Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Leider hatte ich meine Armbanduhr vor der Abreise zu Hause liegen lassen, was allein auf meine Zerstreutheit zurückzuführen ist. Daher konnte ich weder sagen, wie lange ich bereits unterwegs war, noch die genaue Uhrzeit feststellen. Laut meines stark ausgeprägten Zeitgefühls und der Tatsache, dass die Sonne in diesem Augenblick im Begriff war, unterzugehen, schätzte ich, dass es gegen achtzehn Uhr sein musste.
Es war Ende Oktober. Und ich saß in diesem Zug, der mich in die Fremde führte. Noch ahnte ich nicht, was mich erwartete, welchen Einfluss die mit dieser Reise verbundenen Ereignisse auf mein weiteres Leben nehmen, wie sehr sie mich verändern würden. Eigentlich wollte ich dieses Wochenende so verbringen wie jedes andere auch: Unter Menschen gehen, vielleicht ein bisschen tanzen, einfach um abzuschalten, den Stress meines beruflichen Alltags zu vergessen, den mir meine Tätigkeit als Verkäufer Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr bereitete. In mir regte sich schon seit einiger Zeit der Wunsch, mit dieser Routine zu brechen. Wahrscheinlich hatte in dem betreffenden Augenblick, als ich mich dazu entschloss, diese Reise zu unternehmen, das Verlangen nach Abwechslung in mir seinen Höhepunkt erreicht, so dass etwas in mir explodierte und ich mich, ohne lange zu überlegen, dafür entschied, auszubrechen.
Durch die Fensterscheibe sah ich die Sonne am Horizont verschwinden. Nicht mehr lange, und es würde dunkel sein. Stockfinster. So wie es in mir ausgesehen hatte, bevor ich mich auf dieses Abenteuer einließ.
Vor mir saß eine junge Frau. Ihre helle Haut schimmerte zart im Licht der letzten Sonnenstrahlen dieses Tages. Das braune, lange Haar trug sie offen. Ich versuchte, den Ausdruck in ihren blauen Augen zu lesen. Doch ihr war das unangenehm – wahrscheinlich hatte ich sie zu intensiv angeschaut, und sie warf mir einen verärgerten Blick zu. Rasch wand ich mich ab und betrachtete stattdessen das Spiegelbild meines eigenen Gesichts in der Fensterscheibe. Das dunkle, kurz geschnittene Haar und der müde Ausdruck in den Augen waren mir wohl bekannt.
Wie schnell waren doch die Jahre vergangen. Mir schien, als wäre ich gestern erst eingeschult worden, und nun würde ich in weniger als einem Monat schon dreißig Jahre alt werden. Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug, stellte ich bedrückt fest. Nicht mehr lange, und ich bin ein alter Mann, sprach ich in Gedanken zu mir. Und wozu das alles? Man lebt eine Weile, begegnet anderen Menschen, geht wieder getrennte Wege und stirbt eines Tages. So ist der Lauf der Dinge, den niemand zu ändern vermag. Und man weiß nie von vornherein, wo man während der Reise durchs Leben überall vorbeikommt. Dasselbe traf im Übrigen auch auf meinen Wochenendtrip zu, auf dem ich mich grade befand.
Viola hatte ich vor einigen Monaten über das Internet kennen gelernt. Sie war eine gebildete, interessante junge Frau, die mich vom ersten Augenblick an fasziniert hatte. Wir hatten bereits zahlreiche E-Mails miteinander geschrieben, bis wir beschlossen, uns persönlich kennen zu lernen. Ehrlich gesagt erwartete ich schon seit geraumer Zeit dieses Treffen voller Ungeduld. Ich war vorher noch nie einem Menschen begegnet, dessen Wesen mich dermaßen gefesselt hatte. Allerdings hatten wir beide keine Fotos voneinander getauscht, so dass wir absolut nicht wussten, wie jeweils der Andere aussah. Doch das machte die ganze Angelegenheit in meinen Augen nur noch spannender. Als Treffpunkt hatten wir eine alte Burgruine in dem kleinen Städtchen B. ausgewählt, die selten von Schaulustigen besucht wird, so dass wir uns dort leicht erkennen würden, auch ohne einander vorher auf Fotos gesehen zu haben.
Wir hatten uns vorgenommen, ein wenig spazieren gehen, uns die Sehenswürdigen dieser kleinen Stadt anzuschauen, von denen wir schon so viel gehört hatten. Angeblich gab es dort Häuser, in denen es spukte, und in denen Führungen angeboten wurden. Auch um die besagte Burgruine rankten sich unheimliche Legenden. Man erzählt sich, dass in deren Gemäuern im Mittelalter wahre Gräueltaten verübt worden waren, wie zum Beispiel die Folterung von Gefangenen. Noch heute kann man die schmerzerfüllten Schreie der Unglücklichen um Mitternacht hören, wenn man sich in der Nähe der alten Burgruine aufhält. Viola und ich wollten dem gemeinsam auf die Spur gehen, auch wenn uns dieses Vorhaben nicht als ganz geheuer erschien.
Die junge Frau vor mir hatte sich in ein Buch vertieft. Leider konnte ich nicht feststellen, um welches es sich dabei handelte, da sie es mit der Titelseite auf ihrem Schoß abgelegt hatte.
Die anderen Fahrgäste lasen ebenfalls, unterhielten sich leise oder schauten aus dem Fenster, wobei sie ihren Gedanken nachhingen.
Plötzlich wurde die friedliche Stille unterbrochen, weil ein Säugling zu schreien anfing. Seine Mutter redete beruhigend auf ihn ein. Doch das brachte trotz aller Mühe nichts. Nach kurzer Zeit hielt ich den Lärm, den das Kind machte, nicht mehr aus und holte meinen MP3-Player aus der Innentasche meiner Jacke, um ein wenig Musik zu hören. Ich drehte ihn auf volle Lautstärke, um die Schreie des Kindes zu übertönen, und kassierte einen bösen Blick der jungen Frau vor mir, die nun ungewollt Zuhörerin meiner Musik wurde, die immerhin noch gedämpft aus den Kopfhörern drang. Doch das war mir in diesem Moment wirklich egal. Schließlich wollte ich mir weder durch das Kind noch durch die junge Frau die Laune verderben lassen. Und so lauschte ich einfach den Klängen der Musik, ließ mich von ihnen in eine ferne, fremde Welt entführen…
…und schlief letzten Endes ein.
Als ich aufwachte, peitschte der Wind den Regen mit einer Intensität gegen die Fenster des Zuges, wie ich es in den gesamten neunundzwanzig Jahren meines bisherigen Lebens noch nie beobachtet hatte. Der Himmel war in tiefstes Blau getaucht. Das Grollen eines sich ankündigenden Gewitters war zu vernehmen. Hier und da zuckten Blitze in der Ferne auf, die immer näher zu kommen schienen. Doch das war nicht das Einzige, was sich während meines Nickerchens verändert hatte.
Ich setzte mich aufrecht und stellte fest, dass ich allein im Zug war! Die junge Frau sowie die Passagiere, die ich von meinem Sitzplatz aus sehen konnte, waren verschwunden. Und das wunderte mich nicht im Geringsten. Denn es mochten inzwischen etwa drei Stunden vergangen sein. Der Akku meines MP3-Players, der nun leer war, hätte nicht viel länger gehalten. Inzwischen musste der Zug alle wichtigen Bahnhöfe passiert haben, an denen die meisten ausgestiegen waren. Dennoch war es ein mulmiges Gefühl, der einzige Passagier im Zug zu sein, dazu noch mitten in der Nacht. Und als die Zugbeleuchtung plötzlich erlosch, krampfte sich mir der Magen noch mehr zusammen.
Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass ich mich irgendwo im Nirgendwo befand: Sich ins Unendliche ausbreitende Wiesen, an manchen Stellen Bäume – aber kein einziges Haus oder auch nur eine Scheune! Wo war ich nur? Wahrscheinlich hatte ich den Bahnhof, am dem ich aussteigen wollte, verpasst. Es war ja auch reichlich dumm von mir gewesen, während der Fahrt einzuschlafen. Aber daran war auch einzig und allein das Kind schuld! Wäre es nicht so höllisch laut gewesen, hätte ich keine Musik zu hören brauchen und wäre nicht eingeschlafen.
Aber gut, es brachte mich nun auch nicht weiter, den Schuldigen für mein Problem zu suchen, sondern ich musste mich viel eher aus meiner unglücklichen Situation befreien. Deshalb beschloss ich, trotz der Dunkelheit aufzustehen und nachzuschauen, ob ich wirklich der Einzige im Zug war. Ich kramte meinen Schlüsselbund, an dem eine Miniaturtaschenlampe als Schlüsselanhänger befestigt war, aus der Hosentasche meiner Jeans und stand auf.
