1. Kapitel: Aufbruch ins Ungewisse
2. Kapitel: Ungewöhnlicher Besuch
3. Kapitel: Lichtdurchflutet
4. Kapitel: Zu Hause im Hier und Jetzt
Obwohl der Wetterbericht ein schweres Gewitter mit Hagel prophezeit hatte, schwang ich mich auf mein Fahrrad und machte mich auf den Weg ins hiesige Naturschutzgebiet. Vom strahlend blauen Himmel brannte die Julisonne erbarmungslos herunter. Keine einzige Wolke war zu sehen. Dass heute noch ein Unwetter heraufziehen sollte, erschien mir unvorstellbar, um nicht zu sagen - unmöglich. Bestimmt hatten sich die Wetterfrösche mit ihrer Prophezeiung geirrt und es würde ein heißer, aber trockener Sommertag bleiben.
In meinem Rucksack hatte ich eine große Flasche Wasser und, für den Fall, dass es doch noch regnen würde, einen Schirm sowie einen dünnen Pulli zum Überziehen verstaut. Was brauchte ich auch mehr? Ich wollte doch nur eine kleine Radtour mit Wanderung durch die Natur drehen, wie so oft. In zwei oder allerhöchstens drei Stunden wäre ich mit Sicherheit wieder zu Hause. In diesem Moment ahnte ich noch nicht, wie sehr ich mit meiner Vermutung falsch lag und was für ein außergewöhnliches Abenteuer mir bevorstand.
Nachdem ich zwanzig Minuten lang an Einfamilienhäusern und Gartenanlagen vorbei geradelt war, kam ich am Waldrand an. Die riesigen, alten Bäume sorgten für etwas Abkühlung, indem sie mir und den Bewohnern des Waldes mit ihren üppigen Baumkronen Schatten spendeten, was ich nach meiner Fahrt unter der sengenden Sonne sehr willkommen hieß. Die zahlreichen Vögel auf den Bäumen und in der Luft stimmten wie zu meiner Begrüßung ein fröhliches Lied an, als ich den Wald betrat.
Das Naturschutzgebiet war für mich schon seit vielen Jahren so etwas wie mein zweites Zuhause. Hierher kam ich sehr oft, um die Stille in mir selbst zu spüren und um Ruhe zu finden. Meine Wochenenden verbrachte ich für gewöhnlich hier, manchmal zusammen mit einem guten Freund oder einer guten Freundin, meist jedoch allein. Doch das störte mich nicht. Denn ich liebe das Alleinsein.
Es gibt Menschen, die sich vor dem Alleinsein fürchten und sich nur dann wohl fühlen, wenn sie den Raum mit mindestens einer weiteren Person teilen. Falls sie dann doch mal allein sind, stellen sie den Fernseher oder das Radio an, damit diese ihnen sozusagen Gesellschaft leisten, und auch, weil sie die sie umgebende Stille nicht ertragen und sie mit Geräuschen füllen wollen.
Bei mir verhält es sich genau umgekehrt: Bin ich mit mir allein und es ist alles still um mich herum, fühle ich mich am wohlsten. Ich besitze weder einen Fernseher noch ein Radio und auch kein Handy. Denn ich möchte in der Stille möglichst nicht gestört werden und mich schon gar nicht durch Belanglosigkeiten ablenken lassen. Viele Menschen verstehen nicht, warum ich nicht in jedem Moment meines Lebens für alle Welt erreichbar sein möchte. Es gibt auch einige, die mich deswegen abgeschrieben haben. Doch das ist in Ordnung. So geht eben jeder seinen eigenen Weg durchs Leben. Und mein Weg ist der Weg der stillen Einkehr.
Dennoch bin ich kein absoluter Eremit und meide Menschen nicht, wo ich nur kann. Ganz im Gegenteil – ich mag es sogar sehr, unter Menschen zu sein, die sich ebenso wie ich mit der Natur verbunden fühlen, anstatt im Sog der digitalisierten Welt unterzugehen. Der Austausch mit Menschen, die es wertschätzen, ihr Gesicht dem Wald mit all seinen Pflanzen und Tieren zuzuwenden, und die sich als Teil des Ganzen erkennen, anstatt wie hypnotisiert auf Bildschirme mit künstlichen bunten Bildern zu starren, belebt meinen Geist und bereichert meine Seele. Mit solchen Menschen zusammen betrete ich sehr gerne den Wald und bestaune die Wunder des Daseins, die sich uns darin bieten.
Doch vollkommen allein im Wald unterwegs zu sein, hat ebenso seinen besonderen Reiz für mich. Es fühlt sich in solchen Momenten für mich so an, als wäre der Wald meine eigene kleine Welt, in die außer mir niemals jemand seinen Fuß setzt. Der Wald öffnet seine Pforten nur für mich, und ich trete in ihn ein wie in eine andere Dimension, zu der jedem anderen Mensch außer mir der Zugang verwehrt bleibt.
In der Tat bin ich bei meinen Waldspaziergängen in all den Jahren bislang keiner anderen Menschenseele begegnet. Womöglich lässt er nicht jeden seine Schwelle passieren. Oder aber, er gewährt nur jenen Eintritt, die vollkommene Ruhe und Abgeschiedenheit suchen, und sorgt dafür, dass diese sich bei ihrer Wanderung nicht begegnen, indem er sie durch den Vogelgesang in unterschiedliche Richtungen lockt.
Vielleicht aber verhält es sich auch ganz anders und außer mir gibt es einfach nur wenige Menschen, die etwas für den Wald und seine Bewohner übrig haben. Dieser Gedanke macht mich traurig und glücklich zugleich. Dass der Wald so wenig Aufmerksamkeit erhält, betrübt mich, da er sie alle Male verdient hat, und auch tut es mir um die Menschen Leid, die lieber vor ihren Bildschirmen sitzen, als ihre Seele in der Natur baumeln zu lassen. Doch andererseits fühle ich mich glücklich, da ich als einziger Gast den Wald für mich allein habe, wenn ich Ruhe benötige. Einen stillen Ort in dieser hektischen Welt zu finden, ist keine Selbstverständlichkeit. Daher bin ich umso mehr froh, dass ich den Wald für mich entdeckt habe.
So wanderte ich also an diesem Julitag mehrere Stunden durch den Wald, während ich mein Fahrrad schob. Manchmal radelte ich auch ein Stück. Doch das Wandern war mir lieber, da ich die Natur dabei sorgfältiger betrachten und die zahlreichen Eindrücke in mich besser aufnehmen konnte. Manche Menschen behaupten, in der Natur wäre es langweilig, weil dort nichts los sei. Dabei passiert doch in jedem Augenblick so viel, und das Meiste davon bleibt unseren Augen verborgen, wie zum Beispiel die Käfer, die sich durchs Erdreich graben, oder die Eichhörnchen, die sich mit ihrem Nachwuchs in Baumhöhlen verstecken. Jedes auch noch so kleine Wesen geht seinem emsigen Treiben nach und trägt dazu bei, den Wald am Leben zu erhalten. Und die meisten der Waldbewohner tun es in solch einer heimlichen Stille, dass wir Menschen nicht auch nur den leisesten Laut vernehmen.
Plötzlich fielen einige Tropfen auf meine Arme. Nun fängt es also doch noch an zu regnen, ging es mir durch den Kopf. Da ich Regen mag, machte ich mir nichts draus. Ich freute mich auf die kleine Dusche in freier Natur und wanderte fröhlich weiter. Die nach Regen duftende Luft erfrischte meine Sinne. Auch die kleinen Vögel wurden durch das Wasser zu neuem Leben erweckt und zwitscherten mit noch größerer Inbrunst als zuvor.
Doch der Regen wurde im Laufe der Zeit immer stärker und stärker, bis ich vollkommen durchnässt war. Diese Mengen an Wasser konnten weder mein dünner Pulli, den ich inzwischen übergezogen hatte, noch mein Regenschirm aufhalten. Zudem war es inzwischen abgekühlt, so dass ich zu frieren anfing. Die Wetterfrösche hatten also doch Recht behalten. Nun fehlte nur noch, dass ein Gewitter heraufzog.
Kurz darauf hörte ich es auch schon am Himmel donnern. Das war das endgültige Signal für mich, umzukehren und mich auf den Heimweg zu machen. Gewitter an sich mag ich sehr. Doch ich genieße es lieber in der trockenen Stube vor meinem Fenster als unter Bäumen spazierend. Von einem Blitz getroffen werden, wollte ich nicht. Und wenn noch der prophezeite Hagel hinzukäme, wäre das Vergnügen für mich gänzlich vorbei. Also nichts wie nach Hause, beschloss ich.
Es dauerte eine gute Weile, bis ich frierend zum Waldrand zurück geradelt war. Allerdings stellte ich fest, dass ich die falsche Richtung eingeschlagen und den Eingang an der anderen Seite des Waldes erreicht hatte. Von dort aus hätte ich noch mindestens zwei Stunden bis zu meiner Wohnung gebraucht. Und bis dahin wäre ich längst in Unwetter und Hagel hineingeraten.
Am Wegrand sah ich einen alten, ungewöhnlich großen Baum stehen, der schon etwas morsch war und nicht so wirklich zum Wald zu gehören schien. Er sah so aus, als hätte ihn dort jemand hingestellt, weil er mit seiner imposanten Erscheinung keineswegs in die Szenerie hinein passte. Doch seine dicken Wurzeln reichten tief ins Erdreich hinein und er stand hier vermutlich schon sehr viel länger als alle übrigen Pflanzen des Waldes.
Einem inneren Impuls folgend ging ich um den Baum herum. Auf seiner Rückseite befand sich so etwas wie eine Höhle, in die ich eintrat. Und einen Schritt weiter sah ich Stufen aus Baumwurzeln, die ins Erdreich hinab führten. Es mag verwunderlich anmuten, doch in diesem Moment wirkte das Ganze auf mich vollkommen natürlich. Dass ich in einem Baum stand und seine Wurzeln wie Stufen immer weiter hinab schritt, löste in mir nichts Befremdliches aus. Bei jedem Tritt knarrten die Wurzeln unter meinen Füßen. Moment, wo hatte ich nur meine Schuhe gelassen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie ausgezogen zu haben. Doch dieser Gedanke verging so schnell, wie er gekommen war, und es fühlte sich bereits im nächsten Moment vollkommen natürlich für mich an, plötzlich barfuß zu sein.
Ich sah die letzte Stufe vor mir. Und als ich meinen bloßen Fuß auf die Erde setzte…
…erwachte ich in meinem Bett.
Es war später Nachmittag. Der Himmel vor meinem Schlafzimmerfenster war grau und von Wolken verhangen. Es donnerte und blitzte. Doch ich war nun sicher im Trockenen. Hatte ich den Waldspaziergang etwa nur geträumt? Wie war das möglich? Ich war mir vollkommen sicher, heute Mittag mit dem Fahrrad zum Naturschutzgebiet aufgebrochen zu sein. Warum lag ich also nun in meinem Bett?
Im nächsten Moment stellte ich fest, dass ich dieselbe Kleidung trug, wie eben noch bei meiner Waldwanderung. Sogar der vom Regen durchnässte dünne Pulli klebte mir am Leib und löste ein unangenehmes Gefühl der Kälte bei mir aus. Als ich mich im Bett aufsetzte, um mich vom Pulli zu befreien, stellte ich fest, dass an meinen nackten Füßen feuchte Erde hing.
Was war nur geschehen? Anscheinend war ich tatsächlich im Wald spazieren gegangen und es war nicht bloß ein Traum gewesen. Doch weshalb konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, wie ich nach Hause und in mein Bett gekommen war? Und dann war da noch dieser merkwürdige Baum, der mir in seinem Stamm eine Art Behausung und Schutz vor dem Unwetter bot.
Es gab so viele Fragen, auf die ich im gegenwärtigen Moment noch keine Antwort finden konnte. Doch ich wollte das Ganze nicht einfach so ruhen lassen und so tun, als wäre nichts passiert. Der Drang, mein Erlebnis zu ergründen, wurde immer größer. Zudem trieb mich die Neugier, zu erfahren, was sich wohl auf dem Boden im Erdreich des Baumes befand. Mir blieb also keine andere Wahl, als am nächsten Wochenende wieder den Wald aufzusuchen und seinem Geheimnis auf den Grund zu gehen.
Der magische Baum am Wegrand auf der anderen Seite des Waldes würde auf mich warten – da war ich mir absolut sicher.
Die kommende Arbeitswoche konnte für mich gar nicht schnell genug vergehen. Meinen Bürojob mochte ich ohnehin nicht besonders. Das ständig klingelnde Telefon, die unzufriedenen Kunden am anderen Ende der Leitung, die Berge an Schreibarbeit, die bis zum Abend erledigt sein mussten – ein erfülltes Berufsleben sah für mich anders aus. Mein cholerischer Chef, der bei jedem kleinen Fehler, den seine Untergebenen machten, sein Löwengebrüll ertönen ließ, und ein besonderes Talent dafür besaß, unbezahlte Überstunden zu verteilen, setzte allem noch die Krone auf. Kurzum: Ich konnte meinen Job nicht ausstehen und hätte ihn nur zu gern gegen eine Tätigkeit eingetauscht, die mir wirklich etwas bedeutete. Doch auf dem Arbeitsmarkt sah es mau aus. Somit konnte ich froh sein, überhaupt eine Stelle zu haben, zudem eine mit unbefristetem Arbeitsvertrag. Mit anderen Worten: Schinderei auf Lebenszeit. Was blieb mir jedoch anderes übrig, als mich darauf einzulassen? Von allein wanderten die heißen Semmeln schließlich nicht auf meinen Frühstücksteller.
