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Mit den Augen eines Baumes

Heute erlebe ich einen besonders freudigen Tag in meinem achthunderjährigen Dasein auf diesem Planeten und in diesem wunderschönen Park. Die wärmende Maisonne scheint vom Himmel herab und funkelt zwischen meinen Blättern, die im Wind mit einem leisen Rascheln tanzen. Meine Wurzeln nehmen dankbar das Wasser auf, das bei einem starken Regenguss soeben aus den Wolken herab fiel und die Erde durchtränkte. Von den Wurzeln her fließt das Wasser weiter in meinen Stamm, in meine Äste und Zweige, auf denen viele kleine, bunte Vögel sitzen und miteinander ein fröhliches Lied anstimmen. Sie sind ebenso wie ich glücklich darüber, hier sein und das Leben genießen zu dürfen. 

 

Eben noch war mein stetiges Zuhause, der Park, menschenleer. Alle ergriffen die Flucht, als es zu regnen anfing. Ich verstehe nicht so recht, warum. Vor einigen hundert Jahren noch da taten sie dies nicht. Damals tanzten und sangen sie noch im Regen, sich dabei an den Händen haltend. Wasser ist doch etwas so erfrischendes, das uns von unserem Kummer und unseren Sorgen reinwäscht und diese hinweg spült. Vielleicht verstecken sich die Menschen vor dem Regen, weil sich sein Geruch und sein Geschmack im Laufe vieler Jahre stark verändert haben, als wäre ihm etwas beigemischt worden, das nicht zu ihm gehört. Ich sehe ganz weit hinten am Horizont Rohre in den Himmel ragen, aus denen schwarzer Qualm aufsteigt. Vielleicht verleiht dieser dem Regen seinen bitteren Beigeschmack. Früher war der Regen viel köstlicher und gab mir mehr Kraft.

 

Jetzt, wo der Himmel sich mehr und mehr klärt und die Sonne wieder scheint, beginnt sich der Park allmählich wieder mit Besuchern zu füllen. Sie kommen, einer nach dem anderen, hierher, um sich mit der Natur zu verbinden und um Ruhe und Entspannung zu finden. Ich freue mich über ihre Ankunft und heiße sie herzlich willkommen. Die meisten beachten mich nicht oder schauen mich nur kurz an. Doch so manches Mal tritt der Eine oder Andere ganz nah an mich heran, umarmt meinen Stamm zärtlich und drückt sich mit seinem Körper sanft an mich. Dies sind die schönsten Augenblicke meines Lebens, auch weil sie so selten und deswegen so kostbar sind. In solchen Momenten spüre ich besonders stark, dass ich geliebt werde und das jemand dankbar für mein Dasein ist. Während ich die Liebe des mich umarmenden Menschen aufnehme und sie ebenso wie das Wasser in meinen Stamm, meine Äste, Zweige und Blätter fließen lasse, sende ich gleichzeitig aus meinem tieftsten Baumherzen Gefühle der Liebe an meinen Menschenfreund zurück. Eine Weile lassen wir diesen Prozess laufen, tanken einander in tiefer Verbundenheit mit Lebensenergie auf, genießen die intensiven, kraftspendenden Momente und lächeln im Herzen einander zu. 

 

Menschen sind so besondere, wundervolle Wesen. Sie tragen so viel Liebe und Weisheit in sich, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie können sich selbst und anderen so viel mehr geben, als sie es tun. Ich spüre, dass sie das Geben mit einem Verlust gleichsetzen. Sie denken, dass wenn sie etwas verschenken, dadurch etwas bei ihnen weniger wird. Deswegen kommt es dazu, dass sie eine Gegenleistung erwarten. Wenn sie etwas geben, erwarten sie dafür etwas zurück. Ich als achthunderjahre alter Baum weiß, dass Geben und Nehmen dasselbe ist, wenn es in Liebe geschieht. Wer liebevoll gibt, der beschenkt sich im gleichen Moment selbst. Es entsteht kein Verlust sondern alle daran Teilhabenden gewinnen gleichermaßen. Dies erlebe ich Jahr für Jahr, Tag für Tag, Stunde um Stunde in jedem Augenblick meines Daseins. Die Sonne schenkt mir ihr wärmendes Licht und ich erfreue sie dabei mit meinen in ihren Strahlen leuchtenden Blättern. Den Vögeln biete ich in meiner Krone Schutz vor wilden Tieren und sie zwitschern mir zum Dank ein Liebeslied. 

 

Geben und Nehmen sind in Wirklichkeit Eins. Wer etwas gibt und eine Gegenleistung dafür erwartet, der gibt nicht wirklich. Leider verstehen heutzutage viele Menschen das nicht, weil sie ihren natürlichen Ursprung vergessen haben. Doch ich bin zuversichtlich, dass der Tag kommen wird, an dem sie alle sich daran erinnern werden, ein Teil der Natur zu sein. Wann dieser Tag kommen mag, ob morgen oder auch erst in einigen Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten und ob ich dann noch hier sein werde, das ist mir nicht bekannt. Doch die Hoffnung darauf schenkt mir Kraft und meiner Baumseele Erfüllung. Bis dahin werde ich weiterhin meine Bestimmung verrichten und allen, die sie annehmen wollen, meine grenzenlose Liebe schenken, den Pflanzen, den Tieren und den Menschen. Und ich bin glücklich über jedes offene Herz, das die Liebe mit mir teilen mag.

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Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022

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