Leise schaukelt das Boot auf den Wellen dahin, während wir zu zweit darin den Ozean entlangtreiben. Das Bächlein hatte sich, je weiter wir uns von seinem Ufer entfernten, zunächst in einen Fluss, später in ein Meer verwandelt. Ich weiß nicht, wie lange wir schon unterwegs sind. Gibt es so etwas wie Zeit in dieser Daseinsebene überhaupt? Die Strahlen der Sonne tanzen auf dem Wasser und lassen es funkeln.
Der Fährmann, ein schweigsamer Mann in jugendlicher Gestalt, hält ein großes Paddel in seinen Händen, mit dem er die Wassermassen teilt. Kraftvoll, aber in aller Seelenruhe, bringt er das Boot unserem Ziel näher, wo auch immer sich dieses befinden mag. Auch wenn ich ihm gerade zum ersten Mal in meinem Leben – oder soll ich besser sagen: nach meinem Ableben – begegnet bin, bringe ich ihm absolutes Vertrauen entgegen, was auf seine besondere Ausstrahlung zurückzuführen ist, für die mir die Worte fehlen, um sie näher zu beschreiben. Man könnte es vielleicht so ausdrücken: Er scheint nicht von dieser Welt zu sein. Aber von welcher Welt ist er dann? Auf jeden Fall von einer besseren, friedvolleren als der, aus welcher ich komme und die ich bis vor kurzem noch als mein Zuhause betrachtet habe. Meine wahre Heimat ist anscheinend aber in ganz anderen Gefilden angesiedelt, als ich zu Lebzeiten vermutet hätte. Über Nahtoderfahrungen habe ich zwar einiges gelesen und gehört und die Berichte darüber mit Neugier verfolgt. Doch es sind zwei komplett unterschiedliche Situationen, sich diese Dinge vorzustellen und diese selbst am eigenen Leibe – insofern das die richtige Bezeichnung ist für das, was einem nach dem Tod als eine Art Körper gegeben ist – zu erleben. Hinzu kommt noch, dass ich mich nicht mehr in Todesnähe befinde, sondern die Schwelle zum Jenseits bereits überschritten habe. Vor fast siebzehn Erdenjahren, um genau zu sein. Und dennoch hat es eine ganze Weile gedauert, bis es mir gelungen ist, mich von der irdischen Welt komplett zu lösen. Auch wenn ich mich seit meinem Tod in einer Dimension jenseits von Raum und Zeit befinde, so fühlte es sich für mich dennoch wie eine halbe Ewigkeit an, bis ich gerettet wurde und ins Licht gehen konnte. Bis zu diesem Moment irrte ich durch einen finsteren Wald, den ich durch meinen Seelenschmerz selbst erschaffen hatte. Am besten wäre es aber wohl, wenn ich meine Geschichte von Anfang an erzähle…
Mein Name ist Selina Wolkenstern. Im zarten Alter von nur neunzehn Jahren verlor ich unter höchst mysteriösen Umständen mein Leben. Das Träumen war schon immer meine große Leidenschaft gewesen. Doch dieses eine Mal ging ich in einem Traum zu weit – unbeabsichtigt, aber mit fatalen Folgen für mich und für meine Angehörigen. Ich träumte davon, bei Nacht in einem Wald spazieren zu gehen. Der Vollmond stand hoch am Himmel und leuchtete mir den Weg, den ich beschwingt entlangschritt. Ich liebe Wälder und fürchte mich auch im Dunkeln nicht vor ihnen. Also genoss ich meinen Spaziergang, ohne an etwas Böses zu denken, zumal ich mich, wie ich dachte, in einem Traum befand. Was sollte also schon passieren? Zur Not konnte ich ja immer noch aufwachen.
Schließlich erreichte ich einen Pfad, der eine Bergkette hinaufführte. Um mir die Landschaft, so gut es im Dunkeln eben ging, von oben anzuschauen, erklomm ich eine Klippe. Doch als ich dort oben stand und ins Tal hinabblickte, wurde mir so leicht ums Herz und der Wunsch, durch den nächtlichen Himmel zu fliegen, ergriff von mir Besitz. Das Fliegen zählt in der Traumwelt seit jeher zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, und niemals habe ich dabei etwas Dramatisches erlebt – bis zu jener verhängnisvollen Nacht. Frei wie ein Vogel durch die Lüfte zu schweben – was konnte daran schon verkehrt sein? Träume laden einen doch gerade dazu ein, das Unmögliche möglich zu machen. Selbst wenn ich während meines Fluges aus irgendeinem Grund abstürzen sollte, würde ich doch unmittelbar darauf in meinem Bett aufwachen. Doch in diesem Punkt hatte ich mich mächtig getäuscht. Kaum stand ich auf der Klippe, breitete meine Arme wie Flügel aus und sprang vom Klippenrand – da fiel ich auch schon hinab, schneller und schneller, ohne dass mir die Flügelschläge meiner Arme etwas genützt hätten. Nachdem ich unten auf dem Boden aufgekommen war, verlor ich für kurze Zeit das Bewusstsein. Anschließend erwachte ich jedoch nicht in meinem Bett, sondern schwebte wie bei einer klassischen Nahtoderfahrung empor, von meinem Körper hinfort. Leblos lag er unter mir, rührte sich nicht mehr. Wie hatte das nur passieren können? Warum war ich nicht aus diesem Traum erwacht? Wenn man in einem Traum stirbt, wacht man doch für gewöhnlich auf. War hier vielleicht ein Versehen passiert, durch dass die Regeln und Gesetze der Traumwelt für einen winzigen Moment außer Kraft gesetzt worden waren? Und ausgerechnet in diesem Moment musste ich von der Klippe stürzen und tödlich verunglücken. Ein wirklich schlechtes Timing. Doch das war noch längst nicht alles…
Meine sterblichen Überreste wurden erst knapp sechzehn Jahre nach meinem tödlichen Unfall von Wanderern entdeckt, die sich tiefer in den Wald hineingewagt hatten. Bis dahin galt ich als verschollen. Mein Körper hatte nämlich am Morgen nach jener unheilvollen Nacht nicht in meinem Bett gelegen, so dass zunächst viele Jahre niemand wusste, was mit mir geschehen war. Meine Familie, meine Freunde, alle Menschen, die mich zu Lebzeiten kannten, gingen davon aus, ich hätte mich entweder aus dem Staub gemacht oder wäre entführt worden. Doch auch die eifrigen Bemühungen der Polizei blieben erfolglos. Nicht die geringste Spur, nicht das kleinste Indiz, das auf meinen Verbleib hindeutete, wurde ans Tageslicht gebracht. Die Menschen fragten sich, was wohl passiert und aus mir geworden sei, nachdem ich mich über Nacht buchstäblich in Luft aufgelöst hatte. Die Trauer und die Fassungslosigkeit, welche mein Verschwinden bei meinen Angehörigen auslöste, waren für mich unerträglich. Und so versank ich mehr und mehr in meinem Schmerz, von heftigen Vorwürfen geplagt, weshalb ich in meinem seltsamen Traum, welcher sich der Welt der Wachen näher erwies, als zunächst vermutet, nicht vorsichtiger gewesen war. Mein Geist hatte geschlafen - in einem Moment, wo er hätte wach sein sollen. Von da an begleiteten mich Schuldgefühle in jedem Augenblick meines Daseins. Durch die Summe all meiner destruktiven, selbstzerstörerischen Gedanken und Gefühle erschuf ich schließlich unbewusst den finsteren Wald mit all den Monstern, die darin hausten, und aus dem es für mich kein Entkommen gab, so lange ich in meinem Schmerz gefangen war, was ich jedoch erst sehr viel später erkennen sollte. Hier herrschte rund um die Uhr Nacht, was meinen Seelenzustand nur allzu gut wiederspiegelte. Und ich war die ganze Zeit am Flüchten. Vor Ungeheuern. Vor Gespenstern. Vor mir selbst. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als aus diesem nicht enden wollenden Alptraum zu entkommen, wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte.
Eines Tages, als ich besonders viel geweint hatte und mich anschließend etwas besser fühlte, kam ein Rotkehlchen herbeigeflogen und setzte sich vor mich ins Gras. An einen Baumstamm gelehnt, beobachtete ich das kleine Wesen. Ich weiß nicht, wie lange es her war, dass ich zuletzt einen Vogel gesehen hatte. Hier in diesem Wald schien es sonst nur finstere Gestalten zu geben, die mir Böses wollten. Umso größer war meine Freude über den Besuch des Rotkehlchens, und diese wuchs noch, als es seinen Schnabel öffnete und ein munteres Lied anstimmte. Damit heiterte es mich ungemein auf. Es fühlte sich so an, als würde sich ein Sonnenstrahl seinen Weg durch meine dunklen Gedanken und traurigen Empfindungen bahnen. Wie zur Antwort schimmerte auch zwischen den Wolken, die über den Baumkronen hingen, etwas Licht hindurch. Die Welt, in der ich mich seit meinem Tod befand, war wie eine Art Spiegel. Alles was in mir war, zeigte er mir exakt im Außen – und dennoch brauchte ich sehr lange, um diese einfache Tatsache zu erkennen. Doch als ich die regenschweren Wolken in meinem trüben Gemüt ein Stück weit ziehen ließ, war ich der Wahrheit immerhin einen Schritt näher. Denn jetzt fiel mir Lucy ein, meine beste Freundin, die ich seit dem Babyalter kannte. Wenn mir jemand helfen konnte, dann sie. Darauf setzte ich all meine Hoffnungen.
Lucy und ich wurden am gleichen Tag geboren. Unsere Mütter hatten sich, während sie gemeinsam schwanger waren, kennengelernt und miteinander angefreundet. Mit Lucy verbrachte ich von Kindesbeinen an so viel Zeit, wie mit keinem anderen Menschen sonst. Wir waren uns beide im Wesen sehr ähnlich und teilten so auch die Freude am Träumen miteinander. Hinzu kommt noch der sonderbare Umstand, dass wir beide in unseren Träumen oft zur selben Person miteinander verschmolzen, Eins wurden. Um es genauer zu erklären: Wir blieben zwar wir selbst, konnten dabei aber auch die Gedanken, Gefühle und Emotionen der jeweils anderen wahrnehmen, die Welt durch ihre Augen sehen. Ich weiß nicht genau, warum, aber jetzt, in meiner misslichen Lage, beschlich mich die leise Ahnung, dass Lucy mich über die Traumebene erreichen und mir auf diese Weise weiterhelfen konnte. Wenn sich ihre Seele mit der meinen im Traum verband, würde sie den Ernst meiner Lage begreifen und einen Ausweg daraus finden, versprach mir meine Eingebung.
