1. Kapitel: Oktopus im Schwimmbad
2. Kapitel: Untergetaucht
S. war bis zu seinem rätselhaften Verschwinden an jenem verhängnisvollen Morgen ein guter Freund von mir. Oft gingen wir zusammen ins hiesige Schwimmbad und zogen dort gemeinsam unsere Bahnen durch das riesige, wenig besuchte Schwimmbecken. Trotz seiner beachtlichen Leibesfülle war S. ein ausgezeichneter Schwimmer und ein wahrer Zauberkünstler im Wasser. Stets überholte er die anderen Badegäste, egal ob er kraulte oder auf dem Rücken dahin trieb. Sowohl ich als auch die anderen Besucher des Schwimmbads staunten nicht schlecht darüber, dass er ihnen jedes Mal davon schwamm, obwohl er mit seinen wohl gepolsterten Armen und Beinen gemächlich durch das Wasser ruderte. Ohne jegliche Eile bahnte er sich in aller Seelenruhe seinen Weg an den anderen Schwimmern vorbei, während diese ihn mit allem Eifer zu überholen versuchten. Dies war für viele Badegäste zu einer Art Wettkampf geworden und jeder gab sich alle erdenkliche Mühe, S. im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser zu reichen. Doch niemandem sollte es gelingen. S. war trotz seines langsamen, besonnen Tempos schneller als alle anderen am Ziel, was an Magie zu grenzen schien.
In der Tat hatten seine außergewöhnlichen Schwimmkünste in gewisser Weise mit Zauberei zu tun. Zumindest erzählte mir S. eines Tages im Vertrauen davon. Es ging um seine Badekappe, die er immer beim Schwimmen auf seiner Glatze trug. Sie war blau mit großen weißen Punkten, also relativ unspektakulär anzusehen, wäre da nicht das kleine Bild eines Tintenfisches auf der Vorderseite. S. schrieb dieser Badekappe die magische Fähigkeit zu, dass sie ihn im Wasser schneller voran brachte als jeden, der seinen Weg kreuzte, ganz gleich, wie stark S. sein Tempo drosselte. Ich dachte, mein Freund wolle sich einen Scherz mit mir erlauben und lachte über seine Worte. Doch er schaute mich ernst an und versicherte mir, dass er mir soeben die Wahrheit gesagt habe. Also fragte ich ihn, woher er diese Badekappe denn hätte und ob für mich vielleicht auch noch eine übrig wäre. Daraufhin erzählte er mir, was sich vor nicht allzu langer Zeit in seinem Leben ereignet hatte:
„Anfang Mai bin ich nach dem Schwimmen ins kleine Fischrestaurant hier im Haus gegangen. Mein Magen fühlte sich wie ein gähnendes schwarzes Loch an, weil ich mich zuvor im Wasser ordentlich ausgepowert hatte.“
Bei diesen Worten strich er sich behutsam über seinen großen, kugelrunden Bauch.
„Ich bin eine ganze Stunde länger geschwommen als sonst, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Im Fischrestaurant war außer mir nur ein einziger anderer Gast: Ein älterer Herr mit langem weißen Haar und einem längeren weißen Bart saß an einem Tisch in der Ecke. Durch seine schlanke Statur wirkte er nahezu zerbrechlich. Vor ihm auf dem Tisch standen eine Tasse Tee und eine Schale mit Fischsuppe. Doch er ließ beides unbeachtet stehen.
Ich setzte mich am anderen Ende des Restaurants an einen Tisch und drehte dabei dem alten Herrn den Rücken zu, um ihn nicht zum Augenzeugen meiner unsäglichen Gefräßigkeit zu machen. Du weißt ja, wie sehr ich das Essen liebe. Es nimmt in meinem Leben einen mindestens genauso großen Stellenwert wie das Schwimmen ein. Doch nun war ich noch hungriger als sonst und hätte mich geschämt, wenn jemand mit ansehen würde, wie ich einen Gang nach dem anderen ohne Unterlass in mich hinein schaufele.“
Er machte eine Pause und schaute mich leicht verlegen an.
„Doch dazu kam ich gar nicht. Denn nachdem ich mein Essen bestellt und sich die Kellnerin mit ihrem Notizblock von meinem Tisch entfernt hatte, legte plötzlich jemand seine Hand auf meine Schulter. Ich brauchte mich gar nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Sofort war mir klar, dass es nur der ältere Herr sein konnte. Wie eine Ewigkeit erschien mir der Moment, als seine knochige Hand ruhig und federleicht auf meiner Schulter lag. Seine Berührung fühlte sich bedeutungsvoll an, ohne dass ich genau sagen kann, weshalb. Ich hatte das Gefühl, er wolle mir dadurch etwas überaus Wichtiges mitteilen. Kurz darauf wurde ich sehr müde, schloss meine Augen, tauchte in die sich vor mir auftuende Finsternis ein und verlor mich immer mehr in ihr, bis ich ein Teil von ihr wurde.“
Ein weiteres Mal legte er eine Pause ein und ließ dabei seine Augenlider herab sinken.
