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Das Hotel hinter dem Weltenschleier

Am späten Nachmittag erreiche ich endlich das alte Hotel. Im strömenden Regen war ich von der Bushaltestelle aus zu Fuß weitergelaufen, während mir der frische Herbstwind ins Gesicht blies und mir das Haar zerzauste. Nur noch wenige Schritte – und ich würde im Trockenen sein, die Treppe zu meinem Zimmer hinauf steigen, mich meiner durchnässten Kleidung entledigen und es mir für ein Nickerchen auf dem Bett gemütlich machen. Meinen Koffer konnte ich später noch auspacken. Das eilte nicht. Erstmal eine Verschnaufpause einlegen und dem Traumland einen Besuch abstatten.

 

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Die lange und beschwerliche Anreise hatte mich ziemlich mitgenommen. Dabei fing doch alles so frei und unbeschwert an. Ich setzte mich ins Flugzeug und beobachtete von meinem Fensterplatz aus, wie die Welt unter mir immer kleiner und überschaubarer wurde. Von hier oben aus betrachtet, sah alles vollkommen anders aus. Die Dinge zeigten sich in einem gänzlich anderen Licht, das mich unten auf dem Erdboden niemals erreichte. Doch alsbald zog sich die Sonne hinter eine dichte Wolkenwand zurück und es fühlte sich so an, als würde das Flugzeug durch Zuckerwatte gleiten. Am liebsten hätte ich eines der Fenster geöffnet und von dem süßen Zuckerwerk genascht, wäre dabei in meiner Vorstellung zurück in meine Kindheit gereist und von dort aus direkt auf den Weihnachtsmarkt, den ich als kleines Mädchen so oft an der Hand meines Vaters besucht hatte. Ich konnte den Duft von gebrannten Mandeln erschnuppern und hätte diese jetzt gerne geknabbert. Doch dafür war es noch etwas zu früh. Wir hatten erst Anfang November.

 

Allmählich lichtete sich die Wolkendecke und man sah die Sonne wieder hindurch scheinen. Der weihnachtliche Duft nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln löste sich zusehends in Luft auf und mit ihm auch meine nostalgische Stimmung. Doch auch, wenn der Himmel nun wieder in ein strahlendes Blau getaucht war, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Etwas war anders und so, wie es nicht sein sollte. Dieses Gefühl der Bedrohung beschlich mich, noch ehe die Turbulenzen anfingen. Das Flugzeug, in welchem ich saß, wurde plötzlich wild hin und her geschleudert. Mal ging es einige Meter hinab, dann wieder mehrere Oktaven hinauf. Es fühlte sich so an, als würde es in einem riesigen Wirbelsturm feststecken oder von den Tentakeln eines gewaltigen Kraken durchgeschüttelt werden. Auch die anderen Passagiere bekamen es mit der Angst zu tun. Einige wurden panisch. Doch ich versuchte, die Ruhe zu bewahren. Aussteigen konnte ich hier oben in der Luft ohnehin nicht. Bald darauf beruhigte sich die Lage wie von selbst wieder. Das Flugzeug schien sich aus den Armen des imaginären Seeungeheuers gelöst zu haben und nahm leicht und unbeschwert seine gewohnte Route wieder auf.

 

Was war nur passiert? Ich konnte mir darauf keinen Reim machen. Mich beschlich die leise Ahnung, dass sich seit den Turbulenzen etwas gravierend verändert hatte. Im Flugzeug und auch drum herum. Womöglich auch in mir selbst. Als hätten ich gemeinsam mit den anderen Passagieren eine unsichtbare Schranke passiert, ein geheimes Portal betreten, das uns in eine andere Welt führte, die der unseren nur scheinbar ähnlich war.

 

Nach einer überaus angenehmen Landung - die Sonne war bereits im Begriff unterzugehen, und erhellte mit ihren letzten Strahlen das Firmament - schlenderte ich mit meinem Koffer zur Bushaltestelle hinüber. Lange warten musste ich nicht. Der Bus traf kurz darauf ein. Und da er an diesem Nachmittag nur wenige Fahrgäste beförderte, fand ich sehr schnell einen freien Sitzplatz, von dem aus ich die Szenerie, die sich mir vor dem Fenster zeigte, ungestört genießen konnte, während die Musik aus der Busfahrerkabine als leises, melodisches Geplänkel an mein Ohr drang.