Zum Glück war der Schleier zwischen Lucys Welt und der Daseinsebene, die ich nach meinem Tod betreten hatte, dünn genug, um Lucy dort drüben, auf der anderen Seite, zu erreichen. Sie vernahm meinen Hilferuf sofort und kam ihm ohne zu zögern nach. Mutig betrat sie meinen Alptraum und unterstützte mich durch liebevolle Worte dabei, den finsteren Wald mit seinen Monstern ungeschehen werden zu lassen, so dass er sich im Nu aufzulösen begann. Sie führte mir die näheren Umstände für meinen tödlichen Unfall noch einmal vor Augen und machte dadurch deutlich, dass mich keine Schuld an dem Unglück traf. Schließlich war es doch nicht meine Absicht gewesen, zu sterben, sondern ich war einem Irrtum erlegen, der mich in den Tod trieb. Da hatte sie natürlich Recht. Zudem bedeutete es eine riesige Erleichterung für mich, dass eine Menschenseele das so wahrnahm. Auch das verhalf mir dazu, Erlösung zu finden und ins Licht zu gehen.
Doch hier draußen, im schaukelnden Boot, befällt mich plötzlich Unruhe. Wir stehen kurz davor, mein Zuhause im Paradies zu erreichen. Es sieht einer tropischen Insel ähnlich, deren Schönheit jedoch jeden irdischen Ort übertrifft. Das weiß ich, ohne zu Lebzeiten viel gereist zu sein. Hier wachsen Palmen und andere Pflanzen, wie ich sie auch schon auf Erden gesehen habe. Darüber hinaus bieten sich meinen Augen aber auch gigantische Blumen und andere exotisch anmutende Gewächse, wie ich sie nicht einmal aus meinen kühnsten Träumen her kenne. Alles leuchtet farbenfroh, strahlt aus sich heraus, und ich meine sogar, himmlische Melodien zu vernehmen, als ein sanfter Wind die Blütenköpfe streift. Seit ich denken kann, habe ich eine tiefe, mit nichts zu vergleichende Sehnsucht in mir getragen, die ich nicht näher benennen konnte. Doch jetzt und hier in diesen himmlischen Gefilden weiß ich, dass sich meine Sehnsucht endlich erfüllt hat und ich in dieser Seinssphäre genau das finde, wonach ich mein Leben lang gesucht habe. Und dennoch hält mich etwas zurück, das Boot zu verlassen und das Ufer zu betreten.
Wie kann ich denn mein Glück reinen Gewissens genießen, wenn ich auf Erden noch etwas zu erledigen habe? Es gibt zwar niemanden, der etwas von mir erwartet. So gesehen könnte ich auch einfach hierbleiben. Doch es stimmt mich traurig, dass Tino, meine Jugendliebe, mich nach all den Jahren immer noch vermisst, was ich klar und deutlich spüren kann. Es muss doch einen Weg geben, ihn seinen Schmerz über meinen Verlust vergessen zu lassen und ihn seinem Glück näher zu bringen. Lucy scheint mir dafür geeignet. Wir waren seinerzeit ein starkes Dreiergespann gewesen, die dicksten Freunde. Die beiden vertrauen einander. Zudem sind sie beide ruhige, introvertierte Menschen, welche die Natur lieben. Aus meiner Sicht passen sie wunderbar zueinander und würden zusammen ein prächtiges Paar abgeben. Mein Entschluss steht fest.
Das Boot hat das Inselufer erreicht. Der Fährmann steigt aus und vertäut es am Steg. Dann reicht er mir seine Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen. Doch anstatt sie anzunehmen, bleibe ich einfach im Boot sitzen und blicke den Fährmann an, während ich meinen Kopf langsam schüttele. Er nickt mir verständnisvoll zu, ohne auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, und zieht seine Hand zurück. Ich brauche ihm nichts zu erklären. Er weiß auch so, was ich vorhabe und dass es für mich noch nicht an der Zeit ist, meinen Paradiesgarten zu betreten.
Im Wasser direkt unter mir bildet sich ein sich immer schneller drehender Strudel. Mein Wunsch, Tino glücklich zu sehen, ist so stark, dass sich das Tau mühelos von selbst löst. Der Fährmann hebt seine Hand zum Abschied. Im nächsten Augenblick werde ich zusammen mit dem Boot auf den Meeresgrund herabgezogen.
Als ich meine Augen öffne, liege ich in einem fremden Bett in einem mir unbekannten Zimmer. Unverkennbar handelt es sich dabei um das Zimmer in einem Hotel, welches überaus gemütlich im Landhaustil eingerichtet ist. Etwas singt in meinem Kopf. Die Stimme eines Vogels. Ein Rotkehlchen - eindeutig! Sollte mir das etwa zu denken geben? Oder dient mir die Stimme des gefiederten Sängers als eine Art Hinweis? Ich befinde mich offensichtlich in einem Hotel und höre ein Rotkehlchen singen…
„Hotel Rotkehlchen“, dämmert es mir.
Nachdem ich mich aus dem Bett erhoben habe, werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Draußen zeigt sich mir ein dichter Wald, in dessen Hintergrund sich eine Gebirgskette abzeichnet.
„Bergheim…“, überlege ich laut. Dieses Wort ist mir einfach in den Sinn gekommen. „Hotel Rotkehlchen“ in Bergheim. Ist das der Ort, an dem ich mich hier und jetzt befinde?
Schlagartig werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als es an der Tür klopft.
„Entschuldigung. Ich würde gerne das Zimmer sauber machen. Wir haben schon fast Mittag.“
Schnell ziehe ich den rosa Morgenmantel, der neben dem Bett liegt, über meinen Pyjama und eile mit schnellen Schritten Richtung Tür, um sie zu öffnen. Vor mir steht eine Frau in mittleren Jahren, neben sich einen Rollcontainer mit Reinigungsutensilien. Ich begrüße sie und lasse sie eintreten. Um sie nicht bei ihrer Arbeit zu stören, beschließe ich, mich derweil im Hotel umzusehen.
