An jenem wolkenverhangenen Samstagvormittag ereignete sich etwas Außergewöhnliches, das mich binnen eines Augenblicks aus dem alltäglichen Trott riss, der schon seit längerer Zeit in meinem ruhigen und beschaulichen Leben eingekehrt war. Seitdem ich aufgrund eines Hörschadens berentet und in das gemütliche Einfamilienhäuschen mit Garten am Stadtrand eingezogen bin, das mir meine Eltern überlassen haben, nachdem sie im Sommer letzten Jahres nach Spanien auswanderten, ereignet sich in meinem Leben nicht mal mehr halb so viel wie in all den vergangenen Jahrzehnten meiner sechsunddreißigjährigen Existenz. Zuvor hatte ich viele Jahre als Sekretärin für ein größeres Unternehmen gearbeitet und mich an den Wochenenden meist mit Freunden getroffen. Die hektische Arbeit im Büro führte bei mir schließlich zu einem Burnout und einem Hörschaden. Vom Burnout habe ich mich inzwischen erholt und auch mein stressbedingter Hörsturz ist wieder abgeheilt. Doch geblieben ist ein hartnäckiger Tinnitus, gegen den die Ärzte machtlos sind. So wurde ich im Alter von nur fünfunddreißig Jahren Rentnerin und verbringe seitdem den Großteil meiner Zeit mit dem Lesen von Büchern, dem Schachspielen und Spaziergängen. Meine Freunde sehe ich seit meinem Umzug jedoch nur noch sehr selten. Sie wohnen alle am anderen Ende der Stadt. Früher lebten wir nur einen Katzensprung voneinander entfernt. Nun brauchen wir fast zwei Stunden, um einander zu besuchen. Es bestünde natürlich auch die Möglichkeit, sich in der Innenstadt zu treffen. Doch dort geht es dermaßen laut und turbulent zu, dass sich mein Tinnitus im Nu verstärkt und ich zudem mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit einem weiteren Hörsturz ausgesetzt wäre. Also verbringe ich die meiste Zeit für mich allein hier draußen im Grünen und genieße die Stille, die sich mir Tag für Tag in den unterschiedlichsten Nuancen präsentiert.
Als sich meine Ohren noch bester Gesundheit erfreuten, war mir gar nicht bewusst, dass es so viele unterschiedliche Arten von Stille gibt. Und es fällt mir schwer, die einzelnen davon in all ihren Facetten zu beschreiben. Vermutlich kann mich dahingehend ohnehin nur jemand verstehen, der dies ebenso wahrnimmt wie ich. Da wäre zum Beispiel die abendliche Stille, die sich bei Sonnenuntergang wie eine samtene Decke über Felder, Wiesen und Wälder legt und diese in tiefen Schlaf hüllt. Hin und wieder durchbricht der Ruf eines Vogels den Klang der über alles waltenden Ruhe. Doch dadurch bleibt die unverkennbare Melodie der Stille nahezu unberührt. Des Weiteren gibt es die lautlosen Pausen zwischen den einzelnen Wörtern, während zwei Menschen miteinander sprechen. Und wie ich nun aus eigener Erfahrung weiß, seitdem ich die Geräuschlosigkeit von einer für mich gänzlich neuen Seite kennengelernt habe, sind diese Pausen, in denen nichts und niemand sich zu Wort meldet als die Stille selbst, oft vielsagender als die gesprochenen Sätze. Am beglückendsten jedoch empfinde ich die ruhigen Momente nach dem Aufwachen in den frühen Morgenstunden, die mit ihrem jungen, unverbrauchten Klang den neuen Tag einläuten, ebenso wie die kleinen Sommervögel, die vor meinem Fenster im Licht der aufgehenden Sonne ihr Lied zwitschern, um die Welt mit ihren fröhlichen Liedern zu begrüßen. Auch sie scheinen die einzelnen Nuancen der Stille zu kennen und begleiten deren Einklang mit ihrem anmutigen Gesang.
An dem Tag, an welchem diese Geschichte beginnt, lag allerdings mehr Spannung als Ruhe in der Luft. Bereits seit dem frühen Morgen kleidete sich der Himmel in ein trübes Grau. Kein einziger Sonnenstrahl fand seinen Weg durch die dichte Wolkendecke, und es war nur eine Frage der Zeit, bis es anfangen würde, wie aus Eimern zu schütten. Vermutlich würde ich den ganzen Tag zu Hause verbringen, es mir mit einem Buch und einer Kanne Tee gemütlich machen. Obwohl der Frühling im Monat Mai schon eine ganze Weile währte, hatte es plötzlich deutlich abgekühlt, so dass ich mir einen Pullover überzog. Auch ein stärkerer Wind war aufgekommen, pfiff ums Haus und ließ die Zweige der Bäume und Büsche draußen im Garten hin und her schwanken. Das perfekte Wetter für einen Spaziergang war dies auf jeden Fall nicht, ging mir durch den Kopf, während ich am Küchenfenster stand und hinausschaute. Anscheinend war ich nicht der einzige Mensch, dem dieser Gedanke in den Sinn gekommen war. Denn die Straße vor dem Haus war wie leergefegt. Niemand traute sich vor die Tür.
Plötzlich hörte ich, wie etwas auf dem Boden des Briefkastens aufschlug. Eindeutig. Jemand hatte Post eingeworfen. Auch das Klappern der Abdeckung des Briefkastens war deutlich zu vernehmen. Doch wie konnte das sein? Weit und breit war doch niemand auf der Straße zu sehen. Auch das Fahrrad des Briefträgers war nicht in Sicht. Dieser war sowieso ein Schönwetterfahrer und blieb an Tagen mit ungemütlichem Wetter gerne mal daheim, ohne seinen Dienst zu verrichten. Heute würde er mit Sicherheit keine Post austragen, so wie ich ihn kannte. Ich eilte von der Küche in den Flur und öffnete die Haustür. Sofort blies eine kalte Böe herein und traf mich eiskalt im Gesicht. Reflexartig hielt ich mein offenes langes Haar mit einer Hand am Hinterkopf fest, damit es nicht komplett zerzauste. Es stand natürlich, wie ich bereits geahnt hatte, niemand draußen. Auch die Blumenwiese auf der gegenüberliegenden Straßenseite war vollkommen menschenleer. Als ich die Straße links und rechts herunterblickte, entdeckte ich auch niemanden. Weit und breit keine Menschenseele, außer mir selbst. Wie konnte mir also jemand etwas in den Briefkasten eingeworfen haben, wenn doch niemand da war? Doch vielleicht hatte ich mich bloß verhört. Um das zu überprüfen, schloss ich den Briefkasten auf und spähte hinein. Doch, da lag etwas: Eine einzelne Postkarte ruhte auf dem Boden des Kastens. Ich holte sie heraus, schloss den Briefkasten wieder zu und nahm die Karte mit hinein.