„Ich öffnete meine Augen wieder, als ich spürte, wie mich jemand an der Schulter rüttelt.
„Hey, wachen Sie auf! Ist alles in Ordnung mit ihnen?“
Es war die Kellnerin. Sie machte ein besorgtes Gesicht. Langsam wurde mir bewusst, wo ich mich befand und weshalb ich hierher gekommen war. Vor mir auf dem Tisch standen nebeneinander allerlei Fischgerichte, die ich bestellt hatte. Obgleich sie köstlich aussahen und fein aromatisch dufteten, hatte ich auf einmal den Appetit verloren. Das Loch in meinem Magen hatte sich wie von Zauberhand geschlossen.
Ich stand auf und drehte mich um. Der ältere Herr war verschwunden. Ich war jetzt der einzige Gast im Fischrestaurant. Doch hinter meinem Stuhl unten auf dem Boden lag etwas. Ich bückte mich und hob es auf. Es war die blaue Badekappe mit den weißen Punkten und dem Tintenfischbild, die ich seitdem immer beim Schwimmen trage. Damals sah ich sie zum ersten Mal. Ich wusste, der ältere Herr hatte sie absichtlich dort drapiert, damit ich sie an mich nehme, warum auch immer. Also tat ich es.
„Wo ist er hin?“ Fragte ich in den Raum hinein, eher an mich selbst, als an die Kellnerin gerichtet, die noch immer an meinem Tisch stand.
„Wen meinen Sie?“ Fragte mich die Kellnerin etwas verwundert.
„Einen älteren Mann. Er hat langes weißes Haar und einen weißen Bart. Vorhin saß er dort hinten in der Ecke am Tisch.“ Ich wies mit meiner Hand in die entsprechende Richtung.
„Ich muss Sie leider enttäuschen. Doch heute Abend sind sie bislang unser einziger Gast. Es muss sich um einen Irrtum handeln.“
Nun stand ich vor einem Rätsel. Doch vielleicht würde mir die Badekappe dabei helfen, es zu lüften.
Hier machte er wieder eine Pause und sah mich fragend an.
„Möchtest du wissen, wie es weiterging?“
Ich war mir nicht sicher, ob sich die Dinge wirklich so zugetragen hatten oder ob er mich mit seiner Geschichte auf den Arm nehmen wollte. Doch sein Bericht hatte mich durch seine ungewöhnlichen Details in den Bann gezogen und so bat ich ihn, fortzufahren.
„Also gut. Drei Tage später ging ich wieder ins Schwimmbad. Diesmal nahm ich die Badekappe mit, die mir der ältere Herr im Fischrestaurant dagelassen hatte. Mein Bauchgefühl sagte mir, es wäre besser, wenn ich sie aufsetzen würde.“
Wieder streichelte er seinen kugelrunden Bauch.
„Ich stand also am Beckenrand und schaute ins Wasser. Da es noch früh am Morgen war, wirkte das Schwimmbad wie ausgestorben. Außer mir waren nur wenige Badegäste anwesend. Ich setzte Die Badekappe auf. Sie saß wie angegossen auf meinem Kopf, als wäre sie wie für mich gemacht. Dann stieg ich langsam ins Becken hinein.
Während ich eine Bahn nach der anderen schwamm, bemerkte ich, dass mich ein junger Mann von der anderen Seite des Beckens aus beobachtete. Auch wenn der Großteil seines Körpers im Wasser verschwand, so ragten doch seine breiten Schultern und seine muskulösen Oberarme aus dem Wasser und verrieten einen durchtrainierten Körper.
Nach einiger Zeit machte ich am Beckenrand Rast im Wasser. Der sportliche junge Mann kam sogleich auf mich zu geschwommen,
„Entschuldigen Sie bitte, ich möchte Sie nicht stören. Aber wo haben Sie diese Badekappe her?“ Wollte er wissen.
„Warum interessieren Sie sich dafür?“ Fragte ich ihn verwundert.
„Hmm, das ist eine etwas längere Geschichte… Vor einigen Jahren hat sich etwas Unerklärliches in diesem Schwimmbad ereignet. Ein alter Mann verschwand auf mysteriöse Art und Weise. Er kam, wie so oft, mit seinen beiden Enkeln am Wochenende zum Schwimmen hierher. An diesem Tag allerdings waren die drei allein in der Schwimmhalle. Die beiden Kinder schwammen um die Wette bis ans Ende des großen Beckens. Wie Sie wissen, wird es immer tiefer, je weiter man hinein geht. Die beiden Jungen tollten vergnügt im Wasser. Doch als der ältere von ihnen als erster das Ziel erreicht hatte, setzte plötzlich der künstliche Wellengang ein. Der Junge erschrak, als ihn die erste Welle mit ganzer Wucht im Gesicht traf, und schnappte nach Luft. Er hielt sich mit einer Hand am Beckenrand fest und drehte sich um. Da sah er ein Stück weiter weg seinen kleinen Bruder hilflos im Wasser planschen. Er wollte ihm zu Hilfe eilen, doch sein Körper war zu klein und zu schwach, um gegen die tosenden Wellen anzukommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich weiterhin an den Beckenrand zu klammern und zu hoffen, dass der Wellengang bald wieder ausgeschaltet wird.“
Der Großvater der beiden hatte sie eindringlich davor gewarnt, so weit hinaus zu schwimmen. Doch seine Enkel hatten nicht auf ihn gehört. Nun sah er aus der Ferne mit Entsetzen zu, in welche Situation sich die beiden gebracht hatten.