Als ich die Tür zu meinem Zimmer ins Schloss fallen lasse, fällt mir ein Schild daran auf: Zimmer Nummer 3. Wer hat mich hier einquartiert und aus welchem Grund?
Der dicke, rote Teppich, der im Flur ausgelegt ist, dämpft meine Schritte, während ich mich nach unten zur Rezeption begebe. Eine junge Frau steht hinter dem Tresen. Mir scheint, als ob ich sie jetzt zum ersten Mal sehe. Außerdem beschleicht mich die leise Ahnung, dass ich statt ihrer mit jemand anderem gerechnet habe. Einem Mann. Den ich sehr gut kenne. Tino! Fällt es mir ein. Er arbeitet doch seit einem Jahr in diesem Hotel am Empfang. Warum ist er in diesem Moment nicht hier? Möglicherweise ist er aber einfach für eine andere Schicht eingeteilt.
Die hübsche Mitarbeiterin lächelt mich freundlich an, als sie mich auf sich zukommen sieht.
„Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen und hatten schöne Träume.“ Raunt sie mir zu.
„Träume…?“ Ich überlege. Irgendwas war da. Ein Boot, ein Fährmann - möglicherweise der Todesengel höchstpersönlich? Ich weiß es nicht mehr genau. Ist ja auch nicht so wichtig. Jetzt hat es sich ausgeträumt und ich bin wach.
„Alles gut. Wenn Sie möchten, können sie gleich Ihr Mittagessen einnehmen. Unser Koch hat wieder mal sein Talent unter Beweis gestellt.“
Seltsamerweise verspüre ich keinen Hunger, obwohl ich so lange geschlafen habe. Außerdem beschäftigen ganz andere Dinge meine Gedanken.
„Sagen Sie bitte, um wieviel Uhr beginnt heute die Schicht von Herrn Blumberg?“ Frage ich geradeheraus.
„Herr Blumberg?“ Die Rezeptionistin sieht mich verwundert an.
„Ja. Tino Blumberg, um genau zu sein.“
Die junge Dame macht ein erstauntes Gesicht. „So jemand arbeitet hier nicht und hat meines Wissens nach auch nie hier gearbeitet. Außer mir ist noch der Herr Sonntag für den Empfangsdienst eingeteilt. Ein schon älterer Mann, gehört sozusagen zum Urgestein des Hotels. Letztes Jahr wollte er in Rente gehen, hat es sich in letzter Sekunde aber anders überlegt, weil die Hotelleitung keinen Ersatz für seine Position gefunden hat. Bergheim ist ein sehr ruhiger Ort, und unser Hotel liegt ein ganzes Stück weit von der Zivilisation entfernt. Das schreckt die meisten Menschen davor ab, hier zu arbeiten, zumal sie Verpflichtungen in der Stadt haben. Auch Touristen finden nur wenige zu uns, selbst in der Hochsaison. Aus meiner Sicht macht es kaum einen Sinn, dieses Hotel überhaupt zu betreiben. Doch die Chefin ist eine reiche Dame in ihren Sechzigern und kann sich das leisten. Sie hatte nie Kinder und hat auch sonst keine Angehörigen mehr. Das Hotel ist sozusagen ihr Baby und sie hütet es wie ihren Augapfel. Oder wie eine Klucke ihr Küken.“ Die Rezeptionistin kichert und hält sich gleich darauf verlegen eine Hand vor den Mund. „Nun ja, jedenfalls bin ich froh darüber. Denn mir gefällt meine Arbeit. Es fühlt sich an wie Urlaub auf Lebenszeit, weil die Landschaft einfach traumhaft ist und es nicht viel zu tun gibt.“
Dass Tino hier niemals gearbeitet haben soll, erscheint mir als höchst sonderbar. Bin ich vielleicht am falschen Ort gelandet? Oder zur falschen Zeit?
„Dieser Herr Sonntag… Könnte ich ihn vielleicht kurz sprechen?“
Mit bedauerndem Gesichtsausdruck schüttelt die junge Frau den Kopf: „Tut mir wirklich leid. Das ist ganz und gar unmöglich. Er liegt gerade am Strand in der Karibik und lässt sich die Sonne auf den Kopf scheinen. Auch wenn es hier in Bergheim wunderschön ist, möchte man ja doch mal was anderes von der Welt sehen, wenn man selbst Urlaub hat.“
Strand, Karibik… Es klingelt in meinen Ohren. Nein, kein Klingeln. Eher so etwas wie Harfentöne vielleicht? Mir fällt der Strand aus meinem Traum von letzter Nacht ein. Der Todesengel hatte mich in seinem Boot hingebracht. Doch aus irgendeinem Grund war ich noch nicht bereit gewesen, zu sterben. Irgendetwas musste ich vorher noch erledigen.
„Alles gut. Das macht nichts. Ich hoffe, ihr Kollege lässt es sich in seinem wohlverdienten Urlaub so richtig gut gehen. Ich ziehe mich schnell um und gehe dann eine Runde nach draußen.“
„Das ist eine fantastische Idee!“ Stimmt mir die Rezeptionistin mit einem Lächeln zu. „Das sonnige Frühlingswetter bietet sich geradezu für einen Ausflug an.“
Bevor ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer mache, nehme ich eine der Postkarten, welche auf dem Tresen in einem kleinen Ständer ruhen, an mich.
„Ich darf doch, oder?“ Frage ich vorsichtshalber.