Im Wohnzimmer angekommen, setzte ich mich in meinen gepolsterten Lesesessel aus gemustertem Stoff, der zu einem meiner liebsten Möbelstücke im gesamten Haus zählt und in welchem ich bereits unzählige Stunden mit der Lektüre guter Bücher verbracht habe, und schaute mir die Karte genauer an. Auf ihrer Vorderseite zeigte sie eine sorgfältig gezeichnete, sonnendurchflutete Naturlandschaft. Als erstes fiel mir die Brücke auf, welche über einen Bach führte. Auf dem Brückengeländer hatte sich mit weit geöffnetem Schnabel ein Rotkehlchen niedergelassen. Im Hintergrund waren Berge zu sehen, davor ein Wäldchen. Zwischen den Zweigen der Bäume schaute ein Hirsch hervor und mir direkt in die Augen, als würde er mich mit seinem eindringlichen Blick hypnotisieren wollen. Alles wirkte, obgleich es sich um eine Zeichnung handelte, so lebensecht, dass ich eine Art Sog verspürte, der mich wie ein Strudel in die auf der Karte dargestellte Szenerie zog. Ich meinte beinahe, in der märchenhaften Landschaft, die vor meinen Augen in Bewegung geriet, zu stehen, hörte den Bach rauschen, den Hirsch röhren und das Rotkehlchen singen, während es seinen Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung reckte. Doch nachdem ich einige Male geblinzelt hatte, kehrte alles wieder zum Stillstand zurück, verwandelte sich in ein unbewegtes Bild. Nanu? Was war soeben passiert? Ich konnte mir das beim besten Willen nicht erklären. Zudem wusste ich immer noch nicht, wer mir diese Postkarte geschickt hatte und warum. Also drehte ich die Karte um, in der Hoffnung, dass sich mir der Absender auf der Rückseite brieflich offenbaren würde.
Und tatsächlich: Dort stand ein von Hand geschriebener Text, fein säuberlich mit blauer Tinte zu Papier gebracht. Mir kam die Handschrift sofort vertraut vor. Wie eine Reliquie aus einer längst vergangenen Epoche starrte sie mir entgegen. Es lag mehr als fünfzehn Jahre zurück, dass ich sie zuletzt gesehen hatte. Und doch wusste ich vom ersten Augenblick an, wem sie gehörte, wer die Verfasserin dieser Zeilen war. Ihr Anblick beschwor die verschiedensten Erinnerungen und Gefühlsregungen in mir herauf, glückliche ebenso wie unheilvolle. Nie hätte ich damit gerechnet, dieser Frau noch einmal zu begegnen, und sei es auch nur in Form eines Briefes. Lange hatte ich mir gewünscht, wir würden uns eines Tages wiedersehen. Doch der Sand der Zeit legte sich im Laufe der Jahre Schicht um Schicht über meinen Wunsch und begrub diesen schließlich unter sich, so dass meine lang gehegte Hoffnung auf ein Lebenszeichen von Seiten meiner einstigen Freundin erstarb.
Selina hatte ich bereits im Babyalter kennen gelernt. Ihre Mutter und die meinige Mutter begegneten sich zum ersten Mal in ihrem Leben im Warteraum einer Frauenarztpraxis, als sie zeitgleich schwanger waren, und freundeten sich miteinander an. Es stellte sich heraus, dass Selinas Mutter in unserer Nachbarschaft wohnte, wodurch es für die beiden ein Leichtes war, sich regelmäßig zu treffen, sei es für einen Spaziergang im Park oder für einen Kinobesuch. Unsere Mütter waren sehr glücklich darüber, einander begegnet zu sein. Denn wie sich sehr schnell herausstellte, harmonierten sie ausgezeichnet miteinander, und es gab vieles, was sie miteinander teilten. Der Einklang zwischen den beiden war so einzigartig, dass es sich für die Zwei so anfühlte, als würden sie sich schon ewig kennen. Und dann schenkte ihnen das Leben eine weitere verblüffende Gemeinsamkeit: Sie gebaren ihre Töchter, Selina und mich, am gleichen Tag zur selben Uhrzeit - wenn auch nicht am selben Ort. Während sich Selinas Mutter für eine Hausgeburt entschieden hatte, suchte meine Mutter konventionell ein Krankenhaus auf. Doch beide Geburten verliefen ohne jegliche Komplikationen, und es erblickten zwei gesunde Mädchen das Licht dieser Welt. Von da an trafen wir uns viele Jahre zu viert: Unsere beiden Mütter, Selina und ich. Wir beiden Mädchen wuchsen nahezu wie Schwestern auf, auch wenn wir aus zwei unterschiedlichen Familien stammten. Dadurch, dass wir uns fast täglich sahen und sehr viel Zeit miteinander verbrachten, spann sich ein Band zwischen uns beiden, das weit über eine gewöhnliche freundschaftliche Verbindung hinaus ging. Die vielen Gemeinsamkeiten, die wir miteinander teilten, wie auch der Umstand, dass wir am gleichen Tag zur gleichen Uhrzeit diese Welt betreten hatten, erweckte in uns das Gefühl einer geschwisterlichen Zwillingsverbindung, auch wenn wir einander nur im Wesen, nicht aber körperlich ähnelten. Selina hatte dunkles Haar und dunkle Augen, während ich eine blauäugige Blondine bin. Doch dies schmälerte in keiner Weise die Nähe, die wir füreinander empfanden. Oft träumten wir nachts sogar von denselben Orten und Ereignissen. Es fühlte sich so an, als würden wir in der Traumwelt Eins werden, zu einer einzigen Person miteinander verschmelzen, die all dies erlebte. Das mag zwar sonderbar klingen. Doch für uns gehörten diese nächtlichen Erlebnisse zum Alltag dazu, weil wir das von Kindesbeinen an gewohnt waren. Tagsüber kannte man uns als Selina und Lucy. Nachts wurden wir zu einer Einheit, welche von Traum zu Traum flog und so manches Abenteuer mit vereinter Kraft bestand.
Unsere Freundschaft hielt bis zum Ende unserer Schulzeit an. Wir besuchten dieselbe Schulklasse, machten gemeinsam Abitur. Wir hingen immer beide miteinander ab. Später gesellte sich noch Tino, Selinas Freund und ihre große Liebe, zu uns. Es gab zwar hin und wieder Mitschüler, die hinter vorgehaltener Hand über uns tuschelten und vielsagende Blicke auswechselten, weil wir drei so unnahbar waren und keinen Kontakt zu anderen Menschen suchten. Doch daran störten wir uns nicht. Im Großen und Ganzen wurden wir zum Glück in Ruhe gelassen, was uns gerade recht war. Unsere Mitschüler stritten gelegentlich miteinander. Beste Freundinnen wurden im Laufe der Jahre immer wieder mal ausgetauscht. Cliquen taten sich zusammen und brachen wieder auseinander. Doch wir drei hielten zusammen, und das ganz ohne Mühe und Anstrengung. Wir passten einfach so gut zueinander, als wären wir füreinander geschaffen. Und wir dankten dem Himmel dafür, dass Selinas Mutter und die meinige sich damals während ihrer Schwangerschaft kennen gelernt hatten. Bis zum Ende unserer Schulzeit führten wir ein glückliches und sorgenfreies Leben. Von mir aus hätte es gut und gerne so weitergehen können. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass es zu einer dermaßen plötzlichen und drastischen Veränderung kommen würde, welche meine Welt und auch die unserer Familien komplett auf den Kopf stellen sollte. Denn eines Tages verschwand Selina sang- und klanglos aus unser aller Leben. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen oder eine Spur zu legen, der wir hätten folgen können. Das war nun fast siebzehn Jahre her. Seitdem hat, soweit mir bekannt ist, niemand mehr etwas von Selina gesehen oder gehört. Bis ihre Karte am heutigen Tage bei mir eintraf.
