Cover

Der Baum im fernen Hof

 Die Frühlingssonne durchflutete meine Küche mit ihrem heiteren Licht, das jegliche Schwere von mir abfallen ließ, während ich, am Esstisch sitzend, die Stille dieses Morgens in mich aufnahm.

 

Das einzige Fenster in meiner Küche zeigte zum Hof hinaus, der klein und übersichtlich war. Es gab dort nichts Besonderes zu sehen, nur ein paar Mülltonnen. Richtete ich meinen Blick jedoch in die Ferne, konnte ich ein gelbes Wohnhaus mit einem Hof ausmachen, der mir sehr viel reizvoller als der hiesige Hof zu sein schien. In der Mitte dieses Hofs stand ein prächtiger Baum mit starkem Stamm und leuchtend grünen Blättern. Er wirkte, selbst aus der Ferne betrachtet, ungewöhnlich vital. Einige Vögel hatten sich in seiner Krone niedergelassen und zwitscherten gemeinsam munter ihre Frühlingslieder. Dies taten sie mit solch einer Inbrunst, dass ich ihren Gesang selbst in meiner Küche, die so weit entfernt von diesem Ort zu sein schien, vernehmen konnte.

 

Neben dem Baum stand eine Bank aus dunkelbraunem Holz. Seltsamerweise hatte ich in all den Jahren, in denen ich in dieser Wohnung lebte, niemanden darauf sitzen sehen. Überhaupt erblickte ich nie auch nur einen einzigen Menschen in diesem Hof. Er wirkte einsam und verlassen und war doch voller Leben, weit mehr als der kleine, dunkle Hof, der zu meiner Wohnung gehörte. Hier kehrten immer wieder meine Nachbarn ein, um ihren Müll in die Tonnen zu werfen. Der Hof in der Ferne wirkte sehr viel gepflegter, freundlicher und einladender, und dennoch ließ sich anscheinend nie jemand dort nieder, um auf der Bank zu verweilen und den kleinen Vögeln zuzuhören.

 

Der Hof in der Ferne zog mich seit meinem Einzug in diese Wohnung magisch an und mit unerklärlicher Kraft in seinen Bann. Jedes Mal, wenn ich aus dem Küchenfenster im vierten Stock zu ihm herab blickte, überkam mich eine nie gekannte, mit nichts zu vergleichende starke Sehnsucht. Warum das so war, konnte ich mir nicht erklären. Immerhin war es ja nur ein Hof, wenn auch ein ungewöhnlich schöner und sonniger. Vor allem seine friedvolle Atmosphäre hatte es mir angetan. Wann auch immer ich zu ihm herüber blickte – mir bot sich, mit wenigen Unterschieden, immer dasselbe Bild: Der robuste, vor Lebendigkeit sprühende Baum und unter ihm die gemütlich wirkende Holzbank. In der warmen Jahreszeit besuchten den Baum Tag für Tag unzählige Vögel, und es fühlte sich so an, als würden sie ihre Lieder nur für ihn und mich singen. Niemand sonst außer uns beiden schien ihrem Gesang sein Gehör zu schenken und ihn bis in die Seele dringen zu lassen. Wenn im Herbst die Vögel den Baum verließen, um in wärmere Gefilde zu ziehen, stand der Baum, in sich gekehrt, allein da, verlor nach und nach seine bunt gewordenen Blätter, und ergab sich mehr und mehr dem baldigen Winterschlaf. Während der Schnee seine kahlen Äste und Zweige sanft bedeckte, schlummerte seine Baumseele leise vor sich hin, vom Frühling träumend, der in einigen Monaten wieder Einzug halten und die Welt in sein zauberhaftes Licht tauchen würde. Im Winter war ich immer ganz froh, dass der Baum, von keiner Menschenseele gestört, schlafen konnte. Es kam ja nie jemand in den Hof.

 

Doch jetzt, im Monat Mai, hätte ich den Hof in der Ferne nur zu gern besucht und mich auf die Bank neben den Baum gesetzt. Er schien mich direkt zu sich zu rufen, wie er so einsam und verlassen vor mir lag. Es gab nur einen einzigen Grund, weswegen ich ihn bislang nie betreten hatte: Der Zugang zum Hof in der Ferne hatte sich mir noch nicht gezeigt. Etliche Male war ich die Straße hinauf und hinunter gegangen, hatte dabei alle vor mir liegenden Hauseingänge betreten – doch immer gelangte ich dabei in einen anderen Hof, aber nie in diesen, was mich sehr verwunderte. Denn irgendwo musste der besagte Hof doch sein. Eine der Haustüren musste doch zu ihm führen. Und doch war dies nicht der Fall. Dieses unergründliche Mysterium machte den Hof in der Ferne umso anziehender für mich. Nahezu in Verzweiflung geriet ich, weil ich die Tür zu ihm nirgends finden konnte. Ich ging sogar so weit, die Anwohner der umstehenden Häuser nach dem Eingang zum Hof zu befragen. Doch niemand hatte von so einem Hof auch nur gehört. In ihren Höfen gäbe es nur Mülltonnen, aber keinen Baum, bekam ich jedes Mal zur Antwort. Doch ich gab nicht auf. Denn ich wusste, dass sich mir der versteckte Zugang zum geheimnisvollen Hof schon offenbaren würde, wenn ich nicht nachließ, sondern meine Suche nach ihm fortsetzte.