„Aber selbstverständlich! Sie sind schließlich unser ehrenwerter Gast und dürfen sich gerne an unseren wunderhübschen Postkarten bedienen, sei es, um sie als Andenken mit nach Hause zu nehmen oder Ihren Freunden und Verwandten einen lieben Gruß zukommen zu lassen.“ Erklärt mir die gute Frau mit freundlicher Stimme. „Wir haben sie einem begnadeten Künstler, der hier gelegentlich mit seinem kleinen Sohn Urlaub macht, zu verdanken. Eigentlich hat er sich auf das Zeichnen von Bäumen spezialisiert. Ich glaube, er spricht sogar mit ihnen.“ Erneut lässt die junge Dame ein leises Kichern ertönen. „Ein wenig seltsam ist er schon. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass seine Frau neulich verstorben ist und er seine Trauer noch nicht richtig verarbeitet hat. Es scheint oft so, als würde er Geister sehen – hoffentlich nur die guten!“ Wieder kichert sie. „Nun ja, wie dem auch sei, er hat extra für unser Hotel diese Zeichnung von der Umgebung angefertigt. Wirklich zauberhaft, nicht wahr? Im wahrsten Sinne des Wortes! Manchmal, wenn ich mir die Zeichnung auf der Karte länger zu Gemüte führe, fühlt es sich für mich so an, als würde mich ein Sog in sie hineinziehen. Ich habe mich schon gefragt, wo ich wohl am anderen Ende herauskomme, wenn ich mich dem einfach hingebe, anstatt im letzten Moment wegzuschauen. Aber na ja, mir fehlt wohl der entsprechende Mut, um das Realität werden zu lassen. Sie können es aber gerne selbst versuchen und mir anschließend erzählen, wohin es sie verschlagen hat – falls sie jemals wieder von dort zurückkommen.“ Wie zur Warnung hebt sie den Zeigefinger und sieht mich bedeutungsvoll mit erhobenen Augenbrauen an.
„Eine letzte Frage habe ich noch: Sagt Ihnen der Name Lucy Neumond was?“
Wieder mustert mich die Rezeptionistin mit erstauntem Blick: „Nein. Nie gehört. Tino Blumberg. Lucy Neumond. Sehen Sie womöglich, ebenso wie der Künstler, Geister?“ Sie will schon wieder loskichern. „Dieser Ort scheint ja wie gemacht zu sein dafür. Zumal das Hotel schon sehr alt ist.“
Ohne das weiter zu kommentieren, bedanke mich für die Karte und suche mein Zimmer auf.
Oben angekommen, stelle ich fest, dass die Reinigungsfrau bereits verschwunden ist. Sie hat schnell, aber effektiv ihren Dienst verrichtet. Ich bewundere sowohl ihr Tempo als auch die Güte ihrer Arbeitsleistung. Kein einziges Staubkorn kann ich in meinem Zimmer entdecken. Nachdem ich geduscht und mir ein weißes Sommerkleid übergestreift habe, begebe ich mich nach draußen.
Als erstes suche ich den Wald auf, um darin ein Waldbad zu nehmen. Er fühlt sich vertraut für mich an, ganz so, als ob ich schon einmal hier gewesen wäre. Doch wann soll das gewesen sein? Die Sonne schaut zwischen den Zweigen der Bäume hervor und lässt ihre Blätter in ihrem Licht glänzen, während die Vögel mir ein fröhliches Lied zwitschern. Langsam, aber eindringlich mischt sich die Stimme einer Amsel unter ihre anmutigen Töne. Sie lässt eine Melodie erklingen, die Wehmut und Traurigkeit in mir erwachen lässt. Dennoch beschließe ich, ihr zu folgen. Denn ich spüre intuitiv, dass sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Während ich ihrem Lied hinterherlaufe, ertönt der Gesang der anderen Vögel zunehmend leiser im Hintergrund, bis er vollkommen verstummt.
Schließlich erreiche ich den Fuß der Gebirgslandschaft. Ein Weg schlängelt sich den Berg hinauf. Die Amsel fordert mich mit ihrem Gesang unverkennbar dazu auf, den Berg zu erklimmen. Doch etwas lässt mich zögern - ein Gefühl von Traurigkeit und Verzweiflung, das in mir aufsteigt und mein Herz umklammert hält. Noch weiß ich nicht, was der Grund dafür sein mag. Doch das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, am Fuße dieser Klippe gestanden zu haben, lässt sich nicht verdrängen. Vielleicht sollte ich besser aus diesem Wald verschwinden und ins Hotel zurückkehren? Aber würde ich dadurch nicht ein bedeutendes Ereignis negieren, das hier einst stattgefunden hat? Es ist mir zwar noch nicht klar, worum genau es dabei geht. Doch es liegt eindeutig etwas in der Luft – etwas Dunkles, Unheilvolles, Beklemmendes. Gleichzeitig spüre ich, dass es dabei um etwas geht, das aus der Vergangenheit stammt und sich bereits zum Großteil aufgelöst hat. Der Wind wird die letzten Spuren dessen, was sich hier zugetragen hat, mit auf seine Reise nehmen und sie im Licht der Sonne zu Staub zerfallen lassen.
Die Amsel ruft mich weiterhin mit ihrem traurigen Lied…
Oben auf der Klippe fällt mir schlagartig alles wieder ein. Dies ist der Ort, an dem ich seinerzeit gestorben bin. Auf mysteriöse Weise in einem Traum - der keiner war, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte. Aus dem Jenseits kam ich nur zurück, um Tino und Lucy einander näher zu bringen. Und da drüben am Gebirgsbach, weit unter mir, sehe ich die Beiden sitzen! Tino hält sich beide Hände vors Gesicht und weint, während Lucy tröstend einen Arm um ihn gelegt hat. Was ist passiert? Ich eile über einen anderen Bergpfad, der eine Abkürzung darstellt, herab zu ihnen.