„Liebe Lucy,
hier schreibt dir Selina, deine alte Freundin seit Kindertagen. Ich hoffe, du hast mich nach wie vor in guter Erinnerung behalten, auch wenn ich mich damals so plötzlich in Luft aufgelöst habe. Glaube mir bitte, es stand nicht in meiner Absicht, mich aus dem Staub zu machen, und ich wäre damals wie jetzt liebend gerne bei euch. Doch es hat sich alles anders entwickelt… Und letzten Endes blieb mir dann leider auch keine Wahl mehr… Es kam alles so überraschend und ich wusste mir selbst keinen Rat. Nimm es mir bitte nicht übel, dass ich verschwand. Ich möchte dir alles näher erklären. Komm dazu bitte, so bald du kannst, in das Hotel „Rotkehlchen“ im wunderschönen Luftkurort Bergheim.
Deine Selina
P.S.: Du bist der einzige Mensch, auf den ich zählen kann!“
Nanu, was war das denn für eine sonderbare Mitteilung? Diese überrumpelte mich fast noch mehr als Selinas Verschwinden seinerzeit. Es klang fast so, als würde Selina in ernsthaften Schwierigkeiten stecken und mich um Hilfe bitten. Dazu sollte ich mich im Hotel „Rotkehlchen“ in Bergheim einfinden. Eine überaus mysteriöse Angelegenheit. So etwas war ich von Selina überhaupt nicht gewohnt. Sonst sprach sie immer offen und geradeheraus mir gegenüber, ohne mir Rätsel aufzugeben. Doch nun wusste ich gar nicht, welches ihrer Rätsel ich als erstes lösen sollte. Vermutlich würde sich aber alles in Windeseile aufklären, sobald ich erst einmal in Bergheim angekommen war und mit Selina unter vier Augen sprach. Möglicherweise war die Situation viel weniger dramatisch, als sie sich mir aufgrund von Selinas Worten darbot. Vielleicht erlaubte sich Selina nur einen Scherz mit mir, wobei ich so eine Seite an ihr bislang nie kennengelernt hatte. Selina besaß durchaus eine humorvolle Persönlichkeit. Mit ihr habe ich so viel gelacht wie mit niemandem sonst. Aber sie würde mich doch wohl kaum nach mehr als sechzehn Jahren Kontaktpause zu einem Wiedersehen in ein mir unbekanntes Hotel lotsen? Das wäre doch sehr außergewöhnlich. Außerdem: Woher wusste sie überhaupt, dass ich aktuell im Haus meiner Eltern wohnte? Oder hatte sie die Karte auf gut Glück hierhergeschickt? Fragen über Fragen stürmten wie die heraneilenden Wellen eines Ozeans bei einem tosenden Sturm über mich herein. Und der einzige Ausweg, den ich erkennen konnte, bestand darin, die Reise nach Bergheim anzutreten. Ich hoffte inständig, dass es Selina gut ging und sie mich wirklich nur zum Narren halten wollte. Vielleicht ging sie davon aus, dass ich nach einer so langen Kontaktpause nichts mehr von ihr wissen wollte und mich nur dann wieder mit ihr in Verbindung setzen würde, wenn sie mir ein Schreiben von solch kuriosem Inhalt zukommen ließ, welches meine Neugierde und Abenteuerlust weckte. Und ich gebe zu: Sollte es so sein, dann hatte sie ihr Ziel definitiv erreicht! Doch in meinem tiefsten Inneren spürte ich, dass es dabei um sehr viel mehr ging. Dass Selina gewichtige Probleme hatte, aus denen sie nicht von allein herausfand, und dass sie von mir Hilfe erwartete – eine Art von Unterstützung, die anscheinend nur ich ihr zu geben vermochte. Das konnte ich eindeutig zwischen ihren Zeilen lesen. Ihr letzter Satz, dass ich der einzige Mensch sei, auf den sie zählen kann, machte dies umso mehr deutlich. Unmöglich konnte ich sie im Stich lassen. Ich musste ihr helfen. Was vor fast siebzehn Jahren zu ihrem Verschwinden geführt hatte, spielte insofern keine Rolle. Unabhängig davon, ob sie sich selbst aus dem Staub gemacht hatte oder ob etwas anderes passiert war. Zumal ich ahnte, dass sie nicht aus freien Stücken gegangen war. Irgendeine unsichtbare Macht hatte ihre gewaltigen Krallen nach ihr ausgestreckt und sie mit Gewalt aus unser aller Leben gerissen. Nun lag es an mir, Selina aus ihrer misslichen Lage zu befreien.
Ich rief im Hotel „Rotkehlchen“ an, um mir ein Zimmer ab dem nächsten Tag zu buchen. Ob sie dort so kurzfristig was frei hätten? Nun, ich würde es ja gleich wissen. Die Anschrift und Telefonnummer des Hotels waren auf der Karte vermerkt. Vermutlich wurden diese Postkarten vor Ort an Touristen verkauft. Nachdem es dreimal geläutet hatte, meldete sich eine junge Frau am anderen Ende der Leitung.
„Guten Tag. Mein Name ist Lucy Neumond. Könnte ich bei Ihnen ab morgen ein Zimmer buchen?“
„Aber natürlich! Sie können gerne morgen zu uns kommen.“
„Wunderbar. Dann würde ich gerne ein Ein-Bett-Zimmer nehmen.“
Es lief wie am Schnürchen. Nachdem ich den Buchungsvorgang abgeschlossen hatte, verabschiedeten wir uns voneinander. Anschließend nahm ich noch einmal in meinem Lieblingssessel vor dem Kamin Platz, um die Dinge auf mich wirken zu lassen. Ich schloss die Augen, holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Selina war vor vielen Jahren von jetzt auf sofort spurlos verschwunden. Nun meldete sie sich plötzlich bei mir und bat mich inständig, nach Bergheim in das Hotel „Rotkehlchen“ zu kommen. Die Handschrift auf der Karte war eindeutig und ohne jeden Zweifel Selinas. Und so verlockend Bergheim mit seinen dichten Wäldern und rauschenden Bächen auch sein mochte, so eindeutig spürbar war für mich eine unheilvolle Aura, die sich wie eine dunkle Wolke über die friedliche Idylle des Luftkurorts gelegt hatte. Diese bedrohliche Atmosphäre hatte unverkennbar mit Selina und ihrem Verschwinden zu tun. Und ich war anscheinend der einzige Mensch auf Erden, der ihr helfen konnte. So hatte sie es jedenfalls in ihrer Mitteilung zur Sprache gebracht.
