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Das Leuchten in der Ferne

Unzählige Stunden stapfte ich bereits durch die nicht enden wollende Schneewüste, als sich mir, weit in der Ferne, das Licht zeigte. Funkelnd schien es zwischen den Zweigen der kahlen Bäume und Büsche hindurch, lockte mich zu sich mit seiner Wärme. Ich kannte weder den Ursprung des stillen Leuchtens, noch wusste ich, wohin mein Weg mich führen würde. Doch mir war vollkommen klar, dass ich ihm besser folgen sollte, wollte ich nicht in der Kälte dieser Winternacht erfrieren. Angetrieben von der Hoffnung und einer leisen Ahnung, dass sich mir dort eine Zuflucht bieten würde, machte ich mich also auf den Weg.

 

Der Wind blies mir eisig ins Gesicht und ließ mich für einen kurzen Moment an Ort und Stelle verharren, bevor ich neuen Mut fasste, mich dem finsteren Wald mit all seinen Gefahren zu stellen. Manche dieser Bedrohungen, wie etwa die zum Vollmond heulenden Wölfe oder die mit ihren Hufen im Schnee scharrenden Wildschweine, mochten wirklich sein. Andere wiederum entsprangen allein meiner Fantasie. Die Silhouetten der gewaltigen Bäume erinnerten mich an unbezwingbare Ungetüme, welche, setzten sie sich einmal in Bewegung, mich unbarmherzig und gnadenlos unter ihren schweren Stämmen zermahlen würden. Ich sah sie mit ihren Ästen, Armen gleich, nach mir greifen und querfeldein durch die Luft schleudern, während sie mir mit rot leuchtenden Augen und einem bösartigen Lachen hinterher schauten.

 

Der Schrei einer Eule durchzog den eisigen Nachthimmel und brachte mein vor Angst schnell pochendes Herz für einen Augenblick zum Erstarren. Immerhin brachte mich das Rufen einer Eule ins Hier und Jetzt zurück und ließ die Bäume für mich wieder das sein, was sie in Wirklichkeit waren: Nicht etwa Furcht einflößende Kreaturen, sondern kraftvolle Lebensspender. Ich durfte mich, einsam und verirrt in der Tiefe des nächtlichen Winterwaldes, nicht meinen Ängsten hingeben, sondern musste mir weiterhin meinen Ausweg durchs Dickicht bahnen, wollte ich meinem tristen Schicksal entkommen. Das eigentümliche Strahlen des Lichts am Horizont schenkte mir neuen Lebensmut und ließ mich meine Sorgen vergessen. Meinen Blick darauf gerichtet, setzte ich meinen Weg fort.

 

Nur noch den Klang meiner Schritte auf dem knirschenden Schnee ließ ich in mein Bewusstsein dringen. Das Wolfsgeheul, es stammte aus einer anderen Welt und gehörte nicht hierher, konnte mir nichts mehr anhaben. Die Wildschweine hatten sich längst zur Nachtruhe gebettet. Weder das Geräusch des knirschenden Schnees unter meinen Schuhsohlen noch mein keuchender Atem würden in ihren Traum eindringen, ihren Schlaf stören, sie in meine Richtung treiben lassen. Und die Bäume, sie gaben mir die Kraft, die ich brauchte, um den Pfad zur Erlösung weiter entlang zu schreiten.

 

Nach einem längeren Fußmarsch, ich war schon ganz durchgefroren und zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub, kam ich bei einer Hütte an. Aus ihren Fenstern drang das Licht, das mich hierher geführt hatte. Vor der Hütte sah ich einen riesigen Stapel Feuerholz liegen, dessen Anblick ein wohliges Gefühl in mir auslöste. Wo es Feuerholz gab, da gab es sicher auch einen Kamin. Wärme, nach der sich mein erkalteter Körper und meine von Eis bedeckte Seele so sehr sehnten. Ich würde sie in der Hütte finden, da war ich mir sicher. Aus diesem Grund war ich den weiten Weg hierher gelaufen. Ich stieg mit letzter Kraft die wenigen Stufen zum Eingang der Hütte empor und klopfte an ihre Tür.

 

„Herein!“ Rief mir eine wohl vertraute Stimme von innen heraus zu. Woher kannte ich sie bloß? Es schien mir, als hätte ich sie bereits unzählige Male in meinem Leben gehört. Verzweifelt versuchte ich die Stimme in meiner Vorstellung mit einem mir bekannten Gesicht zu verbinden. Mit einer Menschenseele, die ich so gut zu kennen schien wie mich selbst und deren Erscheinung ich dennoch vergessen hatte. Womöglich war meine Erinnerung in dieser dunklen Winternacht einfach zu Eis gefroren und ich sollte die Hütte betreten, mich an ihrem Feuer wärmen, um die Eiskristalle, in denen meine Seele gefangen war, zum Schmelzen zu bringen. Also berührte ich den hölzernen Türknauf und trat ein.

 

Das Erste, was ich erblickte, war ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Vor einem Kamin, in welchem das Feuer wohlig prasselte, stand eine bequeme Couch. Daneben ein Schaukelstuhl, auf welchem eine weich und flauschig anmutende Wolldecke lag. Der Raum war kaum dekoriert. Es hingen lediglich einige eingerahmte Gemälde vom Wald an den Wänden, der seine Erscheinung in allen vier Jahreszeiten wiedergab. Der Künstler hatte darauf die Natur so detailliert und aussagekräftig dargestellt, dass man fast meinen konnte, man würde bei längerem Hinsehen mit seinem ganzen Wesen in die Szenerie auf den Bildern eintauchen und sich mit Leib und Seele dort wieder finden.