Ich habe sie noch nicht ganz erreicht, da höre ich Tino schon schluchzen: „Lucy, du hast das absolut Richtige getan, indem du Selina ins Licht geholfen hast. Doch jetzt fühlt es sich für mich so an, als wäre sie sehr weit weg…unerreichbar fern…“
Ach Tino, wenn du nur wüsstest, dass ich jetzt in diesem Augenblick direkt neben dir stehe! Doch für die Beiden bin ich anscheinend unsichtbar. Sie scheinen mich überhaupt nicht zu bemerken. In keiner Weise zeigen sie eine Reaktion auf meine Stimme und auf meine Berührungen. Nur Lucy hebt für einen Moment den Kopf und schaut in meine Richtung, als ich meine Hand auf ihre Schulter lege. Allerdings gleitet ihr Blick durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist. Na ja, irgendwie bin ich ja jetzt auch einer.
Mit beruhigender Stimme wendet sich Lucy an Tino: „Selina ist dir vielleicht sehr viel näher, als du glaubst. Mit dem Tod ist das Leben doch nicht vorbei. Und die Verstorbenen besuchen uns von Zeit zu Zeit.“
„Das mag ja alles sein! Doch was nützt es mir, wenn ich nichts davon mitbekomme? Weder kann ich Selina sehen, hören, noch in den Arm nehmen.“ Kontert Tino mit einem tiefen Seufzer.
„Aber vielleicht riechen…?“ Lucy schnuppert in der Luft. „Das ist doch eindeutig Selinas Parfüm! Wenn sie nicht gerade neben uns weilt, dann fress´ ich einen Besen!“
Tino wird hellhörig, nimmt die Hände vom Gesicht herunter und schnuppert ebenfalls. „Du hast Recht! Da ist was! Das muss Selina sein!“ Hoffnung liegt in seiner Stimme.
„Siehst du, hab ich´s dir doch gesagt!“ Freut sich Lucy mit ihm.
Nach einer Pause des Schweigens meldet sich Tino wieder zu Wort: „Selina, wenn du das wirklich bist, dann tu doch bitte was, damit mich dein Tod nicht mehr so sehr schmerzt, falls dies in deiner Macht steht. Es sind nun schon siebzehn Jahre vergangen, seitdem ich dich verloren habe, und ich kann dich nach wie vor nicht vergessen. Ich weiß mir keinen Rat. Was soll ich nur tun ohne dich?“
Aber ich hatte bereits einen Plan geschmiedet, um Tino in seiner Not zu helfen. Nun war es an der Zeit, mich an seine Umsetzung zu machen.
Im Übrigen erstaunt es mich natürlich sehr, dass die Rezeptionistin Tino und Lucy ebenso wenig wahrnimmt, wie die beiden mich. Anscheinend teilen wir denselben Raum miteinander, aber auf unterschiedlichen Daseinsebenen. Beide Dimensionen überschneiden sich, ohne direkt miteinander in Berührung zu kommen. Und während ich mich auf Ebene A aufhalte, kann ich mir anschauen, was auf Ebene B vor sich geht, ohne direkt eingreifen zu können. Doch wenn das hier das Jenseits sein soll, da ich doch gestorben bin und mich hier aufhalte – bedeutet das dann etwa, dass die junge Frau an der Rezeption ebenfalls tot ist und nur als Geist existent? Wenn ja – warum kann sie dann Lucy und Tino im Unterschied zu mir nicht sehen? Das Leben stellt mir mehr Fragen, als es beantwortet.
Doch war das zu Lebzeiten nicht auch schon der Fall? Es gibt so vieles, was wir nicht wissen und vielleicht niemals erfahren werden. Das Universum steckt voller Rätsel. Das Leben selbst gleicht einem riesigen Mysterium. Selbst wenn die Wissenschaft meint, diese und jene Fragen geklärt zu haben – woher nehmen wir die Gewissheit, dass diese Erkenntnisse der Wahrheit entsprechen? Vielleicht handelt es sich dabei nur um Halbwahrheiten. Oder die Forscher liegen mit ihren Aussagen sogar komplett daneben. Schließlich ist irren menschlich. Und Wissenschaftler sind Menschen. In Folge dessen kann man nicht ausschließen, dass ihnen Irrtümer unterlaufen. Es kommt ja auch immer wieder mal vor, dass wissenschaftliche Schlussfolgerungen revidiert werden.
Aber nun schweife ich vom eigentlichen Thema ab. Eigentlich habe ich ja hier noch was vor. Später, auf meiner himmlischen Insel im Paradies, kann ich über das Leben und das Sterben noch lange genug philosophieren. Jetzt erstmal zurück zu Tino und Lucy…
Es ist natürlich schade, dass ich mit den Beiden nicht auf direktem Wege kommunizieren kann. Abgesehen vom Duft meines Parfüms nehmen sie mich so gut wie gar nicht wahr. Vor allem Tino scheint meine Erscheinung nicht zu bemerken. Ist er womöglich einfach blind vor Liebe? Weiter hilft mir dies freilich nicht. Und mein Parfüm kommt als Dolmetscher für die Worte, die ich Tino und Lucy übermitteln möchte, kaum in Frage. Doch es gibt einen kleinen, aber feinen Umweg, auf dem ich die Beiden problemlos erreichen kann: Die Traumebene. Über diese agiere ich in den folgenden Wochen Nacht für Nacht. Dass Lucy gerade ihren Urlaub hier im Hotel verbringt, kommt mir dabei sehr zupass. Was ich genau auf der Traumebene bewerkstellige, werde ich an dieser Stelle nicht näher erörtern. Schließlich dürfen auch Geister ihre Geheimnisse haben. Aber ich kann dem Leser dieser Zeilen bekräftigen, dass ich mit reinem Gewissen agiere und nichts tue, was sich gegen den Willen der Beiden stellt. Das würde ohnehin nichts bewirken, da sich ihre Herzen sowieso nur dann füreinander öffnen, wenn beide dazu bereit sind. Ich wende bloß ein paar subtile Tricks an, um Tino und Lucy aufeinander aufmerksam zu machen und einander aus einer anderen Perspektive heraus betrachten zu lassen. Träume eignen sich wunderbar dafür. Die Beiden merken gar nichts von meinen Aktionen.