Ich erhob mich aus dem Sessel und machte mich daran, meinen Koffer zu packen.
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Nachts wurde ich von einem seltsamen Traum heimgesucht, der sich trotz seines skurrilen Inhaltes hyperrealistisch anfühlte. Ich lag in meinem Bett und sah vor mir einen riesigen Traumfänger, der mich wie eine Art Portal in sich hineinzog. Nachdem ich durch ihn hindurch geschwebt war, fand ich mich in dem Wäldchen von Selinas Karte wieder. Der Vollmond war aufgegangen und tauchte die Szenerie in sein weißes Licht. Ich vernahm das Rauschen des Baches in der Ferne, mal lauter und mal leiser, je nachdem, ob ich mich ihm näherte oder mich von ihm entfernte. Selinas Stimme rief nach mir, immer wieder meinen Namen: „Lucy, Lucy!“ Sie klang verzweifelt, nahezu weinerlich. Im Licht des Mondes irrte ich durch den Wald, Selinas Stimme nach, um ihr zu Hilfe zu eilen. Doch es schien vergeblich. Kaum hörte ich ihre Stimme lauter an meinem Ohr, ertönte sie im nächsten Augenblick plötzlich sehr leise aus einer vollkommen anderen Richtung. Ich konnte ihr ewig hinterher rennen und würde sie doch niemals einholen. Nach einiger Zeit verwandelte sich Selinas Stimme in die eines Rotkehlchens, und ich sah hier und dort auf dem vom Mond beschienenen Waldboden Vogelfedern liegen, die aus sich selbst heraus leuchteten. Jemand hatte sie wie eine Spur ausgelegt, und ich beschloss, in Anbetracht mangelnder Alternativen, dieser Spur zu folgen. Nach einer Weile kam ich zu einem Baum, hinter dem sich jemand versteckt hielt. Eine Frau. Selina? Ich konnte nur die Umrisse ihrer Arme erkennen, welche nicht vom Baumstamm verborgen wurden. In dem Moment, als ich um den Baum herumgehen wollte, erwachte ich in meinem Bett.
Noch mit geschlossenen Augen, hörte ich draußen eine Amsel singen. Als ich die Lider hob, wurde ich vom Licht der Sonne, die zu meinem Fenster hereinschien, fast geblendet. Der Traum der vergangenen Nacht hatte sich dermaßen real angefühlt, dass es einen Moment dauerte, bis ich ins Hier und Jetzt zurückfand. Hatte Selina mir diesen Traum gesandt, um mir die Dringlichkeit der ganzen Angelegenheit deutlich zu machen? Um mich ihre Not und Hilflosigkeit am eigenen Leibe spüren zu lassen? Falls ja, dann war es ihr gelungen. Das alles hatte mich in meinem Entschluss, das Hotel „Rotkehlchen“ in Bergheim aufzusuchen, bestärkt. Ich war mir nun absolut sicher, dass sich Selina nicht bloß einen Scherz mit mir erlaubte. Und ich würde ihr zur Seite stehen, soweit dies in meiner Macht stand.
Nach dem Duschen nahm ich ein kleines Frühstück zu mir und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. An der Schwelle meiner Haustür stehend, drehte ich mich noch einmal um und schaute zurück, mich fragend, ob diese Reise wirklich eine so gute Idee war. Wer weiß, wohin mich das Ganze noch führen würde. Ein Gefühl der Beklemmung breitete sich in meiner Magengegend aus. Nach einigem Überlegen schlug ich jedoch mit entschlossener Mine die Tür zu und schritt im Licht der Morgensonne dem Bahnhof entgegen, meinen Koffer hinter mir herziehend.
Während ich mich im Zug dem Bestimmungsort näherte, fand ich innerlich keine Ruhe. Selina erwartete und erhoffte sich anscheinend sehr viel von mir. Doch worum ging es dabei genau? Warum hatte sie mir dazu bislang keine weiteren Informationen gegeben? Vielleicht würde ich zu ihrer Unterstützung etwas benötigen, was ich nun aus Unwissenheit nicht in meinen Koffer eingepackt hatte. Doch was sollte ich tun? Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem Lauf der Dinge zu überlassen.
Im Bus, der diese Strecke nur wenige Male am Tag fuhr, war ich der einzige Passagier. Obwohl die Straße frei war und es sich um eine einzige Station vom Bahnhof bis zum Hotel handelte, schien diese sich endlos in die Länge zu ziehen, was möglicherweise mit der monotonen Landschaft zusammenhing: Nadelwald weit und breit. Allerdings staunte ich darüber, wie prächtig hier die Tannen und Kiefern wuchsen und gediehen, wo sie doch seit einigen Jahren in so vielen Teilen Deutschlands aufgrund der Borkenkäferplage einen überaus trostlosen und mitleiderregenden Anblick bieten.
Als ich, am Ziel angekommen, aus dem Bus stieg, nahm ich als erstes den würzigen Duft von Nadelbäumen wahr, der meine Sinne betörte. Der Erdboden strahlte Feuchtigkeit aus. Vermutlich hatte es in der Nacht zuvor geregnet. Jetzt jedoch schien die Sonne vom Himmel herab und tauchte die Szenerie in ein eigentümliches Licht. Aber weder der strahlende Sonnenschein noch der liebliche Gesang der Vögel vermochten es, die Finsternis zu vertreiben, welche sich, für die Augen unsichtbar, doch mit dem Herzen fühlbar, wie ein dichter Schleier über diesen Ort gelegt hatte. Mir war vom ersten Moment an bewusst, dass dieses Dunkle, das ich mit jeder Faser meines Seins spürte, mit Selinas Verschwinden zu tun hatte. Immerhin spendete mir der Anblick der wunderschönen Naturlandschaft einigen Trost. Hier sah es doch wirklich aus wie in einem Märchen! Was sich meinen Augen bot, übertraf die eindrucksvolle Zeichnung, welche die Vorderseite der Postkarte zierte, um ein Vielfaches. Und auch das Hotel wirkte sehr einladend. Seine Fassade war in einem freundlichen Gelbton gestrichen und der Vorgarten mit allerhand farbenfrohen Blumen geschmückt. Wer würde hier nicht seinen Urlaub verbringen wollen?
