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Baumherz

 Es war Winter geworden. Baum stand wie immer an seinem angestammten Platz im Park und genoss die frische, klare Luft, die seine kahlen Zweige umwehte und seinen alten, weisen Baumgeist belebte. Die Menschen im Park waren dick angezogen, um sich vor der Kälte zu schützen. Sie trugen Mäntel, Schals und Mützen, um ihre Körper warm zu halten. Baum hingegen störte die Kälte überhaupt nicht. Denn er fürchtete sich im Unterschied zu den Menschen nicht vor ihr, sondern wusste ihre kühlende Wirkung, die ihm einen klaren Kopf verschaffte, zu schätzen.

 

Eine leichte Decke aus Schnee hatte sich auf seine Äste und Zweige gelegt, auf denen sich gelegentlich Vögel niederließen. Im Winter bekam er oft Besuch von Raben, die ihm ins Ohr krächzten, damit er auch ja nicht einschlief und das Treiben der Menschen um ihn herum außer Acht ließ. Es fanden sich aber auch Spatzen in seinem Geäst ein, die munter von Zweig und Zweig hüpften.

 

Als Baum gerade mal wieder die Augen schloss, um ein kleines Nickerchen zu machen, drang die Stimme von Herrn Rabe besonders laut an sein Ohr.

 

„Diese Raben lassen einem alten, müden Baum aber auch gar keine Ruhe.“ Murmelte Baum vor sich hin und öffnete langsam wieder seine Augen. Als er sah, warum Herr Rabe ihn geweckt hatte, war er ihm jedoch sehr dankbar.

 

Vor Baum stand ein Mann in mittleren Jahren. Anders wie die übrigen Menschen im Park war dieser Mann nur leicht bekleidet. Er trug statt einem dicken Mantel nur eine Windjacke und keine Mütze oder dergleichen. Ebenso wie Baum schien er Gefallen an der Kälte zu finden. Er nahm eine bestimmte Stelle an Baums kräftigem Stamm in Augenschein und berührte sie vorsichtig, mit einem Anflug von Wehmut, mit seiner Hand. Ein Herz war darauf eingeschnitzt.

 

Baum wusste genau, wer dieser Mann war. Denn er kannte ihn schon lange. Bereits als Kind hatte der inzwischen erwachsen gewordene Mann mit Baum Freundschaft geschlossen, als er unter seinem Blätterdach spielte. In seiner Jugend kam der Mann seinen Freund, den Baum, oft mit einer jungen Dame besuchen. Sie saßen stundenlang bis in die tiefen Abendstunden hinein vor Baum auf der Bank und genossen die Zweisamkeit. Denn sie ahnten nicht, dass Baum sie mindestens genauso gut sehen und wahrnehmen konnte, wenn nicht sogar noch besser, als sie ihn. Aus Anstand und um sie in ihrer Zweisamkeit nicht zu stören, schloss er aber meist seine Baumaugen und bat die Vögel, lauter zu singen, um die Worte des Pärchens zu übertönen. Manchmal öffnete er aus Neugier seine Baumaugen aber doch und warf einen verschmitzten, hoch entzückten Blick auf das junge Paar. Gelegentlich konnte er es dabei nicht unterlassen, seine Blätter vor Freude rascheln zu lassen.

 

Eines Tages schnitzte der junge Mann ein Herz in Baums Rinde und verzierte es mit seinen Initialen und denen seiner Freundin. Baum konnte sich noch genau an den wunderbar warmen Frühlingstag erinnern, als dies geschah. Die Sonne stand hoch am strahlend blauen Himmel und die Vögel sangen ihre schönsten Lieder für die beiden.

 

Es war Baum von Anfang an vollkommen klar, dass diese beiden Menschen eine besondere, einzigartige Verbindung miteinander hatten. Ihre Seelen kannten sich sehr viel länger, als ihnen bewusst war. Baum war glücklich darüber, dass sie sich auf Erden wieder gefunden hatten. Doch er wusste ebenso, dass in Kürze eine längere Phase der Trennung folgen würde. Wobei sie sich jedoch nur auf der körperlichen Ebene voneinander entfernten, nicht jedoch in ihren Herzen. Die Seelenverbindung der beiden war zu stark, als dass sie jemals hätte reißen können.