Das Traumgeschehen wirkt sich natürlich auch auf ihr Wachbewusstsein aus. So kommt es, dass sie sich nach und nach ineinander verlieben. Dass sie sich jeden Tag im Hotel sehen und daher viel Zeit miteinander verbringen, beschleunigt diesen Prozess noch. Nach knapp zwei Wochen kommt es ganz romantisch bei einem Spaziergang unterm Sternenhimmel zum ersten Kuss und die Beiden sind direkt ein Paar. In Tinos Herzen werde ich zwar immer einen festen Platz haben, was auch gut und schön ist. Doch er liebt mich inzwischen auf eine andere Art, eher wie eine gute Freundin, die ihm zu Lebzeiten sehr nahestand. Sein Kummer um mich wurde von seiner Liebe zu Lucy abgelöst. Möge sie blühen und gedeihen wie die Rosensträucher im Hotelgarten.
Bevor ich mich endgültig dazu entschließe, in mein Inselparadies aufzubrechen, entscheide ich mich dafür, noch ein Weilchen hier im Hotel zu bleiben und die beiden Turteltäubchen heimlich zu beobachten. Natürlich nur außerhalb ihrer Schlafzimmer. Das gebietet der Anstand so und diesen habe ich mir auch als Geist bewahrt. Es ist eine wahre Freude für mich, die Beiden so glücklich miteinander zu sehen. Fast würde ich sagen: Dafür hat es sich zu sterben gelohnt. Doch so weit möchte ich dann doch nicht gehen. Immerhin war mein Tod nicht umsonst – diese Aussage ist vielleicht die passendere.
Es ist schon erstaunlich, dass Tino und die Rezeptionistin nie für dieselbe Schicht am Empfang eingeteilt sind, sondern einander stetig abwechseln. Wenn die junge Dame ihre Sachen packt, stellt sich Tino hinter den Tresen – und umgekehrt. Als hätten sie sich miteinander abgesprochen - was natürlich nicht sein kann, weil sie einander aufgrund der unterschiedlichen Ebenen, auf denen sie existent sind, niemals begegnen. Tino übernimmt einfach die Schicht von Herrn Sonntag, während dieser sich am karibischen Palmenstrand in der Sonne aalt. Ich frage mich, was wohl sein wird, wenn Herr Sonntag aus seinem Urlaub zurückkehrt und seine Arbeit wieder antritt. Wird er Tino wohl sehen können, so wie es mir möglich ist? Oder werden die Beiden, füreinander unsichtbar, Seite an Seite arbeiten? Doch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, wird mir meine Frage auch schon beantwortet…
„Tino, was hältst du davon, bei mir einzuziehen? Ich weiß, das kommt alles etwas schnell. Wir sind gerade erst seit ein paar Tagen zusammen. Aber schließlich kennen wir beide uns schon seit unserer Jugend und waren damals gut miteinander befreundet. Ich vertraue dir und wünsche mir sehr, mit dir zusammen zu leben. Das Einfamilienhaus am Stadtrand, das ich bewohne, ist für mich allein sowieso zu groß.“ Fragend schaut Lucy ihn an.
Tino überlegt einen Moment. Er war schon immer ein bedächtiger Mensch, der ungern überstürzte Entscheidungen trifft. Doch dann verkündet er mit Entschlossenheit in der Stimme: „Lucy, nichts lieber als das! Lass uns, sobald wie möglich, dieses Hotel verlassen!“
Die Beiden fallen sich in die Arme und küssen sich.
Ich weiß nicht, wie sie es bewerkstelligen, schon am nächsten Tag dem Hotel „Rotkehlchen“ den Rücken zu kehren. Anscheinend habe ich den entscheidenden Augenblick verpasst. Aber so etwas wie eine Kündigungsfrist scheint es in Tinos Fall nicht zu geben. Vielleicht war er einfach schon zu lange an diesem Ort und es wird daher höchste Zeit für ihn, zu gehen. Wenn nicht jetzt – wann dann? Also brechen die Beiden mit gepackten Koffern auf. Ich winke ihnen mit einem glücklichen Lächeln nach, zufrieden damit, wie sich alles entwickelt hat. Kaum sind die Beiden außer Sichtweite, sehe ich einen älteren Mann Richtung Hotel schlendern. Das muss Herr Sonntag sein. Na, wenn das mal kein perfektes Timing ist! Die Arbeit im Hotel darf schließlich nicht ruhen, auf keiner Daseinsebene. Und auch dann nicht, wenn es eigentlich nichts zu tun gibt.