An der Rezeption durchfuhr mich ein Stromstoß: Statt der Dame, mit der ich telefoniert hatte, stand mir am Tresen ein Mann gegenüber. Ein Mann, den ich sehr gut kannte. Auch wenn wir uns viele Jahre nicht mehr gesehen hatten und er inzwischen das dunkle Haar länger trug, wusste ich sofort, um wen es sich handelte: Tino, Selinas Jugendliebe, war auf einmal wieder in meinem Leben aufgetaucht! Nach Selinas Verschwinden hatten wir uns noch eine ganze Weile regelmäßig getroffen, auch um einander in dieser für uns beiden sehr schweren Phase Halt zu geben. Doch nach einiger Zeit führten unsere Lebenswege in verschiedene Richtungen, so dass wir uns mehr und mehr aus den Augen verloren, bis wir schließlich gar nichts mehr voneinander hörten. Möglicherweise spielte da mithinein, dass wir eine Art Mauer um unseren Schmerz herum bauen wollten, den Selinas unergründliches plötzliches Verschwinden, bei dem selbst die Polizei nicht weiterhelfen konnte, in uns ausgelöst hatte. Ohne Selina war unser Dreiergespann nicht mehr komplett, und wir würden unausweichlich immer wieder an diesen Verlust erinnert werden, wenn wir miteinander in Kontakt kamen. Also schlug jeder von uns beiden seinen eigenen Pfad ein. Doch heute, hier und jetzt in diesem Hotel, führten unsere Wege für mich völlig unerwartet wieder zusammen.
„Tino?“ Mehr brachte ich nicht über die Lippen.
„Ja, ich bin es. Schön, dass du hierhergefunden hast, Lucy. Herzlich willkommen!“ Tino schien im Unterschied zu mir relativ gefasst zu sein, beinahe so, als hätte er mit meiner Ankunft gerechnet.
„Tino, hast du mich etwa erwartet?“ Fragte ich ungläubig.
„Erwartet – wäre vielleicht etwas zu viel gesagt. Aber ich hatte darauf gehofft, dich hier zu sehen.“
Für den Bruchteil einer Sekunde kam mir die Idee in den Sinn, Tino hätte mir die Postkarte zugeschickt, um mich hierher zu locken. Doch das würde ja bedeuten, dass er Selinas Handschrift gefälscht hätte. Wäre er dazu denn in der Lage? Außerdem fühlte sich dieser Verdacht von Grund auf falsch für mich an. Also verwarf ich ihn wieder. Die Handschrift auf der Karte war zweifelsohne Selinas.
„Kannst du mir das bitte näher erläutern? Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.“
„Sehr gerne erkläre ich dir alles. Lass uns gemeinsam essen gehen. Die Küche im Hotelrestaurant ist tadellos. Ich lade dich ein. Aber stell erstmal deine Sachen ab. Hier hast du deinen Schlüssel. Ich bringe dir deinen Koffer hoch.“
Zimmer Nummer 2 erwies sich als ein gemütlicher, sonnendurchfluteter Raum, der wie gemacht war für einen Aufenthalt in dieser traumhaft schönen Gegend. Ein Einzelbett, daneben ein kleiner Nachttisch mit Lampe, sonst noch ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch mit Stuhl – alles im Landhausstil gehalten. Auch ein kleines Bad mit Dusche gehörte zum Zimmer. Die Hotelbesitzer hatten sich bei der Einrichtung sehr viel Mühe gegeben. Ich war mehr als zufrieden. Doch aktuell blieb mir keine Zeit, hier zu verweilen, da Tino mit ungeduldiger Mine darauf wartete, dass ich ihm ins Hotelrestaurant folgte. Also schaute ich mich nur kurz um, bevor wir das Zimmer auch schon wieder verließen, um erneut ins Erdgeschoss hinabzusteigen.
Das Restaurant war ebenso behaglich eingerichtet wie vermutlich das ganze Hotel. Ein Ort zum Wohlfühlen und Genießen. Durch die großen Fenster fiel strahlendes Sonnenlicht herein. Alle Tische waren leer. Von daher konnten wir uns aussuchen, wo wir Platz nehmen wollten, und wählten einen der Tische in Fensternähe, um beim Essen die wunderschöne Landschaft draußen betrachten zu können. Bergheim machte mit seiner prächtigen Gebirgskulisse seinem Namen alle Ehre. Und da das Fenster auf Kipp stand, konnte ich sogar die Vögel draußen singen hören, was mich zusätzlich beglückte und fast vergessen ließ, warum ich hierhergekommen war. Eilig wendete ich meinen Blick vom Fenster ab und suchte mir meine Mahlzeit von der Speisekarte aus. Ein Reisgericht mit Gemüse und Käse weckte meinen Appetit, dazu ein großes Glas Orangensaft. Tino entschied sich für Gulasch mit Kartoffeln und eine Cola. Nachdem die Kellnerin, eine junge, freundliche Dame, unsere Bestellungen aufgenommen hatte, eilte sie auch schon wieder davon.
„So, nun erzähl mir bitte alles.“ Ich schaute Tino, der mir am Tisch gegenübersaß, in die Augen.
„Puh, das ist gar nicht so einfach…“ Begann er. „Diese Geschichte ist nämlich ziemlich verzwickt und mir selbst fehlt noch der Durchblick in dem Ganzen. Aber gut, ich werde es versuchen. Also: Es gibt einen bestimmten Grund, warum du jetzt hier bist. Einen viel gewichtigeren Grund, als du womöglich ahnst…“ Tino machte eine Pause, bevor er fortfuhr: „Seit Selinas Verschwinden damals vor fast siebzehn Jahren habe ich nichts mehr von ihr gehört, bis ich vor einem Jahr eine Karte von ihr erhielt.“
„Was? Du auch?“ Staunen machte sich in mir breit.
Anstatt mir eine Antwort zu geben, zog er eine Postkarte aus der Innentasche seines Jacketts und legte sie vor mir auf den Tisch. Es handelte sich um dasselbe Exemplar, das ich ebenfalls erhalten hatte.
„Darf ich sie lesen?“ Fragte ich vorsichtig.
„Dreh sie gerne um. Aber es steht nichts darauf geschrieben.“
Tatsächlich! Die Rückseite der Karte erwies sich als leer. Aber etwas anderes fiel mir dafür auf: Sie verströmte einen blumig-frischen frühlingshaften Duft, der Erinnerungen in mir weckte. Erinnerungen an meine Jahre mit Selina. Es handelte sich unverkennbar um Selinas Parfüm, das sie immer so gern getragen hatte! Ich schnupperte daran.
„Du nimmst es also auch wahr.“ Stellte Tino fest.
„Selinas Parfüm. Eindeutig.“ Bestätigte ich.