 

Eines Nachts gelang es mir schließlich, den geheimnisvollen Hof zu betreten. Während mein Körper schlafend im Bett lag, geschah etwas Seltsames. Ich öffnete meine Augen und sah mein Schlafzimmer vor mir. Der Vollmond schien zum Fenster herein und tauchte es in sein mystisches Licht. Als ich mich vom Bett erhob und einige Schritte machte, fühlte sich dies merkwürdig an. Es war kein Laufen, sondern vielmehr ein Schweben. Verblüfft warf ich einen Blick auf mein Bett zurück, auf welchem ich meinen schlafenden Körper liegen sah. Ich wusste nicht, was mir da gerade geschah. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Doch es ging mir gut und es fühlte sich richtig für mich an. Also beschloss ich, die Ruhe zu bewahren und neugierig zu untersuchen, was sich mir darbot.

 

Vom Schlafzimmer aus schwebte ich also in die Küche hin zum Fenster. Der Vollmond stand direkt über dem Baum im fernen Hof und leuchtete ungewöhnlich stark, so dass ich die Szenerie sehr gut erkennen konnte. Mit einem Mal wollte ich nur noch dorthin. Sofort. Und schon schwebte ich durch das geschlossene Küchenfenster hindurch und hinüber zum Ort meiner Sehnsucht. Das geschah so schnell, dass ich es kaum fassen konnte. Beim Baum angekommen, ließ ich mich auf der Bank nieder. Was ich erlebte, fühlte sich an wie ein Traum und wirkte doch so real, viel echter als alles, was ich zuvor erlebt hatte. Mein Glück, endlich hier zu sein, konnte ich kaum fassen.

 

Im Hof war es so ruhig. Nur die Rufe einer Eule unterbrachen von Zeit zu Zeit die nächtliche  Stille. Der Baum hatte eine unbeschreiblich wohltuende Ausstrahlung. Es fühlte sich an, als würde er Wurzeln in mir schlagen und mich mit einer heilenden Quelle verbinden, die alle Last und allen Schmerz aus meiner Seele fortspülte. So saß ich also selbstvergessen mit geschlossenen Augen da und ließ es geschehen. Raum und Zeit lösten sich nach und nach immer mehr auf, als hätten sie niemals existiert. Da war nur reine, heilende Energie, und ich ließ sie durch mich fließen, badete und verschmolz mit ihr, bis nichts mehr von mir übrig war und ich mich im Nichts auflöste.

 

Geweckt wurde ich durch den Gesang einer Nachtigall. Als ich meine Augen aufschlug, lag ich wieder in meinem Bett in meinem Zimmer. Es war noch immer dunkel, und die Finsternis dieser Nacht im Monat Mai wurde nach wie vor nur durch das Licht des Vollmonds erhellt.

 

Ich hatte es endlich geschafft, wurde mir bewusst. Ich war endlich an den Ort meiner tiefen Sehnsucht gelangt und hatte mich in meinem Inneren mit ihm verbunden. Nun brauchte ich ihn nicht mehr im Außen zu suchen. Denn ich würde ihn ab sofort stets in mir tragen. Der Baum hatte sich mit mir verwurzelt. Wenn ich meine Augen schloss und in mich hineinhöre, kann ich das Rascheln seiner Blätter hören. Ebenso hallt der Gesang der kleinen Baumvögel in meinem Innersten nach und lässt mich an ihrer beschwingten Lebensfreude teilnehmen, wo auch immer ich mich gerade aufhalten mag. Ich bin nun selbst zum Baum geworden mitsamt seiner Stärke und Kraft. Und ich lade jeden, der meinen Weg kreuzt, dazu ein, auf der Bank neben mir zu verweilen und in den gegenwärtigen Moment der Stille einzukehren, um den Weg in das verloren geglaubte Paradies in sich selbst zurück zu finden.

Impressum

Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /