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Schlafende Welt

In meinen Träumen wandere ich manchmal durch eine mir unbekannte Stadt. Alles ist still, während ich durch ihre leeren Straßen streife. Wie eine freilaufende Katze schleiche ich umher, von Laterne zu Laterne, von Tür zu Tür, von Haus zu Haus. Niemand begegnet mir bei meinen nächtlichen Ausflügen. Keine vorbei fahrenden Autos. Keine mir entgegen kommenden Passanten. Alle Fensterläden sind geschlossen und die Bürgersteige hochgeklappt. Die Welt schläft, während ich mich in ihrem nicht enden wollenden Labyrinth aus Ecken und Winkeln verliere. Nur der Vollmond schaut mir vom tiefblauen Himmel aus zu und leuchtet mir meinen Weg, der anscheinend ins Nirgendwo führt. 

 

Warum bin ich hier? Wonach suche ich? Habe ich überhaupt etwas verloren? Oder bin ich durch ein seltsames Versehen in dieser Welt der Schlafenden gestrandet, in der niemand außer mir wach zu sein scheint? Vielleicht bin ich auch einfach zur falschen Tageszeit hierher gekommen - falls so etwas wie Zeit in dieser Daseinsebene überhaupt existiert. Es wäre wohl besser, wenn ich nach einer offenen Tür Ausschau hielte und mir ein Bett suche, einfach mit allen eine Runde mitschlafe, bis der Morgen anbricht, diese müde Welt zu neuem Leben erwacht und ihre Bewohner sich aus dem Land der Träume erheben.

 

Mein Weg führt mich über einige Brücken aus massivem Stein und durch gepflegte Parkanlagen, in denen die Pflanzen und Tiere ebenfalls in tiefen Schlummer versunken sind. Weder hört man es im Gebüsch rascheln, weil sich etwa eine Maus auf Futtersuche befindet, noch ist der Schrei einer Eule zu vernehmen. Es ist absolut ruhig in dieser Welt. Nicht der leiseste Laut dringt an mein Ohr, nicht ein Mal das Rauschen des Flusses, der durch die Stadt fließt und dessen Wasser so rein ist, dass ich selbst im Dunkeln mein Spiegelbild darin erkennen kann. Wie das Abbild der Sterne am nächtlichen Himmel scheint der Fluss meine Gestalt in sich aufgenommen zu haben und diese erst dann wieder frei zu geben, wenn ich mich einige Schritte vom Ufer entferne. Doch vielleicht lebt ein Teil von mir mitsamt dem Sternenlicht unaufhaltsam und für mich unbemerkt bis in alle Ewigkeit im Fluss weiter und führt unter seiner Oberfläche ein für diese Welt verborgenes Innenleben, das nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und dessen Mysterien ich selbst bei einem Tauchgang bei Tageslicht nicht aus der Tiefe herauf befördern könnte.

 

Während ich, in mich selbst versunken, versuche, einen Blick auf seinen tiefsten Urgrund zu erhaschen, nehme ich allmählich eine Veränderung wahr. Ein Geräusch erklingt in der Ferne. Leise und zögerlich vernehme ich den Klang einer wundersamen Melodie. Sie scheint nicht in die Welt der Schlafenden hinein zu gehören – und doch ist sie da und unterbricht die über den Dächern der Stadt waltende Stille. Etwas in ihr ruft mich mit einem kaum wahrnehmbaren Locken zu sich. Ob es sich dabei um die harmonischen Töne wie aus himmlischen Sphären handelt, die an mein Ohr dringen, oder aber um die Stille zwischen ihnen, die im leeren Raum verhallt, vermag ich nicht zu sagen. Doch mir ist bewusst, dass ich eingeladen bin, ihrer Einladung Folge zu leisten, wenn ich die Geheimnisse dieser Welt erkunden möchte. Also lasse ich meine Schritte von der fremdartigen – und mir dennoch so vertrauen – Musik zu sich lenken.