 

Nach und nach verließen wir die Stadt und fuhren immer weiter aufs Land hinaus, zwischen Nadel- und Laubbäumen durch einen dichten Wald hindurch, bis wir schließlich an der letzten Haltestelle und somit am Bestimmungsort meiner Reise ankamen. Von hier aus würde ich meinen Weg allein zu Fuß fortsetzen. Inzwischen waren alle anderen Passagiere ausgestiegen, und ich war somit der letzte Fahrgast, der den Bus verließ. In diesen abgelegenen Winkel der Welt zog es außer mir anscheinend niemanden hinaus. Doch die Abgeschiedenheit war genau das, was meine Seele in diesem Moment brauchte, um in den Einklang mit sich selbst und der sie umgebenden Realität zurückzufinden.

 

Kaum stand ich auf der Straße und sah den Bus in die Stadt zurück fahren - der Busfahrer nickte mir zum Abschied zu und berührte dabei kurz den Schirm seiner Kappe - spürte ich den ersten dicken Regentropfen auf mein Gesicht fallen. Weitere folgten mir auf jedem meiner Schritte. Ich musste mich beeilen, wollte ich nicht in ein Unwetter hinein geraten. Die ersten Blitze zuckten bereits am tiefgrauen Himmel, und der Donnerhall ermahnte mich, besser keine Zeit zu verlieren. So wanderte ich also etwa eine halbe Stunde durch die nahezu von Menschenhand unberührte Natur, bis ich die Küste erreichte, an der das Hotel stand und mir mit seinen hell erleuchteten Fenstern den Weg zu sich wies.

 

Es machte einen eher altertümlichen und verwahrlosten Eindruck auf mich. Über seinem Eingang baumelte an einer rostigen Kette ein altes Schild, das vermutlich ehemals den Namen des Hotels getragen hatte, der jedoch in den vielen Jahrzehnten vom Regen herunter gespült worden war. Der Wind pfiff durch die einzelnen Kettenglieder und ließ das Schild hin und her baumeln, was ein quietschendes Geräusch erzeugte. Warum gingen die Besitzer des Gebäudes bloß so nachlässig mit ihrem Hab und Gut um? Weshalb kümmerten sie sich nicht besser um die Instandhaltung des Hotels? Vermutlich wagten sich einfach nicht genügend Urlauber in diese einsame Wildnis hinaus, als dass es sich gelohnt hätte.

 

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Mit einem lauten Knarzen öffnet sich die Eingangstür, als ich die Türklinke langsam herunter drücke. Kalt fühlt sich ihr metallischer Griff auf meiner Haut an und sitzt zudem vom jahrelangen Gebrauch so locker in seiner Einfassung, dass ich beinahe befürchte, ihn mit einem klappernden Geräusch auf den Boden fallen zu lassen, sobald ich die Klinke wieder aus meiner Hand nehme. Doch noch hat ihr letztes Stündlein nicht geschlagen und sie verrichtet weiterhin ihren Dienst, wenn auch mit deutlich verminderter Kraft.

 

Das Erste, was mir im Vorraum des Hotels entgegen schlägt, ist der muffige Geruch, als wäre hier eine halbe Ewigkeit nicht mehr gelüftet worden, womöglich, um die draußen herrschende Nässe nicht ins Gemäuer zu lassen. Vielleicht ist es auch schon ein ganzes Jahrhundert her, dass in diesem Haus ein Fenster offen stand oder jemand zur Tür herein fand. So kommt es mir zumindest in diesem Augenblick vor.

 

Still ist es hier. Doch das im Kamin brennende Feuer verströmt eine wohltuende Wärme. Außer dem Knistern der Holzscheite, dem gemächlichen Ticken der alten Großvateruhr, die neben einer großen, gemütlichen Couch steht, und dem gegen die Fenster peitschenden Regen ist nichts zu hören. Auch sehe ich niemanden außer mir im Raum. Entweder bin ich heute der einzige Gast. Oder aber alle anderen haben sich bei diesem ungemütlichen Wetter auf ihre Zimmer zurückgezogen. An der Decke hängt ein altertümlicher Kandelaber, dessen angezündete Kerzen nur spärlich den Raum erhellen. Die Wände zieren bis zur Decke hinauf ragende Regale, die mit Büchern gefüllt sind, welche aus einer anderen Epoche zu stammen scheinen. Viele von ihnen sehen abgegriffen und zerfleddert aus. Das Papier der Seiten ist vergilbt, und ich befürchte, dass es bei der kleinsten Berührung zu Staub zerfällt.

