Am späten Abend sitze ich vor dem geöffneten Schlafzimmerfenster und schaue in die hereinbrechende Nacht hinaus. Es ist ruhig im Hof. Keine Menschenseele stört die wohltuende Stille, die mich und den Baum, der unten neben der Bank seinen angestammten Platz hat, umgibt. Jetzt im Sommer hat er sich eine üppige Krone wachsen lassen, deren grüne Blätter in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne glänzen. Die vielen kleinen Vögel auf seinen Ästen und Zweigen stimmen im Abendrot zu einem letzten gemeinsamen Lied an, bevor sie sich zur Nachtruhe betten und ihre kleinen Köpfe unter ihre Flügel stecken.
Im Haus gegenüber erkenne ich am Fenster eine Gestalt. Eine Frau in mittleren Jahren sitzt so wie ich am Fenster und schaut zum Hof hinüber. Ebenso wie ich ist sie in die Betrachtung des gegenwärtigen Moments versunken und lässt das dahinscheidende Sonnenlicht in ihre Seele dringen, auf dass es alles Dunkle und jegliche Sorgen aus ihrem tiefsten Innersten vertreiben mag. Ich frage mich, ob es das erste Mal ist, dass wir diesen magischen Augenblick miteinander teilen, oder ob wir bereits andere Abende, jeder für sich in seinen eigenen vier Wänden von seinem Fenster aus, miteinander verbracht haben. Vorher ist die Frau mir zumindest nie aufgefallen. Womöglich habe ich sie nur nicht bemerkt. Wer mag sie wohl sein? Was für ein Leben mag sie führen? Welche Freuden und welcher Kummer mögen ihr auf ihren Wegen begegnen? Ob sie wohl dasselbe wie ich empfindet, wenn sie die abendliche Ruhe und die Gegenwart des Kraft spendenden Baumes genießt? Oder ist ihr dies einerlei und sie möchte vor dem Schlafengehen einfach frische Luft schnuppern? Vielleicht stellt sie sich die gleichen Fragen über mich und mein Leben. Oder aber, sie hört mit leerem Kopf und offenem Herzen einfach nur dem zauberhaften Gesang der kleinen Vögel zu.
Meine Arme streift ein zarter Windhauch. Am Tage war es recht heißt gewesen, die Sonne brannte mit aller Inbrunst vom Himmel herab. Deswegen begrüße ich die abendliche Abkühlung umso mehr. In der Ferne kann ich die Autobahn wie einen unaufhaltsam fließenden Strom rauschen hören und stelle mir dabei vor, als kleiner Tropfen im unermesslich großen Ozean zu treiben. Ich lege meine Arme aufs Fensterbrett und bette meinen Kopf darauf, schließe meine Augen und lasse mich vom Lied der Vögel und der brummenden Autobahn in den Schlaf wiegen, der mich, ohne lange auf sich warten zu lassen, alsbald überflutet.
Als ich erwache, steht bereits der Vollmond am Himmel. Die Blätter des Baumes funkeln wie Diamanten in seinem Licht. In der Sommerluft liegt ein himmlischer Duft nach Blumen und Früchten, der mich mit seinem exotischen Aroma betört und in mein tiefstes Innerstes dringt. Aus welchen paradiesischen Gefilden dieser wohl in die irdische Sphäre hinüber geweht sein mag? Einen tiefen Atemzug nehmend, lasse ich ihn in mich hineinströmen, genieße ihn mit jeder Zelle meines Seins. Die Geräusche der Autobahn sind inzwischen verstummt. Anstatt ihrer ist eine eigentümliche Stille eingekehrt, die mich und alles um mich herum in einen schützenden Schleier einhüllt.
Das Fenster auf der anderen Seite des Hofes steht weit offen. Ich kann den weißen Vorhang sacht im Wind flattern sehen. Doch die Frau, mit der ich vor kurzem noch zusammen den Sonnenuntergang genossen habe, ist verschwunden. Womöglich hat sie sich in der nächtlichen Dunkelheit aufgelöst, um Eins mit ihr zu werden, um ein Teil dieses magischen Moments zu sein.
