Es ist Winter geworden. Ich habe es mir auf meiner gepolsterten Couch am Kamin gemütlich gemacht und schaue durch die geschlossene Terrassentür auf meinen kleinen Garten hinaus. Eine Schneedecke, welche den Frühling mit seiner bunten Blütenpracht unter sich bettet, hat sich über den Rasen gelegt. Die kahlen Bäume hüllen sich in friedvolles Schweigen. Nur die Rufe der Krähen unterbrechen von Zeit zu Zeit den tiefen Schlummer der träumenden Welt um mich herum.
Die im Kaminfeuer prasselnden Holzscheite rufen mit ihrem wohligen Klang Erinnerungen an frühere Zeiten in mir wach, ebenso wie die bunt karierte Decke auf meinen Knien, die meine Großmutter einst für mich gestrickt hat. Der Tag, an dem sie mir die Wolldecke als Geschenk an Heiligabend überreichte, liegt so lange zurück, dass es sich für mich in diesem Moment wie das Ereignis aus einem früheren Leben anfühlt. Inzwischen weilt meine Großmutter nicht mehr unter uns, zumindest nicht körperlich. Doch ich spüre deutlich, wie ein Teil ihrer Seele in genau diesem Augenblick neben mir auf der Couch Platz genommen hat und mir zulächelt.
Ich stehe auf, gehe zum Kamin hinüber und lege ein Holzscheit nach. Heute ist es draußen besonders frostig, und die Kälte zieht durch das Glas der Terassentür ins Hausinnere. Ich frage mich, ob die Natur wohl auch friert. Oder vermag das eisige Wetter nicht durch den schützenden Schleier des Winterschlafs zu ihr zu dringen? Die Raben allerdings scheinen sich mit ihrem jämmerlichen Krächzen über das Wetter zu beschweren. Im Geiste bin ich bei ihnen. Denn so behaglich ich mich auch unter der Decke am Kamin fühle, so würde ich jetzt dennoch sehr viel lieber draußen im blühenden Garten liegen und mir die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen lassen, mich an ihren Strahlen wärmen und dabei gemeinsam mit den zwitschernden Vögeln bis ans andere Ende der Welt fliegen. Doch ich muss mich noch gedulden. Der Winter hat gerade erst so richtig begonnen.
Allmählich wird es dank des Kaminfeuers sehr warm im Zimmer. Während meine Seele mehr und mehr auftaut, wird mein Körper zusehends von Müdigkeit übermannt. Ich lege mich, in die Wolldecke meiner Großmutter eingekuschelt, auf die Couch, bette meinen Kopf auf deren weiche Armlehne und lasse mich vom gleichmäßigen Knistern der Holzscheite in den Schlaf wiegen, der sich alsbald wie ein hauchzartes Tuch über mich legt…
…als ich aufwache, hat sich etwas verändert. Das spüre ich deutlich, noch bevor ich meine Augen öffne. Die Atmosphäre um mich herum ist dichter und schwerer geworden. Die mich umgebende Stille ist eine andere als zuvor. Es ist viel zu ruhig. Ich kann nicht das leiseste Geräusch wahrnehmen. Was ist passiert? Warum prasselt das Holz im Kamin nicht mehr?