 

Als ich dicht vor das Gemälde trat, das den Wald im Frühling, es mochte der Monat Mai sein, zeigte, wurde die darauf abgebildete Landschaft allmählich plastisch, fing an, sich zu bewegen, als hätte meine nähere Betrachtung ihr Leben eingehaucht. Ich hörte das Rascheln des Laubes der Bäume im zarten Frühlingswind und sah die Vögel zwitschernd von Zweig zu Zweig fliegen. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel herab und wärmte mit ihren Strahlen meine Seele, ließ die Eiskristalle auf ihr schmelzen und einen Teil von mir erwachen, der in der kalten Februarnacht Winterschlaf gehalten hatte. 

 

Eine unsichtbare Macht zog mich immer mehr in das Bild hinein. Vielleicht war es auch einfach nur ich selbst, der sich in die wundersame, friedvolle Atmosphäre auf dem Bild hinein fallen ließ, um mit ihr zu verschmelzen, Eins mit ihr zu sein. Im Frühlingswald wollte ich von nun an weiterleben, frei von Sorgen, Kummer und Schmerz gemeinsam mit den Vögeln durch die Lüfte fliegend. Nichts mehr vom Winterwald mit all seinen Nöten und seiner Beschwerlichkeit wissen. Umhüllt vom Sonnenlicht wollte ich vergessen, was geschehen war in dieser Nacht, bevor ich hierher gefunden hatte. Doch etwas rief mich zurück. Zurück in die Hütte, im Monat Februar.

 

„Du irrst dich.“ Sprach die mir vertraute Stimme hinter meinem Rücken, während jemand seine Hand sacht auf meine Schulter legte. „Du willst Zuflucht im Licht der Sonne suchen, weil dir der Winter mit seiner Dunkelheit und Kälte Angst bereitet. Doch das, wovor du dich fürchtest, wird immer da sein, so lange du daran festhältst. Du kannst noch so weit laufen, es wird dich immer wieder einholen, dich einfangen und bei sich behalten, so lange du deiner Angst Raum gibst. Vorübergehend magst du den Frühling erleben mit seiner blühenden Farbenpracht, gefolgt vom Sommer mit seiner Kraft spendenden Wärme. Doch zusehends nähert sich der Herbst deiner Seele und lässt die Erinnerungen an glückliche Tage wie buntes Laub hernieder fallen, auf dass der strenge Winter Einzug hält und dir unbarmherzig in Erinnerung ruft, wovor du weg läufst. Sei dir selbst ein Licht, finde die Wärme und Geborgenheit, die Freude und die Heiterkeit in deinem Inneren, anstatt sie im Außen zu suchen. So wirst du auch den Winter in all seiner Ehrlichkeit lieben lernen und für andere Wesen, die im Dunkeln wandeln, eine Zufluchtsstätte sein.“

 

Zutiefst berührt von diesen Worten drehte ich mich um. Die Stimme, die zu mir gesprochen hatte, klang in meinen Ohren noch immer so vertraut. Doch niemals hätte ich mit dem gerechnet, was sich meinen Augen daraufhin bot. Ich kannte diesen Menschen vor mir so gut wie niemanden sonst. Mein ganzes Leben hatte ich mit ihm gemeinsam verbracht. Tag um Tag, Nacht für Nacht, Stunde um Stunde. Von Augenblick zu Augenblick, von Ewigkeit zu Ewigkeit waren wir miteinander gewandert. Flogen zusammen zum Mond und zurück, während wir uns im Anblick der Sterne verloren. In trostlosen Zeiten, in denen meine Seele keinen Halt fand, ließ er mich jedes Mal aufs Neue Hoffnung und Zuversicht spüren.

 

Ich stand vor mir selbst. Vor jenem Teil in meinem tiefsten Inneren, der das Leben im Leben sah, den Neubeginn im Untergang, das Licht am Ende des Tunnels, das Leuchten in der Ferne des Winterwaldes. Und gleichzeitig war dies der Teil, der das Licht im Dunkel erschuf und dafür sorgte, dass das Kaminfeuer in der gemütlichen Hütte, meinem inneren Zuhause, stetig weiter brennen würde, auf dass sich meine Seele jederzeit daran wärmen konnte.

 

Vor mir selbst also stand ich und sah mir tief in die Augen. Erkannte darin all das, was ich in der Dunkelheit der kalten Winternacht, im schneebedeckten Wald, auf der Flucht vor mir und meinen Ängsten, vergessen hatte. Ja, die Momente der Traurigkeit, die mochte es in meinem Leben geben. Doch ich war dankbar für sie. Denn umso kostbarer erschienen mir in ihrem Licht die Augenblicke des Glücks, die mir zuteil wurden. Statt mit den Wölfen gemeinsam dem Vollmond ein Lied der Dankbarkeit für seinen hellen Schein in finsterer Nacht zu singen und den Bäumen im Wald mit meiner Umarmung Wärme zu schenken, war ich vor meinem eigenen Schatten davon gerannt. Hatte vergessen, wer ich war und dass ich nicht die Angst sein musste. Und wie ich wieder zu mir selbst zurück finden würde, wenn ich es nur wollte.

 

Doch ein winzig kleiner Teil in mir hatte nicht vergessen, hatte das Licht der Wahrheit in meinem tiefsten Inneren bewahrt. So fand ich also aus dem Wald heraus und zur Hütte zurück und lasse das Kaminfeuer für diejenigen brennen, die sich draußen, auf der Suche nach sich selbst, im Dunkeln verirrt haben.

Impressum

Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2022

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