Nun gibt es auch für mich keinen Grund mehr, länger an diesem Ort zu verweilen. Also bedanke ich mich bei der Rezeptionistin für den angenehmen Aufenthalt, wünsche ihr alles Gute und mache mich auf den Weg zum Gebirgsbach, in der Zuversicht, dort meinen stillen Fährmann samt Paddelboot anzutreffen. Er wird doch wohl hoffentlich wissen, dass ich jetzt reif für die Insel bin. Wehe, wenn nicht! Bergheim ist zwar ein bezaubernder Ort. Doch dem Paradies kann es beim besten Willen nicht das Wasser reichen. Leider habe ich vergessen, den guten Mann nach seiner Nummer zu fragen. Höchstwahrscheinlich besitzt er aber sowieso kein Handy, weil es in den Gefilden, wo er sich herumtreibt, vermutlich eh keinen Empfang gibt. Zudem habe ich noch nie auch nur ein Wort über seine Lippen kommen gehört. Womöglich ist er stumm? Oder er lebt hartnäckig unter dem Motto: „Wer mein Schweigen nicht versteht, der versteht auch meine Worte nicht.“ An dieser Stelle muss ich zugeben: Der Grund für seine Schweigsamkeit ist mir bislang unbekannt. Doch vielleicht schaffe ich es ja noch, ihn irgendwie zum Reden zu bewegen? Irgendwann wird er doch sicherlich mal ein Nickerchen machen. Dann besuche ich ihn auf der Traumebene und… Nein, weiter verrate ich nichts. Vielleicht sollte man ihm seine Schweigsamkeit aber auch einfach lassen. Das macht ihn mir sogar irgendwie sympathisch. Die Meisten reden doch immer so viel, ohne wirklich etwas zu sagen. Dagegen erzählt das Schweigen meines stillen Begleiters mehr als tausend Worte.
Am Gebirgsbach angekommen, erwartet er mich schon. Genau wie beim ersten Mal, als ich sein Boot bestieg. Dieses Mal soll nun aber wirklich das letzte gewesen sein. Schweigend steht mein Begleiter am Bug und nickt mir bedeutsam zum Gruß zu. Eigentlich handelt es sich dabei nur um die Andeutung eines Nickens. Nicht nur mit Worten, auch mit Gesten wirtschaftet er sparsam. Aber das stört mich nicht. Hauptsache, er bringt mich sicher ans Ziel, den Ort meiner Bestimmung. Mein wahres Zuhause, nach dem ich mich schon so lange sehne…
Die Bootsfahrt verläuft genauso angenehm wie beim letzten Mal. Keine einzige Wolke trübt den Himmel, und es weht mir ein sanfter Wind ins Gesicht, den ich mit geschlossenen Augen genieße. Nach einer Weile legt das Boot an meiner Paradiesinsel an. Diesmal ergreife ich mit einem dankbaren Lächeln die Hand des Fährmanns, als er mir aus dem Boot hilft, und betrete den Strand. Der Sand schmiegt sich warm und weich an meine Füße. Ich bin angekommen, wird mir bewusst. Gekommen, um zu bleiben. Für immer? Oder geht die Reise eines Tages weiter? Ich werde es ja sehen… Erstmal ruhe ich mich hier gründlich aus und lasse es mir gut gehen.
Hinter meinem Rücken höre ich das Boot im Wasser schaukeln und drehe mich um. Der Fährmann ist gerade dabei, das Tau zu lösen, um sich mit seinem Boot auf und davon zu machen. Wie schade! Ich wünschte, er wäre noch etwas bei mir geblieben. Denn er entspricht genau meinem Typ. Ein wirklich schöner Mann. Auch wenn er hier den guten alten Charon aus der griechischen Mythologie zu spielen scheint, der die Seelen der Verstorbenen über den Styx ins Jenseits befördert, sieht er diesem überhaupt nicht ähnlich, so wie ich ihn von Abbildungen her kenne. Mein Begleiter mag zwar ruhig sein – griesgrämig ist er jedoch nicht.
Von der Insel her dringen Stimmen an mein Ohr. Als ich meinen Kopf wende, sehe ich, wie mir eine Gruppe von Männern und Frauen, alle jugendlich strahlend, aus den Büschen entgegenkommt. Sie tragen, ebenso wie ich, weiße Gewänder und haben freundliche Gesichter. Wollen sie mich hier willkommen heißen? In ihren Händen halten sie Schalen mit exotischen Früchten, die bestimmt überaus köstlich schmecken. Sind die etwa für mich?
Ein letztes Mal drehe ich mich zum Fährmann um. Er ist mit seinem Boot schon ein Stück weit aufs Meer hinausgeschwommen. Als ich ihm ein „Danke!“, das von Herzen kommt, zurufe, hält er für einen Moment inne, schaut zu mir herüber und schenkt mir wieder einmal sein bedeutsames Nicken. Anschließend widmet er sich voll und ganz dem Rudern. Wohin der Ozean ihn wohl tragen mag? Und ob wir uns eines Tages wiedersehen werden? Ich weiß es nicht. Doch Eines steht fest: Ich werde auch ohne ihn hier, auf dieser wundervollen Insel, eine Menge erleben - aber keine Einsamkeit. Und auch keine Langeweile. Falls aber doch, habe ich zur Not ja noch die Karte aus dem Hotel, welche ich jetzt in meiner Hand halte. Die Rezeptionistin erzählte was von einer Sogwirkung, welche diese bei längerer Betrachtung auslöst. Das hört sich fast so an, als würde die Zeichnung auf der Karte eine Art Portal zu einer anderen Welt darstellen. Ein bisschen neugierig bin ich ja schon, wo dieses hinführen mag. Während ich den auf der Karte dargestellten Bergheimer Wald betrachte, mich in seine Baumkronen vertiefe, vernehme ich auf einmal das Rascheln ihrer Blätter in meinem Herzen, woraufhin die abgebildete Szenerie zum Leben erwacht und in Bewegung gerät...
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: Cover-Bild von Manuela - https://old.bookrix.de/-schnief/
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2025
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