„Sofort stürzte er sich in die Fluten, um zunächst den kleineren Jungen zu retten. Zum einen konnte er diesen schneller erreichen. Zum anderen würde der größere, da er am Beckenrand einigermaßen Halt fand, vermutlich länger durchhalten. Kaum war er beim kleineren Jungen angekommen, zog er ihn zu sich heran und brachte ihn aus dem Becken heraus in Sicherheit. Sogleich schwamm er erneut los, um seinen anderen Enkel aus dem tosenden Becken zu befreien. In dem Moment, als diesem die Kräfte schwanden und er mit seiner Hand weinend den Beckenrand losließ, packte sein Großvater ihn und ließ sich mit ihm gemeinsam von den Wellen zurück treiben.“
Der junge Mann machte eine Pause und senkte seinen Kopf.
„Nun kommt der unerklärliche Teil dieser Geschichte. Und ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden, was ich Ihnen gleich erzähle. Doch ich werde es Ihnen trotzdem sagen. Der ältere Mann trieb also mit seinem Enkel durchs Wasser. Sie hatten bereits mehr als die Hälfte des Beckens durchquert, als plötzlich eine Welle dem Großvater seine Badekappe vom Kopf riss und ins Wasser zog. Vergeblich versuchte er, nach ihr zu greifen. Immer weiter trieben die Wellen sie von ihm weg. Mitsamt der Kappe schien er seine Kraft zu verlieren. Schon bald konnte er den Jungen nicht mehr festhalten, weil er sich alle nur erdenkliche Mühe geben musste, um selbst über Wasser zu bleiben. Der Junge schwamm also aus eigener Kraft weiter. Allzu weit war der Weg zum Beckenrand nun nicht mehr und sie hätten es für gewöhnlich beide geschafft. Doch als der Junge aus dem Wasser stieg und sich umdrehte, sah er, wie ein riesiger Tentakel, wie von einem gewaltigen Oktopus, aus dem Wasser aufragte, die Hüfte seines Großvaters umschlang und ihn mit sich zum tiefen Ende des Beckens hin zog, um dann mit ihm zusammen unter der Wasseroberfläche zu verschwinden. Seitdem hat den älteren Mann niemand mehr gesehen. Er ist oder soll ich vielmehr sagen – war - mein Vater.“
Der junge Mann sah mich mit traurigen Augen an. Ich hatte gespannt seinen Worten gelauscht und wusste intuitiv, dass er mir die Wahrheit erzählt hatte. Zumindest soweit er diese selbst kannte. Er war schließlich nicht Augenzeuge des Vorfalls, sondern seine beiden kleinen Söhne, die all dies miterlebt hatten, berichteten ihm davon. Es wäre gut möglich gewesen, dass die Fantasie des durch die Wellen verängstigten Jungen ihm einen Streich spielte, als dieser ein riesiges Tentakel gesehen haben wollte. Doch Fakt ist, dass der ältere Mann nie wieder gesehen wurde, weder tot noch lebendig. Die Polizei suchte alles nach ihm ab. Ebenso wenig fand man im Schwimmbad ein Lebewesen, das einem Oktopus gleich kam, und auch keinerlei Hinweise darauf, was sich während des Unglücks in den Wellen zugetragen hatte. Die Polizei stellte ihre Untersuchung aus Mangel an Hinweisen bald darauf ein. Doch der junge Mann wollte nicht aufgeben und sah sich unermüdlich nach Anhaltspunkten um, die darauf hindeuteten, was mit seinem Vater geschehen sein mochte.
„Womöglich können Sie mir weiterhelfen.“
Er sah mir mit einem festen Blick direkt in die Augen.
„Ich? Wie kommen Sie darauf?“
„Nun, Sie tragen immerhin die Badekappe meines Vaters. Oder eine, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht. Wären Sie bitte so freundlich, mir zu verraten, wie diese in Ihren Besitz gelangt ist?“
Bei dem Gedanken, dass ich die Badekappe eines Menschen, der auf mysteriöse Weise verschwunden, womöglich sogar von einem Ungeheuer getötet worden war, auf meinem Kopf sitzen hatte, wurde mir etwas mulmig zu Mute. Ich nahm sie schnell ab und musterte sie.