Ich öffne meine Augen und setze mich aufrecht auf die Couch. Um mich herum ist es stockfinster. Wie viele Stunden mögen wohl vergangen sein? Wie lange habe ich geschlafen? Es fühlt sich so an, als hätte ich mich gerade erst hingelegt. Und doch muss sehr viel mehr Zeit verstrichen sein. Denn der Tag wurde mittlerweile von der Nacht abgelöst. Vor der Terrassentür sehe ich den jungen Mond vom Himmel herab scheinen. Ganz schwach leuchtet seine Sichel und erhellt mit ihrem spärlichen Licht wie zum Schein die Welt. Die Raben haben sich bereits auf den Weg ins Traumland begeben. Ihre Schreie sind verstummt. Das Feuer im Kamin ist längst erloschen. Dennoch friere ich nicht. Die Decke meiner Großmutter hält mich warm.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit und ich kann schemenhaft die Welt um mich herum erkennen. Auch wenn der Raum, in welchem ich mich befinde, in allen Details ein Ebenbild meines Wohnzimmer wiedergibt, so verrät mir ein Blick nach draußen, dass ich in die Welt hinter der Glaskugel geraten bin, die ich zuweilen in meinen Träumen besuche. Diese Welt unterscheidet sich in so vielem von meinem Zuhause. In ihr blühen, im Unterschied zu meinem kleinen Garten, selbst im Sommer keinerlei Blumen, über welchen die Vögel am Himmel kreisen. Statt grünenden Kiefern, Tannen, Eichen, Buchen und Pappeln begegnet man auf ihren Straßen nur abgestorbenen Baumstämmen, die ihre trockenen Äste und Zweige traurig herab hängen lassen. Durch die Wolken am tiefgrauen Himmel dringt kein einziger Sonnenstrahl zu den Bewohnern dieser Welt hindurch, um ihre Herzen zu wärmen und ihnen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Während sie in ihren Häusern auf viereckige Gerätschaften starren, auf deren Frontseite Bilder vorüber ziehen, begleitet von monotonen Stimmen, welche die tote Stille keineswegs durchbrechen, sondern diese sogar noch verstärken, blicken sie griesgrämig drein und stoßen von Zeit zu Zeit Laute der Unzufriedenheit aus.
Hin und wieder begegne ich den Bewohnern dieser trostlosen Welt auf den asphaltierten Straßen. Vereinzelt, zu zweit und so manches Mal auch in kleineren Gruppen gehen sie nebeneinander her, ohne sich anzuschauen. Ihr ausdrucksloser Blick ist auf kleine viereckige Geräte gerichtet, von denen ein jeder von ihnen eines in der Hand hält. Sie verständigen sich miteinander über diese Gerätschaften, indem sie auf deren Oberfläche Sätze mit dem Finger eintippen und einander zusenden. Dies ist hier die geläufige Art der Kommunikation, anstatt miteinander von Angesicht von Angesicht, von Mensch zu Mensch ins Gespräch zu kommen und tiefe Verbundenheit aufzubauen, wie ich es aus meiner Welt her kenne, wo sich alles unentwegt im natürlichen, liebevollen Austausch miteinander befindet. Der durch meinen kleinen Garten wehende Wind streichelt sanft die Grashalme, während er mit seinem Rauschen ein Lied für sie singt. Die Hummeln begrüßen all die bunten Blumen mit einem zärtlichen Brummen, bevor sie sich auf ihren Blüten niederlassen. Unzählige Sommervögel haben es sich auf den Zweigen der Bäume gemütlich gemacht und zwitschern, den Schnabel zum Himmel erhoben, dem Universum ihren Dank zu, während die Sonne auf meinen kleinen Garten hinab scheint, seine kleinen und großen Mitbewohner im Licht ihrer Strahlen wärmend.
Selbst im Winter, wenn die meisten Bewohner meiner kleinen Welt in tiefen Schlummer versunken sind, ist ihre lebendige Präsenz für mich spürbar. Etwa, wenn der Ruf einer Krähe durch die frostige Stille hallt, worauf ein müder Baum, für einen kurzen Moment aus seinem Winterschlaf hoch geschreckt, etwas Schnee von seinen Zweigen auf die Erde herab rieseln lässt. Oder aber in jenen besonderen Augenblicken, während denen ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke bricht, sich seinen Weg in mein Herz bahnt und mich den großen Traum fühlen lässt, den allesamt miteinander teilen, die Schlafenden und die Wachen.
