollte. Kristina wusste zwar nicht, warum er etwas dagegen hatte. Doch sie beließ es dabei und schwieg. Möglicherweise würde Daniel sie für verrückt halten und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, wenn sie ihm von all dem erzählte. Das wollte sie nicht riskieren.

 

Immerhin verstand sie inzwischen, warum Tom ihr vorhin seine Handynummer nicht gegeben hatte. Da er nicht mehr unter den Lebenden weilte, besaß er einfach kein Handy.

 

„Hey, wo bist du gerade?“ Daniel hatte sich inzwischen wieder gefasst und warf Kristina einen liebevollen Seitenblick zu.

 

„Ich… Ach nichts. Ich habe wohl einfach etwas geträumt.“

 

„Meine Träumerin…“ Daniel legte zärtlich einen Arm um sie.

 

Die Beiden verbrachten noch mehrere Stunden gemeinsam im Park und redeten über Gott und die Welt, kamen dabei von einem Thema ins nächste, so wie Kristina es sich vorgestellt hatte. Zwischendurch lud Daniel sie zu einem großen Eisbecher mit Früchten und Sahne ein, der fantastisch schmeckte. Am liebsten hätte Kristina diesen Tag, dieses Date mit Daniel, in Endlosschleife ablaufen lassen. Doch schließlich setzte die Abenddämmerung ein, und Kristina beschloss, nach Hause zu gehen. Daniel begleitete sie, Hand in Hand, bis zu ihrer Haustür. Dort angekommen, kam es nicht nur zu einer weiteren langen, innigen Umarmung, sondern auch zu ihrem ersten Kuss. Am nächsten Wochenende würden sie sich wiedersehen.

 

Als Kristina, oben angekommen, ihre Wohnungstür aufschloss und öffnete, war sie sich ziemlich sicher, für den Bruchteil einer Sekunde einen Tentakel gesehen zu haben, der mit einer sich kringelnden Bewegung im Flurspiegel verschwand.

Kapitel 5: Die Befreiung

In der Nacht von Samstag zu Sonntag hatte Kristina einen verstörenden Traum. Natürlich erschien wieder der Schattenmann auf der Bildfläche. Damit hatte sie bereits gerechnet. Und sie hatte, im Grunde genommen, nichts dagegen. Er verhielt sich ja friedlich und tat ihr nichts an. Im Traum der vorherigen Nacht hatte er zwar ihre Hand berührt, was ihr eine Art Stromstoß bescherte. Dieser war jedoch nicht mit Schmerz verbunden, sondern glich eher einem starken Kribbeln, welches ihren gesamten Körper durchflutete. Dahinter verbarg sich aber keine böse Absicht des Schattenmannes. Das spürte Kristina deutlich. Eher hatte dieser dadurch etwas ans Tageslicht befördert, was Kristina vor undenklicher Zeit tief in sich selbst vergraben hatte. Den Nachhall eines Ereignisses – oder auch nur den Hauch einer Erinnerung, welche seitdem auf dem Grund von Kristinas Seele weilte, sich dort versteckt hielt. Einem Oktopus gleich, der sich auf dem Meeresboden auf die Lauer legt und dort in aller Gemach auf sein nächstes Opfer wartet. Sobald sich dieses, nichts Böses ahnend, auf den Ozean hinauswagt, beobachtet er es von seinem Versteck auf dem Meeresgrund aus eine Weile eindringlich, bevor er seine Tentakel ausfährt und zupackt. Die Meisten jedoch lässt er wieder frei, nachdem er Katz und Maus mit ihnen gespielt hat. So lange sie ihm nicht ins Gesicht sehen, stehen die Chancen gut, ihm zu entkommen. Doch wehe dem, der sich traut, zu ihm herab zu tauchen und seine Gemächer zu betreten – mit denjenigen kennt er kein Mitleid. Der Oktopus will das Geheimnis seiner Existenz gewahrt wissen. Wer es zu ergründen versucht, wird von ihm gnadenlos verschlungen. Durch das, was sich in der neunten Nacht der Schattenmann-Träume ereignete, war Kristina allerdings dazu gezwungen, dem Seeungeheuer in sein finsteres Auge zu blicken.

 

Wieder einmal stand der Schattenmann an ihrem Bett, nachdem er sich von der Zimmerwand abgelöst hatte. Wie ein Leibwächter hatte er sich dort positioniert. Langsam zog er seine Hand aus der Manteltasche und legte sich seinen Zeigefinger an die Stelle, wo sich für gewöhnlich der Mund befindet. Doch der Schattenmann besaß kein Gesicht und somit auch keine Lippen. Nichtsdestotrotz bedeutete er Kristina mit dieser einfachen Geste, zu schweigen, ganz gleich, was nun auch passieren mochte.

 

Im nächsten Moment vernahm Kristina ein Geräusch wie von Meeresrauschen. Immer lauter drang es an ihr Ohr, obgleich das Meer selbst nicht zu sehen war. Etwas bewegte sich hinter dem Rücken des Schattenmanns. Ein Tentakel etwa? Schnell huschte es hin und her, von seiner Schulter zum Kopf und hinüber zur anderen Schulter. Kristina hätte den Schattenmann am liebsten gewarnt. Doch er hatte sie aufgefordert, zu schweigen. Davon abgesehen, lag ihr Körper weiterhin wie gelähmt im Bett. Nicht einmal ihre Augen vermochte sie, zu schließen, geschweige denn, ihren Mund zu öffnen. Ein weiteres Tentakel gesellte sich zum ersten hinzu, dann ein drittes, viertes, fünftes. Schließlich waren es acht Tentakel, die sich hinter dem Schattenmann in einem unbändigen Tanz hin und her kräuselten. Er selbst schien von all dem überhaupt nichts zu bemerken. Oder aber er ignorierte einfach das grauenvolle Theater, das sich hinter seinem Rücken abspielte. Vielleicht versuchte er, sich tot zu stellen, damit der Oktopus ihn in Ruhe ließ. Doch das sollte ihm auf lange Sicht nicht weiterhelfen.

 

Mehrere Tentakel fingen an, den Körper des Schattenmanns zu umschlingen. Langsam schlossen sie sich um seinen schattenhaften Leib, während er sich nicht von der Stelle rührte. Befand sich sein Körper etwa ebenso im Zustand der Lähmung wie der von Kristina? Der Schattenmann ertrug sein Schicksal jedoch allem Anschein nach mit Gelassenheit. Kristina konnte seine Tapferkeit nur bewundern. Vielleicht verbarg sich dahinter sogar eine besondere Taktik, die darauf abzielte, im letzten Moment zum Gegenschlag auszuholen, wenn der Oktopus nicht damit rechnete, und ihn dadurch zu besiegen?

 

Nachdem der Oktopus den Schattenmann mit seinen acht Tentakeln fest umklammert hatte, öffnete er langsam seinen Mund, aus dem helles Licht drang und sein wehrloses Opfer umhüllte. Zunehmend wurde dessen Schattenhaftigkeit von den Strahlen durchleuchtet, bis sie sich komplett darin auflöste und vom Schattenmann nichts mehr übrigblieb. Ohne auch nur einen stummen Schrei auszustoßen, hatte er diesen Prozess über sich ergehen lassen und sich mit dem Licht vereint. Doch der Oktopus hatte sein Werk noch nicht zur Gänze vollendet. Jetzt, wo ihr Beschützer sich im Licht aufgelöst hatte, war Kristina dem Monstrum wehrlos ausgeliefert. Da der Schattenmann, der zuvor wie eine Barriere zwischen Kristina und dem Kraken gestanden hatte, nicht mehr existent war, gab es jetzt nichts mehr, was Kristina von dem Seeungeheuer abschirmte und sie daran hindern konnte, ihm ins Gesicht zu blicken. Zumal es ihr nach wie vor unmöglich war, ihre Augen zu schließen. Ihre Lider blieben starr in derselben Position, rührten sich nicht. Die Chance, die Hände vor die Augen zu halten, wie es Kinder gerne tun, in der Hoffnung, die bösen Monster würden sich daraufhin in Luft auflösen, war ihr somit nicht gegeben. Sie hatte keine Wahl, war dazu gezwungen, mit dem gewaltigen Kraken, der sich ihrem Bett gegenüber auf alle acht Tentakel aufgestellt hatte, Blickkontakt zu halten – komme, was wolle.

 

Seine Augen sprühten Funken in allen nur erdenklichen Farben des Universums. Leuchtend sprangen sie aus seinem tiefsten Inneren heraus und flogen durch Kristinas Schlafzimmer, in welchem es zunehmend enger wurde, während der Leib des Oktopusses immer mehr an Größe zunahm. Für den Moment schien er all seine Energie auf sein Wachstum auszurichten, sich im Raum auszudehnen, mit dem Ziel, ihn bis in den kleinsten Winkel mit seiner imposanten Masse auszufüllen. Bald schon berührte er mit seinem Tintensack Kristinas Körper, legte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, so dass sie keine Luft mehr bekam. Dabei umschlang er mit seinen acht Tentakeln Kristinas Körper. Doch so unangenehm dies auf körperlicher Ebene auch sein mochte, verspürte Kristina keinerlei Angst. Denn sie wusste, schlimmer könnte es kaum noch werden und gleich hätte sie es ohnehin überstanden. Jetzt, wo der Oktopus sie eingeholt, mit seinen mächtigen Tentakeln erwischt und in die Mangel genommen hatte, war immerhin jeder Gedanke an Verteidigung und Flucht überflüssig geworden. Sie fügte sich, ließ jeden Wunsch nach Kontrolle los. Von nun an brauchte sie nichts mehr zu tun. Es genügte, die Dinge einfach geschehen zu lassen. Zusammen mit dieser Erkenntnis legte sich ein Hauch von Frieden, einem zarten Lichtschimmer gleich, über den noch dunklen Horizont ihrer müden Seele und schenkte Kristina die unumstößliche Gewissheit, dass von nun an alles besser werden würde, ganz gleich, wie es weitergehen mochte.

 

Nachdem Kristina einen letzten Atemzug genommen hatte, drückte der Oktopus mit seinem Gewicht ihren Brustkorb gewaltsam nieder und öffnete erneut seinen Mund. Kristina wurde von dem daraus dringenden Licht, das heller strahlte als tausend Sonnen, mit jeder Faser ihres Wesens ergriffen. Alles was sie war und ausmachte, löste sich darin auf, fand zu seinem ursprünglichen Zustand zurück. In der Präsenz dieses Lichts gab es kein Gestern und kein Morgen, kein Gut und kein Böse, kein Oben und kein Unten – nur das ewige Sein in seiner reinen Essenz. Kristina als Person hatte ihre Existenz aufgegeben. Und dennoch war etwas von ihr geblieben. Ein Lichtfunken, der bis ans Ende aller Tage durch Raum und Zeit reist, um irgendwann schließlich für immer in die ewigen Sphären einzukehren.

 

„Das muss der Tod sein.“ Sprach Kristina in ihrem Inneren zu sich selbst. Aber war sie wirklich gestorben? Auf eine gewisse Weise hatte sie zweifellos das Zeitliche gesegnet. Gleichzeitig jedoch war sie zu neuem Leben erwacht.

Epilog: Am Lichtstrand

Eine wohltuende Wärme legt sich über Kristinas Haut. In ihren Ohren erklingt Meeresrauschen. In ihrer Hand hält sie etwas fest umklammert. Eine kleine Muschel? Sie öffnet die Augen und schließt sie sofort wieder, weil das Licht der im Zenit stehenden Sonne sie mit unbändiger Kraft blendet. Vorsichtig versucht sie es noch einmal, hebt ihre Lider nur einen spaltbreit, schaut sich um. Sie liegt an einem Strand. Griechenland. Kreta. Jemand berührt sie am Arm. Das muss Tom sein. Als sie ihren Kopf zur Seite wendet und hochschaut, wird sie in ihrer Vermutung bestätigt. Tom lächelt ihr zu.

 

„Ich geh dann mal. Bleib ruhig hier. Du brauchst nicht mitzukommen.“

 

Leichtfüßig und unbeschwert bewegt er sich Richtung Wasser. Am Ufer bleibt er kurz stehen, dreht sich ein letztes Mal nach Kristina um, hebt seine Hand zum Abschied. Sie winkt nicht zurück, schaut nur, sieht vor sich das türkisfarbene Meer und darüber den grenzenlosen Horizont. Tom nimmt seine Hand wieder herunter und schreitet den Wellen entgegen. Kristina schaut ihm nach, während er immer weiter hinausschwimmt. Was sucht er dort draußen? Was wird er finden? Kristina sucht und findet nicht mehr. Sie ist einfach. Allein - aber keineswegs einsam.

 

Nach einer Weile legen sich die Wellen. Die Wasseroberfläche verwandelt sich in einen glatten Spiegel, in welchem sich das Blau des Himmels wiederfindet. Kristina erhebt sich, nähert sich mit langsamen Schritten dem Meer, die Muschel immer noch in ihrer Hand. Am Ufer angekommen, hält sie nach Tom Ausschau, auch wenn sie auf dem Grunde ihres Herzens bereits weiß, dass es vergebens ist, dass sie eben einander zum letzten Mal gesehen haben, dass es kein Zurück mehr gibt. Nun öffnet sie ihre Hand und betrachtet die kleine Muschel, die in zarten Pastelltönen schimmernd mit den Sonnenstrahlen spielt. Hübsch sieht sie aus. Und dennoch ist es überflüssig geworden, sie noch länger zu behalten. Kristina holt mit einer Armbewegung aus und wirft die Muschel so weit ins Meer hinaus, wie sie nur kann. Mit einem leisen Plätschern schlägt sie kurz auf der Wasseroberfläche auf, um daraufhin in den unergründlichen Tiefen des Gewässers zu versinken. Während Kristina ihren Blick in die Ferne schweifen lässt, wird ihr zunehmend bewusst, dass sich der Buchdeckel zu ihrem alten Leben geschlossen hat und dass ein neues Kapitel bereit ist, geschrieben zu werden.

Impressum

Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2025

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