 

Inzwischen hat ein dichter Nebel die Stadt umhüllt. Nur noch schemenhaft kann ich die Umrisse der Häuser erkennen. Im Licht des Mondes ziehen Nebelschwaden an mir vorbei, strömen ihrer Bestimmung entgegen. Will ich vorwärts kommen, ohne mich im Dunstschleier zu verirren, so muss ich mich vom Klang der Melodie leiten lassen. Bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend, schreite ich voran, meinem Ziel entgegen, das irgendwo jenseits der Nebelwand liegt, verborgen im Herzen der schlafenden Stadt. Mit jedem meiner Schritte kann ich die Musik deutlicher hören, die aus einer anderen Dimension hierher zu fließen scheint. Dass die Fenster der Häuser weiterhin unbeleuchtet bleiben und die mich umgebende Welt nach wie vor im Dunkel der Nacht versinkt, legt die Vermutung nahe, dass ich der einzige Mensch auf Erden bin, dem die anmutigen Klänge zuteil werden.

 

Schließlich gelange ich zu dem Ort, an dem die paradiesische Weise ihren Ursprung findet. Ich stehe vor einem großen, altertümlichen Wohnhaus, dessen Fenster fast allesamt geschlossen sind. Nur eines der Fenster steht sperrangelweit geöffnet. Genau von dort her ertönt das alte Grammophon, dessen Klänge der Wind hauchzart an mein Ohr trägt. Eine weiße Gardine flattert leicht vor dem Fenster, als würde sie zum Klavierspiel tanzen.

 

Ich überlege, ob ich zum Fenster hinauf rufen sollte. Vielleicht befindet sich ja jemand, der mich hören kann, in der Wohnung. Eine weitere wache Seele in der Welt der Schlafenden. Doch stattdessen gebe ich mich weiter dem Schweigen hin, um den Zauber der Musik nicht zu stören, ihre himmlische Melodie nicht mit meiner lauten Stimme zu durchbrechen. Ich weiß, dass es einen Weg zu ihrer Quelle geben muss. Und diesen Pfad beschreite ich im Schweigen. In der Stille.

 

Die Haustür ist nur angelehnt, aber nicht abgeschlossen, wie ich es, einer inneren Eingebung folgend, erwartet hatte. Ich öffne sie und betrete das finstere Treppenhaus. Im Dunkeln kann ich nicht allzu viel erkennen. Doch das ist auch nicht wichtig. Ich muss nur hoch hinauf in jene Wohnung. Und ich kenne, woher auch immer, meinen Weg. Auf jeder einzelnen Etage sehe ich mittig ein Fenster, durch das Mondlicht ins Treppenhaus herein scheint, so dass ich nicht vollkommen im Dunkeln tappe. In jedem Geschoss gibt es auf der linken und der rechten Seite je eine Wohnung, deren Tür verschlossen ist. Doch das spielt keine Rolle. Das hat im Hier und Jetzt keine Bedeutung. Ich folge dem Klang des alten Grammophons, der mich weiter nach oben führt.

 

Im Dachgeschoss angekommen, finde ich nur eine einzige Wohnung vor. Genau in der Mitte der Etage öffnet sie ihre Tür vor mir, als wollte sie mich zu sich einladen. Aus ihrem Inneren höre ich, nun lauter, die Melodie, welcher ich bis hierhin gefolgt bin. Während ich die Schwelle zur Wohnung überschreite und das Licht einschalte, durchflutet mich tiefe Dankbarkeit dafür, an den Ort zurück gekehrt zu sein, dessen Existenz ich seit Anbeginn der Zeit vergessen hatte und der seit Äonen von Jahren auf meine Heimkehr gewartet hat.

 

Ich bin angekommen. Am Bestimmungsort meiner Sehnsucht. Im himmlischen Palast meiner Seele. Daheim zu Hause.

Impressum

Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2022

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