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Traumurlaub in Bergheim

Endlich! Ich hatte es geschafft! Mein letzter Arbeitstag war vorüber und der Urlaub stand vor der Tür. Zwei Wochen hatte ich mir diesmal freigenommen, da ich meinen Lieblingsmonat Mai in vollen Zügen genießen wollte. Laut Wetterbericht sollte es in den kommenden Tagen sonnig bleiben. Optimal für Unternehmungen im Freien. Ich wusste nur noch nicht so recht, wohin mit mir. Meine Urlaube verbrachte ich für gewöhnlich zu Hause, besuchte meine Familie, traf Freunde, radelte mit dem Fahrrad in den Wald hinaus. Das war ja alles schön und gut. Doch diesmal wollte ich etwas Besonderes erleben. Eine sonderbare Aufbruchstimmung hatte mich auf einmal gepackt!

 

Als ich es mir am Samstagvormittag bei einem späten Frühstück in meiner sonnendurchfluteten Küche gemütlich machte, hörte ich, wie die quietschende Klappe meines Briefkastens angehoben und etwas mit einem leisen Poltern auf dessen Grund befördert wurde. Nanu? Sollte das etwa schon der Postbote sein? Dieser ließ sich hier doch selten vor zwölf Uhr mittags blicken. Zudem hatte er die Angewohnheit, sein Erscheinen lautstark anzukündigen: Fahrradreifen auf knirschendem Kies, das klackende Geräusch der Fahrradstütze, den einen oder anderen Seufzer, der sich seiner Kehle entrang. Sport war wohl einfach nicht sein Ding, und ich fragte mich jedes Mal aufs Neue, warum er die Post mit einem Fahrrad anstatt mit einem Auto ausfuhr. Möglicherweise hatte er einfach keinen Führerschein. Derjenige, der gerade meinen Briefkasten gefüttert hatte, konnte jedenfalls nicht der Postbote gewesen sein. Dafür hatte er viel zu still und heimlich agiert, wie auf Katzenpfoten. Das weckte meine Neugier und ich stand auf, um nachzuschauen. Doch als ich die Haustür öffnete und mich nach allen Richtungen umsah, lag die Straße leer und verlassen da. Seltsam.

 

Im Briefkasten befand sich eine Postkarte, sonst nichts. Auf ihrer Vorderseite war eine überaus detailliert gezeichnete Landschaft dargestellt. Im Hintergrund Berge, davor ein Wäldchen, aus welchem ein Hirsch neugierig seinen Kopf steckte und dem Betrachter der Karte, also in diesem Moment mir, direkt in die Augen sah, so dass ich mich von ihm beobachtet, ja nahezu hypnotisiert fühlte. Vor dem Wäldchen floss ein klarer Gebirgsbach, über den eine hölzerne Brücke führte, auf dessen Geländer ein Rotkehlchen saß. Seinen Schnabel hatte es geöffnet, als wäre es im Begriff, ein Lied anzustimmen. Vom blauen Himmel herab strahlender Sonnenschein tauchte die frühlingshafte Idylle in sein warmes Licht. Die Szenerie wirkte dermaßen lebendig, nicht nur wegen der sorgfältig ausgearbeiteten Details, sondern vor allem wegen der ihr innewohnenden Kraft, dass sie, als ich mich einen Moment länger in sie vertiefte, in Bewegung zu geraten schien. Der Bach floss auf einmal rauschend dahin. Deutlich konnte ich sein Plätschern hören. Die Blätter der Bäume raschelten im sanften Frühlingswind. Aus dem Wald drang das Röhren eines Hirsches an mein Ohr, während das Rotkehlchen auf der hölzernen Brücke seinen Kopf hin und her wendete und tirilierte. Ein entzückender, herzerwärmender Anblick, welcher sich mir darbot. Fast hätte ich vergessen, dass ich mich nicht inmitten dieser märchenhaften Naturlandschaft, sondern in meinem Hausflur befand. Nachdem ich ungläubig einige Male mit den Augen geblinzelt hatte, stand die Szenerie auf der Karte wieder still, als wäre nichts passiert. Ich gebe ja zu, dass ich eine rege Phantasie besitze. Doch das, was ich soeben erlebt hatte, ging weit über die Grenzen meiner Vorstellungskraft hinaus. Es fühlte sich einfach zu real an, als dass es auf Einbildung beruhen konnte. Wie von Geisterhand war diese Postkarte, die mich in eine andere Welt zu locken schien, in meinen Briefkasten gewandert.

 

Erst jetzt bemerkte ich, dass sie einen kaum wahrnehmbaren Duft verströmte, der in mir die Erinnerung an weit zurückliegende Tage weckte. Dabei konnte ich nicht genau benennen, was sich damals konkret ereignet hatte. Zu schemenhaft und verschwommen erschienen die Bilder vor meinem geistigen Auge, ohne dass ich klare Konturen hätte ausmachen können. Wie Schatten einer fernen Vergangenheit glitten sie an mir vorbei. Vielmehr war es so, dass das blumige, leichte Aroma einen Anflug von Unbeschwertheit und Lebensfreude in mir auslöste, welches mit dem nächsten Atemzug schon durch eine abgrundtiefe Schwermut abgelöst wurde, deren Ursprung ich nicht näher bestimmen konnte.

 

Auf die Rückseite der Karte waren der Name eines Hotels inklusive seiner Kontaktdaten gedruckt. „Hotel Rotkehlchen“ in Bergheim. Das hörte sich ja schon mal gut an. Sehr einladend. Ebenso wie das Bild auf der Vorderseite der Karte. Sollte es dort wirklich so lauschig sein, würde ich womöglich nie wieder diesen Ort verlassen wollen. In diesem Moment wurde mir eines klar: Diese Karte hatte mir doch der Himmel geschickt! Sie kam wie gerufen und war die Antwort auf meine Aufbruchstimmung. Jetzt wusste ich, wohin die Reise gehen sollte! Auch wenn ich Zweifel hatte, ob das Hotel auf die Schnelle ein Zimmer für mich frei hätte. Doch das ließe sich durch einen kurzen Anruf sofort klären.

 

„Hallo? Mein Name ist Tino Blumberg. Ich habe seit heute Urlaub und würde diesen gerne bei Ihnen verbringen. Haben Sie zufälligerweise noch ein Zimmer frei?“ Fragte ich vorsichtig.

 

„Kleinen Moment, Herr Blumberg. Ich schaue mal in unserem System nach.“ Die freundliche Frauenstimme verstummte für einen Moment. „Ja, Sie haben Glück! Sie können gerne noch heute vorbeikommen und das Zimmer bis auf weiteres buchen.“

 

„Oh, das ist ja wunderbar! Ich packe nur schnell meine sieben Sachen zusammen und fahre dann los. In drei Stunden bin ich da.“

 

„Alles klar! Bis später, Herr Blumberg!“

 

Etwa eine halbe Stunde später ließ ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und machte mich mit meinem Koffer auf den Weg zum Bahnhof. Die Reise bis zum Hotel gestaltete sich angenehm. Ich musste zwar mehrere Male umsteigen. Doch ich erreichte meine Anschlussverbindungen jeweils pünktlich. Bis der Bus kam, der mich das letzte Stück zum Hotel hochfahren würde, verging sogar fast eine halbe Stunde Wartezeit. Er fuhr diese Strecke nur vier Mal am Tag. Es war nur eine einzige Station, vom Bahnhof bis zum Hotel, doch diese schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Und ich war der einzige Fahrgast. Auf der Straße gab es überhaupt keinen Verkehr. Uns begegnete kein einziger Wagen. Die Aussicht aus dem Fenster war zwar eintönig, aber für meinen Geschmack als Naturfreund fantastisch: Links und rechts des Weges Wald, soweit das Auge reicht.

 

Als wir schließlich am Ziel ankamen und ich aus dem Bus ausstieg, war das erste, was mir auffiel, der herrliche Duft nach frischem Grün. Es war früher Nachmittag und die Sonne stand hoch am Himmel. Vögel sangen, Frieden lag in der Luft und ich fühlte mich hier, an diesem wundervollen Ort mitten in der Natur, eins mit der Welt. Die Landschaft glich unverkennbar dem Bild auf der Postkarte. Ich sah zwar weder ein Rotkehlchen auf einer Brücke sitzen noch einen Hirsch, wie er mich aus dem Wäldchen heraus mit neugierigen Augen musterte. Und doch nahm ich die gleiche Atmosphäre um mich herum wahr, welche die Abbildung auf der Postkarte in mir heraufbeschworen hatte. In nicht allzu weiter Ferne konnte ich das Rauschen eines Bachlaufs vernehmen. Ob es sich dabei wohl um den Bach von der Postkarte handelte? Das würde ich womöglich noch herausfinden. Doch zunächst wollte ich im Hotel, das nur wenige Schritte von der Bushaltestelle entfernt war, einchecken, meinen Koffer abstellen und mir etwas zu essen besorgen.

 

Die junge Frau an der Rezeption schien dieselbe zu sein, mit der ich vorhin telefoniert hatte. Ich erkannte ihre Stimme sofort. Sie war hübsch, hatte ein gepflegtes Äußeres und war überaus freundlich. Nachdem sie mir meinen Zimmerschlüssel übergeben hatte, eilte ihr Kollege, ein junger Mann, herbei, um mir mit meinem Koffer zu helfen. Als wir vor meinem Zimmer standen, gab ich ihm ein Trinkgeld, wofür er sich mit einem Lächeln bedankte. Zimmer Nummer 1 also. Im ersten Obergeschoss. Ich steckte den goldenen Schlüssel ins goldene Schloss und drehte ihn herum. In diesem Moment wusste ich, dass ich die Tür zu etwas Neuem aufgeschlossen hatte und es nun kein Zurück mehr gab.

 

Das Zimmer war komfortabel und modern, aber nicht luxuriös eingerichtet. Die Möbel im rustikalen Landhausstil strahlten Gemütlichkeit aus. Ein bequemes Bett für eine Person, daneben ein kleiner Nachttisch mit Lampe, ein Schreibtisch mit Stuhl vor dem Fenster, in der Ecke ein Kleiderschrank – was brauchte man mehr als Gast an einem so herrlichen Ort wie diesem? Zum Zimmer gehörte darüber hinaus ein kleines Bad mit Dusche. Zudem verfügte das Hotel über ein eigenes Restaurant. Für all meine Belange während meines Aufenthaltes hier war gesorgt. Ich konnte mich wahrlich nicht beschweren.

 

Nachdem ich den Inhalt meines Koffers im Kleiderschrank verstaut hatte, legte ich mich für eine kurze Verschnaufpause ins Bett. Die Matratze hatte genau die richtige Härte und die Bettdecke die richtige Dicke. Das bauschige Kissen war nahezu eine Wohltat für meinen Kopf. Am liebsten wäre ich nie wieder aufgestanden, so wohl fühlte ich mich in diesem Bett. Doch trotz aller Behaglichkeit spürte ich einen Fremdkörper unter dem Kissen, wenn auch so subtil, dass ich es zunächst für Einbildung hielt. Letzten Endes beschloss ich dann aber doch, unter dem Kissen nachzusehen, da mir das keine Ruhe ließ. Und ich wurde fündig: Ein weißes Kärtchen war darunter versteckt. Auf der Vorderseite stand nur mein Name geschrieben: „Tino“. Die Handschrift kam mir seltsam vertraut vor. Zudem rief sie dieselben nebulösen Erinnerungen wie das Parfüm auf der Postkarte in mir wach. Ich überlegte eifrig, im Versuch, den Schleier, der sich über mein Gedächtnis gelegt hatte, zu lichten. Ohne jeden Zweifel war die Verfasserin dieses Kärtchens eine Frau. Und zwar eine, die ich sehr gut kannte und die mich aus einem mir noch unbekannten Grund anscheinend hierher, in dieses Hotel, gelockt hatte.

 

Dann fiel es mir schlagartig ein: „Selina!“ Stieß ich aus. Selina, meine Jugendliebe, die vor mehr als fünfzehn Jahren spurlos verschwunden war. Wir hatten damals vergeblich nach ihr gesucht. Auch polizeiliche Ermittlungen blieben leider erfolglos. Mein Leben wurde durch dieses dramatische Ereignis in seinen Grundfesten dermaßen erschüttert, dass ich im Anschluss daran jeden Gedanken an Selina verdrängt hatte, um nicht an meinem Schmerz und meiner Fassungslosigkeit zu zerbrechen. Niemals hätte ich damit gerechnet, noch einmal von ihr zu hören. Denn ich war mir absolut sicher, dass sie nicht mehr unter uns auf Erden weilte. Und nun hatte sie mich zu diesem Ort geführt. Warum? Oder erlaubte sich etwa jemand einen Streich mit mir, indem er sich für Selina ausgab?

 

Ich drehte das Kärtchen um. „Hallo Tino. Hier schreibt dir Selina. Ich hoffe, du hast mich in guter Erinnerung behalten, auch wenn ich damals so plötzlich aus aller eurer Leben verschwunden bin. Dies stand wirklich nicht in meiner Absicht. Viel lieber wäre ich bei euch geblieben. Doch die Dinge haben sich leider anders entwickelt und letzten Endes hatte ich keine Wahl. Es kam alles so plötzlich… Da es mir aber sehr am Herzen liegt, Licht in diese Angelegenheit zu bringen, würde ich mich freuen, wenn wir uns heute im Laufe des Tages drüben am Gebirgsbach treffen könnten. Komm einfach vorbei, wann es dir passt. Ich werde da sein. Selina“

 

Diese Botschaft, eindeutig in Selinas Handschrift verfasst, gab mir Rätsel auf. Weshalb meldete sie sich erst jetzt bei mir, nachdem so viele Jahre vergangen waren? Noch weniger verstand ich, warum sie mich in dieses Hotel gelotst hatte. Ja, Moment mal, woher hatte sie überhaupt meine aktuelle Anschrift? Bei unserem letzten Kontakt hatte ich noch in meinem Elternhaus gewohnt. Da ich an den regelmäßig stattfindenden Klassentreffen nach wie vor teilnahm, war es natürlich gut möglich, dass sie meine Kontaktdaten von einem unserer gemeinsamen Mitschüler erhalten hatte. Dennoch erschien mir das alles als höchst sonderbar.

 

Nachdem ich im Hotelrestaurant eine Kleinigkeit zu mir genommen hatte, brach ich zu einer kleinen Wanderung in die Berge auf. Mein Ziel war der von Selina erwähnte Gebirgsbach. Es gab hier nur den einen, wie mir die Frau an der Rezeption versichert hatte. Von daher konnte ich nichts falsch machen. Während ich den Pfad entlangschlenderte, immer dem Geräusch des rauschenden Bächleins nach, genoss ich die frische Luft und lauschte dem Gesang der Vögel. Wie schön war es doch hier draußen, mitten in der Natur! Unterwegs begegnete mir keine Menschenseele. Einmal zogen sich die Wolken kurz zusammen und ließen einen sachten Schauer vom Himmel herabfallen. Doch daran störte ich mich nicht. Der Regen erfrischte meine Sinne. Am Horizont hatte sich ein zarter Regenbogen gebildet, direkt über dem Gebirgsbach, welchen Selina als Treffpunkt ausgemacht hatte. Dort angekommen, setzte ich mich auf einen größeren Stein direkt am Ufer und schaute mich um. Von Selina fehlte jede Spur. Vielleicht war ich zu früh dran? Doch sie hatte geschrieben, dass sie da sein würde, egal wann ich käme. Möglicherweise war ich wirklich nur auf einen dummen Scherz hereingefallen, den sich jemand mit mir erlaubt hatte. Dennoch beschloss ich, zu warten. Vielleicht würde Selina ja doch noch auf der Bildfläche auftauchen.

 

Im nächsten Moment legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter.

 

„Hallo Tino. Danke, dass du gekommen bist.“

 

Auch wenn ich auf Selinas Erscheinen gewartet hatte, schreckte ich dennoch hoch, als ich nach all den Jahren zum ersten Mal ihre Stimme vernahm. Blitzschnell drehte ich mich um. Da stand sie doch tatsächlich vor mir! Aus unerfindlichen Gründen schien sie um keinen Tag gealtert zu sein. Noch immer war sie dasselbe neunzehnjährige Mädchen, als das ich sie zuletzt gesehen hatte.