„Wissen Sie, auch mir ist etwas Rätselhaftes passiert, und ich konnte mir bis zum heutigen Tage keinen Reim drauf machen. Doch nach dem, was ich jetzt von Ihnen gehört habe, lässt sich ein Zusammenhang erkennen.“
Und ich erzählte ihm von meinem Erlebnis im Fischrestaurant bis ins kleinste Detail. Der junge Mann hörte mir neugierig und mit leuchtenden Augen zu. Als ich am Ende meines Berichts angekommen war, stieß er einen leisen Seufzer aus. Eine schwere Last schien von ihm abgefallen zu sein.
„Danke, dass Sie mir davon erzählt haben. Allem Anschein nach existiert mein Vater noch irgendwo. Vielleicht nicht mehr in dieser Welt, wo wir leben, sondern in einer Dimension jenseits von Raum und Zeit. Womöglich zeigt sich ein Weg, auf dem er wieder zu uns zurück findet. Und die Badekappe ist der Schlüssel dazu. Über Ihre Worte bin ich wirklich froh. Jetzt geht es mir um einiges besser. Eine Frage wäre da noch, falls Sie nichts dagegen haben?“
„Nein, fragen Sie ruhig.“
„Ist Ihnen in Zusammenhang mit der Badekappe etwas Sonderbares aufgefallen? Spüren Sie irgendeine Veränderung, wenn sie diese beim Schwimmen tragen?“
Der junge Mann hatte Recht. Da war tatsächlich etwas.
„Ja. Ich spüre einen enormen Kraftzuwachs, wodurch mir das Schwimmen leichter fällt. Und egal, wie langsam ich schwimme, niemand ist in der Lage, mich zu überholen.“
„Alles klar. Jetzt bin ich mir absolut sicher, dass Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Mein Vater hat Ihnen tatsächlich seine Badekappe überreicht. Auch wenn Sie beide sich nur das eine Mal im Fischrestaurant gesehen und dabei nicht einmal miteinander gesprochen haben, hielt er Sie allem Anschein nach für würdig, seine Badekappe nach seinem Verschwinden als sein Nachfolger zu tragen. Vielleicht wollte er Sie auch vor etwas beschützen. Zum Beispiel vor dem Oktopus.“
Ich sann über seine Worte nach. Vermutlich hatte er Recht und die Badekappe war ein magisches Abwehrmittel. Eine Art Schutz vor dem Ungeheuer, das für die meisten Menschen ungesehen und unentdeckt auf dem Boden des Schwimmbeckens hauste und sich nur in dem Moment zeigte, als es zuschlug, um ein wehrloses Opfer mit sich in die Tiefe zu reißen. Das erklärte nun auch, warum der ältere Mann in dem Augenblick, als ihm die Welle seine Badekappe vom Kopf riss, schwach wurde und dem Tentakel des Oktopus erlag.
Warum der ältere Mann ausgerechnet mich zum Träger der magischen Badekappe auserwählt hat, entzieht sich nach wie vor meiner Vorstellungskraft. Doch ich bin ihm für seine Hilfe und den damit verbundenen Schutz zutiefst dankbar und trage seine Badekappe in Ehren.“
Doch es dauerte nicht allzu lange, da sollte meinen Freund ein schreckliches Schicksal ereilen, dessen Augenzeuge ich wurde. Wie der ältere Mann vor ihm verschwand auch er während des Wellenganges im Schwimmbecken. Als ich sah, wie ihm eine Welle die Badekappe vom Kopf riss, ahnte ich bereits Fürchterliches. Kurz darauf beobachtete ich, wie ein riesiges Tentakel seinen massigen Körper umschlang und unter Wasser zog. Noch nie habe ich etwas so Grauenvolles erlebt und war vor Angst wie gelähmt. Außer S. und mir befanden sich zu dieser frühen Morgenstunde keine weiteren Badegäste in der Schwimmhalle. Vom Beckenrand aus konnte ich nichts weiter tun, als zuzuschauen, während S. in den Fängen des Tentakels in den Wellen verschwand.
Einige Tage später träume ich von S. Im Traum sitzt er zusammen mit dem älteren Herrn mit dem langem weißen Haar und dem längeren weißen Bart auf dem Boden des Schwimmbeckens. Der riesige Oktopus, der sich bedrohlich neben die beiden gekauert hat, hält jeden von ihnen mit je einem Tentakel am Arm fest. S. streckt den anderen Arm aus, um mir etwas zu überreichen. Es ist die blaue Badekappe mit den weißen Punkten und dem Tintenfischbild auf der Vorderseite. Er sieht mich mit flehenden Augen an und aus seinem geschlossenen Mund dringt ein verzweifelter Hilfeschrei zu meiner Seele durch.
Als ich aufwache, bin ich am ganzen Körper durchnässt. Es fühlte sich an, als wäre ich mitsamt meiner Kleidung in ein Schwimmbecken getaucht. So stark habe ich im Schlaf geschwitzt.