So schleppte ich mich also Tag für Tag, Jahr um Jahr lustlos ins Büro. Irgendwann wäre das alles vorbei, spätestens mit Beginn der Rente. Von diesem freudigen Ereignis in der fernen Zukunft trennten mich zwar noch mehr als drei Jahrzehnte. Doch eines Tages wäre es soweit. Dann könnte ich rund um die Uhr das tun, was mir Freude bereitet, anstatt mich stundenweise im Büro abzuwetzen. Durch die viele unliebsame Arbeit in der digitalisierten Welt fern des natürlichen Ursprungs war der Stoff, aus dem meine Seele bestand, schon ganz dünn und fadenscheinig geworden. Löcher hatten sich darin gebildet, deren Umfang mit Voranschreiten der Zeit unaufhaltsam zunahm.
Wenn ich an den Wochenenden in den Wald hinaus fuhr, um mit der Natur Eins zu werden, fand ich allmählich wieder zu mir selbst zurück. Der Wald legte sich wie ein heilender Balsam auf meine zerschundene Seele und heilte meine Wunden, bis nur noch Narben übrig blieben.
Doch diese Heilung war nur vorübergehend. Denn das Klingeln meines Weckers um vier Uhr in der Früh am Montagmorgen riss mich mit einem gewaltsamen Ruck aus dem Schlaf und meine soeben verheilten Wunden wieder auf. Eine neue Arbeitswoche hatte für mich begonnen. Eine neue Phase der Bewährung, in der ich mir selbst beweisen musste, zu wie viel Aufopferung meiner wertvollen Lebenszeit ich noch imstande bin, war eingeläutet worden.
Es ist keineswegs so, dass ich Arbeit grundsätzlich verabscheue. Ganz im Gegenteil. Wenn mir eine Tätigkeit sinnvoll erscheint und ich sehe, dass alle Beteiligten durch ein gemeinsames Projekt seelisch wachsen oder zumindest gleichermaßen von ihrer Zusammenarbeit profitieren, dann investiere ich sehr gerne meine Kraft dort hinein. Doch in der heutigen Arbeitswelt verhält es sich oft so, dass sich wenige auf Kosten von vielen bereichern und somit keine gerechte Gewinnverteilung stattfindet. Diese Tatsache ist mir höchst zuwider.
Doch heute möchte ich weniger über solche Dinge nachdenken. Denn es gibt auch so viel Schönes im Leben. Immerhin habe ich meine geheime Zuflucht, den Wald, in meiner Nähe, der jedes Wochenende erneut seine Pforte für mich öffnet, um mich daran zu erinnern, dass ich so viel mehr bin als ein Arbeiter im Bienenstock des Systems. Umringt von alten Bäumen und dichten Büschen, dem wundersamen Gesang der Vögel lauschend, lässt mich der Geist des Waldes zumindest für Momente meinen Berufsalltag vergessen und mich in eine Welt jenseits der Alltagsrealität eintauchen, in welcher meine Seele sich von der Erde erhebt und gemeinsam mit dem Wind durch die Blätter der Bäume schweift.
Diesmal fiel es mir leichter als sonst, die fünf Tage meiner Arbeitswoche zu überstehen, da ich mich in meiner Fantasie sehr oft im Wald mit seinen Mysterien aufhielt und mich eine nahezu kindliche Neugier gepackt hatte, diese zu ergründen. Als ich am Sonntag den ausgehöhlten, alten Baum am Waldrand betreten hatte, war die Tür zu einer neuen Dimension in meinem Inneren aufgestoßen worden. Vorsichtig und unbeholfen hatte ich meine ersten Schritte auf der anderen Seite der Realität gemacht, war Stufe für Stufe die knarrenden Treppenstufen aus Wurzeln im Bauminneren hinunter gestiegen. Was sich auf dem Grund des Erdbodens befand, hatte sich mir noch nicht offenbart. Unversehens hatte ich mich in meinem Bett wieder gefunden. Vermutlich war ich in diesem Augenblick noch nicht bereit gewesen, dem Baum wortwörtlich auf den Grund zu gehen. Doch ich hatte so eine Ahnung, dass mir der Baum bei meinem nächsten Besuch mehr von sich preisgeben würde.
Am Samstagmorgen öffnete ich um 8 Uhr morgens meine Augen. Endlich war es soweit. Heute würde ich wieder ins Naturschutzgebiet hinausfahren und der rätselhaften Welt, die sich vor wenigen Tagen in mein Leben geschlichen hatte, wieder ein Stück näher kommen. Ich wartete gar nicht erst lange, sondern schwang mich direkt nach dem Frühstück auf mein Fahrrad. Der Tag war so frisch wie ein Tautropfen, hatte gerade erst begonnen, und ich wollte keine Zeit verlieren. Im Licht der morgendlichen Julisonne radelte ich an den Einfamilienhäusern und Gärten vorbei Richtung Naturschutzgebiet, diesmal in schnellerem Tempo als sonst. Meine ungezügelte Abenteuerlust trieb mich voran.
Am Eingang zum Wald wurde mir jedoch eines klar: Der Weg zum ausgehöhlten Baum war mir vollkommen unbekannt. Ich war am letzten Sonntag durch einen seltsamen Zufall dorthin geraten und wusste nicht, über welchen Pfad ich ihn ein zweites Mal erreichen konnte. So blieb mir nichts anderes übrig, als auf gut Glück durch den Wald zu irren, in der Hoffnung, mein Bauchgefühl würde mich schon von selbst zum Ziel führen.
Nach ungefähr einer Stunde war ich anscheinend immer noch nicht wesentlich vorangekommen und beschloss, eine Pause einzulegen. Die Holzbank, die ich vor mir stehen sah, bot sich wunderbar dazu an. Also nahm ich meinen Rucksack von den Schultern, trank einige Schluck aus meiner großen Wasserflasche und packte mein Käsebrot aus. Bedächtig kaute ich darauf herum und schaute mir beim Essen die Umgebung an. Zwischen den Stämmen der Bäume versuchte ich, einen Blick auf den geheimnisvollen Baum zu erhaschen. Doch dieser stand vermutlich weit von mir entfernt, da ich mich mitten im Wald zu befinden schien und mir erst noch den Weg hindurch zu seinem Rand hin bahnen musste.
Als ich mein Käsebrot aufgegessen und noch einige Schluck Wasser zu mir genommen hatte, lehnte ich mich auf der hölzernen Bank zurück und schloss meine Augen, um etwas auszuruhen und die Stille des Waldes in mich aufzunehmen. Ich hörte die Blätter der Bäume im Wind leise rascheln und gab mich ganz diesem Geräusch hin. Es wurde immer lauter und lauter und bald wusste ich nicht mehr, ob das Rascheln, das ich hörte, aus der Außenwelt her rührte oder in meinem Inneren erklang.