 

„Entspann dich. Es ist alles gut. Du brauchst keine Angst zu haben.“ Selina lächelte mich an. „Lass uns ins Gras setzen. Dann erzähle ich dir alles.“ Nachdem wir uns auf der Blumenwiese niedergelassen hatten, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort: „Ich will ganz am Anfang beginnen. Wie du weißt, hatte ich immer eine sehr gute und sehr klare Traumerinnerung. Meine Träume waren meist so lang, dass du meintest, ich könnte sie doch zu Geschichten verarbeiten. Außerdem fühlten sich meine Träume oftmals so lebendig an, als wäre ich im Schlaf in anderen real existenten Daseinsebenen unterwegs, die unserer Welt im Hier und Jetzt um nichts nachstehen und diese mitunter sogar in den Schatten stellen. Doch ich konnte die einzelnen Realitäten immer voneinander unterscheiden und wusste genau, wo die eine aufhört und wo die andere beginnt. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag.“ Seufzend legte sie eine Pause ein und ließ traurig ihren Blick gen Boden sinken.

 

Von Neugier gepackt saß ich da, schaute die jugendlich strahlende Selina an und lauschte aufmerksam ihren Worten. Ich konnte immer noch nicht glauben, hier bei ihr zu sein. Ja, träumte ich denn womöglich gerade selbst - jetzt, in diesem Augenblick?

 

Selina richtete ihren Blick auf mich und fuhr fort: „In jener Nacht träumte ich von diesem Ort. Ich weiß nicht, was mich hierhergeführt hat, zumal ich vorher nie in Bergheim gewesen bin, ja noch nicht einmal von einem Fleckchen Erde mit diesem Namen gehört hatte. Es war wieder einer von diesen sehr lebendigen Träumen, in denen sich alles so real anfühlt. Zunächst ging ich im Schein des Vollmonds im Wald spazieren. Die Erde unter meinen nackten Füßen war weich und feucht. Hin und wieder hörte ich eine Eule rufen. Irgendwann nahm ich einen Pfad, der sich die Gebirgskette hinaufschlängelte, und schaute mir die Welt von oben an. Alles schien in tiefen Schlummer versunken. Die Pflanzen, die Tiere und die Menschen. Ein eigentümlicher Friede lag über allem. Mir wurde durch die wundersame Atmosphäre so leicht ums Herz… Mit einem Male fühlte ich mich so frei und glücklich, dass ich am liebsten wie ein Vogel meine Flügel ausgebreitet und losgeflogen wäre. Da ich mich, wie ich dachte, in einem Traum befand, lag dies durchaus im Bereich des Möglichen. Also rannte ich auf den Rand der Klippe zu und sprang mit ausgebreiteten Armen, um loszufliegen. Doch anstatt mich in die Lüfte zu erheben, zog es mich aus unerfindlichen Gründen in die Tiefe hinab. Nachdem ich auf dem Erdboden aufgeschlagen war, verlor ich kurz das Bewusstsein. Im nächsten Augenblick schwebte ich über meinem leblosen Körper, sah ihn unter mir auf dem Boden liegen. Ich weiß nicht, wie das hatte passieren können, da ich mich, wie ich glaubte, in einem Traum befunden hatte. Wenn man davon träumt, zu sterben, wacht man doch für gewöhnlich sofort auf. Doch das war mir nicht beschieden. Seit jener unglückseligen Nacht irrte ich nun als Geist durch diesen Wald, ohne einen Ausweg zu finden. Erst vor kurzem fanden Wanderer, die sich tiefer in den Wald hineingewagt hatten, meine sterblichen Überreste. Doch noch immer weiß niemand, um wen es sich bei der jungen Frau handelt, die damals in den Tod gestürzt ist, und wie es überhaupt dazu kam. Du bist nun einer der Ersten, der von meinem Schicksal erfährt. Ich werde es auch allen anderen, die offen und bereit sind, meine Geschichte zu glauben, erzählen. Anschließend verlasse ich diese Welt, um ins Licht zu gehen.“

 

Selinas Worte machten mich sprachlos. Wie konnte das möglich sein? Sie saß doch lebendig vor mir und sah einem Geist überhaupt nicht ähnlich. Kaum hatte ich das gedacht, begannen sich die Konturen ihres Körpers zunehmend aufzulösen, bis er schließlich nahezu durchsichtig war.