Ich knipse die Nachttischlampe neben meinem Bett an und gehe ins Bad, wo ich eine Dusche nehme, um die Unruhe, die dieser aufwühlende Traum in mir erzeugt hat, abzuspülen. Lange und ausgiebig lasse ich das warme Wasser über meinen Körper fließen, während sich meine Nerven allmählich beruhigen.
Auf dem Weg zurück in mein Schlafzimmer sehe ich im Schein der Nachttischlampe von weitem etwas auf meinem Bett liegen. Es ist die Badekappe, die mir S. im Traum gegeben hat. Sie trieft vor Wasser und riecht nach Chlor.
In diesem Moment verstehe ich, was es damit auf sich hat. Der Sohn des alten Mannes hat Recht: Die Badekappe ist der Schlüssel zur Befreiung der Gefangenen des Oktopus. Meine Aufgabe ist es nun, auf den Boden des Schwimmbeckens hinab zu tauchen, dort dem Seeungeheuer zu begegnen und mich meiner Angst zu stellen. Dazu benötige ich Dreierlei: Entschlossenheit, Mut und den unübertrefflichen Schutz der magischen Badekappe.
Bevor ich meine Wohnung verlasse, um zum Schwimmbad aufzubrechen, bereite ich mich gut vor. Es geht heute schließlich nicht um einen gewöhnlichen Badeausflug, sondern um ein riskantes Abenteuer, das mich Leib und Leben kosten kann, wenn ich mich nicht entsprechend dafür ausrüste. Mein Freund S. und der ältere Herr mit dem weißen langen Haar und dem weißen Bart warten auf dem Boden des großen Schwimmbeckens darauf, dass ich sie aus den Fängen des Oktopus befreie, der sie mit seinen Tentakeln fest umschlungen hält. Damit mir dies gelingt und ich nicht selbst dem Ungeheuer zum Opfer falle, mache ich mir einen genauen Plan, welche Schritte ich einzuleiten habe, bevor ich mich ins finstere Revier des Oktopus begebe.
Als allererstes greife ich zu Nadel und Faden, um einen Gummizug an der Badekappe zu befestigen. Diese darf mir im Wasser keineswegs vom Kopf rutschen. Sonst bin ich heillos verloren, dem Ungeheuer und seinen Tentakeln ausgeliefert. Mit großer Sorgfalt nähe ich den Gummizug an die Badekappe fest. Dabei lasse ich mir alle Zeit und Ruhe der Welt. Denn hierbei handelt es sich um den wichtigsten Schritt meiner Vorbereitungen. Anschließend setze ich die Badekappe auf, ziehe das Gummiband unter mein Kinn und überprüfe den Sitz. Perfekt. Jetzt fühle ich mich viel sicherer.
Ich überlege, was ich noch für mein Vorhaben benötige. Eine Taucherausrüstung wäre vermutlich angebracht oder würde zumindest nicht schaden. Immerhin läuft es darauf hinaus, dass ich für längere Zeit unter Wasser bleibe. So leicht wird sich der Oktopus nicht geschlagen geben, nehme ich an. Er ist ein mächtiger Gegner und einige Nummern größer als ich. Zudem hat er acht riesige Tentakel und ich im Vergleich dazu nur zwei mickrige Arme. Es ist mir im Übrigen noch unklar, auf welche Weise ich mit dem Oktopus fertig werden könnte. Ich weiß nur, dass ich es schaffen kann, wenn ich es wirklich will. Und ich glaube fest daran, dass sich mir der Weg zum Sieg zeigen wird, wenn der Moment dafür gekommen ist.
Da ich meine Urlaube meist zu Hause verbringe, besitze ich keine Taucherausrüstung. Doch ich habe Glück: Ein paar Häuser weiter gibt es ein Geschäft, das Wassersportausrüstung anbietet. In den vielen Jahren, die ich hier schon lebe, bin ich unzählige Male an diesem kleinen Laden vorbei gekommen und hätte niemals gedacht, dass er eines Tages so wichtig für mich werden würde. So können sich die Dinge ändern. Ich schlüpfe in meine Turnschuhe und verlasse meine Wohnung.
Draußen scheint bereits die Sonne aus ganzer Kraft, obwohl noch früher Morgen ist. Keine einzige Wolke ist am Himmel zu sehen. Der heutige Sommertag verspricht, besonders heiß zu werden. Was bin ich froh, dass ich heute noch Abkühlung im, und vor allem auch unter Wasser finden werde. Fragt sich nur, wie lange die besagte Abkühlung anhalten wird, falls der Oktopus mich erwischt. Und ob ich bei dessen Anblick von Angesicht zu Angesicht nicht bereits kalte Füße bekomme und das Weite suche. Doch das darf nicht passieren. Das Leben von meinem Freund S. und dem alten Mann hängt davon ab, ob ich es schaffe, das Ungeheuer zu besiegen. Und womöglich auch die Leben weiterer Badegäste, auf die der Oktopus vom Boden des Schwimmbeckens bereits ein Auge geworfen hat. Ich muss diesen Spuk ein für alle Male beenden.