„Diese Karte ist der Grund dafür, dass ich vor einem Jahr in dieses Hotel gekommen bin. Sie lag plötzlich in meinem Briefkasten. Ich hatte Urlaub und viel Zeit. Außerdem hatte aus dem Nichts heraus eine sonderbare Aufbruchstimmung von mir Besitz ergriffen und daher beschloss ich, spontan ein Zimmer im Hotel „Rotkehlchen“ zu buchen, obwohl ich sonst eher ungern verreise. Nun ja, wie du siehst, bin ich immer noch hier. Und das nicht mehr als Gast. Die Dinge haben sich in Windeseile so entwickelt, dass das Hotel nicht nur mein neuer Arbeitsort, sondern sogar mein neues Zuhause geworden ist.“
Neugierig schaute ich ihn an. „Magst du mir mehr darüber erzählen?“
„Sehr gern. Ich fühle mich sogar dazu verpflichtet, dir das mitzuteilen, weil dir das möglicherweise dabei hilft, die ganze Situation, in der wir uns nun befinden, besser zu verstehen.“
Während der folgenden Minuten schilderte Tino mir ausführlich, was sich seit seiner Ankunft im Hotel „Rotkehlchen“ vor einem Jahr zugetragen hatte. Unter dem Kissen seines Hotelbetts hatte er eine Karte von Selina entdeckt, welche ihn darum bat, sich mit ihm am Gebirgsbach zu treffen. Dort würde sie ihm die näheren Umstände ihres Verschwindens schildern, schrieb sie. Am Bach angekommen, begegnete er tatsächlich einer Gestalt, die Selina bis aufs Haar glich. Allerdings schien sie immer noch ein neunzehnjähriges Mädchen zu sein, wie damals, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war überhaupt nicht gealtert. Und, als wenn das nicht bereits schon merkwürdig genug wäre, tischte sie ihm eine höchst seltsame Geschichte auf, die er bis heute nicht zur Gänze verstand. Ihren Worten zu Folge hatte sie sich in einem Traum, der sich überaus realistisch anfühlte, in Bergheim wiedergefunden und war hier bei einem Spaziergang von einer Klippe in die Tiefe gestürzt, als sie versuchte, loszufliegen, was sie immer wieder gerne in ihren Träumen tat. Allerdings war sie nach ihrem Sturz nicht in ihrem Bett aufgewacht, wie es so häufig der Fall ist, wenn man vom eigenen Tod träumt, sondern leibhaftig hier im Gebirge verstorben, was an Kuriosität kaum zu überbieten war. Abenteuerlustige Wanderer, die sich tiefer in den Wald hineinwagten, hatten ihre sterblichen Überreste erst vor einem Jahr entdeckt. Kurz darauf hatte sie Tino per Postkarte hierhergelockt, um von ihm Abschied zu nehmen. Seit ihrem plötzlichen Tod irrte ihre Seele durch den Wald, was mich an meinem Traum von letzter Nacht erinnerte. Erst nachdem ihr Leichnam geborgen worden war, fand sie wieder zur Ruhe zurück. Nun wollte sie sich nur noch von ihren Lieben verabschieden und sich anschließend auf den Weg ins Licht begeben. Doch etwas war offenbar schiefgelaufen. Sie war aufgehalten worden und fand von allein aus ihrer misslichen Lage nicht heraus. Tino konnte mir nicht sagen, was grnau passiert war, weil er es selbst nicht wusste. Er war Selinas Geist seitdem nicht mehr begegnet. Aber in seinen Träumen hörte er Selina immer wieder um Hilfe rufen. Dabei rief sie nicht nach ihm, sondern nach mir. Da Tino von dem engen Band, das Selina und mich seinerzeit zusammengehalten hatte, wusste, ebenso von den vielen Träumen, die wir gemeinsam erlebt hatten, hielt er es für sehr wahrscheinlich, dass ich Selinas Stimme im Traum hören und hierherkommen würde, um ihr zur Seite zu stehen. Es lag ihm sehr am Herzen, dass Selinas Seele ihren Frieden fand. Daher war seine Erleichterung groß, als er mich im Hotel aufkreuzen sah.
Der Job am Empfang war Tino übrigens kurz nach seiner Ankunft angeboten worden, da der ältere Mann, der zuvor hier gearbeitet hatte, in Rente ging. Tino zögerte zunächst, ihn anzunehmen. Doch Selinas Seele forderte ihn dazu auf. Weil er sich in Bergheim wohlfühlte und zudem als Mitarbeiter im Hotel wohnen durfte, sprach für ihn letzten Endes nichts dagegen, hier zu bleiben.
„Du meinst also, dass ich Selina über die Traumebene helfen kann?“ Fragte ich geradeheraus.
„Ja. Ihr habt doch früher immer diese gemeinsamen Träume erlebt, in denen ihr ein und dieselbe Person wart. Möglicherweise gelingt es dir, auf diesem Wege zu erfahren, in welchen Gefilden sich Selinas Seele zurzeit aufhält und was genau ihr Probleme bereitet.“
„Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Doch der letzte Traum dieser Art liegt schon viele Jahre zurück. Dennoch will ich es versuchen.“
Tino stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Danke. Aber sei bitte vorsichtig. Wir wissen nicht, was dich auf der anderen Seite erwartet. Es könnte gefährlich werden.“
„Mach dir bitte keine Sorgen, sondern bleibe in der Zuversicht. Das gibt mir Kraft.“
Inzwischen wurden unsere Speisen von der Kellnerin serviert. Sie waren köstlich. Doch ich konnte mich kaum auf das Essen konzentrieren, weil ich mir im Geist einen Plan für mein weiteres Vorgehen zusammenstellte. Auch Tino hing schweigsam seinen Gedanken nach.
Nach dem Essen suchte ich mein Zimmer auf und legte mich ins Bett. Mein Entschluss, Selina nicht länger in ihrer Not allein zu lassen, stand fest. Ich wollte ihr sofort helfen. Dass ich nach der längeren Anreise Müdigkeit verspürte, kam da wie gerufen. Ich musste nur einschlafen und im Traum mit Selinas Seele verschmelzen. Um Selina aus ihrer unglücklichen Situation zu befreien, musste ich erst einmal erkennen, worin diese überhaupt bestand. Und das würde mir der Traum zeigen. Während ich meinen Körper mehr und mehr in den Schlaf gleiten ließ, achtete ich darauf, mein Bewusstsein wach zu halten.
Die Schwärze vor meinen Augen wurde zunehmend dichter. Als nächstes vernahm ich ein Rauschen wie von einem plätschernden Bächlein - erst leise in der Ferne, dann immer lauter. Sofort fiel mir der Gebirgsbach auf der Vorderseite von Selinas Postkarte ein. Die Dunkelheit, in die ich hineinstarrte, fing an, Konturen anzunehmen. Es zeigte sich mir eine Brücke, die über einen Bach führte - genau wie die, welche auf der Karte dargestellt war. Selbst das Rotkehlchen, das auf dem Geländer Platz genommen hatte, war deutlich zu erkennen. Es stimmte zur Begrüßung ein munteres Lied an, in welchem allerdings der Klang einer heimlichen Warnung mitschwang, wie zum Zeichen, dass ich mich in Acht nehmen sollte – wovor auch immer. Plötzlich raschelte es im Gebüsch, wodurch das Rotkehlchen aufgescheucht wurde und davonflog. Doch ich ließ mich nicht davon beirren, sondern betrat mutig und entschlossen die Traumlandschaft. Schließlich war es meine Aufgabe, Selina zu helfen. Sie setzte all ihre Hoffnung auf mich. Da konnte ich nicht einfach kneifen und sie im Stich lassen, sondern musste mich auf mein Ziel fokussieren, anstatt mich von Ängsten einschüchtern zu lassen.
