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Träumender Baum

 Während dieser wundersame Frühlingsabend im Monat Mai langsam sein Gesicht der Nacht zuwandte und der Himmel sein strahlendes Blau zunehmend gegen eine dunklere Nuance eintauschte, stand Baum wie jeden Tag an seinem Platz im Park und gab sich dem Anblick der untergehenden Sonne hin, die mehr und mehr am Horizont verschwand. Er genoss das zauberhafte Schauspiel der Natur, konnte sich nicht satt daran sehen und war glücklich darüber, ein Teil davon zu sein.

 

Im Park hielten sich zu dieser späten Stunde kaum noch Menschen auf. Die meisten von ihnen waren bereits in ihren Häusern und Wohnungen verschwunden, aßen zu Abend oder bereiteten sich auf die Nachtruhe vor. Baum fühlte sich allein ein wenig einsam, da er die Menschen liebte und ihr Dasein im Park genoss. Doch er wusste, morgen würde ein neuer Tag anbrechen und die Menschen wieder zu ihm in den Park locken. 

 

Baum liebte alle, die Kleinen und die Großen, die Jungen und die Alten, die Leisen wie die Lauten. Es bereitete ihm große Freude, den Kindern beim Spielen zuzusehen. Sie steckten voller Leben, rannten schreiend um ihn herum und versteckten sich in seinen Blättern, die bis zum Boden reichten. Er legte seine Zweige wie Arme um sie und freute sich, von ihnen wahrgenommen zu werden. 

 

Vor seinem Stamm war vor vielen Jahrzehnten eine Bank aufgestellt worden, auf der im Laufe der Zeit viele unterschiedliche Menschen Platz genommen hatten, um darauf zu verweilen, auszuruhen, ein Buch zu lesen oder über etwas nachzusinnen. Sie alle genossen die tiefe Verbundenheit mit Baum, ob sie sich dessen bewusst waren oder nicht. Ihnen allen schenkte er Ruhe, Kraft und Lebensfreude. 

 

Dadurch, dass ihn immer wieder neue Gäste besuchten, lernte Baum viel über die Menschen, über ihre Sorgen, Ängste, Wünsche und Träume. Er spürte, dass die meisten Menschen, die bei ihm auf der Bank  verweilten, unzufrieden waren und etwas dafür tun wollten, um glücklich zu werden. Baum machte mit seiner bloßen Präsenz jedem Einzelnen von ihnen deutlich, dass das Glück bereits in ihnen ist und sie es einfach nur im Sein anzunehmen brauchen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Doch die Meisten verstanden nicht, was er zum Ausdruck bringen wollte, wie er so dastand und nichts tat, als einfach Baum zu sein. Viele Menschen, den Kopf voll mit Gedanken, beachteten ihn nicht einmal. So konnte er nichts weiter tun, als ihnen Schatten zu spenden und ihnen aus seinem tiefsten Baumherzen heraus Liebe zu senden. 

 

Doch er spürte und sah in den Augen der Menschen, dass sie sich in ihrem Wesen veränderten, während sie Zeit mit ihm verbrachten und den Moment mit ihm teilten. Manch einer, der bei seiner Ankunft auf der Bank zunächst grießgrämig dreingeschaut hatte, lächelte ein Weilchen später auf einmal. Die Gemüter der Menschen entspannten sich in Baums Dasein, nahmen seinen Frieden und seine Liebe, die er ihnen schickte, in sich auf, und sendeten ihm im gleichen Atemzug, oft ohne sich dessen bewusst zu sein, Gefühle der liebevollen Verbundenheit zurück. Baum war sehr glücklich darüber, dass die Menschen seine Gaben annahmen, und ihre Fröhlichkeit war das schönste Geschenk für ihn.

 

Inzwischen war es Nacht geworden. Über Baums Krone stand der Vollmond und tauchte ihn in sein weißes Licht. Unzählige Sterne, die von fernen Welten erzählten, funkelten hoch oben am Himmel. Der Schrei einer Eule durchbrach die nächtliche Stille. Auf Baums Zweigen waren viele kleine Vögelchen eingeschlummert und träumten gemeinsam einen süßen Vogeltraum, in welchem sie frei durch die Lüfte flogen und sich dabei den frischen Wind um den Schnabel wehen ließen. Baum bedeckte die kleinen Vögel sanft mit seinen Blättern und schaute ihnen beim Schlafen zu. Morgen würden sie sein Baumherz erneut mit ihrem Gesang erfreuen. 

 

Baum wurde allmählich schläferig, gähnte leise und ließ dabei seine Blätter rascheln. Ein besonderer Tag war wieder einmal zu Ende gegangen. Ein Tag, der wie jeder andere auch, Hoffnung und Zuversicht in sich barg. Baum war glücklich darüber, diesen Tag erlebt und ihn mit seinen großen und kleinen Freunden verbracht zu haben, mit den Pflanzen, Tieren und Menschen, die diesen Park mit ihm teilten. Nun war es Zeit, ins Land der Träume zu reisen. Baum schloss müde seine Augen.

 

Eine Nachtigall flog heran und setzte sich auf Baums Ast. Nachdem sie mit ihren Beinchen ein wenig hin und her getreten war und es sich so richtig gemütlich gemacht hatte, stimmte sie ein wundersames Lied an, das sie in Baums Seele erklingen hörte. Es war das Lied der liebevollen Verbundenheit aller Lebewesen, von der Baum träumte. Baum vernahm im Traum den lieblichen Gesang der Nachtigall und lächelte sich glücklich in die von ihm und den anderen Naturgeschöpfen erträumte friedvolle Welt hinein.

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Texte: © Träumerin
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2022

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