Der Verkäufer im Wassersport-Laden scheint sehr kompetent zu sein, soweit ich das als blutiger Laie einzuschätzen weiß. Nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich eine Taucherausrüstung benötige, präsentiert er mir einige verschiedene Modelle, die sich im Großen und Ganzen jedoch nicht unterscheiden. Ich wähle das teuerste Produkt, in der Hoffnung, dass es sein Geld wert ist und im entsprechenden Moment nicht versagt. In diesem Fall geht es um Leben und Tod. Da darf man nicht mit Geld geizen, sondern muss auf den Tisch legen, was man hat. Der Verkäufer versichert mir, ich hätte eine gute Wahl getroffen, und zählt mir die einzelnen Vorzüge des Produkts überschwänglich ein weiteres Mal auf. Ich werde meinen Kauf nicht bereuen, sagt er. Dies sei ein Gerät für Profisportler und nicht für Kinder, die damit in der Badewanne spielen wollen. Dass ich vorhabe, in wenigen Stunden mit der teuren Gerätschaft die Unterwasserwelt eines Schwimmbeckens zu erkunden, verschweige ich ihm. Er würde mich bloß für verrückt halten.
Zu Hause angekommen, stelle ich die Taucherausrüstung ab. Eine stabile Tasche war im Kaufpreis mit enthalten. Das finde ich praktisch. So übersteht mein neu erworbenes Gerät mit hoher Sicherheit unbeschadet den Transport zum Ort seiner und meiner Bestimmung. Ich frage mich, was ich noch für meinen Kampf mit dem Oktopus benötige. Mir fällt ein, dass sich eine Waffe als überaus nützlich erweisen würde. Doch wenn mich jemand im Schwimmbad damit erwischt, bin ich geliefert. Vermutlich holt man dann sofort die Polizei und mein Ding mit dem Oktopus ist gelaufen. Meine Abkühlung im Schwimmbecken ebenso. Das kann ich mir nicht leisten. Wenn mich nicht der Oktopus tötet, dann wird es die unsägliche Hitze sein. Gegen ersteren habe ich zumindest eine reale Chance, versuche ich, mir Mut zu machen.
Nun fällt mir ein, dass ich in meiner Taucherausrüstung, mit Schwimmflossen, Sauerstofftank, Taucherbrille und allem drum und dran, höchstwahrscheinlich sowieso im Schwimmbad Aufsehen erregen werde, und dass der Bademeister bei meinem Anblick die Leute in den weißen Kitteln ruft, sobald ich ihm mit meinem Schnorchel ins Auge springe. Doch was soll ich tun? Mir fällt nichts Besseres ein, als es zu riskieren. Vielleicht habe ich ja Glück, und es schaut keiner hin. Weitere Badegäste wird es zu dieser frühen Stunde vermutlich sowieso nicht im Schwimmbad geben.
Ich lasse mir das Ganze noch ein Mal durch den Kopf gehen. Was mir da gerade widerfährt, ist doch wirklich total abgefahren. Mir ist auch vollkommen klar, dass ich dieses Erlebnis mit niemandem teilen kann. Von meinen Freunden würden die einen wohl denken, ich mache Scherze, und die anderen würden mir raten, einen Psychiater aufzusuchen. Die Geschehnisse der letzten Tage sprengen ja auch in der Tat den Rahmen jeglicher Normalität. Das mysteriöse und grauenvolle Verschwinden meines Freundes S. in den Wellen des Schwimmbeckens, das ich starr vor Schreck tatenlos mit ansehen musste. Mein viel sagender Traum von letzter Nacht. Und nun will ich also im Taucheroutfit die Abgründe des Schwimmbeckens erkunden, auf der Suche nach einem gigantischen Oktopus. Das erscheint mir wirklich makaber. Doch sei es drum. Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen.
Bevor ich mich auf den Weg ins Revier des Ungeheuers mache, bleibt mir nur noch eins: In meine Badehose schlüpfen, die magische Badekappe aufsetzen und die Taucherausrüstung anlegen. In voller Montur stelle ich mich vor meinen Ganzkörperspiegel im Schlafzimmer und betrachte mich von allen Seiten. Sieht gar nicht mal so übel aus. Ich gebe darin eine gute Figur ab. Für einen Schwimmbadbesuch allerdings ist meine äußere Erscheinung etwas überdimensioniert. Ich lege alles wieder ab und verstaue es sorgfältig in der Tasche. Nun ist es soweit – ich packe meine sieben Sachen und öffne die Wohnungstür.
Auf dem Weg in die Schwimmhalle komme ich an einem Café vorbei und beschließe, eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen. Ein Stück Kirsch-Marmor-Kuchen und dazu einen Eiskaffee. Dieser kommt mir bei der Hitze wie gerufen und hilft mir dabei, später unter Wasser nicht einzuschlafen. Ich weiß ja nicht, was für Tricks der Oktopus auf Lager hat. Vielleicht verspritzt er ein Gift, das einen müde macht. Dem wirke ich nun entgegen.
Es ist schön im Café. Wenn man hier so friedlich sitzt, glaubt man gar nicht, was alles in der Welt vor sich geht und was mich in naher Zukunft erwartet. Zwei Tische weiter hat soeben eine hübsche Blondine Platz genommen. Als sie meinen Blick auffängt, lächelt sie mir von der Seite zu. Ich scheine ihr zu gefallen. Ob das auch noch dann der Fall wäre, wenn sie wüsste, was ich gleich tun werde? Vermutlich würde sie das Weite suchen. Und das tue ich jetzt auch. Schließlich habe ich keine Zeit zu verlieren und eine Mission vor mir.
Etwa eine halbe Stunde später stehe ich am Beckenrand. Am Körper trage ich alles, was für einen Badeausflug üblich ist und darüber hinaus noch einiges mehr. Badeflossen und Sauerstofftank inklusive. Die blaue Badekappe mit den großen weißen Punkten und dem kleinen Tintenfischbild auf der Vorderseite bedeckt mein Haupt. Ich zupfe vorsichtig am Gummiband unter meinem Kinn, um seine Festigkeit zu überprüfen. Es sitzt einwandfrei. In Schwimmflossen zu laufen, ist etwas gewöhnungsbedürftig für mich. Doch ich bin ja sowieso gleich im Wasser.
Zu meinem Glück ist außer mir kaum jemand da. Vom Kinderbecken aus höre ich Geplansche und freudige Schreie. Vermutlich tollen dort Kinder herum. Doch da sich dieses Becken hinter der Ecke befindet, können mich diese ebenso wenig sehen, wie ich sie. Es ist natürlich gut möglich, dass ich einem Bademeister auffalle. Doch niemand scheint von mir Notiz zu nehmen. Vielleicht macht dieser gerade eine Toilettenpause. Es sieht gut für mich aus. Zumindest schon mal vom Beckenrand aus.
Nun muss ich also ins Wasser. Ein wenig schlottern mir die Knie bei dieser Vorstellung, muss ich ehrlich zugeben. Doch ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass ich mich fabelhaft auf mein verrücktes Abenteuer vorbereitet habe. Was soll schon schief gehen? Und falls mein Vorhaben, den Oktopus zu besiegen, wortwörtlich ins Wasser fällt und ich zu dessen Geisel werde – na und? Womöglich ist es auf dem Grund des Schwimmbeckens gar nicht so ungemütlich. Irgendwie komme ich schon durch. Der alte Mann hat es ja auch geschafft. Er verschwand vor einigen Jahren, und ist letzte Nacht in meinem Traum plötzlich aufgetaucht. Ich würde nicht behaupten, dass er besonders glücklich aussah. Aber allzu schlecht scheint es ihm nicht zu gehen. Zudem leistet mein Freund S. ihm seit einigen Tagen unter Wasser Gesellschaft. Wenn ich nun auch noch hinzukomme, verspricht das doch, eine lustige, kleine Runde zu werden. Und wahrscheinlich sind wir nicht die Letzten, die sich dort ansiedeln. Vielleicht erbeutet der Oktopus zur Abwechslung ja auch mal ein paar Frauen. Dann wird es da unten ganz gewiss nicht langweilig. Dabei fällt mir die hübsche Blondine aus dem Café ein.
Doch mir ist natürlich vollkommen klar, dass dies alles nur meine Wunschträume sind und mit der Realität nichts gemein haben. Und sollten sie es doch tun, dann möchte ich mich dennoch nicht von meiner Freiheit berauben und vom Oktopus in einen Käfig stecken lassen, wie golden dieser auch sein mag. Letzten Endes läuft es also doch darauf hinaus, das Ungeheuer zu bekämpfen. Und ich habe nicht mal eine Waffe dabei. Womöglich hätte ich doch ein Messer ins Schwimmbad schummeln können. Doch ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, erwischt zu werden. Und vielleicht ist dieses im Kampf gegen den Oktopus sowieso unnütz. Gegen so ein großes Ungeheuer müsste man schon schwerere Geschütze auffahren, wie zum Beispiel einen Panzer. Nun ja, irgendwie wird es mir auch unbewaffnet gelingen, den Oktopus zu besiegen. S. weiß doch, dass ich an und für sich kein Kämpfer bin und vertraut dennoch darauf, dass ich ihn aus seiner Misere heraushole. Warum hätte er mir sonst letzte Nacht die magische Badekappe übergeben? Er glaubt daran, dass ich es schaffe.