Mit der Mini-Taschenlampe vor mich hin leuchtend ging ich von Sitzreihe zu Sitzreihe, ohne auf nur auf einen einzigen Fahrgast zu treffen. Nachdem ich das ganze Abteil abgesucht hatte, beschloss ich, mich Richtung Fahrerkabine zu bewegen. Wenn ich schon wirklich der einzige Passagier war, konnte ich den Fahrer ja wenigstens fragen, wo wir uns befanden. Trotz dieses rationalen Beschlusses legte sich meine Aufregung keineswegs.
Es dauerte einige Minuten, bis ich die Fahrerkabine erreicht hatte. Denn mein Sitzplatz befand sich im letzten Waggon. Ich klopfte an die Tür, erst vorsichtig, dann mit Nachdruck. Doch niemand reagierte darauf. Schließlich schrie ich mit lauter Stimme durch die Tür: „Halten Sie bitte kurz an!“ Doch nichts passierte.
Dann fiel mir ein, dass ich etwas gänzlich vergessen hatte: Im Zug befanden sich selbstverständlich Notbremsen. Warum war mir das auch nicht vorher schon eingefallen? Aber natürlich: Das lag eindeutig an meiner Zerstreutheit, wegen der ich ja auch meine Uhr zu Hause vergessen hatte. Also ging ich mit schnellen Schritten auf die nächste Notbremse zu und zog mit ganzer Kraft daran.
Sofort wurde der Zug langsamer, das Tuckern der Räder über die Gleise ließ immer mehr nach, und schließlich blieb der Zug stehen. Nichts rührte sich. Kein Geräusch war zu hören, mit Ausnahme des Regens und des Donners auf der anderen Seite der Fensterscheibe.
Ich blickte zur Fahrerkabine und wollte gerade darauf zuschreiten, als diese sich öffnete.
Doch ich konnte nicht erkennen, wer sie geöffnet hatte.
Auf Zehenspitzen ging ich darauf zu, darauf bedacht, sowenig Geräusche wie nur möglich zu verursachen.
Als ich im Türrahmen stand, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken: Niemand fuhr den Zug!
Durch den Schock wie gelähmt, ließ ich mich in den nächstbesten Sitz fallen und versuchte, diese so außergewöhnliche Situation zu begreifen.
Ich war allein im Zug, das stand fest. Von vorn bis hinten hatte ich ihn abgesucht, sogar in die Fahrerkabine geschaut – und da war niemand gewesen, weder ein Passagier noch ein Fahrer. Das konnte doch nur ein Traum sein! Solche Dinge gibt es entweder in Träumen oder in Geschichten, aber niemals im wahren Leben, sagte ich mir. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir dem Ernst der Lage noch nicht bewusst. Ich kniff mich also mit ganzer Wucht in den Arm, um aufzuwachen. Doch an meinem Zustand änderte sich dadurch nicht das Geringste. Ich saß immer noch in diesem Geisterzug ohne Fahrer und ohne Passagiere, ganz allein an einem mir unbekannten Ort. Nun gut, immerhin hatte ich es geschafft, die Fahrt anzuhalten. Wer weiß, wo ich sonst noch gelandet wäre. Womöglich im Nirgendwo… Aber war ich dort nicht bereits?
Auf irgendeinem Wege musste ich von hier wegkommen, und das so schnell wie möglich! Auf gar keinen Fall konnte ich mitten auf diesem Gleis die ganze Nacht verbringen.
Ich stand auf und ging zu einer der Türen, drückte auf den Knopf, woraufhin sie sich öffnete.
Nein, hier konnte ich nicht weg, so sehr ich es mir auch wünschte. Draußen war nichts als die schwarze Nacht. Im Licht des Vollmonds konnte ich die Silhouetten einiger Baumgruppen erkennen. Aber soweit ich es überblicken konnte, befanden sich keine Häuser weit und breit. Wahrscheinlich wäre ich draußen nicht besser dran als hier drinnen. Ganz im Gegenteil: Hier im Zug wurde ich wenigstens nicht nass wie draußen im strömenden Regen. Also setzte ich mich wieder hin und fasste den Entschluss, bis zur Morgendämmerung zu warten. Vielleicht würde dann jemand hier vorbeikommen und mir helfen, so unwahrscheinlich sich das in meinen Ohren auch anhörte.
Ich verfluchte mich selbst, weil ich mir kein neues Handy gekauft hatte, seitdem mein altes vor ein paar Tagen den Geist aufgegeben hatte. Gerade jetzt hätte ich ein Handy so gut gebrauchen können! Dann hätte ich jetzt einfach einen meiner Freunde anrufen können, damit er mich abholt. Doch andererseits: Was hätte ich sagen sollen, wenn er mich fragt, wo ich mich befinde? Am Ende der Welt? Danach sah es zumindest aus… Wahrscheinlich hätte mich hier an diesem rätselhaften Ort wohl so oder so niemand gefunden.
Die Stille wurde immer unerträglicher, ebenso wie die Dunkelheit. Ich bin eigentlich keiner von diesen Menschen, die sich im Dunkeln fürchten. Doch die äußeren Umstände schafften eine geradezu einschüchternde Atmosphäre, welche durch das Fehlen der Beleuchtung noch verstärkt wurde. Nach ein paar Minuten fing ich an, in die Umrisse der Sitze allerhand unheimliche Dinge hinein zu interpretieren. Der eine schien sich auf einmal von allein leicht nach vorn und hinten zu bewegen. Dennoch wagte ich es nicht, die Augen zu schließen. Womöglich packte mich dann eine bösartige Kreatur am Arm. Nein, besser die Augen offenhalten!
Nun vermisste ich das schreiende Kind. Ich wünschte mir nichts mehr, als den Klang einer menschlichen Stimme in meiner Nähe zu hören, als Zeichen dafür, dass ich doch nicht allein war.
Und dann passierte es tatsächlich: Ich hörte den Säugling erneut. Diesmal allerdings schrie er nicht, sondern lachte vergnügt. Nanu? Was hatte dies zu bedeuten? Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und folgte neugierig seiner Stimme.
Bedächtig schritt ich von Waggon zu Waggon, dabei nach dem Säugling Ausschau haltend. Nirgends konnte ich ihn sehen. Der Zug war nach wie vor menschenleer. Mit jedem meiner Schritte wurde das Lachen des Säuglings nicht nur lauter und deutlicher hörbar, sondern vermischte sich mehr und mehr mit dem Geräusch des wehenden Windes. Nachdem ich bereits einige der leeren Waggons durchquert hatte, nahm das Pfeifen des Windes dermaßen an Lautstärke zu, dass ich das lachende Kind darin kaum noch wiederfinden konnte. Dennoch war ich in die richtige Richtung gelaufen – denn eine andere gab es hier nicht. Ich hatte meinen Marsch ja direkt neben der Fahrerkabine gestartet und lief nun zu meinem Sitzplatz im letzten Waggon zurück.
Kaum war ich dort wieder angekommen, verstummte der Säugling ganz. Doch durch eine der Türen des Zuges, die mit einem Male offenstand, wehte ein kühler Luftzug herein. Sein Pfeifen war durch den gesamten Zug gezogen und hatte mich hierhergelockt.
Sollte ich durch die Tür hindurch schreiten? Oder weiterhin im Zug verweilen? Er fuhr ja nirgendwo mehr hin, war an seinem Bestimmungsort angekommen. Bliebe ich hier, würde mich das in keiner Weise weiterbringen. Es blieb mir also keine andere Wahl, als auszusteigen, auch wenn es draußen dunkel und aufgrund des strömenden Regens ungemütlich war. Immerhin hatte ich meine Taschenlampe und konnte mir zum Schutz vor dem Regen den Kragen meiner Jacke über den Kopf ziehen. Irgendwo würde ich schon ankommen, meinen Weg finden. Also verließ ich mit einem Gefühl der Zuversicht den Zug.
Doch kaum stand ich draußen, änderte sich die Szenerie schlagartig. Aus Nacht wurde Tag. Statt dem Vollmond schien die Sonne vom strahlend blauen Himmel herab und mir ins Gesicht. Von Regenwolken fehlte jede Spur. Und überhaupt war es nicht Herbst, sondern Frühling. Auch die Epoche war eine andere als die, aus der ich gekommen war. Zu dieser Schlussfolgerung ließ mich sowohl das altertümliche Erscheinungsbild des Bahnsteigs, auf dem ich mich befand, als auch die Kleidung der Menschen vor meinen Augen kommen. Es musste das neunzehnte Jahrhundert sein, in welches meine Reise mich geführt hatte. Wie konnte das möglich sein? Ich wusste es nicht. Und doch war ich zweifellos hier.
Eine junge hübsche Frau in einem seidenen rosafarbenen Kleid und einem Strohhut mit Bändern daran kam auf mich mit schnellen Schritten zugelaufen, während sie mich anlächelte und mir zuwinkte. Ihre blonden Locken wippten etwas bei ihren Bewegungen. In ihrer linken Hand trug sie ein kleines Täschchen, wie zur damaligen Zeit üblich.
„Martin! Martin! Du hast also hierher gefunden! Bist angekommen!“
Rief sie in meine Richtung. Und ich wunderte mich darüber, woher sie wohl meinen Namen kannte.
Schließlich stand sie, etwas außer Atem, vor mir, lächelte mich verliebt an und sagte:
„Warum bist du denn so schweigsam? Freust du dich denn gar nicht, mich zu sehen?“
Nun, mir fehlten einfach die Worte. Dermaßen ungewöhnlich war diese Situation für mich. Ich fühlte mich komplett überrumpelt. Zudem schien der Dame gar nicht meine moderne Kleidung aufzufallen, die absolut nicht der damaligen Zeit entsprach. Vielleicht sah sie mich aber einfach mit anderen Augen.
Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte sie vorsichtig:
„Entschuldigung, aber wer bist du überhaupt? Und woher kennst du meinen Namen?“
Daraufhin machte die junge Dame ein erstauntes und zugleich enttäuschtes Gesicht.
„Ich bin’s doch, Viola. Deine Verlobte. Sag, hast du mich etwa wirklich vergessen?“
Viola. Das war doch der Name der Frau aus dem Internet, mit der ich heute zur Besichtigung der Burgruine verabredet war. Hier ging es zwar nicht ganz mit rechten Dingen zu, doch es schien gewisse Parallelen zu geben zwischen der Welt, aus der ich gekommen war, und der Realität, in welcher ich mich soeben befand. Also beschloss ich, mitzuspielen.
Nachdem ich Violas Hand in die meine genommen und geküsst hatte, sprach ich zu ihr:
„Viola. Verzeih mir bitte meine Unhöflichkeit. Natürlich habe ich dich nicht vergessen. Du bist mir das Teuerste im Leben. Die lange Zugfahrt hat mich ganz benommen gemacht. Die heiße, drückende Luft hat meinen Geist umnebelt. Doch die frische Frühlingsbrise wird mir sicher guttun und mich wiederbeleben. Mach dir bitte keine Sorgen.“
Sofort verschwand die Verunsicherung aus Violas Gesicht. Anscheinend hatte ich die richtigen Worte gewählt, um sie zu beruhigen. Sie fasste mich unter den Arm, hakte sich bei mir ein.
„Ich bin so glücklich darüber, dich wieder zu sehen.“ Warf sie mir mit einem freudigen Seitenblick zu. „Heute Abend gibt mein Vater ein großes Fest auf seiner Burg, zu dem Persönlichkeiten mit Rang und Namen erscheinen. Es wird mir eine große Ehre sein, dich ihnen als meinen Verlobten vorzustellen.“
Und so schlenderten wir, miteinander plaudernd, gemeinsam Richtung Ausgang. Die meiste Zeit redete Viola, während ich versuchte, aus ihren Worten schlau zu werden, mehr über das Leben in dieser Welt und in dieser Zeit zu erfahren. Und auch über mich selbst, der ich, auf welchem unerklärlichen Wege auch immer, hierhergekommen war. Es machte für mich fast den Anschein, als würde ich bereits seit Längerem in dieser Realität eine Art Parallelexistenz führen, von der ich bisher nichts geahnt hatte. Was war wohl aus meinem Alter Ego im einundzwanzigsten Jahrhundert geworden, während ich hier umherstreifte? Hatte es die moderne Viola aus dem Internet getroffen und war mit ihr zur Burgruine, welche hier noch vollkommen intakt war, aufgebrochen? Viele Fragen geisterten mir durch den Kopf, während ich Violas Worten lauschte und versuchte, mir einen Reim aus alldem zu machen.
Doch schlussendlich war ich froh darüber, zu diesem Ort gereist zu sein. Vielleicht würde er für längere Zeit mein neues Zuhause werden. Es bot mir viele Vorteile, hier zu bleiben. Ich war allem Anschein nach ein Mann von Ansehen in dieser Welt und hatte zudem eine überaus reizende junge Dame an meiner Seite. Die Sorgen aus meinem früheren Leben konnte ich hier schnell vergessen. Manchmal fragte ich mich noch, ob ich das alles nur träumen würde. Anfangs ging ich jede Nacht zu Bett, mit der leisen Befürchtung, mich am nächsten Morgen in meiner alten Existenz als Verkäufer im einundzwanzigsten Jahrhundert wiederzufinden. Doch inzwischen versuche ich, mir nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen, sondern vielmehr das Leben, das mir hier zuteilwird, in vollen Zügen zu genießen. Sollte dies alles wirklich ein Traum sein, so wünsche ich mir, dass es daraus kein Erwachen gibt.
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2022
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