 

An einem Spätsommertag beobachtete Baum, wie sich die beiden jungen Leute miteinander stritten. Baum wusste, dass es dabei um reine Belanglosigkeiten ging, die man schnell aus der Welt hätte schaffen können. Doch keiner der beiden wollte nachgeben, weder der junge Mann noch die junge Frau. Beide waren in diesem Moment voll mit Ängsten und ernsthaft wütend aufeinander. Sie waren nicht bereit, die Quelle der Liebe, die unaufhaltsam in jedem von uns sprudelt, wahrzunehmen, sondern gaben sich stattdessen trüben Gedanken hin. Schließlich trennten sie sich, mit den Worten, dass sie einander nie wieder sehen wollten, und zogen in gegensätzliche Richtungen von dannen.

 

Es brach Baum fast das Herz, die beiden im Streit entzweit zu sehen. Sie waren doch von Anbeginn aller Zeit füreinander bestimmt. Doch genau das schenkte Baum Zuversicht, dass sie sich eines Tages wieder begegnen und miteinander versöhnen würden. Das Schicksal würde sie zusammen führen, auch wenn bis zu ihrem nächsten Wiedersehen Tage, Wochen, Monate und Jahre vergehen würden.

 

Baum sah die beiden jungen Menschen heranwachsen. Sie besuchten ihn oft, ein jeder für sich allein. Niemals kreuzten sich dabei ihre Wege, was sonderbar anmuten mag. Doch für ihr Wiedersehen war es einfach noch nicht an der Zeit, auch wenn es sich ein jeder von ihnen insgeheim sehnlichst herbei wünschte. Ihr Zorn aufeinander war längst verflogen. Doch in ihren Leben sollte sich noch einiges ereignen, bis sich ihre Wege wieder kreuzen würden.

 

Als der Mann sich nun an diesem klaren Wintertag an Baums Stamm lehnte und das eingeschnitzte Baumherz berührte, lief eine Träne über seine Wangen. Er schloss die Augen und gab sich den traumgleichen Erinnerungen aus seiner Jugend hin, als er mit seiner Freundin auf der Bank vor Baum gesessen und ihre liebevolle Verbundenheit genossen hatte. Er konnte einfach nicht glauben, dass dies alles unwiederbringlich vorbei sein sollte und dass er seine Jugendliebe nie wieder sehen würde, auch wenn die beiden inzwischen zwanzig Jahre von jenen glücklichen Tagen trennten.

 

Während er mit geschlossenen Augen da stand und ihm eine Träne nach der anderen übers Gesicht lief, spürte er plötzlich, wie etwas Warmes seine Hand berührte. Verwirrt öffnete er seine Augen.

 

Und da stand sie: Die Liebe seines Lebens, die er zwanzig Jahre lang vermisst hatte. Er konnte es kaum glauben, wusste nicht, ob er sich ihre Erscheinung nur einbildete. Doch sein Herz sagte ihm, dass sie es war, die junge Dame aus seiner Jugend, mit der er die schönsten Tage seines Lebens verbracht hatte.

 

Sie lächelte ihm liebevoll zu und sagte: „Ich habe dich so vermisst. Endlich bist du wieder da.“

 

Ihm fehlten die Worte. Er war so überrascht, dass er nichts sagen konnte, und nahm sie einfach nur in den Arm, drückte sie fest an sich.

 

„Hey, nicht so doll, sonst bekomme ich keine Luft.“ Flüsterte sie ihm zärtlich ins Ohr.

 

So standen sie beide da, eng umschlungen und konnten vor lauter Glück kein weiteres Wort über die Lippen bringen. Das war auch nicht nötig. Die beiden Seelen, die im Herzen niemals voneinander getrennt waren, hatten sich nach zwei Jahrzehnten wieder gefunden. Worte hätten die wundersame Stille, die sie umgab, bloß gestört. Für sie war im gegenwärtigen Moment nur Eines wichtig: Miteinander vereint zu sein.

 

Baum lächelte den beiden im Herzen glücklich zu und ließ etwas Schnee von seinem Ast auf sie herunter rieseln, als würde er wie bei einer Hochzeit Blumen über sie streuen, um ihre Wiedervereinigung zu zelebrieren. Von nun an würden der Mann und die Frau auf ewig zusammen bleiben und Baum gemeinsam besuchen kommen. Und er würde sie im kommenden Frühling erneut mit dem Rascheln seiner Blätter begrüßen und die vielen kleinen Vögel für sie singen lassen.

Impressum

Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022

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