Ich will schon den ersten Schritt ins Becken setzen, da fällt mir noch etwas ein: Ich hätte einen Brief auf meinem Küchentisch hinterlassen sollen, in welchem ich die Vorfälle mit dem Oktopus Wort für Wort niederschreibe, angefangen bei dem verhängnisvollen Tag, als der alte Mann mit seinen Enkeln schwimmen gegangen ist und dann vom Oktopus erwischt wurde. Dann wüsste im Falle meiner Niederlage die Menschheit immerhin, was mir zugestoßen ist, auch wenn es mir wohl niemand glauben würde. Warum bin ich nur früher nicht darauf gekommen? Egal. Nun ist es zu spät. Und die Stunde ist günstig. Bislang scheint mich niemand im Schwimmbad gesehen zu haben und niemand wird versuchen, mich aufzuhalten. Wer weiß, ob sich später noch einmal so eine Gelegenheit bietet. Also darf ich keine Zeit vertrödeln. Ich streiche über das Tintenfischbild auf der Badekappe, als würde diese Handlung meinen Schutz verstärken, und steige hinein ins Wasser.
Kaum bin ich im Becken, setzt auch schon der künstliche Wellengang ein. Da habe ich ja direkt den richtigen Augenblick abgepasst. Immer weiter schreite ich hinein, was mir durch die Wellen erschwert wird. Doch es tut gut, im kühlen Nass zu sein, fern der sommerlichen Hitze, die draußen brodelt. Und ich bin auch schon ein wenig neugierig darauf, was mich in den unergründlichen Tiefen des Beckens erwartet, auch wenn ich gleichzeitig vor Nervosität eine gewisse Anspannung verspüre. Nach einigen weiteren Schritten spüre ich nicht mehr den Boden unter den Füßen und schwimme los.
Irgendwie ist es auch schön, das ganze große Becken für mich allein zu haben. Wenn man mal absieht, dass ich es mit dem Oktopus und seinen Gefangenen teile. Doch diese sehe ich von hier aus noch nicht. Bei meinen bisherigen Besuchen war außer mir immer noch irgendjemand mit im Becken, meist waren es sogar mehrere Badegäste. Vollkommen allein durchs Wasser zu treiben, ist eine neue Erfahrung für mich. Mit jeder Sekunde, die ich mich im Wasser aufhalte, scheint sich das Schwimmbecken immer weiter in alle vier Himmelsrichtungen auszudehnen. Die Wellen rollen eine nach der anderen auf mich zu und ich höre ihr Rauschen im Ohr. Es wirkt mit seinem monotonen Getöse ein wenig einschläfernd auf mich. Ein Glück, dass ich den Eiskaffee getrunken habe.
Nach einer Zeitspanne, die sich für mich wie eine Ewigkeit anfühlt, komme ich am anderen Ende des Schwimmbeckens an. Unmittelbar unter mir liegt sein tiefster Punkt. Wenn ich will, kann ich jetzt einen Rückzieher machen, sage ich mir. Es ist meine letzte Möglichkeit, umzukehren und die Dinge dabei zu belassen, wie sie sind. Doch einen alten Mann und meinen Freund S., der mich im Traum so inständig um Hilfe gebeten hat, im Stich zu lassen, kommt für mich überhaupt nicht in Frage. Und was wäre ich denn für ein Feigling, wenn ich jetzt den Schwanz einziehen würde? Zudem ist das Geld, das ich für die Taucherausrüstung ausgegeben habe, nun auch weg. Allein schon mit meinem Sinn für Sparsamkeit, andere würden diesen als Geiz betiteln, lässt es sich nicht vereinbaren, dass ich zur Kehrtwende antrete. Und das ist ja nicht der einzige Grund. Hinzu kommt noch, dass mich S. bestimmt keine einzige Nacht mehr ruhig schlafen lassen würde, bis ich zu ihm in den finsteren Abgrund herunter komme. Er würde mich regelrecht in meinen Träumen verfolgen, damit ich was zu seiner Rettung unternehme. Und wäre es nicht S., der mich heimsuchen würde, dann wäre es mein schlechtes Gewissen. Feigheit ist für mich also keine Option.
„Hey, guck mal, was hat der Mann denn da an?“ Ich höre plötzlich lachende Kinderstimmen ganz in meiner Nähe. Vermutlich sind die Kinder aus dem kleinen Becken um die Ecke herum gekommen und sehen mich nun in meinem Taucherkostüm. Zumindest den Schnorchel, den oberen Teil vom Sauerstofftank, die Taucherbrille und meine mit dem Gummizug bestückte Badekappe können sie noch erkennen, so wie ich im Wasser treibe. Oh nein, man hat mich bemerkt, wird mir mit einem Schlag bewusst. Und die Eltern der Kinder sind bestimmt auch gleich vor Ort und nehmen mich in Augenschein. Jetzt gibt es wirklich kein Zurück mehr. Es hilft nur noch eins: Untertauchen.
Ich hole aus Gewohnheit, auch wenn dies nun des Sauerstofftanks wegen nicht nötig ist, tief Luft, schließe die Augen, was dank der Taucherbrille ebenso entbehrlich wäre, und tauche hinein in die Fluten. Die Stimmen der Kinder verblassen im Wasser. Das Letzte, was ich höre, ist das Rauschen der Wellen, das tosend in meinen Ohren brummt. Im nächsten Augenblick betrete ich eine neue, mir noch unbekannte Welt, mit all ihren Gefahren und Geheimnissen.
Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022
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