Gleichzeitig lichtete sich die Schwärze hinter meinen geschlossenen Augen immer mehr und ich sah etwas, das auf mich zuflog. Erst war es nur ein winzig kleiner Punkt in der Ferne, dann wurde es größer und schließlich konnte ich erkennen, was es war: Eine kleine Sommerfliege setzte sich auf meine Hand. Im Wald waren viele unterschiedliche Insekten zuhause und ich hatte bereits mit unzähligen von ihnen Bekanntschaft gemacht. Doch dieses Exemplar, das sich nun auf meiner Hand niedergelassen hatte, war höchst sonderbar. Fliegen gab es hier freilich zu Genüge. Doch die kleine Sommerfliege, die mich gerade besuchte, war nicht schwarz oder grün, wie ich es von ihren Artverwandten seit jeher kannte, sondern hellblau. Selbst ihre zarten, geschwungenen Fühler, die sie tastend auf und ab bewegte, schimmerten in dieser für eine Fliege ungewöhnlichen Farbe. Vorsichtig ging sie mit ihren kleinen Beinchen auf meiner Hand spazieren. Dabei berührte sie meine Haut so sanft, dass ich es, bis auf ein leichtes Kitzeln, kaum wahrnahm.
Aufmerksam und neugierig beobachte ich das kleine Wesen, das mir vollkommen zu vertrauen schien. Langsam, um die Fliege nicht zu verscheuchen, hob ich meinen Arm und führte meine Hand an mein Gesicht heran, um sie näher zu betrachten. Bald darauf trafen sich unsere Blicke und ich hörte, wie die Fliege zu mir sprach:
„Wie du bereits selbst erkannt hast, bin ich kein gewöhnliches Insekt. Mein wahres Wesen mag dir zwar in diesem Augenblick verborgen sein, da ich die Gestalt dieser ungewöhnlichen Fliege angenommen habe, um mich dir bemerkbar zu machen und deine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Doch wir beide kennen uns schon sehr lange. Sehr viel länger, als du dich zurück zu erinnern im Stande bist. Doch wer ich bin, dass spielt jetzt keine Rolle. Ich bin hier, um dir den Weg zu weisen. Vertrau mir einfach.“
Im nächsten Moment schlug ich meine Augen auf. Das war nun wirklich zu viel des Guten. Eine sprechende Fliege! Wo gab es denn so was? Vermutlich war ich etwas eingedöst und hatte das alles nur geträumt.
Doch als ich ein leichtes Kitzeln auf meiner Hand spürte und zu ihr hinunter blickte, wusste ich, dass es kein Traum gewesen sein konnte: Dort war sie, die hellblaue Sommerfliege, die soeben ihr Wort an mich gerichtet hatte. Ungeduldig stolzierte sie mit ihren Beinchen über meine Haut, ihre zarten Fühler dabei auf und ab bewegend. Sie schien mich dazu aufzufordern, mich von der Bank zu erheben und auf den Fahrradsattel zu setzen. Also gab ich diesem Gefühl nach und folgte ihrer Anweisung.
Kaum hatte ich auf meinem Fahrrad Platz genommen, veränderte die Fliege ihre Position auf meiner Hand. Sie wandte ihren Kopf von mir ab und dem Wald vor uns zu. Ich verstand schnell, was sie mir damit sagen wollte: Ich sollte nur ihrem Blick folgen und die entsprechende Richtung einschlagen – so würde ich den ausgehöhlten Baum auf kürzestem Wege sicher erreichen. Die geheimnisvolle Fliege war somit mein Wegweiser.
Während ich in aller Gemach durch den Wald radelte, achtete ich darauf, in welcher Ausrichtung die Fliege ihren kleinen Körper positioniert hatte, und folgte den Zeichen, die sie mir dadurch gab. Es dauerte nicht allzu lange, etwa eine halbe Stunde, und schon hatten wir die gegenüberliegende Seite des Waldes erreicht. Den alten Baum konnte ich jedoch nirgendwo erkennen. Doch die Fliege half mir auch diesmal weiter.
Sie drehte sich, nach wie vor auf meiner Handfläche sitzend, zu mir um, sah mich an und ließ folgende Worte in meinem Inneren erklingen:
„Du weißt, was zu tun ist. Manchmal sieht man mit geschlossenen Augen mehr.“
Also folgte ich ihrem Ratschlag und ließ meine Augenlider herabsinken. Zu meiner Verblüffung schaute ich nicht, wie für gewöhnlich, in abgrundtiefe Schwärze hinein, sondern ich sah den Wald auch mit geschlossenen Augen nach wie vor deutlich vor mir. Er wirkte nun sogar noch um einiges realistischer. Die Konturen der Pflanzen waren viel klarer und ihre Farben schienen aus sich heraus zu leuchten. So etwas hatte ich nie zuvor erlebt. In diesem verzauberten Wald gab es wohl nichts, das nicht möglich sein konnte.
Als ich, noch immer die Augenlider fest aufeinander gedrückt, meinen inneren Blick auf den Wegrand richtete, konnte ich beobachten, wie dort langsam aus dem Nichts heraus der ausgehöhlte Baum erschien. Erst sah ich geisterhaft nur seine äußeren Umrisse. Doch nach und nach nahm er immer mehr Gestalt an und wurde zunehmend plastischer. Schließlich stand er in all seiner Pracht vor mir.
„Du kannst deine Augen jetzt wieder öffnen.“ Sprach die hellblaue Fliege zu mir.
Ich tat, wie mir geheißen. Und tatsächlich: Der außergewöhnliche Baum stand auch jetzt noch vor mir und schien mich zu sich zu rufen.
„Ich werde dich jetzt wieder verlassen. Du brauchst meine Hilfe nicht mehr. Doch vielleicht begegnen wir uns ein andermal wieder, wenn es das Schicksal so will.“
Die kleine Sommerfliege richtete ihre durchscheinenden Flügel auf und flog davon. Ich sah ihr eine Zeitlang nach, wie sie sich immer mehr entfernte, bis sie am Horizont mit dem strahlenden Blau des Himmels verschmolz. Ich weiß nicht genau warum, aber ich hatte die kleine Fliege in mein Herz geschlossen, und hoffte, dass sich unsere Wege eines Tages wieder kreuzen würden.
Mein Fahrrad ließ ich im hohen Gras liegen und lief auf den ausgehöhlten Baum zu, seinem Ruf folgend…
Es war genau so, wie beim letzten Mal. Wieder schritt ich die aus Baumwurzeln geformten Treppenstufen im Bauminneren hinab. Diesmal jedoch erreichte ich den Boden und setzte meinen nackten Fuß auf die weiche Erde. Sie war rot und strahlte eine wohlige Wärme aus, die, bei den Füßen angefangen, in meinem Körper aufstieg und ihn mit Lebensenergie durchflutete.
In der unterirdischen Höhle stehend, sah ich mich um. Von der roten Erde, auf der ich stand, ging ein eigentümliches Leuchten aus, das den gesamten Raum erhellte, so dass ich mich problemlos darin orientieren konnte.
Vor mir befanden sich drei verschlossene Türen aus dickem Holz. Sie waren oben abgerundet und hatten jeweils einen Türknauf zum Drehen. Alle drei sahen sie in etwa gleich aus. Einen wesentlichen Unterschied konnte ich nicht erkennen.
Nun stand ich vor der Qual der Wahl: Für welche der drei Türen sollte ich mich entscheiden? Mir war schließlich nicht bekannt, ob sich mir zu einem späteren Zeitpunkt noch ein Mal die Möglichkeit bieten würde, die eine oder andere davon zu passieren. Vielleicht war dies meine erste und letzte Gelegenheit, zumindest hinter eine dieser Türen zu blicken. Ich schloss nicht aus, dass sich die übrigen zwei Türen einfach in Luft auflösten, sobald ich eine von ihnen geöffnet hatte. An diesem geheimnisvollen Ort war vermutlich alles möglich.
Kurzerhand entschied ich mich für die mittlere Tür. Mit der „goldenen Mitte“ konnte ich nichts falsch machen, sagte ich mir. Entschlossen ging ich auf sie zu und drehte am Holzknauf. Und tatsächlich: Die Tür öffnete sich auf der Stelle. Sie war nicht abgeschlossen und lud mich dazu ein, die hinter ihr liegende Welt zu betreten, was ich dann auch tat.
Vor mir sah ich eine gemütliche Mittelalterstadt. Links und rechts der breiten Straße aus Kopfsteinpflaster, die ich entlang schritt, standen kleine Wohnhäuser aus Holz. Auf der rechten Seite der Häuserreihen schlängelte sich die stellenweise mit Efeu bewachsene hohe Stadtmauer aus klobigen Steinen dahin. In der Ferne konnte ich einen Kirchturm ausmachen, dessen schwerer Glockenschlag mit einem hellen Klang durch die Stadt hallte und die Bürger zum täglichen Gebet aufrief. Schatten spendende Bäume waren am Straßenrand gepflanzt worden und ließen das Grün ihrer raschelnden Blätter im Sonnenschein funkeln.
Mir fiel sofort auf, wie sauber und aufgeräumt diese Stadt wirkte. Es gab nirgendwo Schmutz. Alles war in bester Ordnung und schien vor Reinheit aus sich heraus zu strahlen. Ich fragte mich, wie so etwas möglich sein konnte. In der Welt, aus der ich kam, da gab es das nicht. Dort schmissen die Menschen in aller Respektlosigkeit ihren Müll sogar in den Wald. Man nahm auf einander nur sehr wenig Rücksicht und legte kaum Wert darauf, seine Umwelt am Leben zu erhalten. Stattdessen begrub man sie unter Bergen aus Abfall und erstickte sie in Haufen von Plastik. Deswegen war ich nicht nur verblüfft von der Reinheit der Mittelalterstadt, sondern auch glücklich darüber, dass es einen so aufgeräumten Ort im Universum gab.
Auch die Menschen, denen ich bei meinem Spaziergang begegnete, waren makellos. Dies lag nicht nur an ihrer körperlichen Schönheit und an den Gewändern in den leuchtend bunten Farben, die sie trugen, sondern aus ihrem Inneren schien ein klares, wärmendes Licht auszugehen, das sich auf ihren glücklichen Gesichtern widerspiegelte und sich in dem Lächeln ausdrückte, das sie einander zuwarfen. Eine heitere Atmosphäre der Sorglosigkeit lag in der Luft und wurde durch den lieblichen Gesang der Vögel in den Bäumen verstärkt. Die Bewohner der Stadt schienen keinen Kummer zu kennen und ihr Leben in jedem Moment des Daseins zu genießen. Was mich erstaunte, war, dass mich niemand zu bemerken schien. Die Frauen, Männern und Kinder schauten durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist.
Bald gelangte ich zu einem größeren Gebäude mit weißer Fassade, an welchem ein hölzernes Schild angebracht war. „Stadtbibliothek“ stand mit farbigen Buchstaben darauf. Magisch zog es mich zu diesem Gebäude hin. Warum, wusste ich nicht genau. Doch ich spürte, dass ich in seinen Räumlichkeiten eine für mich überaus wichtige Erfahrung machen würde. Neugierig näherte ich mich ihm und schritt durch die offen stehende Tür.
Bei meinem Eintreten war ich ein wenig darüber überrascht, was sich meinen Augen darbot. Es gab nur einen einzigen Raum, an dessen Wänden, wie für eine Bibliothek durchaus üblich, Regale angebracht waren, auf denen sich die Bücher wortwörtlich bis zur Decke stapelten. Ihre Einbände waren altertümlich gestaltet und teilweise sehr abgegriffen. Ich fragte mich, wovon diese Bücher wohl handeln mochten und welche Weisheiten sie in sich bargen. Da ich für mein Leben gerne lese, hätte ich diese Bücher sehr gerne eins nach dem anderen aus den Regalen gezogen und eingehend studiert. Doch etwas anderes fesselte in diesem Moment noch mehr meine Aufmerksamkeit.
Inmitten des Raumes, umgeben von den deckenhohen Bücherregalen, stand ein großer, breiter Holztisch. Rings um ihn herum hatten auf Stühlen, etwa zwölf bis fünfzehn an der Zahl, junge Männer Platz genommen. Im Unterschied zu den anderen Bürgern der Stadt, die mir bislang begegnet waren, trug jeder von ihnen eine metallisch schimmernde Ritterrüstung und darüber ein Gewand in den unterschiedlichsten Farben: Gelb, Orange, Rot, Grün, Blau, Violett – es war alles dabei. Manche Gewänder beinhalteten sogar zwei oder mehr Farben. Die Blicke der jungen Männer waren allesamt auf einen Ritter in Rüstung und blau-grün schimmernden Gewand am Kopf der Tafel gerichtet, der zu ihnen sprach. Sie schienen sich miteinander zu beraten, als würden sie gemeinsam einen neuen Plan ausarbeiten – zu welchem Zweck auch immer.
Kurz, nachdem ich den Raum betreten hatte, unterbrach der Ritter am Kopfende des Tisches, der ihr Anführer zu sein schien, seine Rede und schaute zu mir herüber. Im gleichen Moment wandten auch die anderen jungen Männer mir ihre Gesichter zu. Sie schienen allesamt darüber erstaunt zu sein, was ich hier machte. Ich hatte sie bei ihrer eingeschworenen Versammlung komplett überrascht. Und was mich zudem verwunderte: Sie konnten mich im Gegensatz zu den Bürgern auf der Straße allem Anschein nach klar und deutlich erkennen.
„Entschuldigung, ich wollte Eure Unterredung nicht stören.“
Mit Absicht gebrauchte ich das Wort „Eure“ statt „Ihre“, wohl bedenkend, dass ich mich hier in einer Mittelalterstadt befand und dass es nicht verkehrt wäre, meinen Sprachstil dem ihrigen anzupassen.
Der Anführer musterte mich prüfend und aufmerksam.
„Tretet nur ein, werter Herr, und teilt uns Euer Anliegen mir.“
Wie geheißen, machte ich einige Schritte auf den Ritter zu und stellte mich vor ihm hin. Doch was sollte ich dem edlen Ritter auf seine Frage erwidern? Worin bestand mein Anliegen?
„Ich kam zufälligerweise an dieser Bibliothek vorbei und wollte einen Blick auf die Bücher werfen.“
Gab ich ehrlich zur Antwort. Was hätte ich auch sonst sagen sollen?
Der Ritter hielt einen Augenblick inne. Dann ertönten seine Worte mit klarer Stimme:
„In Büchern werdet Ihr nicht die Weisheit finden, nach der Ihr sucht. Es gibt nur einen Ort, an welchem Ihr zur absoluten Erkenntnis gelangt. Und dieser Ort ist in Euch selbst.“
Auch wenn er in Rätseln zu mir sprach und ich den Sinn hinter seinen Worten noch nicht vollständig begriff, so spürte ich doch, dass er die Wahrheit sprach. Einer inneren Eingebung folgend, fragte ich ihn:
„Bitte sagt mir, wer Ihr seid.“
Wieder zögerte der Ritter einen Moment, bevor er sprach, und baute sich währenddessen zu seiner vollen Größe auf. Auch wenn ich mit meinen ein Meter fünfundachtzig nicht unbedingt der kleinste Mann im Universum bin, so schien mir der Ritter wesentlich größer als ich zu sein und mich um mindestens zwei Köpfe zu überragen. Vielleicht war es auch gar nicht sein Körper, der so viel Raum einzunehmen schien, sondern es lag an seiner mächtigen Aura, die vor Selbstbewusstsein und Erhabenheit nur so sprühte und sich nach allen Richtungen ausdehnte.
„Ich bin die Ruhe, die Stille…und der Frieden.“
Diese sonderbare Antwort bekam ich also von ihm zu hören. Er nannte mir weder seinen Rang noch seinen Namen, sondern gab sich einfach als die Ruhe in Person aus. Mit so etwas hatte ich freilich nicht gerechnet. Doch näher betrachtet, passte diese Beschreibung haargenau zu ihm. Trotz seiner ritterlichen Attribute, wie etwa der Rüstung und einem Schwert, dass er an seiner Seite trug, wirkte er überaus friedvoll. Meine Seele fing die Ruhe, die ihn umgab, ein, so dass es ganz still in mir wurde.
Während ich ihn musterte, wurde mir bewusst, dass meine alles andere als altertümliche Aufmachung – ich trug eine Jeans und ein T-Shirt - kein Aufsehen zu erregen schien. Weder bei dem Ritter noch bei seinen Mitstreitern regte sich auch nur der leiseste Verdacht, dass etwas mit mir nicht stimmte. Vollkommen unbefangen schauten sie mich an und schienen sich nicht im Geringsten über mein äußeres Erscheinungsbild zu wundern.
Doch was sollte ich ihnen sagen, wenn sie mich nach meinem Namen und meiner Herkunft fragen? Ich konnte ihnen doch schlecht erzählen, dass ich eigentlich aus einer vollkommen anderen Welt kam und über ein geheimnisvolles Portal am Waldrand zu ihnen gelangt war. Nun ja, mir würde schon irgendetwas einfallen, sagte ich mir. Vielleicht kam die entsprechende Frage ja gar nicht erst auf.
„Wollt Ihr Euch uns anschließen und gemeinsam mit uns für den Frieden kämpfen?“
Fragte mich der Anführer der Ritterschaft.
Ich überlegte. Ein Kämpfer war ich an und für sich eigentlich nicht. Zumindest nicht im üblichen Sinne. Weder beherrschte ich eine Kampfsportart, noch hatte ich jemals eine Waffe in meiner Hand gehalten.
„Das ist auch nicht nötig.“ Verkündete der Ritter, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Wir kämpfen hier auf eine andere Art und Weise, als du es aus deiner Welt her kennst. Dieses Schwert hier…“ Er deutete auf das Schwert an seiner Seite. „Ist nur eine Attrappe und vollkommen nutzlos.“ Er nahm es in seine beiden Hände und stieß mit einem schnellen Ruck mit seinem Knie dagegen, woraufhin es in zwei Teile zerbrach.
Ich bemerkte, dass er auf einmal vom „Sie“ beziehungsweise „Ihr“ auf ein sehr persönliches „Du“ gewechselt hatte. Doch das machte mir nichts aus. Ganz im Gegenteil. Es fühlte sich für mich ohnehin so an, als würde ich den Ritter und seine Kumpanen schon sehr viel länger kennen, auch wenn ich ihnen gerade jetzt erst begegnet war. Eine gewisse Vertrautheit strahlte von ihnen aus und übertrug sich auf mich. Zudem schwang in den Worten des Anführers eine wohltuende Harmonie mit, die meine Seele sanft berührte und etwas lange Vergessenes, und doch so Kostbares, in mir wiederbelebte. Eine neue Sonne ging in mir auf und tauchte jeglichen Kummer, Leid und Sorgen in ihr strahlendes Licht, um dies darin aufzulösen und mich von allem Schmerz zu befreien.
„Unsere Kampfstrategie besteht darin, die Liebe in den Herzen der Menschen erblühen zu lassen und sie dadurch aus dem Tal der Angst heraus zu führen, in welchem die meisten von ihnen gefangen sind. Du wurdest von den Hütern des Lichts dazu auserwählt, daran mitzuwirken, den Planeten Erde zu einem friedvolleren Ort zu machen. Bist du dazu hier und jetzt bereit?“
In meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass meine Entscheidung bereits feststand, bevor ich sie getroffen hatte. Einzig und allein dazu war ich über den alten, ausgehöhlten Baum am Waldrand in die jenseitige Mittelalterstadt gelangt. Hier würde sich meine Bestimmung erfüllen.
Der Anführer der Ritter verkündete, es sei für mich an der Zeit, in meine Welt zurück zu kehren.
„Doch ein Teil von dir wird weiterhin mit der Lichtstadt verbunden bleiben. Wenn du Hilfe brauchst oder einen weisen Ratschlag benötigst, kannst du dich jederzeit an mich wenden. Rufe dazu einfach in deinem Inneren nach mir und ich werde dir auf die eine oder andere Weise erscheinen und dir zur Seite stehen.“
Seine Worte klangen rätselhaft in meinen Ohren. Dennoch hatte ich keinerlei Zweifel an deren Wahrheit. Ebenso war ich von der Aufrichtigkeit des Ritters überzeugt. Ich wusste einfach, dass er zu einer Lüge niemals fähig gewesen wäre. Seine Waffe war nicht das Schwert. Anstatt durch einen Kampf weiteres Leid zu verursachen, waren seine Taten durch Gewissenhaftigkeit und Mitgefühl bestimmt. Er war ein Lichtkrieger, der die Finsternis durch die strahlende Essenz seines reinen Herzens erhellte und dadurch alles um sich herum zum Strahlen brachte.
Seine lichtdurchflutete Präsenz war eine bislang ungekannte Wohltat für meine Seele. In meiner Welt jenseits des Portals war ich einem Wesen, geschweige denn einem Menschen, dessen Aura der des Ritters gleichkam, bislang nie begegnet. Das lag daran, dass die Menschen in meiner Welt oft unglücklich waren, weil sie von der Dunkelheit heimgesucht wurden, ohne dies bewusst wahrzunehmen, und sich daher auch nicht dagegen wehrten. Bei vielen gehörte es sogar zum Alltag, den Fokus in ihrem Leben auf den Schmerz und das Leid zu setzen, überall Probleme zu sehen oder sich welche zu machen und sich über alles Mögliche zu beschweren, anstatt sich der grenzenlosen Freude hinzugeben, die einem jedem von uns zuteil wird, wenn wir die Tür zu ihr in unserem Inneren aufstoßen und uns allumfassend auf sie einlassen, was jederzeit möglich ist. Dies begriff ich durch die bloße Gegenwart des Ritters und ein Lichtfunke sprang aus seinem Wesen auf mich über. Obwohl sich der Ritter die meiste Zeit in Schweigen hüllte, so wurde mir durch seine lichtvolle Erscheinung meine Bestimmung offenbart. Soeben hatte ich, auch ohne Schwert, meinen Schlag zum Friedensritter erhalten und machte mich nun auf den Weg zurück in meine Welt, um das Licht in ihr zu entfachen.
Während ich noch in der mittelalterlichen Bibliothek stand, fing sich plötzlich alles um mich herum zu drehen an. Erst ganz langsam und dann immer schneller. Der ganze Raum mitsamt den Rittern kreiste, eine Runde nach der anderen, um mich herum. Während die Umdrehungen immer schneller wurden, vermischte sich vor meinen Augen alles miteinander: Die Regale mitsamt der vielen altertümlichen Bücher, der Tisch, die Stühle und auch die Ritter selbst. Was ich zuvor als getrennt wahrgenommen hatte, zeigte sich mir als großes Ganzes. Alles war Eins. Und ich verschmolz immer mehr damit, bis ich mich in ihm auflöste.
Ich wachte auf einer Wiese auf. Das Gras unter mir fühlte sich weich wie eine Decke an. Langsam öffnete ich die Augen und sah die Julisonne hoch oben am Himmel stehen. Die Vögel sangen alle im Chor vereint eine himmlische Melodie. Mit meinem Rücken lehnte ich an einem großen alten Baum. Auch wenn ich keinen Eingang in seinem Stamm finden konnte, so wusste ich doch, dass es sich dabei um den geheimnisvollen Baum handelte, der mich in die Dimension jenseits von Raum und Zeit hinüber geleitet hatte. Anscheinend war ich zurück in meiner Welt. Oder etwa doch nicht?
Von weitem sah ich etwas auf mich zukommen. Ein schwarzer Punkt erschien in der Ferne und nahm mit jedem seiner Schritte an Größe zu. Bald konnte ich schwarz-braunes zotteliges Fell, Hörner und eine Kuhnase erkennen. Es war ein Bulle von erhabener Gestalt. Er stellte sich in einiger Entfernung vor mir auf und schien mir mit dem Kopf zuzuwinken, mir damit ein Zeichen gebend, ihm zu folgen. Also lief ich auf ihn zu. Währenddessen zupfte er einige Gräser aus dem Waldboden und kaute genüsslich und in aller Ruhe auf ihnen herum, wobei er mich aus seinen großen schwarzen Augen anblickte.
„Ich bringe dich nach Hause. Steig auf meinen Rücken auf und hab eine schöne Heimreise.“
Wunderbar. Der Bulle kam in der Tat wie gerufen, da ich ohne Hilfe nicht so schnell aus dem Wald herausgefunden hätte, zumal mein Fahrrad auf unerklärliche Weise verschwunden war. Also nahm ich, seinem Angebot folgend, auf ihm Platz. Sein Fell war geschmeidig und glänzte seidig in der Sonne. Ich streichelte seinen Kopf, was er mir mit einem freudigen Muhen dankte. Für gewöhnlich halte ich von Tieren, die mir im Wald begegnen, Abstand, erst Recht, wenn es sich um einen Bullen handelt. Doch mein Retter in der Not war kein einfaches Tier, sondern ein magisches Wesen, das mir vom Universum geschickt worden war.
Bedächtig trabte der Bulle mit mir auf seinem Rücken dahin. Ich schien ihm keineswegs eine Last zu sein, sondern er genoss unseren gemeinsamen Ausritt sichtlich. Hin und wieder stieß er aus der Tiefe seines Bullenherzens ein fröhliches Muh aus, das bis in meine Seele vordrang.
Wir kamen an einer kleinen Quelle vorbei, die ich bei meinen vorherigen Ausflügen in den Wald noch nicht gesehen hatte. Das Wasser in ihr war sehr rein und glitzerte silbrig in den Sonnenstrahlen. Ich fragte den Bullen, ob ich kurz absteigen und etwas von dem Wasser in meine Flasche füllen dürfe. Er hielt an, nickte mir bedeutungsvoll zu und ließ mich absteigen. Nachdem ich einige Schluck frisches Quellwasser zu mir genommen hatte, das mit seinem blumigen Duft und seinem süßen Aroma meine Sinne belebte, nahm ich die leere Flasche aus meinem Rucksack und füllte sie mit dem Lebenselixier, das fröhlich und unaufhaltsam aus seinem Ursprung daher sprudelte. Anschließend nahm ich erneut auf dem Bullen Platz und wir setzten unsere Reise fort.