Im nächsten Augenblick wird mir bewusst, dass ich nicht allein bin. Als ich in den Hof hinunter schaue, erkenne ich schemenhaft eine Figur auf der Bank neben dem Baum sitzen. Sie ist zierlich und hat langes Haar. Eindeutig eine Frau. Die Frau, die in der Wohnung gegenüber lebt. Weshalb kam diese nun hierher? Was hat sie zum Baum im Hof geführt? Ist sie auf der Suche nach Trost und neuer Hoffnung? Oder möchte sie einfach, im Licht des Vollmonds badend, die Stärke und Vitalität des Baums spüren und sich mit seiner Kraft verbinden? Doch die Frage, die mich am meisten beschäftigt, auf die ich jedoch keine Antwort finde, ist eine ganz andere – wie ist es der Frau gelungen, den Hof zu betreten, da er doch nicht zu ihrem Wohnhaus gehört und die Tür stets abgeschlossen wird? Es ist natürlich möglich, dass sie sich bei einem meiner Nachbarn den Schlüssel geliehen hat. Doch das halte ich für unwahrscheinlich. Wer würde denn so etwas tun? Schließlich geht es nur um einen Hof, wenn auch um einen außergewöhnlich schönen, sauberen und gepflegten – das gebe ich ohne Umschweife offen und ehrlich zu. Dieser Umstand bewog mich seinerzeit, in diese Wohnung einzuziehen und sie mein neues Zuhause zu nennen.
In der warmen Jahreszeit verbringe ich viele Stunden auf der Bank neben dem Baum, mal mit einem Buch in der Hand, mal mich mit ausgestreckten Beinen einfach nur der Ruhe und Entspannung hingebend. Immer wieder bin ich erstaunt darüber und dankbar dafür, wie viel Geborgenheit und Lebensfreude mir die Nähe des Baumes schenkt. Ob ich guter Dinge bin oder ob ein Schatten auf meiner Seele liegt – er ist immer für mich da und hört den Regungen meines Herzen aufmerksam zu, teilt meine Freude und meinen Schmerz gleichermaßen und unvoreingenommen. Mit seiner reinen Präsenz spendet er mir neue Lebensenergie, was ich ihm mit einer wärmenden Umarmung danke. In all den Jahren ist er ein guter Freund für mich geworden – vielleicht sogar der beste, den ich jemals hatte.
Die Frau auf der Bank öffnet ihre geschlossenen Augen und hebt ihren Kopf zur Baumkrone empor. Unsere Blicke kreuzen sich. Doch sie scheint durch mich hindurch zu schauen, als wäre ich durchsichtig, was mich sehr verwundert. Diese Nacht wirft ein Rätsel nach dem anderen auf, deren Lösung irgendwo fern hinter dem Horizont zu finden ist. Vielleicht träume ich das alles auch nur. In Momenten wie diesen ist es schwer auszumachen, wo die Wirklichkeit aufhört und wo das Reich der Träume anfängt. Womöglich habe ich seine Schwelle schon längst überschritten, ohne es gemerkt zu haben.
Ein schriller Ton lässt mich plötzlich aufhorchen. Mein Telefon hat geklingelt. Mitten in der stockfinsteren Nacht. Wer mag das wohl sein? Wer möchte zu so später Stunde mit mir sprechen? Im Flur angekommen, nehme ich den Hörer ab und spitze meine Ohren. Worte sind überflüssig. Sie würden alles nur komplizierter machen. Deswegen sage ich nichts, sondern höre einfach nur zu, was sich am anderen Ende der Leitung abspielt. Alles, was ich vernehmen kann, ist im Wind raschelndes Laub. Je länger ich mich seinem Rauschen hingebe, desto lauter wird es, bis ich nicht mehr genau weiß, ob es aus dem Telefonhörer oder aus meinem tiefsten Inneren erklingt. Der Baum im Hof ruft mich zu sich, um sich mit ihm zu verbinden. Immer mehr gelange ich zu der Wahrnehmung, selbst ein Baum zu sein.
Ich sehe die Frau aus der gegenüberliegenden Wohnung auf der Bank neben meinem Stamm sitzen. Ruhig und friedlich schauen ihre Augen mich an. Ein liebevolles Lächeln liegt auf ihren Lippen. Sie hat mich und damit auch sich selbst in ihrer reinsten Essenz erkannt. Gemeinsam blicken wir hinauf zu den Sternen und träumen uns in eine andere Welt hinein, während eine Nachtigall, die sich auf einem meiner unzähligen Zweige niedergelassen hat, ihren Schnabel zum Lied öffnet.
Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2022
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