In meinem kleinen Garten mag es noch so leise sein. Doch in dieser Stille spiegelt sich die Lebendigkeit allen Seins wieder, während das Schweigen in der Welt hinter der Glaskugel von Lieblosigkeit und Verfall durchdrungen ist. Die Bewohner dieser Stadt ziehen mit gebückten Rücken und leeren Blicken an ruinengleichen Häusern vorbei. Unglücklich sehen sie aus. Denn obgleich sie hier aufgewachsen sind und meinen kleinen Garten niemals betreten haben, lässt sich in ihrem Wesen ein Sehnen nach einer liebevolleren Welt erkennen, wie auch die Ahnung, dass es einen anderen, schöneren Ort gibt, den sie jederzeit betreten können, wenn sie es nur wollen. Jeder von ihnen trägt seit seiner Geburt einen eigenen kleinen Garten in seinem tiefsten Inneren, auch wenn sich die Meisten von ihnen nicht daran erinnern können und den Weg zu seiner Pforte vergessen haben. Doch ich bleibe in der Zuversicht, dass der Tag kommen wird, an dem ein jeder von ihnen erkennt, dass er die triste Kulisse dieser ungemütlichen Stadt in einen lichtvolleren Ort verwandeln kann, indem er den blühenden Garten in seinem Herzen betritt und dessen Anmut mit allen anderen Wesen teilt, die seinen Weg kreuzen.
Ich kann nicht genau sagen, warum, doch etwas in mir lässt mich wissen, dass die Welt hinter der Glaskugel eine andere sein wird, wenn ich sie das nächste Mal besuche. Dass ihre Bewohner ihre Traurigkeit ablegen und zu einem Leben im Einklang mit der Natur zurück finden, wodurch ihre Seelen den Frieden mit sich und der Welt erfahren. Während die Gewissheit, dass es nur so sein kann und genauso kommen wird, immer mehr in mir wächst, höre ich plötzlich ein Geräusch, das mir in der Stadt hinter der Glaskugel noch nie zu Ohren gekommen ist. Es scheint seinen Ursprung hinter der Ecke des nächsten Häuserblocks zu nehmen. Ich gehe ihm mit immer schnelleren Schritten entgegen, ja, renne los, von freudiger Erregung getrieben. An der Kreuzung angekommen, biege ich in eine kleine Seitenstraße ein und kann kaum glauben, was sich meinen Augen bietet: Auf dem Bürgersteig sitzt mutterseelenallein ein Kind und schaut freudig lächelnd vor sich auf den Boden. Schon dieser Anblick für sich allein genommen ist für diese Welt absolut außergewöhnlich. Kindern begegnet man hier überaus selten. Und wenn doch, dann machen sie, ebenso wie die Erwachsenen, unzufriedene, traurige, manchmal auch wütende Gesichter. Ich habe hier noch nie ein Kind lachen gehört. Doch dieses Kind, das vor mir auf dem Boden sitzt und mit strahlenden Augen etwas betrachtet, lacht aus tiefstem Herzen heraus. Offenbar hat es meine Schritte gehört. Denn es richtet sich auf und springt auf der Stelle auf und ab, während es mir zuwinkt.
„Was ist das?“ Fragt mich das Kind, während es auf den Boden deutet. Zwischen den einzelnen Steinen, mit denen der Bürgersteig gepflastert ist, wächst ein kleines Pflänzchen. Ein junger Löwenzahn hat, auf der Suche nach dem Licht, das finstere Erdreich durchbrochen. Die Unwissenheit des Kindes löst in mir keinerlei Verwunderung aus. Vielmehr bin ich überrascht, weil es seinen Mund öffnet, um zu mir zu sprechen, und mich dabei aus leuchtenden Augen anschaut. So oft ich diese Stadt bisher besucht habe, sah ich hier noch nie eine blühende Pflanze, was mich zu der Frage führt, wie die Menschen in dieser Welt eigentlich überleben können. Doch kann man bei einer Existenz, die einem freudlosen Dahinvegetieren ähnelt, überhaupt von Leben sprechen?
In dem Moment, wo ich das junge Pflänzchen erblicke, wird mir bewusst, dass in der Welt hinter der Glaskugel doch nicht alles verloren ist und dass das Leben hier gerade im Begriff ist, mit neuer Kraft aufzublühen. Mein Gefühl hat mich also die Wahrheit spüren lassen. Die Ruinen der alten Stadt werden allmählich verschwinden, die Bäume und Sträucher grüne Blätter tragen und die Menschen einander mit einem freudigen Lächeln begrüßen, anstand in gebückter Haltung mit hoch gezogenen Schultern aneinander vorbei zu laufen. Die dunklen Wolken werden sich im Licht der Sonne auflösen und fröhlich singende Vögel über den Horizont fliegen. Der junge Löwenzahn hat den Anfang bereitet und das Kind, das ihn fand, bereits in die Welt der Lebendigen entführt. Weitere werden ihm folgen und sich von der lebendigen Urkraft der Natur mitreißen lassen, während sie gleichzeitig den Garten in ihrem Herzen betreten.
Ein Sonnenstrahl bricht durch die Wolkendecke hindurch und hüllt die Welt hinter der Glaskugel in ein Licht, das hier noch nie eine Menschenseele gekannt hat. Das Kind neben mir schaut lächelnd empor und schirmt sich mit einer Hand seine Augen ab, um vom hellen Strahl nicht allzu sehr geblendet zu werden. An den Fenstern, auf den Balkonen und auf den Bürgersteigen versammeln sich immer mehr Menschen, um gemeinsam zum Himmel hinauf und der Sonne entgegen zu blicken. Ihre Augen, die den trüben Großstadtdunst gewohnt sind, haben sich noch nicht auf das helle Leuchten eingestellt, das ihnen wie ein leiser Hoffnungsschimmer entgegen strahlt. Sie wissen sich dieses Schauspiel bisher noch nicht zu erklären. Doch sie spüren bereits, dass alles dabei ist, sich zu wandeln, in ihnen selbst und um sie herum. Dass der einzelne Sonnenstrahl, der sich mit all seiner Kraft einen Weg durch die graue Wolkenschicht gebahnt hat, der Vorbote einer sehr viel größeren freudigen Veränderung ist, welche ihnen erst noch bevorsteht.
Während ich der Sonne entgegenblicke, löse ich mich, ebenso wie die dunklen Wolken um sie herum, mit all meinem Kummer und all meinen Sorgen zunehmend in ihrem Licht auf. Gleichzeitig zieht ihr heller Strahl das, was von mir noch übrig geblieben ist, den unauslöschlichen Funken Leben, der bis in alle Ewigkeit Bestand hat, Richtung Himmel zu sich. Immer weiter schwebe ich hinauf, unbemerkt für die Stadtbewohner, welche nach wie vor wie gebannt dem Licht entgegenschauen, welches sich mehr und mehr über Dächer, Straßen und Plätze ergießt, alle Menschen, Tiere und Pflanzen an seiner Heiterkeit teilhaben lässt und die Welt hinter der Glaskugel mit einer Wärme ummantelt, aus der neues Leben im Begriff ist, zu erblühen. Die trüben Stunden der Stadt sind gezählt. Denn sie hat die Schwelle zu einer neuen, glücklicheren Ära bereits überschritten...
...als ich meine Augen öffne, finde ich mich auf der Couch in meinem Wohnzimmer liegend wieder, die kuschelige Wolldecke meiner Großmutter über meinem Körper. Ein neuer Tag ist angebrochen. Nicht nur für die Bewohner der Stadt hinter der Glaskugel, sondern ebenso für mich in meinem kleinen Garten. Auch in meiner Welt hat das Licht die Schrecken der Finsternis verjagt und sich, einem zarten Hoffnungsschimmer gleich, in die Träume ihrer schlafenden Bewohner geschlichen. Von den Bäumen scheint heute ein eigentümliches Leuchten auszugehen, das nicht allein auf das Glitzern des Schnees auf seinen in der Sonne badenden Zweigen zurück zu führen ist. Die Raben und Krähen, welche sich auf ihnen niedergelassen haben, erwecken nicht mehr den Eindruck, als würden sie sich über die Winterkälte beklagen, sondern gemeinsam ein Lied der Vorfreude auf den Frühling anstimmen. Im Licht der Morgensonne schimmern die Wölkchen warmen Atems, welche sie bei jedem ihrer Rufe ausstoßen, goldfarben in der Winterluft. Während ich vor der geschlossenen Terrassentür stehe und auf meinen kleinen schlafenden Garten hinausblicke, der, unter eine funkelnde Schneedecke gehüllt, vom Frühling träumt, empfinde ich tiefe Dankbarkeit dafür, dass es für alles einen Neuanfang gibt und dass auf jede Nacht, wie dunkel sie auch sein mag, stets ein neuer Morgen folgt.
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2022
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