Ich schaute mich um. Auf der anderen Seite der Brücke führte ein Weg ins Wäldchen hinein. Da ich Selina in meinem Traum von letzter Nacht in einem Wald begegnet war, hielt ich es für ratsam, dieser Spur zu folgen. Die Holzdielen der Brücke knarrten unter meinen Schuhsohlen, während ich über sie hinwegschritt. Nachdem ich die Brücke passiert hatte, war seltsamerweise das Rauschen des Bächleins verstummt. Nanu? Ich drehte mich um. Da war nichts mehr außer dichtem, undurchdringbarem Nebel! Ich versuchte, einen Schritt in die Richtung zu gehen, aus der ich gekommen war, und stapfte mit einem Bein ins Leere. Fast wäre ich gefallen – wie tief, vermochte ich nicht zu sagen. In letzter Sekunde gelang es mir, mein Gleichgewicht wiederherzustellen und nach hinten ins weiche Gras zu fallen. Das war ganz schön knapp! Fast hätte es mich erwischt… Der Rückweg war für mich an dieser Stelle abgeschnitten. Es blieb mir nichts weiter übrig, als vorwärts zu schreiten. Doch das hatte ich ja ohnehin vor.
Auch der Wald war stellenweise von Nebelwolken durchwoben. Ich hielt es für besser, sie auf Abstand zu umgehen, um nicht erneut dem Risiko, in einen Abgrund zu stürzen, ausgesetzt zu sein. Bis auf besagte Nebelwolken war mir dieser Wald von Anfang an vertraut, hatte ich ihn doch erst in der vergangenen Nacht in meinem Traum betreten, in welchem Selina nach mir rief. Auch jetzt hörte ich ihre Stimme: „Lucy, Lucy!“ Ich konnte die Verzweiflung, die in ihr mitschwang, kaum ertragen. Doch meine Versuche, Selina näher zu kommen, blieben zunächst erfolglos. Eine Spur aus leuchtenden Federn, die auf dem Erdboden ausgelegt war, führte mich immer wieder in Selinas unmittelbare Nähe. Jedes Mal gelangte ich auf diesem Wege zu einem Baum, hinter dem sich Selina verbarg. Anscheinend versteckte sie sich dort vor etwas. Doch kaum war ich um den Baum herumgelaufen, löste sich Selina mit nach mir ausgestreckter Hand zunehmend in Luft auf. Einmal gelang es mir, ihre Hand zu ergreifen. Es tat gut, ihre Berührung zu spüren. Ich dachte, ich hätte es geschafft und könnte sie in dieser Welt festhalten, um anschließend mit ihr aus dem finsteren Wald zu fliehen. Doch wenige Momente später war Selina auch schon verschwunden, und das Einzige, was ich in meiner Hand hielt, war die Erinnerung an Selinas Berührung. Mir wurde zunehmend klar, dass es nur eine Möglichkeit gab, um weiterzukommen: Ich musste mit Selinas Geist verschmelzen, um die Welt durch ihre Augen sehen und gleichzeitig nach einem Ausweg aus ihrer Lage suchen zu können. Für einen Moment schloss ich meine Lider, besann mich auf Selinas Wesen, fühlte ihre Seele mit jeder Faser meines Seins. Sie und ich – wir waren Eins, schon immer gewesen, seit Anbeginn der Zeit. Die Trennung existierte nur in unseren Köpfen. Doch im Hier und Jetzt gab es nur: Einklang, Einheit, Einssein.
Als ich die Augen wieder öffnete, stand eine konturlose Gestalt vor mir. Es ist mir unmöglich, sie näher zu beschreiben, da sie gleichzeitig alles und nichts verkörperte. Zunächst jagte mir ihre Präsenz einen gewaltigen Schrecken ein. Denn mit etwas konfrontiert zu werden, das gleichzeitig alles und nichts repräsentiert, war für mich überaus befremdlich. Diese substanzlose Substanz bot mir nichts, woran ich mich hätte festhalten können. Mein Verstand glitt, während er sie betrachtete und versuchte, sie näher zu ergründen, wie auf einer spiegelglatten Eisfläche aus und schlitterte nur so dahin. In dem Moment, wo ich es mit der Angst zu tun bekam, dieses geheimnisvolle, fremdartige Wesen könne mir etwas antun, blieb ich zwar auf der Stelle stehen, weil mir meine Furcht eine Art Verankerung bot. Gleichzeitig jedoch hatte die Substanz plötzlich Gestalt angenommen, und zwar die eines zähnefletschenden Monsters, das seine Pranken gierig nach mir ausstreckte. O je! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Aber hey, hatte ich nicht selbst dieses Monster aus dem Alles und Nichts heraus erschaffen, indem ich meine Angst darauf projizierte? Sofort stellte ich mir anstatt seiner ein kleines Hündchen vor - lieb, zutraulich und verspielt. Und siehe da: Das Monster schmolz dahin und nahm die Gestalt des Hündchens aus meiner Vorstellung an. Es sprang, fröhlich mit dem Schwanz wedelnd, um meine Beine. Anschließend vollzog ich noch weitere dieser Experimente. Aus dem Hündchen wurde eine Butterblume, dann ein Schmetterling, schließlich ein Lampenschirm. Allem Anschein nach handelte es sich um eine Energieform, die sich in alles nur Erdenkliche verwandeln ließ, indem sie auf die Gedanken und Emotionen des sie Betrachtenden reagierte. Während dieser Spielerei wurde mir noch einmal bewusst, dass alles auf der Welt viele unterschiedliche Gesichter und Facetten besitzt. Es liegt an uns, welchen davon wir Gewicht verleihen. Wollen wir das Konstruktive in unserem Leben und in dieser Welt mehren, sind wir gut darin beraten, unseren Fokus auf das Lichtvolle zu setzen, anstatt düsteren Gedanken und Emotionen Raum zu geben, die uns unglücklich machen. Es gibt so viel Schönes da draußen und in uns selbst, das sich wahrzunehmen lohnt. Dennoch räumen Menschen oftmals ausgerechnet kraftraubenden Aspekten des Daseins einen besonderen Platz ein und zerbrechen mitunter sogar daran, anstatt das Gute in ihrem Leben und in ihren Mitmenschen wertzuschätzen und ihm dadurch die Möglichkeit zu schenken, sich zu erweitern.
Selina floh, wie so viele von uns, vor den Trugbildern, die sie auf unbewusster Ebene selbst erschaffen hatte. Hier, im Reich der Träume, in den Welten der Seele, hatten ihre inneren Dämonen Gestalt angenommen. Anstatt etwas Wohltuendes, Kraftspendendes zu kreieren, indem sie sich an glückliche Erlebnisse und freudige Ereignisse aus ihrem vor fast siebzehn Jahren ausgehauchten Leben zurückerinnerte, ließ sie sich von Gefühlen der Trostlosigkeit und der Verzweiflung leiten, wodurch sie den finsteren Wald und die Monster, welche darin hausten und ihr hinterher jagten, in jedem Moment ihres Seins neu erschuf. All das spürte ich, als ich die Welt durch Selinas Wesen wahrnahm. So lange wir Eins waren, war es mir möglich, all ihre Sorgen, Nöte und Wünsche wahrzunehmen, als wären es die meinigen. Dadurch wurde mir bewusst, warum Selinas Seele in diesem Wald gefangen war. Sie konnte es sich nicht verzeihen, zu Lebzeiten in ihrem Traum, aus welchem sie anschließend im Jenseits erwacht war, nicht vorsichtiger gewesen zu sein. Warum auch musste sie unbedingt versuchen, wie ein Vogel durch die Lüfte zu fliegen, woraufhin sie in den Abgrund gestürzt war… Ihr jugendlicher Leichtsinn hatte sie zu weit getrieben und sie hatte dafür mit dem Leben bezahlt, was sich als immenser Schicksalsschlag für ihre Angehörigen erwies. Der Schmerz, den ihr tragischer Unfall ihrer Familie und ihren Freunden bereitete, lastete schwer auf Selinas Seele, legte sich wie eine Mauer um sie. Um ins Licht gehen zu können, musste sie die einzelnen Steine dieser Mauer, die sie selbst unbewusst und unbeabsichtigt errichtet hatte, wieder abtragen. Andernfalls würde sie weiterhin unglücklich durch den finsteren Wald irren.
Während ich mein ganzes Sein auf einen lichtvolleren Bewusstseinszustand ausrichtete, um Selina dabei zu helfen, sich aus dem Gefängnis, das sie sich selbst auferlegt hatte, zu befreien, wandte ich mich mit liebevollen, beruhigenden Worten an sie.
„Selina, Selina!“ Rief ich sie in meinem Inneren. „Lass los! Lass den Schmerz ziehen. Durch dein Leid ist niemandem geholfen. Wir alle wollen doch, dass es dir gut geht und dass du glücklich bist. Du fehlst uns – ja. Aber was viel wichtiger ist: Du wirst immer einen Platz in unserem Herzen haben. Wir alle sind unsagbar dankbar dafür, einen Teil des Weges mit dir gemeinsam gegangen zu sein. Dein Unfall lässt sich, so tragisch er auch war, nicht ungeschehen machen. Doch gib dir bitte nicht die Schuld dafür. Wie konntest du auch wissen, dass dein damaliges Erlebnis weit mehr gewesen ist als nur ein Traum? Schließlich wohntest du etliche Kilometer von Bergheim entfernt. Ja, du hattest bis dahin noch nicht einmal von der Existenz eines Ortes mit diesem Namen gehört! Für mich ist es nach wie vor ein großes Mysterium, wie dein Körper, während du geschlafen hast, überhaupt hierher gelangen konnte. Lass bitte den Frieden in deine Seele einkehren.“
In meinem Inneren wurde es auf einmal ruhiger. Selina sann über meine Worte nach, prüfte sie, wägte sie gegeneinander ab. Letzten Endes kam sie zu dem Schluss, dass sie mir Recht geben und der Wahrheit, die ich ihr zu vermitteln versuchte, zustimmen wollte. Sie war es leid, sich niederen Empfindungen hinzugeben, die an ihrer Substanz zehrten, und wild entschlossen, der Traurigkeit den Rücken zu kehren. Durch den finsteren Wald war sie lange genug geirrt. Monster und Dämonen hatte sie mehr zu Gesicht bekommen, als ihr lieb war. Ich konnte deutlich spüren, dass all das Dunkle, das sie so lange heimgesucht hatte, mehr und mehr aus ihrer Seele wich und durch lichtvollere Gedanken und Emotionen ersetzt wurde.
„Selina, danke, dass du deinem Seelenfrieden eine Chance gibst!“ Freute ich mich für sie und spürte, wie sie mir zulächelte.
Im nächsten Augenblick schlug ich im Hotelbett die Augen auf und konnte gerade noch erkennen, wie ein einzelner Lichtfunken, der sich von meinem Körper gelöst hatte, zur Zimmerdecke emporschwebte. Ohne jeden Zweifel handelte es sich dabei um Selinas reine Essenz, die sich auf den Weg ins Licht machte.
Plötzlich klopfte es an der Tür.
„Lucy, ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“ Tino klang besorgt.
Ich stand auf, öffnete ihm und ließ ihn herein.
„Ach Tino! Ich habe dir doch gesagt, dass mir deine Zuversicht weit mehr nützen würde als deine Sorgen!“ Lachend verdrehte ich die Augen. „Aber lass gut sein und komm herein. Oder nein - lass uns besser draußen spazieren gehen. Das Wetter heute ist doch einfach himmlisch!“
Während wir nebeneinander herliefen, erzählte ich Tino von den jüngsten Entwicklungen. Es stimmte ihn erleichtert und glücklich, dass alles gut gegangen war, dass Selinas Seele den Schmerz besiegt und ihren Frieden gefunden hatte.
Als wir in die Nähe des Gebirgsbachs gelangten, glaubte ich für den Bruchteil einer Sekunde, einer optischen Täuschung erlegen zu sein. Für einen winzigen Moment hatte ich dort etwas gesehen, das gleich darauf wieder verschwand. Ein Boot schaukelte im Wasser. Der Fährmann - ein junger, gutaussehender Mann mit einem gutmütigen Blick. Geduldig stand er am Bug, ein langes Paddel in der Hand haltend, während Selina dabei war, im Boot Platz zu nehmen. Diese Szene erinnerte mich unweigerlich an Charon aus der griechischen Mythologie, wie er die Seelen der Verstorbenen in seinem Boot über den Styx in die Unterwelt befördert. Doch dieser Charon hier war keineswegs ein alter, griesgrämiger Mann, als der er in der Sage beschrieben wird, sondern er glich eher einem Engel, wenn auch ohne Flügel.
„Tino, hast du das gerade auch gesehen?“
„Was denn?“
„Ach, schon gut. Die Sonne hat mich bestimmt nur geblendet.“
Vermutlich war es besser, dass Tino diese Szene nicht mitbekommen hatte. Bestimmt hätte ihn die Eifersucht gepackt, wenn er seine Jugendliebe, die er offenbar bis zum heutigen Tage nicht ganz vergessen konnte, mit einem anderen Mann davonsegeln sah. Dass es sich dabei um eine reine Geisterscheinung handelte, würde kaum etwas daran ändern.
Während ich mich am Spiel der Sonnenstrahlen im klaren Wasser des Gebirgsbachs erfreute, winkte ich Selina im Herzen zu und wünschte ihr eine angenehme Reise.
Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2025
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