Allmählich wurde es Abend und die Sonne war im Begriff, unterzugehen. Das monotone Traben des Bullen machte mich schläfrig und bald schon konnte ich meine Augen kaum noch offen halten. Ich legte mich längs auf seinen Rücken und umfasste seinen Hals wie bei einer Umarmung mit beiden Armen. Dabei gab ich Acht, nicht zu sehr zuzudrücken. Meinen Kopf bettete ich auf seinem zotteligen Haupt wie auf ein Kissen, schloss die Augen und ließ mich vom Hufschlag des Bullen, das auf dem Waldboden leise widerhallte, in den Schlaf wiegen.
Als ich aufwachte, war es tiefe Nacht. Die Szenerie hatte sich verändert und der Wald war mit meinem Schlafzimmer vertauscht worden. Statt auf dem Bullen lag ich in meinem gemütlichen Bett und sah draußen vor dem Fenster den Vollmond hoch oben am Himmel stehen. Eine leichte Brise wehte herein und streifte sanft meine Haut. Ich war also zurück in meiner Welt. Angekommen im Hier und Jetzt. Der Bulle hatte mich sicher und wohl behütet nach Hause gebracht. Auch um die Rückkehr meines Fahrrades hatte sich jemand gekümmert: Es lehnte neben meinem Nachttisch, auf dem die Flasche mit dem heilenden Quellwasser stand, an der Wand.
Im Schein des Mondes konnte ich etwas neben mir auf dem Kissen erkennen. Es fühlte sich weich und warm an, als ich danach griff. Der magische Bulle hatte mir als Andenken an ihn und meine außergewöhnlichen Erlebnisse eine Strähne seines zotteligen Fells da gelassen, damit ich niemals vergaß, dass ich in der jenseitigen Realität Freunde und Helfer hatte, die mir jederzeit zur Seite standen. Kuschelig und federleicht lag das Fellbüschel in meiner Hand. Ich schmiegte meine Wange daran und dankte dem Universum für die liebevollen Erfahrungen, mit denen es mich beschenkt hatte.
Ich hatte das alles demnach wirklich erlebt und nicht bloß geträumt. Die Dimension jenseits von Raum und Zeit, zu der das geheime Portal am Waldrand führte, gab es wirklich. Und ein Teil von mir war dort geblieben, während ich weiterhin meinen Platz in meiner gewohnten Welt einnahm. Doch von nun an war ich nicht mehr Derselbe. Ich konnte auch bereits jetzt schon spüren, dass durch meine Erlebnisse in der Lichtstadt gravierende Prozesse in meinem Inneren angeregt worden waren, deren weitreichende Auswirkungen ich in diesem Moment nur annähernd erahnen konnte. Ich war neugierig darauf, was mich noch alles erwarten würde, und freute mich darauf, es mit Leib und Seele zu erleben.
In den nächsten Wochen und Monaten wendete sich für mich und meine Mitmenschen tatsächlich eine ganze Menge zum Positiven. Seit meiner mysteriösen Erfahrung, die ich weder zur Gänze der Traumwelt noch im vollen Umfang der Wachrealität zuschreiben kann (sie muss sich irgendwo dazwischen abgespielt haben), lebe ich entspannter und achte mehr auf meine Bedürfnisse. Meinem Chef hat mein gemäßigtes Arbeitstempo zunächst nicht gefallen. Doch als meine Kollegen bemerkten, dass ich dennoch nicht aus der Firma geworfen werde, trauten auch sie sich, aufs Bremspedal zu treten. Nun arbeiten wir zwar langsamer, dafür aber auch achtsamer und machen weniger Fehler, was unser Chef wiederum zu schätzen weiß. Auch er scheint nun begriffen zu haben, dass in der Ruhe die Kraft liegt und ein friedvolles Miteinander die Gemeinschaft, sei es die Familie, den Freundeskreis oder auch das Kollektiv auf der Arbeit, mit vereinter Kraft weiter bringt. Da seine Firma durch unsere verbesserte Leistung erhebliche Gewinne macht, haben meine Kollegen und ich eine beachtliche Gehaltserhöhung bekommen. Ich hätte im Leben nicht damit gerechnet, dass dies eines Tages passieren würde. Mein Chef, der für seine Knauserigkeit allseits bekannt war, hat eben diese nun abgelegt. Inzwischen lädt er uns nach Feierabend das eine oder andere Mal sogar in ein nobles Restaurant zum Essen ein. So können sich die Dinge ändern, wenn man den Mut hat, man selbst zu sein und auf seine innere Stimme zu hören. Diese begleitet mich jetzt Tag für Tag und ich schenke ihr mein vollstes Vertrauen, da ich weiß, dass sie mit der Aufrichtigkeit des Friedensritters aus mir heraus spricht.
Neulich habe ich ein Bild vom magischen Bullen gezeichnet und es an der Wand in meinem Büro aufgehängt. Meine Kollegen haben nicht schlecht gestaunt, als sie es bemerkten, sich aber nicht weiter dazu geäußert. Mit seinen ruhigen schwarzen Augen schaut mich der Bulle an und erinnert mich daran, in aller Achtsamkeit und ohne Eile meine Arbeit zu verrichten, in Momenten, in denen ich dazu neige, in alte Gewohnheiten zu verfallen und mein Tempo zu beschleunigen, aus Angst, meinem Chef sonst nicht zu genügen. Das Fell des Bullen trage ich stets in meiner Hosentasche, wie einen Talisman. Hin und wieder hole ich es heraus, kuschele meine Wange daran und denke frohen Herzens an unsere gemeinsame Reise zurück.
Auch die kleine hellblaue Sommerfliege begleitet mich nach wie vor. Wenn ich drohe, von meinem Seelenweg abzuschweifen, kommt sie heran geflogen und setzt sich mit ihren zarten Beinchen auf meine Hand, damit ich, statt in Unbewusstheit zu versinken, weiterhin meine Bestimmung verrichte, das Licht in mir und in allen anderen Wesen der diesseitigen und der jenseitigen Welt am Leben zu halten. Selbst im tiefsten Winter besucht mich die kleine Fliege und erinnert mich an mein wundersames Erlebnis im Wald, was mir Kraft gibt und mich freudig lächeln lässt.
Bei meinen darauf folgenden Ausflügen in den Wald habe ich mehrmals versucht, das Portal im ausgehöhlten Baum wieder zu finden. Doch es hat sich mir bislang nicht noch mal gezeigt. Vielleicht wird es bei einer späteren Gelegenheit erneut seine Pforte für mich öffnen. Doch eigentlich spielt das keine Rolle mehr. Denn auch wenn ich im Hier und Jetzt Wurzeln geschlagen habe, so bricht die Verbindung meiner Seele mit der jenseitigen Sphäre niemals ab. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Lichtstadt vor mir und weiß, dass ich in meinem Inneren immer zu Hause bin, ganz gleich, wo ich mich gerade befinde und was um mich herum auch geschehen mag.
Texte: © Träumerin
Bildmaterialien: © Träumerin
Cover: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022
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