 

Auf dem Tresen liegt direkt neben der Portierglocke das Gästebuch. Es ist dick. Doch die Seiten sind, wie sich beim Durchblättern zeigt, bis auf einen einzigen Eintrag, allesamt leer. Der Name des Mannes, den ich nur mühsam entziffern kann, kommt mir bekannt vor. Und doch kann ich ihn keinem bestimmten Gesicht zuordnen. Vielleicht erliege ich aufgrund meiner körperlichen Erschöpfung auch nur einem Irrtum. Aber das spielt nun keine Rolle. Jetzt geht es nur um Eines, nämlich darum, die mich umgebende Stille in mein tiefstes Inneres hinein fließen zu lassen. Nicht einmal die Glocke wage ich zu läuten, um das Hotelpersonal von meiner Anwesenheit in Kenntnis zu setzen. Es wird schon jemand auf der Bildfläche erscheinen und mir den Schlüssel zu meinem Zimmer bringen, sobald der richtige Augenblick dafür gekommen ist.

 

Vielleicht aber sollte ich mich einfach selbst bedienen und mir einen der Schlüssel nehmen, die hinter dem Tresen am Brett hängen, kommt es mir plötzlich in den Sinn. Sie sind alle vollzählig. Kein einziger Zimmerschlüssel fehlt. Ich habe somit die freie Wahl. Kurzerhand entschließe ich mich für den Schlüssel zu Zimmer Nummer Neun, der nur darauf zu warten scheint, von mir berührt zu werden. Geduldig hing er all die vielen Jahre bis zu meiner Ankunft hier, so dass sich eine Staubschicht auf seinem oberen Rand gebildet hat. Behutsam wische ich diese mit meinem Finger ab und nehme den Schlüssel an mich. Er ist vergoldet und sein oberer Teil mit einem ungewöhnlich schönen Ornament verziert. Solch einen prachtvollen Schlüssel habe ich nie vorher zu Gesicht bekommen. Er gleicht einem Kunstwerk.

 

Das richtige Zimmer habe ich schnell gefunden. Es befindet sich im oberen Stockwerk und somit im Dachgeschoss. Während ich durch den Flur streife, höre ich Geräusche hinter einer der Türen. Zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche, sprechen miteinander, während ein Fernseher läuft. Da die Schlüssel zu allen Hotelzimmern unten am Brett hängen und ich somit der einzige Gast bin, kann es sich nur um die Hotelbesitzer handeln. Ich überlege kurz, ob ich wohl anklopfen und sie begrüßen sollte. Doch ich entscheide mich dafür, sie nicht zu stören, und setze den Weg zu Zimmer Nummer Neun fort. Der alte, rot gemusterte Teppichboden dämpft dabei meine Schritte. Es ist dunkel im Korridor. Aber der Mond, der durch das einzige Fenster am Ende des Ganges scheint, lässt mich genug erkennen, um zu meinem Ziel zu gelangen. Immerhin bleibt mir bei meinem Weg durch das Dunkel der Anblick der Spinnweben erspart, die vermutlich hier und da von der Decke hängen.

 

Vor Zimmer Nummer Neun angekommen, zücke ich den Schlüssel. Während ich ihn in das vergoldete Schlüsselloch stecke, versuche ich, möglichst keinen Lärm zu machen. Mir ist nicht bewusst, warum ich so still und heimlich durch das Hotel geistere, ohne Aufsehen erregen zu wollen. Als wäre ich ein ungebetener Gast, den man beim Ertappen auf frischer Tat sofort hinaus befördern würde. Ich weiß nicht, warum ich es für besser halte, unbemerkt zu bleiben. Doch etwas in mir gibt mir zu verstehen, dass ich auf leisen Sohlen weiter komme.

 

Möglichst geräuschlos drehe ich also den Schlüssel im Schloss und öffne vorsichtig die Tür. Drinnen ist es zappenduster, obwohl der Vollmond am Abendhimmel scheint. Vermutlich hat jemand, warum auch immer, das Rollo im Zimmer herunter gelassen. Ich suche direkt neben der Tür nach einem Lichtschalter und finde diesen schnell. Sofort wird es im Zimmer hell und ich trete ein.

 

Das Zimmer Nummer Neun ist, wie vermutlich das ganze Hotel, altmodisch eingerichtet. Es wundert mich fast ein wenig, dass hier oben eine Stromleitung verlegt wurde, da der Eingangsbereich des Hotels anscheinend nur über Kerzenlicht verfügt. Vielleicht sind die Besitzer des Hotels Nostalgiker, die so viel wie nur möglich aus der guten alten Zeit bewahren wollen, ohne den Komfort ihrer Gäste dadurch über alle Maßen einzuschränken. Deswegen haben sie immerhin die obere Etage mit Strom und technischen Gerätschaften ausgestattet, auch wenn diese bereits etwas aus der Mode gekommen sind. Gegenüber dem hölzernen Einzelbett, das sich in der rechten Ecke des Raumes befindet, steht ein kleiner Röhrenfernseher, wie ich ihn zuletzt in meiner frühen Kindheit gesehen habe. Es würde mich keineswegs in Erstaunen versetzen, wenn dieser nur Aufnahmen in schwarz-weiß wiedergibt. Doch das ist immerhin besser als nichts. Und zur Not, falls mir langweilig werden sollte, bleiben mir ja noch die altertümlichen Bücher aus dem Empfangsbereich zum Schmökern. Wie viele Hände sie wohl bereits berührt haben? Auf jeden Fall wissen diese Bücher, unabhängig von den in ihnen zu Papier gebrachten Texten, unzählige Geschichten zu erzählen, denen ich gerne lauschen würde.

 

Sowohl auf dem Fernseher als auch auf der neben dem Bett stehenden Kommode hat sich eine dicke Staubschicht angesammelt. Als ich die Tagesdecke zurück schlage, wirbeln mir sämtliche Staubkörner entgegen, die seit etlichen Jahren, womöglich sogar Jahrzehnten, darauf ruhten. Sauber gemacht wurde hier anscheinend schon lange nicht mehr. Was mag das nur für ein seltsamer Ort sein? Und weshalb bin ich überhaupt hierher geraten? Dieses Hotel hat mit jenem, das ich jedes Jahr aufs Neue besuche und welches, wie ich zu glauben meine, auf genau diesem Fleckchen Erde steht, überhaupt nichts gemein. Das andere Hotel ist modern eingerichtet und stets bis auf das letzte Zimmer ausgebucht. Es wird täglich von fachkundigem Personal bis in den äußersten Winkel gereinigt. Wie kann es nun sein, dass sich dieses Hotel innerhalb eines Jahres seit meinem letzten Besuch dermaßen verändert hat? Was ist nur passiert? Oder ist es gar nicht das Hotel, das eine Transformation erlebt hat, sondern bin ich während der Turbulenzen während meiner Flugreise in eine andere Dimension geschleudert worden, in welcher es Abweichungen zu meiner gewohnten Realität gibt? Paralleluniversen hielt ich bislang immer für eine Fantasie aus Geschichten und Filmen. Doch womöglich erlebe ich gerade in diesem Augenblick den Beweis derer Existenz.

 

Während ich auf der Bettkante sitze und noch darüber nachsinne, was sich hier überhaupt ereignet und in welche rätselhafte Welt ich hineingeraten bin, höre ich plötzlich schnelle Schritte auf dem Gang, die sich meinem Zimmer nähern. Im nächsten Moment fliegt die Tür auf und eine erbost dreinblickende, kleine Dame im fortgeschrittenen Alter stürmt herein.

 

„Was bilden Sie sich überhaupt ein, wieder zu kommen! Sie gehören hier nicht her! Das haben wir Ihnen doch schon beim letzten Mal gesagt!“ Schallt ihre schrille Stimme zu mir herüber. Sie trägt ein dunkelblaues, langärmeliges Wollkleid und hat ihr ergrautes Haar zu einem Dutt zusammen gebunden. Ihre beiden Arme in die Seiten gestemmt, gibt sie mir mit einem strengen Blick eindeutig zu verstehen, dass ich hier ganz und gar nicht willkommen bin.

 

„Entschuldigen Sie bitte.“ Mit einem Ruck erhebe ich mich vom Bett. „Es tut mir Leid, dass ich mich einfach so einquartiert habe, ohne Sie vorher von meiner Anwesenheit in Kenntnis zu setzen.“

 

Meine Worte stimmen die wütende Dame etwas milder. Ihr Gesicht nimmt weichere Züge an. „Ins Gästebuch haben Sie sich vermutlich auch nicht eingetragen.“ Wirft sie mir vor. Da hat sie natürlich vollkommen Recht. Das hatte ich vollkommen vergessen. Schuldbewusst lasse ich meinen Blick zum Boden sinken.

 

„Hören Sie zu, Sie können hier nicht bleiben. Das ist nicht der richtige Ort für jemanden wie Sie.“ Inzwischen hat sie sich vollkommen beruhigt und lässt ihre Arme an beiden Seiten herab baumeln. Anscheinend konnte ich sie davon überzeugen, dass ich keinerlei böse Absichten hege.

 

„Wie meinen Sie das?“ Wage ich vorsichtig zu fragen. „Ich habe doch meinen Urlaub hier gebucht.“

 

In diesem Moment betritt ein junger Mann das Zimmer. Ich erinnere mich daran, ihn schon einmal gesehen haben. Hoch gewachsen, sportliche Statur und dunkles Haar. Dazu diese strahlenden blauen Augen, die mir bis in meine Seele hinein zu blicken scheinen. Er muss derjenige sein, dem die Handschrift im Gästebuch gehört. Doch wenn er ein Gast in diesem Hotel ist – warum belegt er dann keines der für die Gäste eingerichteten Zimmer? Unten am Brett waren doch alle Schlüssel vollzählig.

 

„Alles gut, ich regele das. Mach dir nur keine Sorgen.“ Sagt er mit ruhiger Stimme zu der älteren Dame. Sie schaut ihn aus schräg gelegtem Kopf etwas skeptisch an. Doch irgendetwas scheint die beiden miteinander zu verbinden. Ein geheimnisvolles Band, das sich mir noch nicht zur Gänze erschließt. Wie Mutter und Sohn wirken die beiden eigentlich nicht auf mich, auch wenn es vom Alterunterschied her passen würde. Doch die Dame scheint dem jungen Mann zu vertrauen. Und er tritt mit einem Selbstbewusstsein und vor allem mit einer Selbstverständlichkeit auf, die für einen Hotelgast in der Tat ungewöhnlich wäre.

 

„In Ordnung.“ Die ältere Damen nickt nach einer kurzen Pause des Innehaltens langsam und wirft mir einen letzten Blick zu, bevor sie Zimmer Nummer Neun verlässt. Anschließend schließt der junge Mann die Tür und kommt zu mir herüber.

 

„Lassen Sie uns einen Moment Platz nehmen.“ Er macht es sich auf der Bettkante gemütlich. Ich tue es ihm nach und schaue ihn fragend an. „Sie können sich vielleicht nicht mehr daran erinnern. Aber Sie sind nicht zum ersten Mal hier. Wenn Sie wollen, können Sie hier natürlich bleiben, so lange, wie es Ihnen beliebt. Das würde sich nach einem Gespräch mit Madame, die seit Anbeginn aller Ewigkeit dieses Hotel leitet, einrichten lassen. Doch das wäre nicht ratsam. Für Sie nicht. Für uns nicht. Und auch nicht für dieses Hotel. Denn, wie Madame schon sagte, ist dies hier nicht der Ort, an den Sie gehören.“

 

Überaus rätselhaft klingen seine Worte für mich. Ich verstehe trotz seiner eindringlichen Beteuerungen nicht, was er mir damit sagen möchte. Deswegen frage ich ihn einfach gerade heraus: „Wer sind Sie? Und warum sagen Sie mir das?“

 

Seine blauen Augen blicken mich jetzt direkt an. In ihnen liegt ein unergründliches Funkeln, wie ich es noch nie bei jemandem gesehen habe.

 

„Das habe ich Ihnen bei Ihren letzten Besuchen bereits unzählige Male erklärt. Immer wieder aufs Neue. Und doch können Sie sich an meine Worte nicht mehr erinnern.“ Mit einem leisen Seufzer senkt er kurz den Kopf, ehe er mir wieder ins Gesicht schaut und weiter spricht. „Ich bin ein Gast, genauso wie Sie, der sich eines Tages hierher verirrt hat. Im Unterschied zu Ihnen gibt es jedoch niemanden, der mich in meine Welt zurückführen könnte. Doch das bedauere ich nicht. Ich habe mich ganz gut hier eingelebt. Und die Natur, die dieses Hotel umgibt, ist wie eine zweite Heimat für mich geworden. In der Welt, aus der ich ursprünglich komme, vermisst mich niemand. Und mein neues Leben, das hier begonnen hat, schenkt mir eine weitaus tiefere Erfüllung als die Existenz, die ich vorher fristete, zumal ich hier einen sinnvollen Dienst verrichte. Manchmal gelangen versehentlich, ebenso wie wir beide, Seelen an diesen Ort, die aus einer anderen Zeit stammen. Ich kann nicht genau sagen, womit das zusammen hängt. Ob es etwa unsichtbare Risse zwischen den Welten gibt, die einen Durchgang ermöglichen. Oder ob sich so manches Mal der Schleier hebt, um Ahnungslose passieren zu lassen. Doch meine Aufgabe besteht darin, die verirrten Seelen zurück in ihre Welt zu führen, nach Hause in ihre Heimat, aus der sie auf unerklärliche Weise den Weg in dieses alte, verstaubte Hotel fanden.“

 

Auch wenn für mich die Worte des jungen Mannes eher neue Fragen aufwerfen als beantworten, so spüre ich doch, dass er die Wahrheit sagt. Und allein darauf kommt es an. Zumal mir seine Erklärung einleuchtet, da mein Flugzeug auf der Reise hierher doch in Turbulenzen geriet, woraufhin sich die Realität, in der ich mich befand, plötzlich anders anfühlte. Dabei hatte sich jedoch nicht die mich umgebende Außenwelt verändert, sondern ich war allem Anschein nach durch einen - um es mit den Worten des jungen Mannes auszudrücken - unsichtbaren Riss zwischen den Welten in eine Art Paralleluniversum hinein gestolpert. Vielleicht sollte mir diese Möglichkeit Angst bereiten. Doch sie tut es nicht. Zum Einen habe ich vom Alltagstrott aus meiner Welt genug und freue mich daher über diese abenteuerliche Abwechslung in meinem Leben. Zum Anderen scheint es einen Ausweg aus dieser Welt zu geben. Einen Weg, der mich zurück nach Hause führt. Und auch, wenn ich diese Realität, in der ich mich gerade befinde, gerne näher erkunden würde, so weiß ich doch, dass es im Grunde genommen überflüssig ist. Denn wie die ältere Dame und der junge Mann bereits verkündet haben, gehört diese Welt nicht zu mir und ich würde in ihr keinen Platz finden. Mir bleibt also nur eines übrig: Nach Hause zurück zu kehren. Doch eine Frage habe ich vorher noch.

 

„Warum vergesse ich jedes Mal, dass ich hier gewesen bin? Weshalb kann ich mich anschließend an meinen Aufenthalt in diesem Hotel nicht mehr erinnern?“

 

„Das ist ganz einfach.“ Erklärt mir der junge Mann, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit überhaupt. „Wir alle neigen dazu, Dinge zu vergessen, die sehr lange zurück liegen. Oder Ereignisse zu verdrängen, an die wir uns nicht erinnern wollen...“

 

Er redet weiter und weiter, doch ich verstehe den Sinn seiner Worte nicht mehr. Der Klang seiner Stimme vermischt sich mit dem Geplänkel der Musik aus dem Bus, während ich durch den Wald vom Hotel zum Flughafen zurück fahre. Wie hypnotisiert schaue ich in das Blau seiner Augen und versinke darin wie in einem abgrundtiefen Ozean, aus dem die Tentakel eines Kraken nach mir greifen. Kurz bevor ich den Meeresboden mit meinen Füßen berühre, stößt mich plötzlich etwas mit gewaltiger Kraft aus dem Wasser nach oben an die Oberfläche. Das Letzte, was ich sehe, ist das lächelnde Gesicht des jungen Mannes, während er zum Abschied an den Schirm seiner Kappe tippt. In diesem Augenblick durchströmt mich die absolute Gewissheit, dass es das letzte Mal war, dass wir uns im Hotel begegnet sind.

 

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Ich wache im Flugzeug auf, als es hin und her zu schlenkern beginnt. Anscheinend sind wir erneut in Turbulenzen geraten. Doch das, was ich soeben erlebt habe, kann unmöglich ein Traum gewesen sein. Zu real fühlte sich das Geschehene an. Außerdem kann ich mich gar nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Wer weiß, in welcher Realität ich mich nun gerade befinde und wo meine Reise mich noch überall hinführt. Ich werde mich einfach davon überraschen lassen. Doch Eines weiß ich mit unumstößlicher Sicherheit: In das alte, verstaubte Hotel und das Zimmer Nummer Neun brauche ich nie wieder zurück zu kehren.

Impressum

Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2022

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