 

„Ich kann nur für kurze Zeit eine feste Gestalt annehmen. Anschließend zerfällt mein Körper zu Sternenstaub. Tino, so leid es mir auch tut: Ich muss jetzt gehen! Danke, dass du gekommen bist. Leb wohl…“

 

Schon war sie weg. Vorsichtig streckte ich meine Hand zu der Stelle im Gras hin aus, wo Selina bis eben noch gesessen hatte. Doch da war nichts mehr. Nur Luft. Sie hatte mich also hierhergeführt, um sich von mir zu verabschieden, und war anschließend aufgebrochen, in andere Gefilde.

 

In nachdenklicher Stimmung wanderte ich zum Hotel zurück, begleitet vom Zirpen der Grillen und dem Gesang der Amsel. Als ich beim Hotel ankam, hatte die Abenddämmerung bereits eingesetzt. Die junge Frau hatte anscheinend ihre Schicht beendet und war von einem älteren Mann mit gutmütigen Augen hinter dicken Brillengläsern abgelöst worden.

 

„Sie kommen wohl gerade von ihrer Wanderung zurück, was? Ein schöner Ort zum Entspannen, nicht wahr?“ Sprach er mich freundlich an. Als er mein Gesicht näher betrachtete, meinte er verwundert: „Sie sehen ja aus, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen.“

 

„Wie kommen Sie denn darauf?“ Fragte ich in scherzhaftem Tonfall, da ich die Trauer um Selina und mein Erstaunen über die gerade eben stattgefundene Begegnung mit ihr zu überspielen versuchte.

 

„Nun ja, neulich wurde hier im Wald die Leiche einer Frau geborgen, die anscheinend bei einer Bergwanderung vor vielen Jahren verunglückt ist. Vielleicht ist Ihnen da draußen ja ihr Geist begegnet?“ Er sah mich eindringlich an.

 

„Ach was! Geister… So was gibt es doch nicht…“ Ich versuchte weiterhin, mich locker und entspannt zu geben.

 

Einen Moment lang studierte der Alte sorgfältig mein Gesicht. „Na gut, wenn Sie meinen…“

 

Als ich mich daran machte, die Treppe zu meinem Zimmer emporzusteigen, rief er mich zurück: „Heh, junger Mann! Wie gefällt es Ihnen hier eigentlich? Suchen Sie zufälligerweise einen neuen Job? Ich gehe nämlich bald in Rente. Daher wird hier was frei. Falls Sie Interesse haben…?“

 

Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet und wusste vor Überraschung nichts darauf zu erwidern. Doch als der Duft von Selinas Parfüm in meine Nase drang und mir ihre Stimme ins Ohr flüsterte: „Sag ja!“, wusste ich, was zu tun war.

 

„Sehr gerne würde ich hier arbeiten.“ Antwortete ich also spontan dem Alten. „Bergheim ist ein wunderschöner Ort. Ich fühle mich hier sehr wohl. Doch wo soll ich hier leben? Von meinem Wohnort ist es zu weit entfernt. Und hier in der Nähe gibt es nichts, außer freie Natur.“

 

„Sie werden selbstverständlich hier im Hotel leben und brauchen es nie wieder zu verlassen!“ Teilte mir der Alte resolut mit. „Das wird von nun an Ihr neues Zuhause sein. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Wirklich nicht.“

 

„Aber ich muss vorher noch meinen alten Job und meine Wohnung kündigen.“

 

„Auch das regeln wir für Sie. Seien Sie vollkommen unbesorgt.“

 

Was für eine seltsame Antwort… Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Wäre da nicht Selinas Stimme gewesen, die mich zum Hierbleiben überreden wollte, so wäre ich wohl lieber wieder nach Hause gefahren. Doch andererseits gefiel es mir in Bergheim ausgesprochen gut, sehr viel besser als an meinem bisherigen Wohnort sogar. Und die Arbeit an der Rezeption sagte mir ebenfalls mehr zu als mein hektischer Job in der Baubranche. Zumal hier nicht viel los zu sein schien. Bis jetzt hatte ich keinen weiteren Hotelgast zu Gesicht bekommen. Da ich die Ruhe und Abgeschiedenheit liebe, kam mir das sehr gelegen. Warum also nicht zu neuen Ufern aufbrechen und hier mein Glück versuchen?

 

„Einverstanden! Ich bleibe hier.“

 

Der Alte und ich besiegelten meinen Entschluss mit einem kräftigen Händedruck.

 

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Nun lebe ich schon seit mehreren Monaten im Hotel und gehe Tag für Tag meiner Tätigkeit an der Rezeption nach. Trotz der wunderschönen Lage finden sich nur selten Gäste hier ein, was mich sehr verwundert. Doch beschweren möchte ich mich darüber nicht. Schließlich habe ich dadurch weniger zu tun und kann die Stille, die sich mir bietet, ausgiebig genießen, während ich mir ein Buch nach dem anderen zu Gemüte führe. Hier im Hotel gibt es eine sehr gut ausgestattete Bibliothek, an der ich mich jederzeit bedienen darf. Und wenn ich gerade keine Lust zum Lesen habe, schreibe ich, während ich hinter der Theke auf Besucher warte, selbst die eine oder andere Geschichte. Bergheim bietet mit seiner prächtigen Naturlandschaft eine Fülle an Inspiration. Und die nötige Ruhe zum Schreiben habe ich hier auch.

 

Gelegentlich frage ich mich, was Selina wohl macht und wie es ihr in den Gefilden, in denen sie jetzt verweilt, ergeht. Die Wunde, welche ihr rätselhafter Tod in mir hinterlassen hat, wird zwar noch ihre Zeit brauchen, um zu verheilen. Doch das Wissen um die Umstände dahinter macht es für mich leichter, auch wenn ich bislang nicht zur Gänze verstanden habe, was es damit auf sich hat. Wie konnte Selina sich mit Leib und Seele nach Bergheim träumen und dann hier ganz real tödlich verunglücken? Oder habe ich mir unsere Begegnung am Gebirgsbach nur eingebildet? Der Alte am Empfang sprach doch aber auch von einer verstorbenen Frau… Möglicherweise bin ich selbst derjenige, der in einem Traum gefangen ist? Wer kann schon so genau sagen, wo ein Traum aufhört und wo die Realität beginnt? Und woher will man wissen, ob man morgens in derselben Welt aufwacht, in welcher man in der Nacht zuvor eingeschlafen ist? Auch wenn es auf den ersten Blick dieselbe Welt sein mag, kann der Schein möglicherweise trügen. Was passiert mit uns, wenn dieser Traum, den wir das Leben nennen, sein Ende nimmt? Geht die Reise anschließend weiter oder hat es sich dann einfach ausgeträumt?

 

Während ich in Gedanken versunken zur Decke starre, öffnet sich plötzlich die Eingangstür und ein herbstlicher Windstoß weht zusammen mit dem raschelnden bunten Laub einen mir überaus vertrauen Duft herein. Blumig-leicht wie der Frühling selbst steigt er mir in die Nase. Ich drehe mich zur Tür um und kann meinen Augen kaum glauben: Vor mir steht Selina!

 

„Hallo Tino! Schön, dass du hierhergefunden hast. Meine Postkarte hat dich offensichtlich erreicht, und wie ich sehe, bist du meiner diskreten Aufforderung, dich auf den Weg nach Bergheim zu machen, gefolgt. Leider konnte ich nicht früher kommen. Aber nun haben wir beide alle Zeit der Welt, und ich werde dir alles der Reihe nach erzählen. Lass uns im Hotelrestaurant gemeinsam was essen. Ich lade dich ein.“

 

Anscheinend war der Traum noch nicht vorbei. Doch wann hatte er begonnen?

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Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 19.05.2025

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